Schöne neue Welt - Carolin Grahl - E-Book

Schöne neue Welt E-Book

Carolin Grahl

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Beschreibung

Er kommt aus Gran Canaria und ist der Sohn von Dr. Daniel Nordens Cousin Michael und dessen spanischer Frau Sofia. Alexander kennt nur ein Ziel: Er will Arzt werden und in die riesigen Fußstapfen seines berühmten Onkels, des Chefarztes Dr. Daniel Norden, treten. Er will beweisen, welche Talente in ihm schlummern. Dr. Norden ist gern bereit, Alexanders Mentor zu sein, ihm zu helfen, ihn zu fördern. Alexander Norden ist ein charismatischer, unglaublich attraktiver junger Mann. Die Frauenherzen erobert er, manchmal auch unfreiwillig, im Sturm. Seine spannende Studentenzeit wird jede Leserin, jeden Leser begeistern! »Alex, bist du es?« Vorsichtig zog Sina den Riegel des Sicherheitsschlosses an der Wohnungstür zurück und spähte durch den Spalt, den die eiserne Kette freigab, in den Flur hinaus. »Ja, ich bin's. Wer sollte es denn um zwei Uhr morgens sonst auch sein?«, fragte Alex leicht ungeduldig zurück. »Ich kann leider meinen Schlüssel nicht finden. Ich glaube, ich habe ihn verloren. Komm, mach schon auf, Sina, und lass mich rein.« Sina hantierte eine Weile erfolglos an der eisernen Kette herum und schimpfte über das vorsintflutliche Sicherheitsschloss, ehe sie es schließlich schaffte, die Kette zu entfernen. Erleichtert stieß sie die Wohnungstür vollends auf. »Hi, Alex«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Alex einen Kuss zur Begrüßung. »Alles okay? Wie war die Sanitätsschicht mit Dr. Rudolf? Und wie macht sich der neue Rettungssanitäter in Ausbildung? Wie heißt er doch gleich wieder?« »Er heißt Stefan«, antwortete Alex und schob sich mit einem leisen Seufzer an Sina vorbei in die Küche. »Und die Sanitätsschicht war – ach, vergiss es.«

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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der junge Norden – 65 –Schöne neue Welt

Finden Lara und Bert den Weg ins Glück?

Carolin Grahl

»Alex, bist du es?« Vorsichtig zog Sina den Riegel des Sicherheitsschlosses an der Wohnungstür zurück und spähte durch den Spalt, den die eiserne Kette freigab, in den Flur hinaus.

»Ja, ich bin’s. Wer sollte es denn um zwei Uhr morgens sonst auch sein?«, fragte Alex leicht ungeduldig zurück. »Ich kann leider meinen Schlüssel nicht finden. Ich glaube, ich habe ihn verloren. Komm, mach schon auf, Sina, und lass mich rein.«

Sina hantierte eine Weile erfolglos an der eisernen Kette herum und schimpfte über das vorsintflutliche Sicherheitsschloss, ehe sie es schließlich schaffte, die Kette zu entfernen. Erleichtert stieß sie die Wohnungstür vollends auf. »Hi, Alex«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Alex einen Kuss zur Begrüßung. »Alles okay? Wie war die Sanitätsschicht mit Dr. Rudolf? Und wie macht sich der neue Rettungssanitäter in Ausbildung? Wie heißt er doch gleich wieder?«

»Er heißt Stefan«, antwortete Alex und schob sich mit einem leisen Seufzer an Sina vorbei in die Küche. »Und die Sanitätsschicht war – ach, vergiss es.« Alex ging zum Kühlschrank und holte sich eine Bierdose heraus, die er zischend öffnete.

Sina musterte ihn mit verwunderten Blicken. »Bier? Ich hätte dir eher zugetraut, dass du dir noch einen starken Kaffee kochst und anschließend eine oder zwei Stunden für deine Klausuren lernst. War die Schicht so schlimm? Was ist denn passiert?«

Alex ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen und nahm einen großen Schluck aus der Bierdose. »Schlimm ist gar kein Ausdruck«, stöhnte er. »Und dabei hat die Schicht eigentlich ziemlich langweilig angefangen. Mit einem verstauchten Knöchel und einer Schnittwunde im Handballen. Beides hätte im Grunde keinen Notarzteinsatz erfordert, aber manche Menschen sind eben extrem vorsichtig und ängstlich. Nun ja, besser so als umgekehrt.«

»Und dann?«

»Anschließend hatten wir eine lange Pause, in der überhaupt nichts passiert ist. Wir haben uns schon allen Ernstes überlegt, uns irgendwoher eine Pizza zu organisieren und den Rest des Abends einfach zu genießen. Aber was als nächstes kam …« Alex schüttelte den Kopf und drehte die Bierdose zwischen seinen Händen. »Gegen halb ein Uhr morgens wurde uns ein Unfall in unmittelbarer Nähe des Englischen Gartens gemeldet. Ein dunkelblauer Toyota war, so hieß es, auf einer schmalen Nebenstraße in Alt-Schwabing von der Fahrbahn abgekommen und frontal gegen einen Baum geprallt, wobei alle drei Insassen verletzt wurden. Die Beschreibung der Polizei klang nach einem ziemlich schweren Unfall, aber der Anblick, als wir die Unfallstelle erreichten, hat unsere morbidesten Fantasien noch getoppt. Es war einfach schrecklich! Der Wagen war nur noch ein einziger Trümmerhaufen.«

»Eine Trunkenheitsfahrt?«, fragte Sina. »Ich meine, um diese Uhrzeit …«

»An eine Trunkenheitsfahrt haben spontan auch wir gedacht. Also in erster Linie die Polizei und natürlich Dr. Rudolf. Du kennst ihn ja. Aber es hat sich herausgestellt, dass der junge Mann namens Bert Lässer, der am Steuer des dunkelblauen Toyota gesessen ist, zwar ein wenig Alkohol getrunken hatte, aber weit unter der Promillegrenze lag. Warum er die Herrschaft über den Wagen verloren hat … keine Ahnung. Er hat einen offenen Schulterbruch erlitten, der ziemlich übel ausgesehen hat, und wir haben ihn und seine Freundin Lara Weigand, die auf dem Beifahrersitz gesessen ist, sofort in die Behnisch-Klinik gebracht. Dr. Rudolf hat bei Lara Weigand eine Gehirnerschütterung und mögliche innere Verletzungen diagnostiziert.«

»Und die dritte Person?«, erkundigte sich Sina. »Hast du nicht von drei Insassen des Wagens gesprochen?«

Alex nickte und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Bierdose. »Bei der dritten Person handelt es sich um die jüngere Schwester des Wagenlenkers, Ylva Lässer. Sie hatte rein äußerlich überhaupt keine Verletzungen. Zwar war sie bewusstlos, aber …«

Sina schluckte beklommen und richtete ihre Augen fragend auf Alex. »Aber?«

»Ich dachte spontan, sie hätte vielleicht, genau wie Lara Weigand, eine Gehirnerschütterung erlitten, doch das war es nicht. Als Dr. Rudolf ihren Puls fühlte, war ihr Herzschlag kaum noch zu spüren und hat wenige Sekunden später ganz ausgesetzt. Wir haben sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, und auch Stefan, der Neue, hat sich als sehr umsichtig und nervenstark erwiesen, aber es hat nichts genützt. Wir haben es nicht geschafft, Ylva Lässer wieder ins Leben zurückzuholen. Alle unsere Bemühungen waren vergeblich.« Alex stellte die Bierdose ab und stützte müde seinen Kopf in beide Hände. »Und dabei war Ylva erst sechzehn Jahre alt.«

»Wie schrecklich!« Eine Weile saßen Sina und Alex nur stumm nebeneinander. »Und wie alt sind die anderen beiden Unfallopfer?«, wollte Sina wissen. »Der junge Mann, der am Steuer gesessen ist, also Ylvas älterer Bruder? Und seine Freundin?«

»Sie sind beide achtzehn. Bert Lässer hat erst seit einem halben Jahr den Führerschein. Er geht, genau wie seine Freundin, noch zur Schule. Ins Albert-Einstein-Gymnasium.«

Sina hob die Augenbrauen. »Und das Auto? Gehört das Auto diesem Bert Lässer?«, fragte sie. »Obwohl er noch Schüler ist?«

Alex schüttelte den Kopf. »Beim Blick in die Fahrzeugpapiere hat sich herausgestellt, dass der blaue Toyota Berts Vater gehört. Bert hat ihn nach eigenen Angaben mit seiner Erlaubnis benutzt. Ausgerechnet für die Unglücksfahrt. Die drei jungen Leute hatten den Abend im ›Wild Tiger‹ verbracht, einer bei Jugendlichen ihres Alters sehr beliebten Disco. Von dort sind sie anscheinend kurz nach Mitternacht aufgebrochen, um Lara bei ihren Eltern abzusetzen und dann selbst nach Hause zu fahren. Lara wohnt in Alt-Schwabing, ziemlich nahe am Englischen Garten. Die drei scheinen also schon fast vor Laras Haustür gewesen zu sein.«

»Und dann in letzter Minute noch so ein entsetzlicher Unfall!« Sinas Augen waren voller Mitgefühl. »Weiß man denn, woran Berts jüngere Schwester letztendlich gestorben ist? Ich meine, Herzversagen ist schließlich immer die Todesursache. Aber es muss ja durch irgendetwas ausgelöst worden sein.«

»Natürlich, du hast vollkommen Recht«, gab Alex zurück. »Aber was Ylvas Leben wirklich ausgelöscht hat, wissen wir leider nicht. Letzte Klarheit könnte wohl nur eine Obduktion schaffen. Allerdings zweifle ich daran, dass ihre Eltern sich dazu entschließen können. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass ich an ihrer Stelle dazu in der Lage wäre.«

»Ich wäre es mit Sicherheit auch nicht. Trotzdem könnte es, je nach Veranlagung, für die Eltern durchaus auch ein Trost sein, über die wirkliche Todesursache Bescheid zu wissen.«

»Möglich. Denkst du, dass Berts Vater Bert den Wagen wirklich geliehen hat? Die Polizei hatte da ihre, wie ich finde, absolut berechtigten Zweifel. Und Dr. Rudolf hat Bert, was den ›Mietwagen‹ aus Papas Garage anging, sowieso kein Wort geglaubt.«

»Egal ob offen oder heimlich geborgt«, meinte Sina. »Ich fürchte, der Tod seiner jüngeren Schwester wird den armen Bert für den Rest seines Lebens verfolgen. Wenn ich als Autofahrerin den Tod eines Menschen verschuldet hätte, würde ich mich für den Rest meines Lebens nie wieder hinters Steuer setzen. Dann würde ich nur noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Oder zu Fuß gehen.«

»Das kann ich durchaus nachvollziehen«, stimmte Alex zu. »Andererseits macht ein solcher Verzicht das Unfallopfer auch nicht wieder lebendig.« Er schwieg eine Weile. »Ich frage mich, wie Bert auf einem Sträßchen völlig ohne Verkehr einfach an den nächsten Baum fahren konnte«, sagte er schließlich. »Ob er eingeschlafen ist? Der berüchtigte Sekundenschlaf nach einer langen Nacht in der Disco? Oder hat es zwischen den drei Jugendlichen wegen irgendetwas Streit gegeben, sodass Bert abgelenkt war?«

»Beides wäre möglich«, pflichtete Sina Alex bei. »Was passiert jetzt eigentlich mit Bert in der Behnisch-Klinik? Der offene Schulterbruch muss doch operiert werden, oder?«

»Auf alle Fälle. Wahrscheinlich liegt der Ärmste gerade auf dem Operationstisch. Hoffen wir, dass er alles gut übersteht.«

»Ja, hoffen wir, dass er die Operation gut wegsteckt. Und auch die seelische Belastung, die auf ihn zukommt und derer er sich wahrscheinlich noch nicht einmal bewusst ist«, ergänzte Sina. »Er weiß doch sicher noch gar nicht, dass seine Schwester tot ist, oder?«

»Natürlich weiß er es nicht.«

»Und wer wird es ihm sagen?«

»Ich schätze, dass Onkel Daniel diese Aufgabe übernehmen wird«, vermutete Alex. »Ich für meinen Teil bin jedenfalls froh, dass sie mir erspart bleibt.«

»Das kann ich verstehen.« Sina erhob sich und griff nach Alex‘ Bierdose. »Magst du noch etwas trinken?«, fragte sie. »Oder soll ich dir lieber etwas zu essen machen? Du hast garantiert seit dem Mittagessen nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Alex. »Trotzdem habe ich im Moment wirklich keinen Hunger. Ich würde am liebsten nur noch schlafen, aber wahrscheinlich verfolgt mich der Anblick des Unfallorts und der toten Sechzehnjährigen noch bis in den Traum.«

Sina trat hinter Alex und legte ihre Hände auf seine Schultern. »Schlaf einfach bei mir«, sagte sie. »Ich nehme dich ganz fest in meine Arme, damit du meine Nähe spürst. Es gibt nicht nur Leid, Tod und Angst auf der Welt. Es gibt auch die Liebe. Und sie ist stärker als alles Negative. Gegen die Liebe kann das Dunkle nicht die Oberhand gewinnen. Nie und nimmer.«

*

Als Bert Lässer blinzelnd die Augen öffnete, wusste er fürs Erste überhaupt nicht, wo er war. Einen Moment fürchtete er schon, in der Schule eingeschlafen zu sein und gleich die Schimpfworte des Lehrers und das Gelächter seiner Mitschüler zu hören, doch dann wurde ihm bewusst, dass er in einem blütenweiß bezogenen Krankenbett lag. Er sah den Ständer mit der Infusionsflasche neben seinem Bett und die Kanüle, durch die die Infusionsflüssigkeit in seine Hand tropfte. Und nun spürte er auch die Schmerzen in seiner linken Schulter.

Er war verletzt, er war in ein Krankenhaus eingeliefert worden …

Der Schrecken, der Bert durchfuhr, als sich ihm plötzlich ein großer, dunkler Schatten näherte, hinderte ihn daran, weiter über seine Lage nachzudenken. Einen Moment lang empfand er nichts als Panik – bis er das Gesicht seines Vaters erkannte, das sich über ihn neigte. »P-Papa«, stammelte er, hilflos wie ein kleiner Junge. »Wo … wo bin ich? Was ist mit mir?«

Seine Frage bewirkte, dass sich die Züge seines Vaters zu einer hasserfüllten Grimasse verzerrten. »Du bist in der Behnisch-Klinik«, antwortete Horst Lässer. »Du bist an der Schulter operiert worden, und die Ärzte sagen, du hättest den Eingriff gut überstanden. Aber ich … ich wollte, du wärest tot. Tot wie Ylva.«

Bert starrte seinen Vater mit großen, entsetzten Augen an. »Was … was sagst du da? Ylva … ist tot? Aber wieso …« Fast war es ihm, als weigerten sich die Worte, über seine Lippen zu kommen.

»Ihr hattet einen Unfall. Du, deine Freundin Lara und deine Stiefschwester Ylva. Auf dem Nachhauseweg von der Disco. Du bist mit achtzig Sachen frontal gegen einen Baum gefahren. Weiß der Geier, warum.«

»Ich … ich bin …« Langsam kam Berts Gehirn wieder auf Touren, und die Erinnerung kehrte zurück.

Er sah die nächtliche Straße vor sich, vom trüben Schein einiger Straßenlampen spärlich erleuchtet. Sie war schmal und lief auf eine Kurve zu. Auf der einen Seite war sie gesäumt von Häusern mit Gärten und auf der anderen Seite von hohen Bäumen, die bereits zum Englischen Garten gehörten. Im nächsten Moment förderte seine Erinnerung das gelbe, leuchtende Augenpaar zutage, das ihn fast zu Tode erschreckt hatte. Gleichzeitig hörte er wieder Laras entsetzten Aufschrei. »Vorsicht, Bert! So pass doch auf! Du fährst ja die Katze platt!«

In einer Reflexhandlung war er spontan auf die Bremse gestiegen und hatte versucht, von dem gelben Augenpaar wegzusteuern, das wie festgewachsen an Ort und Stelle verharrte.

Und dann war alles ganz schnell gegangen. So schnell, dass ihm die Kontrolle über sein Denken und Handeln völlig abhandengekommen war. Er hatte das Lenkrad wie verrückt herumgerissen, aber es hatte plötzlich blockiert und war nicht mehr bereit gewesen, seinen Händen zu folgen. Und dann war unmittelbar vor der Windschutzscheibe ein riesiger Baumstamm aufgetaucht, groß und breit wie ein urweltlicher Mammutbaum. Der Baum war auf die Kühlerhaube des Toyota zugerast. Er, Bert, hatte das Knirschen von Blech gehört. Und gleichzeitig das entsetzte Kreischen von Lara und Ylva. So schrill, dass es fast nichts Menschliches mehr an sich gehabt hatte. Kurz darauf hatte er einen wilden, stechenden Schmerz in seiner linken Schulter gespürt, der so stark gewesen war, dass er für einen Moment sein ganzes Bewusstsein erfüllt und alle anderen Sinneswahrnehmungen ausgeschlossen hatte.

Dann war von einer Sekunde auf die andere alles ruhig gewesen, von Laras Stöhnen neben ihm einmal abgesehen. Aber auch das Stöhnen hatte in seinen Ohren plötzlich seltsam verzerrt geklungen, und die Nacht war mit einem Mal von hellen, zuckenden Lichtblitzen erleuchtet gewesen, die sich in rasender Schnelle wie um sich selbst gedreht hatten.

Als Nächstes war alles in tiefe, undurchdringliche Finsternis und Stille eingetaucht.

Als er, Bert, wieder zu sich gekommen war, hatte sich ein Arzt über ihn gebeugt und ihn mithilfe von zwei Sanitätern vorsichtig aus dem schrottreifen Auto gezerrt. Der Arzt hatte flüchtig seine Schulter untersucht, was höllisch wehgetan hatte. Zu guter Letzt hatte er ihm eine Spritze gegeben, und die beiden Sanitäter hatten ihn zuerst auf eine Bahre und dann in einen Krankenwagen gehoben.

Wo Lara und Ylva geblieben waren, entzog sich seinem Erinnerungsvermögen.

›Ich wollte, du wärest tot. Tot wie Ylva‹, dröhnte stattdessen Horsts Stimme wieder und wieder in seinem Kopf.

Unverwandt schaute Bert seinen Vater an. Hatte Papa das wirklich gesagt? Das … das konnte doch nicht sein. Ylva konnte doch nicht tot sein. Er hatte sich wohl verhört. Und Lara? Was war mit ihr geschehen?

»Wo ist Lara? Und wo ist Ylva? Sind die beiden auch hier im Krankenhaus?«, würgte Bert hervor.

»Lara hat eine Gehirnerschütterung und einen Milzriss. Und ja, sie liegt hier in der Behnisch-Klinik. Es geht ihr den Umständen entsprechend. Was dagegen Ylva betrifft – hast du denn nicht gehört, was ich vorhin gesagt habe? Ylva ist tot. Tot, tot, tot. Mausetot. Und du hast sie auf dem Gewissen.«

Bert schluckte trocken.

Er hatte sich also nicht getäuscht. Ylva gab es nicht mehr. Ylva war … wirklich tot. Sein Herz begann heftig zu hämmern. Wo waren Tote eigentlich? Im Sarg? Im Grab? Oder gab es wirklich so etwas wie ein Jenseits, in dem das Leben weiterging, nur irgendwie anders?

Plötzlich fiel Bert der Tag ein, an dem er Ylva zum ersten Mal gesehen hatte.

Sie war mit ihrer Mutter aus deren weißem Smart gestiegen, wenige Stunden nachdem sein Vater ihm eröffnet hatte, dass es eine neue Frau in seinem Leben gab und dass er sie ihm, Bert, vorstellen wollte.

»Das ist Emma, meine neue Partnerin, von der ich dir erzählt habe. Wir werden heiraten«, hatte Papa gesagt, als Emma und Ylva auf sie beide zugekommen waren. Bei diesen Worten hatte Papa mit ausgestrecktem Arm auf die Frau gewiesen, die nun offenbar seine neue Mutter werden sollte. »Und das ist Ylva. Du hast jetzt eine Schwester«, hatte er dann hinzugefügt. Und ihn sogleich ermahnt, nett zu Ylva zu sein.

Der Name Ylva war ihm, Bert, so fremd gewesen wie das blasse, damals vierzehnjährige Mädchen, das auf diesen seltsamen Namen getauft war.

Am Abend, als er im Bett gelegen war, hatte er auf seinem Handy nach der Bedeutung des Namens gescrollt. Er hatte herausgefunden, dass Ylva ein schwedischer Name war und »Wölfin« bedeutete.

Fast hatte er darüber lachen müssen.

Wie eine Wölfin hatte das Mädchen wahrlich nicht ausgesehen. Eher schon wie ein friedliches, unbedarftes Lämmchen mit ihren hellblonden Haaren und den unschuldig dreinblickenden blauen Augen. Sie war keine Schönheit, aber durchaus hübsch gewesen, hatte allerdings noch sehr kindlich gewirkt. Und, zumindest seiner Ansicht nach, ziemlich langweilig.

Im Laufe der beiden vergangenen Jahre hatte Ylva sich dann als überraschend angenehme Hausgenossin entpuppt. Ohne den geringsten Eigensinn und fast immer freundlich. Sie hatte sich eng an ihn, Bert, angeschlossen, zu ihm aufgeschaut und ihn bewundert. Wie einen großen Bruder eben.

Fast gegen seinen Willen hatte er sie lieb gewonnen.

Dass sie nun tot sein sollte und durch seine Schuld …

Bert konnte nicht fassen, dass er sie nie mehr sehen und nie mehr ein Wort mit ihr reden sollte. Und wie sollte er überhaupt je wieder Emma gegenübertreten, wie sollte er …

»Ich hätte gute Lust, dich wegen fahrlässiger Tötung zu verklagen«, fuhr sein Vater in diesem Moment fort. »Volljährig bist du ja nun, sodass das mildere Jugendstrafrecht nicht mehr gilt. Vielleicht würdest du ins Gefängnis wandern, wo Mörder wie du hingehören. Vielleicht würdest du …«

Horst Lässer verstummte abrupt, als die Tür von Berts Krankenzimmer aufging.

»Hallo, ich bin Alex«, sagte der junge Mann, der eintrat, mit einem flüchtigen Kopfnicken in Horst Lässers Richtung und ging dann zielstrebig auf Berts Bett zu. »Du bist wach? Wunderbar«, begrüßte er Bert. »Ich werde Dr. Norden Bescheid sagen. Er kommt dann sofort zu dir.«

Bert blinzelte unsicher. »Dr. Norden?«, fragte er.

»Dr. Norden ist der Chef dieser Klinik«, erwiderte Alex. »Und einer der Ärzte, die dich behandeln. Er wird dir alles erklären, was du über deine Operation und über deine Rekonvaleszenz wissen musst. Du willst doch wieder stark und kräftig und voll beweglich werden, nicht wahr?«

»Das … das ist mir egal. Es ist mir egal, was aus mir wird. Echt jetzt.«