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Dieses Buch entführt Sie in das Abenteuerland der Phantasie, wo auch unglaubliche Lösungen für reale Probleme möglich werden. Diese Tarot-Geschichten zu den 78 Karten des Rider-Tarots zeigen auf, welche kreativen Lösungen in den Bildern der Tarotkarten enthalten sein können. Sie bringen Ihnen so auf spielerische und einfühlsame Weise den Symbolgehalt der Tarotkarten näher.
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Seitenzahl: 556
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Gudrun Anders
Es war einmal ein Narr ...
Märchen und Geschichten zum Rider-Tarot
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Es war einmal ein Narr...
Märchen zu den großen Arkana
Märchen zu den kleinen Arkana - Die Kelche
Märchen zu den kleinen Arkana - Die Stäbe
Märchen zu den kleinen Arkana - Münzen
Märchen zu den kleinen Arkana - Schwerter
Nachwort
Weitere Bücher der Autorin
Über die Autorin
Impressum neobooks
Märchen und Geschichten zum Rider-Tarot
Gudrun Anders
ISBN der Printausgabe:
978-3-8442-2792-5
© 2012 - Alle Rechte und Copyrights bei der Autorin.
Nachdruck - auch auszugsweise - nicht gestattet.
Bearbeitete Neuauflage des gleichnamigen Buches, Juli 2012.
Coverbild: Fotolia 30703385 © Svetlana Zdanchuk
Bild S. 3, 10 und Rückseite: Fotolia 2521049 - hellsehen © Maria. P.
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Printed in Germany.
Gudrun Anders
Ferberberg 11
52070 Aachen
Telefon 0241 - 70 14 721
www.gudrun-anders.de
Tarot-Blog: http://tarotberatung.blogspot.de/
Im Leben kommt es nicht darauf an,
ein gutes Blatt in der Hand zu haben,
sondern mit schlechten Karten gut zu spielen.
Robert Louis Stevenson, 1850-1894
schottischer Schriftsteller
Sie halten ein Buch in Händen, das einen sehr langen Entwicklungsweg in meiner persönlichen Geschichte hinter sich hat. Alles fing damit an, dass ich irgendwann Ende der 80er Jahre mit einer „Stimme“ konfrontiert worden bin, die mir befahl, zu schreiben. Ich versuchte, mich dieser Stimme, die von überall und nirgends herzukommen schien, zu widersetzen, aber ich konnte es nicht. Und irgendein Teil in mir wollte es auch nicht, aber der war damals so klein, dass ich seine Regung so gut wie gar nicht wahrnahm. Ich weiß bis heute nicht wirklich, was an diesem merkwürdigen (im wahrsten Sinne des Wortes!) Nachmittag passiert ist, ich weiß nur, dass es trotz aller Widerstände letztlich zu meinem Guten war. Ein Freund von mir formulierte es kürzlich so: „Da hat man dir für einen Moment dein Ego geklaut!“ Das mag wohl sein – und heute bin ich froh um diesen kleinen Diebstahl, denn er ermöglichte es mir, ziemlich tief in mich und das innere Wesen von uns allen hinein zu schauen.
Nach diesem denkwürdigen Nachmittag verbrachte ich mehrere Jahre damit, in meiner Freizeit Märchen zu schreiben. Bei allen möglichen Gelegenheiten, angespornt von Fragen an den Lauf der Welt, Fragen zu Beziehungen und zur Lösung von aktuellen Konfliktpunkten, schrieb ich Märchen. Und schrieb mir damit Ballast von der Seele, wie man so schön sagt, der zum Teil jahrelang vergeblich auf Befreiung gewartet hatte. Und jedes Märchen wollte damals von mir (oder besser gesagt von meinem Verstand...) verstanden werden, was eine intensive Auseinandersetzung mit mir und den Gesetzmäßigkeiten in diesem Universum zur Folge hatte.
Ich begab mich also auf die Suche, fütterte meinen Verstand mit Tonnen von esoterischer Literatur und fand dort – nur in andere Worte gekleidet – genau das, was zum Teil auch in meinen Märchen wieder zu finden war. Ich hatte für mich einen Kontaktpunkt zu einer inneren Weisheit gefunden, der wie ein Schlüssel zu einer schweren Eichentür fungierte. Aber ich hatte einen Schlüssel gefunden und damit war ich in der Lage, die schwere Tür wann immer ich wollte zu durchschreiten und hinter der Tür die ewige Freiheit des unendlichen Geistes zu entdecken, die nur darauf wartete, von mir freigelegt zu werden. Sie wollte nicht verschlossen bleiben, sie wollte, dass ich sie finde, so wie mein unbewusster innerster Wunsch es offensichtlich immer gewesen war, sie zu erblicken.
Irgendwann machte es mir dann keinen richtigen Spaß mehr, Märchen zu schreiben und ich tat es nur noch in Ausnahmesituationen, nämlich dann, wenn ich mit einem mir gestellten Problem nicht mehr klar kam. Es war die Zeit, als ich das Rider-Waite-Tarotspiel für mich entdeckte. Die kleinen bunten Bildchen faszinierten mich, zogen mich magisch an und ich versuchte, ihr innewohnendes Geheimnis zu lüften. Wieder stopfte ich Unmengen an Literatur über das Tarot in mich hinein, aber irgendwas fehlte. Es war, als wenn sich das letzte Geheimnis des Tarots mir noch nicht offenbart hatte.
Verstandesmäßig wusste ich, welche Zuordnungen zu den Stäben, Kelchen, Schwertern und Münzen zu machen waren. Aber wirklich befriedigen konnten mich diese Aussagen nicht. Ich besuchte verschiedene Tarot-Seminare und lernte noch mehr über die möglichen Deutungen der Karten, sah mich aber auch damit konfrontiert, mir diese Erklärungen für die einzelnen Karten, von denen es immerhin 78 verschiedene gibt, nicht merken zu können. Ich verzweifelte fast an mir und meiner Merkfähigkeit, als ich ein weiteres Seminar mit einem gänzlich anderen Ansatz besuchte.
Es war am Freitagabend eines Wochenendseminars und was machte der Seminarleiter mit uns? Er saß im Lotussitz auf einem Meditationskissen, neben sich ein Räucherstäbchen und in der Hand einen großen Bergkristall, forderte uns auf, wenn wir eine Frage hatten, zu ihm nach vorn zu kommen, die Frage zu stellen und dafür dann eine Karte zu ziehen. Ich dachte, er würde dann dem Fragesteller die Antwort liefern. Aber: Pustekuchen. Der Fragesteller musste sich die Karte anschauen und sagen, was er darauf sieht.
Mein Verstand rotierte. Wenn das so weiter geht, dann lerne ich ja nichts mehr über das Tarot, dachte ich und hatte ziemliche Fluchttendenzen, mit wehenden Fahnen aus diesem offenbar sinnlosen Seminar zu verschwinden. So ging es über zwei Stunden und mir war gähnend langweilig, denn sehen was ist, das konnte doch schließlich jeder, oder?
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass tatsächlich jeder sehen kann. Und wenn jeder sehen und beschreiben kann, was er sieht, und die Karte nur ein Mittel zum Zweck ist, nämlich endlich einmal wirklich hinzuschauen, dann konnte jeder mit eigenen Worten zur Lösung seines Problems gelangen. Und langsam dämmerte mir, was wir hier taten: Wir benutzten die gezogene Karte dazu, endlich unsere geheim gehaltenen Gedanken der Öffentlichkeit preiszugeben – und hatten uns selbst die Lösung für unser Problem geliefert, wenn wir in der Lage waren, uns selbst zuzuhören. Und hören können ja schließlich – ebenso wie sehen – die meisten von uns...
Und mir dämmerte noch etwas: Was wir hier taten, war genau das Prinzip, das ich auch beim Märchenschreiben all die Jahre angewendet hatte. Eine Kette von Gedankenassoziationen ergab die Lösung des Problems. So wie ich einst beim Märchenschreiben aus verschiedenen Begriffen einen Satz bildete und um diesen eine bildhafte Geschichte ersann[1], die dann ein Märchen ergaben, bildeten sich hier Gedanken zu den Bildern des Tarot, die auch eine Geschichte – vielleicht ein Märchen - ergaben. So gesehen war es dann egal, ob ich Märchen schrieb oder mir die Bilder des Tarot ansah – was dabei herauskam, waren meine eigenen Gedanken, die Form annahmen, angesehen werden mussten und so die Schrittweise Lösung brachten. Die schwere Eichentür wurde lediglich mit einem anderen Schlüssel – der jedoch genauso gut passte – aufgemacht.
Ich machte das Wochenendseminar nicht mehr mit, und fing daraufhin an, mir selbst für jede Karte des Tarotdecks Geschichten zu erzählen. Und indem ich mir die Geschichten erzählte, verstand ich den Sinn des Tarots – für mich! Nach einer Weile fing ich an, für andere Menschen Tarotberatungen zu geben, und verwendete dabei das gleiche Prinzip: Sag mir, was du siehst, denn es führt dich zur Lösung deines Problems! Wir brauchen keinen Lehrer von außen, der uns sagt, wie wir uns und unser Leben handhaben sollen, denn die Weisheit liegt tief in uns selbst verborgen. Wir müssen sie nur sehen wollen und ihr Ausdruck verleihen, damit wir uns selbst wieder glauben.
Es gingen wieder Jahre ins Land, bis ein guter Freund mich darauf brachte, dass es an der Zeit sei, meine vielen Märchen doch auch anderen zugänglich zu machen, die auf der Suche nach der inneren Weisheit waren. Und da ich alle Märchen im PC gespeichert hatte, machte ich zwei Bücher daraus. Während ich mich mit den Märchen von einst beschäftigte – und von ihnen in einen magischen Bann gezogen wurde, denn ich entdeckte Weisheiten, die ich schon wieder vergessen hatte - empfand ich wieder einmal Lust, Märchen zu schreiben. Und so zog ich mein Tarotkartendeck zu Rate und wollte wissen, was das für mich zu bedeuten hatte. Und – wie es manchmal so ist – ich kannte natürlich die Karte, aber sie gab mir in diesem Moment keine Lösung. Mein Verstand war zu aktiv...
Ich fragte mich, was das zu bedeuten habe und aus meinem Inneren tauchte plötzlich ganz klar auf: Dann schreib doch einfach Märchen zu den Tarotkarten! So hast du ein Bild, die Geschichten dazu kennst du ja in- und auswendig. Also brauchst du sie nur noch aufzuschreiben...
Et voilá: Hier sind sie. Mein Kreis hat sich geschlossen. Das Äußere ist nur ein Spiegel der inneren Wirklichkeit und so sind die Tarotkarten für mich nur ein Auslöser, um der inneren Weisheit wieder näher zu kommen. Aber bitte: Die hier beschriebenen Märchen sind MEIN persönlicher Weg in MEIN Inneres – und haben vielleicht mit Ihnen nicht das Geringste zu tun.
Vielleicht aber haben Sie das doch, denn wir alle haben nur EINEN Kern, mögen Sie ihn nennen, wie Sie wollen - ich nenne ihn GOTT oder SEIN. Und so kann es sein, dass Sie mit einem Märchen etwas anfangen können, weil es auch Ihre innere Thematik betrifft, die Sie von ihrem Inneren, von Gott in sich, fern hält. Ein anderes Märchen sagt Ihnen vielleicht gar nichts, weil Sie dieses Thema für sich schon gelöst haben.
So bieten Ihnen die Märchen EINEN Lösungsweg an, diese Welt mit Ihren Alltagsproblemen für einen Moment einmal anders zu sehen, denn auch wenn all dies Märchen sind, die von der Phantasie für die Phantasie gedacht und geschrieben wurden, so beinhalten sie Lösungsansätze, innere Werte, die wir manchmal nicht sehen können, die uns aber durch das Lesen und Beschäftigen mit diesen Qualitäten wieder ins Bewusstsein gelangen. So kann es sein, dass Sie wieder Mut fassen, ein wenig Vertrauen gewinnen oder auch mal Ihren Tränen freien Lauf lassen, um sich (wieder) auf eine höhere Qualität einzulassen.
Wenn Sie als Leser auch nur eine einzige Zeile in diesem Buch berührt, dann habe ich viel erreicht, habe einen Samenkorn der Erkenntnis pflanzen dürfen, der vielleicht einmal ein großer stattlicher Baum in Ihrem Inneren wird. Das jedenfalls wünsche ich Ihnen von Herzen. Mögen Sie Ihr inneres Wesen berühren und hier die Antworten finden, die sie brauchen. Es ist ganz einfach, wenn man erst einmal damit angefangen hat. Und es wird für Ihr Leben eine unendliche Bereicherung sein.
So wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen und beim „Berühren-Lassen“.
Ihre
Gudrun Anders
Mit Hilfe von Karten ist ein geübter Kartenleger in der Lage, etwas über persönliche Situationen, Probleme oder Fragen des täglichen Lebens auszusagen. Während einer Sitzung oder Beratung werden die Karten nach bestimmten Legesystemen ausgebreitet. Die unterschiedlichen Positionen können dabei über unterschiedliche Aspekte des Lebens wie beispielsweise Ängste, Hoffnungen oder gedankliche Einstellungen Auskunft geben. Somit ist Kartenlegen heute im Bereich der Lebensberatung angesiedelt. Aber auch immer mehr Therapeuten und Teamleiter nehmen die Hilfestellung der Karten in Anspruch.
[1]
Es war einmal ein junger Mann, der das Leben noch nie so recht ernst genommen hatte. Und weil er das nicht tat, wurde er von jedermann nur „Der Narr“ gerufen. Er war ein Mensch, der, so oft er nur konnte, aus der Rolle fiel. Wenn Trauer von ihm erwartet wurde, schäumte er über vor Lebendigkeit. Erwartete man Mitgefühl, lachte er die Menschen aus.
Wollte man ihn im Abendkleid sehen, so kam er stets in Lumpen. Viele wollten ihn umerziehen, ihn „gesellschaftsfähig“ machen, aber niemanden gelang es. Viele blickten ihn hochnäsig und erhaben von oben herab an, aber den Narren störte das nicht. Und dann gab es noch welche, die beneideten ihn, denn so mancher hätte gern seine Lebenseinstellung gehabt. Aber keiner traute es sich zu.
Eines Tages wurde es dem Narren in der Stadt zu langweilig und so packte er sein Bündel, rief seinen kleinen, weißen Hund zu sich und machte sich auf, die Welt noch weiter zu erkunden. Sie wanderten über Wiesen und Felder, schliefen unter dem Sternenhimmel und freuten sich von Herzen über ihre Freiheit. Und als sie einige Zeit gewandert waren, kamen sie an eine Gebirgskette und der Weg führte sie steil bergauf. So manch einer hätte unter stöhnen aufgegeben, der Narr aber lachte nur und kletterte weiter. Oben auf dem Plateau angekommen, reckte er die Arme gen Himmel und jubelte vor Freude.
„C’est la vie!“, rief er. „Was kostet die Welt?“ Und dann brach er in Lachen aus. Es war wie ein Rausch, der ihn erfasst hatte, ja, vielleicht Ekstase. Und die Sonne, die unbarmherzig vom Himmel schien, verstärkte dieses Hochgefühl des Narren noch um einiges. Sorglos und den Kopf gen Himmel gereckt, ging er frohen Mutes weiter. Er machte sich so wenig Gedanken über seinen weiteren Weg, dass er den Abgrund, der zu seinen Füßen lag, gar nicht mehr sah. Oder wollte er ihn nicht sehen? Schritt für Schritt marschierte er dem sicheren Tod entgegen.
„Wau, wau“, bellte der Hund aufgeregt. „Gleich stürzt du ab und dann gibt es dich nicht mehr auf der Welt. Wau, wau! Bleib‘ stehen, du Narr!“ Und war selbst schon dem Absturz nahe.
„Ach, Hund, was hat mein Leben schon zu bedeuten? Schau, es gibt so viele Menschen auf dieser Welt, da ist es um diesen Körper hier nicht schade. Ich habe so viel gesehen in diesem Leben. Schönes und auch Leid. Und weißt du was, mein Hund?
Ich habe viel darüber nachgedacht und ich weiß: Alles ist vergänglich! Warum denn nicht auch ich im Hier und Jetzt? Vielleicht ist auch dieses Leben Illusion? Kannst du mir das beantworten? Nein? Dann lass mich weitergehen und sehen, was das Leben noch so alles zu bieten hat. Bis jetzt war es immer schön! Warum sollte es nicht so bleiben?“
Und er küsste noch einmal die weiße Rose, die er in Händen hielt, grüßte dann den Himmel und ging weiter.
Niemand weiß, wie die Geschichte des Narren weiter ging, aber man erzählt sich, dass es hier und da einige Menschen gibt, die sich auf den Weg gemacht haben, das Leben, so wie der Narr es ihnen zeigte, zu erkunden.
Es war einmal ein junger Mann, Konstantin mit Namen, der schon von klein auf anders war als alle anderen. Wenn seine gleichaltrigen Kameraden Räuber und Gendarm spielten, lag er auf seinem Bett und las Bücher. Wenn die anderen am See spielten und um die Wette schwammen, untersuchte er die Bäume und Pflanzen am Seeufer. Wenn die anderen Streiche ausheckten, studierte er die wilden Tiere im Wald und freundete sich mit ihnen an. Konstantin war ein Sonderling und es störte ihn wenig, da er mit seiner Welt vollauf zufrieden war.
Eines Tages aber hatte er ein Problem. Er hatte sich so viel Wissen angeeignet, das sein Kopf ihm für sein Problem allerlei mögliche Lösungen anbot. „Du kannst dies tun“ sagte eine Seite ihn im und eine andere antwortete: „Tue besser das und das“. So war Konstantin gefangen und konnte eigentlich gar nichts machen, weil er sich weder für noch gegen etwas entscheiden konnte.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit anderen Dingen zu beschäftigen und die Lösung seines Problems dem Schicksal zu überlassen. Und so ging er in den Wald, besah sich wieder einmal die Tiere, Bäume und Pflanzen und wurde langsam wieder ruhiger. Aber eine Frage beschäftigte ihn an diesem Tag doch sehr: Wie schaffte man es, alle Kräfte im Gleichgewicht zu halten, damit man sich immer gut fühlte? Bislang, so dachte er, hatte er das ganz gut gemanagt, aber ihm schien so, als wenn er eine andere Ebene der Betrachtung einnehmen würde, die ihm bislang noch nicht zugänglich gewesen war.
Und mitten im Wald wurde er plötzlich stutzig, denn ein ungewohntes grellgelbes Licht schien hier auf einmal, das mehr als ungewöhnlich für den tiefen Wald war. Aber neugierig wie er nun einmal war, zog es ihn fast magisch zu diesem Ort. Hinter einem Baum versteckt erblickte er einen Tisch, auf dem viele Utensilien lagen und einige blitzten golden in dem Licht.
Er versteckte sich eine Weile und beobachtete. Aber nichts rührte sich und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, der diese Dinge gehören konnten. So tastete er sich langsam vorwärts und unter mehrmaligem in alle Richtungen schauen ging er ganz nah an den Tisch heran.
Als erstes nahm er die rote Robe, die zu oberst auf dem Tisch lag. Eine innere Stimme riet ihm, die Robe über sein weißes Kleid zu ziehen. Und als er sie überstreifte, spürte er plötzlich ganz deutlich, dass er mehr Energie als zuvor hatte. Warum das so war, konnte er sich allerdings nicht erklären. Dann entdeckte er einen Zauberstab und nahm ihn zur Hand. Und wie von magischer Hand gezogen schoss der Zauberstab gen Himmel und Konstantin war dem machtlos ausgeliefert, ja, er hatte nicht einmal die Möglichkeit, seinen Arm wieder herunter zu nehmen. Jetzt wurde ihm doch ein wenig mulmig, denn hier waren eindeutig magische Dinge am Werke, die er nicht einschätzen konnte und auch gar nicht in seinem Leben haben wollte.
„Ob du sie haben willst oder nicht, steht hier eigentlich nicht zur Debatte“, sagte da plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund, aber Konstantin konnte sich nicht bewegen, um nachzusehen, wer dort hinter ihm stand. „Ob du es willst oder nicht, du bist der Mittler zwischen Himmel und Erde. Du bist der Magier, der alle Geschicke lenkt. Du hast gefragt, wie du die Kräfte beherrschen lernen kannst – gut, hier ist die Antwort.“
„He, Moment mal“, hob Konstantin zu einer Abwehr an, denn so genau hatte er es eigentlich nicht wissen wollen und schon gar nicht mit ihm selbst als lebendes Versuchsobjekt.
Aber er kam nicht mehr weiter, die Stimme unterbrach ihn sofort: „Du bist das Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Dein ganzes Leben lang forschst du schon nach den Hintergründen des Seins und hast sie nicht gefunden, weil dir ein Schlüssel fehlte. Du hast dich als getrennt gesehen – und das ist unmöglich. Du bist die Kraft der Elemente, die du nutzen solltest. Du hast gedacht, du benutzt die Kräfte, aber das ist nicht richtig. Du brauchst ein neues Verständnis der Zusammenhänge, dann wird das für dich begreiflicher.“
Es entstand eine Pause und Konstantin hatte sich inzwischen an die vermehrte Energie, die durch seinen rechten Arm in ihn einfloss mehr gewöhnt, denn er hatte entdeckt, dass er diese unglaublichen Energien durch seinen linken Arm in den Boden abfließen lassen konnte. So konnte er endlich den Arm wieder herunter nehmen, aber sich bewegen oder gar umdrehen konnte er noch immer nicht.
Dann sprach die Stimme weiter: „So will ich dir die vier Kräfte des menschlichen Daseins erklären. Die erste Kraft ist die Kraft des Gefühls oder auch die Kraft deiner gesammelten Lebenserfahrungen. Fühle deine Gefühle, lasse sie fließen, beobachte sie und lerne daraus. Sie sind deine treuesten und wertvollsten Begleiter. Das Symbol des Gefühls ist der Kelch, in den alles fließt und aus dem heraus alles genährt werden kann.“ Konstantin nahm den Kelch zur Hand und betrachtete ihn genau, während er sich die Worte der körperlosen Stimme sehr gut einprägte. So sollte von heute an jeder Kelch an die Worte erinnern.
Dann sprach die Stimme weiter: „Die zweite Kraft ist die Kraft des Schwertes, die sich auf zwei Ebenen ausdrückt. Zum einen als deine Kraft, um die in der physischen Welt zu wehren. Sie steht für Durchsetzungsvermögen und geistige Kraft. Aber es ist auch die Kraft des Verstandes, der zuweilen größer sein möchte als das Herz und seine Gefühle – aber nicht immer richtig. Die Kraft dieses Elementes soll ausschließlich zum Wohle aller eingesetzt werden und niemals zum Spaß.“
Und während die Stimme sprach, hatte Konstantin das Schwert zur Hand genommen und es hin und her gedreht, so dass es in der Sonne blitzte und funkelte. Und auch diesmal prägte er sich die Worte sehr gut ein und fortan sollte ihn jedes Schwert an diese Worte erinnern.
Und die Stimme fuhr fort: „Die dritte Kraft ist die der Münzen, die ein Symbol für alle weltlichen Dinge ist. Bewerte sie nicht über, aber unterschätze diese Kraft auch nicht. Nutze sie weise, dann kann dir in dieser Welt nichts geschehen.“ Und Konstantin hielt die Münze in der Hand, spiegelte sie in der Sonne, drehte sie hin und her und nahm die Worte der Stimme tief in seinem Inneren auf.
Dann sprach wieder die Stimme zu ihm: „Die vierte und letzte Kraft ist die Kraft der Stäbe. Es ist die Energie des inneren Feuers, deiner Leidenschaft, deines Ausdrucks und deiner Lebendigkeit. Lasse diese Energie niemals versiegen, denn es ist auch die Energie deiner Kreativität und damit der Arbeit, die dir wiederum die Münzen bringt, die du benötigst.“ Konstantin besah sich den Stab genau, drehte und wendete ihn und merkte sich die Informationen, die die Stimme ihm gab, sehr genau.
Konstantin nahm noch einmal alle Gegenstände in die Hand, besah sich ihr Aussehen und merkte sich jedes Detail ihrer Beschaffenheit, damit er sie niemals vergessen konnte. Und er fragte sich, wie er jemals alles dieses Wissen anwenden sollte, denn es war nicht leicht, immer und zu jeder Zeit alle Elemente im Gleichgewicht zu halten.
Da schaltete sich die Stimme wieder ein: „Das ist auch nicht nötig. Denke nur daran. Die Anteile der Elemente werden von Situation zu Situation immer schwanken. Mal ist dieses mehr und dann wieder das andere weniger. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass du der Magier bist, der sich entscheiden muss, wie viel er von welchem Element in der jeweiligen Situation benutzen möchte. Vergiss nicht: Du bist der Magier. Du entscheidest. Immer.“
Plötzlich hatte Konstantin das Bedürfnis, über all das nach-zudenken, was er gehört hatte. So zog er den Umhang wieder aus und legte ihn ordentlich auf den Tisch zurück. Er schaute noch ein letztes Mal auf die Gegenstände und machte sich dann auf den Nachhauseweg. Nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um, aber der Tisch und alle Utensilien waren verschwunden.
Aber das Wissen in seinem Kopf war noch da und ein Satz wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen und er überlegte viele, viele Tage, was die Tiefe seiner Bedeutung war: „Vergiss nicht: Du bist der Magier. Du entscheidest. Immer.“ Und eines Tages hatte er begriffen und da war er wirklich der Magier seines Lebens geworden – und auch sein Problem, mit dem er sich plagte, war zu seiner Zufriedenheit gelöst.
Es war einmal eine junge Frau, Esehfoneh war ihr Name, die schon von Geburt her anders war als alle anderen. Als Baby schrie Esehfoneh nur sehr wenig, was ungewöhnlich war und als sie heranwuchs, sagten viele Leute über sie: „Dieses Mädchen wird einmal etwas Besonderes!“ Keiner konnte so recht sagen, woran das lag. Es war einfach ihre Ausstrahlung – eine gewisse Ruhe lag in ihrem Wesen, die scheinbar durch nichts zu erschüttern war.
Schon im zarten Alter von noch nicht einmal acht Jahren fragte Esehfoneh ihre Eltern, wo Sie Gott finden würde und wie das Universum funktioniert. Und ihre Eltern merkten, dass sie mit diesem Kind zwar gesegnet, aber auch völlig überfordert waren und suchten verzweifelt nach einem geeigneten Lehrer für ihre Tochter, aber die Suche gestaltete sich sehr schwierig.
Eines Tages klopfte es unvermittelt an ihre bescheidene Türe und vor der Tür stand ein Mann im langen, blauen Priestergewand, der einfach und schlicht nur sagte: „Ich bin gekommen, um eure hochwohlgeborene Tochter mit mir mitzunehmen. Sie soll die Hohepriesterin des Landes werden. Bitte packt ein paar Sachen für Esehfoneh zusammen.“
Kaum jemand sprach ein Wort und widerspruchslos ging Esehfoneh mit dem Priester und seinem Gefolge mit. Ein jeder war ein wenig traurig, aber alle wussten auch, dass dieses das Beste für alle war.
In den folgenden Jahren hatte Esehfoneh sehr, sehr viel zu lernen. Sie hatte nur wenig Zeit, ihre leiblichen Eltern zu besuchen, so sehr nahm sie die Priesterschule in Anspruch. Sie lernte vieles über Kräuter und natürliche Medizin, Gott, das Universum und auch die alten Weisheitslehren, die sie sehr faszinierten.
Nach einigen Jahren der Ausbildung kam die Zeit der Priesterweihe für Esehfoneh immer näher. Sie war ein bisschen nervös, denn sie wusste nicht wann und von wem sie der Prüfung unterzogen werden sollte. Es konnte jederzeit sein ohne dass sie es merken würde. So ging sie jeden Tag an ihren Lieblingsort und meditierte dort eine Weile, um sich auf das große Ereignis vorzubereiten.
Eines Tages saß sie dort wieder und war in ihr Buch der Weisheit, die Tora, vertieft, als ein junger Mann zu ihr trat und sie fragte: „Werte Hohepriesterin, bitte lasst mich teilhaben an Eurem Wissen und sagt mir, wie ich ein rechtes Leben führen kann. Mein Leben wurde durch vielerlei Umstände aus der Bahn geworfen und ich bin auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Bitte gebt mir eine Antwort, damit ich wieder den Mut zum Leben finde!“
„Seht, guter Mann“, antwortete Esehfoneh und schaute ihm dabei ruhig in die Augen, „ich kann euch nicht helfen, das müsst ihr schon selbst tun. Ihr selbst müsst den Sinn Eures Lebens finden. Ich kann Euch nur aus meiner eigenen Erfahrung erzählen, wie ich die Welt sehe. Dann müsst ihr hingehen und eure eigenen Lebenserfahrungen sammeln.“
„So erzählt mir, was ihr erfahren habt!“, sprach der junge Mann und setzte sich ihr gegenüber, um ihren Worten zu lauschen.
„Guter Herr“, sprach Esehfoneh dann, „dieses Leben ist nicht immer das, was es scheint. Wir als Menschen sitzen immer zwischen den Säulen, so wie ich hier ebenfalls zwischen den Säulen sitze. Immer haben wir abzuwägen, denn wir leben in zwei Welten gleichzeitig. Licht und Schatten sind uns immer präsent und dessen sollten wir uns stets bewusst sein. Das eine ohne das andere kann es nicht geben, denn beide Säulen tragen uns. Die eine steht als Wahrzeichen des Lichtes und damit der allzeitigen Gegenwart von Gott und der Liebe, die andere für unsere Schatten der Angst und Zweifel, denen wir von Zeit zu Zeit unterliegen. So können wir nur eines tun: Versuchen, das rechte Maß zwischen beiden zu finden.“
„Das kann ich verstehen“, sagte der junge Mann, „ähnliches habe ich für mich schon herausgefunden. Aber praktisch umsetzen und anwenden kann ich das noch nicht. Bitte sagt mir, was ich tun kann.“
„Guter Herr“, sprach Esehfoneh dann weiter, „jeder Tag ist ein neuer Tag im Kreislauf des Lebens. Wir sollten über die vergangenen Tage nachdenken, aber die Erfahrungen dieser Tage nicht als Grundlage für diesen neuen Tag benutzen. So wie hinter mir der Vorhang des Vergessens hängt, hinter dem ich in meine eigene Vergangenheit schauen kann, wenn ich will, so schlage ich vor, hängt auch ihr einen Schleier vor die Vergangenheit, damit ihr unbelastet dem neuen Weg ins Auge schauen könnt. Wir müssen nach vorn schauen, niemals zurück. Uns jeden Tag die tragenden Säulen der Gegenwart vergegenwärtigen und so unseren Weg unbeirrt weiter gehen.“
Der junge Mann dachte einen Moment nach und sah Esehfoneh erhobenen Hauptes an ihrem Platz sitzen. „Aber das kann doch noch nicht alles sein...“, sprach er und hielt dann wieder einen Moment inne. „Es gibt auch noch die Welt der Gefühle, die mich immer wieder durcheinander bringt.“
„Das ist richtig, junger Mann“, meinte Esehfoneh dann weiter und rückte ihren blauen, wallenden Umhang ein wenig zurecht, der sie vor dem leichten Wind schützte. „Gefühle sollten fließen, so wie dieser weiche Stoff meines Umhanges. Es ist gut, zu empfinden, denn das macht unser Menschsein aus. Manchmal sind es Gefühle der Angst, die an der Oberfläche des Bewusstseins sind. Und manchmal ist es Liebe – zu den Menschen, zur Natur, zu Tieren und zu Dingen. Aber alle Gefühle sind gleich gut und sollten stets gefühlt werden, damit sie ihm Fluss bleiben und die Energien des Körpers nicht stören. Nur wenn diese im Fluss gehalten werden, kann es auch dem Körper gut gehen und er wird vor Krankheiten bewahrt.“
„Auch das kann ich verstehen, verehrte Dame“, meinte der Mann und schaute dabei ein wenig traurig aus. „Aber wenn doch diese Gefühle so mächtig sind und ich sie nicht kontrollieren kann... – dann zieht es mich fort und ich bin gar nicht mehr ich selbst. Wie kann ich das ändern?“
„Ich, junger Herr, kann es nur durch das Fühlen als solches verändern. Denn zeigt sich ein Gefühl, so ist das Gegenteil davon nicht weit entfernt. Erinnere dich an die Säulen, zwischen denen wir alle sitzen. Nur Liebe und Angst können uns tragen und wir müssen entscheiden, welches wir empfinden wollen.“
Der junge Mann dachte einen Augenblick über das Gesagte nach und schwieg. So sprach Esehfoneh nach einer kurzen Pause noch weiter: „Wir als Menschen können aus dem Innen und dem Außen lernen. Im äußeren Leben können wir uns die Bücher der Weisheit nehmen, um eine Anregung zum Nachdenken zu haben.“ Und sie zeigte dem jungen Mann das Buch, das sie in ihrem Schoß hielt. Dann sprach sie weiter: „Im Inneren können wir unseren Gefühlen lauschen und unsere Eingebungen wahrnehmen, die uns den rechten Weg weisen.“ Dabei zeigte sie dem jungen Mann eine kleine Mondsichel, die immer zu ihren Füßen lag. „Wir müssen lernen, darauf zu hören“, sprach sie weiter, „denn das Buch der Weisheit steht zwar geschrieben, aber es ist auch in unserem eigenen Inneren zu finden. Die Wahrheit deines Lebens findest du ausschließlich in dir selbst.“
In diesem Moment fiel der junge Mann auf die Knie und verneigte sich vor Esehfoneh so tief, das sein Kopf den Boden berührte. Aus dem Umkreis kamen dann plötzlich Frauen und Männer hervor, die Esehfoneh so in das Gespräch vertieft gar nicht hatte kommen sehen. Und alle verneigten sich vor ihr.
„Wir verneigen uns vor dir, ehrwürdige und ehrenwerte Hohepriesterin. Du hast die Prüfung deines Lebens bestanden, denn du weißt, was das wahre Leben ausmacht. Wir heißen dich im Kreis der Hohepriester herzlich willkommen. Mache deinem Amt weiterhin Ehre!“
Esehfoneh war sprachlos vor Erstaunen. So hatte sie es sich nicht vorgestellt. „Ich habe doch nur aus meiner Erfahrung gesprochen!“, rief sie aus. „Die Prüfung war ganz einfach!“
„So ist das Leben, wenn man es richtig verstanden hat!“, rief es aus der Menge zu ihr zurück. „Beherzige es für immer und du wirst ein wunderbares Vorbild für viele Menschen sein!“
Da fiel auch Esehfoneh auf die Knie nieder und gelobte in Ehrerbietung: „So will ich mit meinem Wissen, meiner Erfahrung und meinen wertvollen Gefühlen ein Diener der Menschheit sein – jetzt und für immer!“
Und dann erhielt Esehfoneh in einer feierlichen Zeremonie ihre Priesterweihe. Fortan war sie die Hohepriesterin und viele, viele Jahre diente sie den Menschen, unterrichtete sie in den Weisheitslehren und gab ihnen Mut und Kraft.
Es war einmal eine junge Frau, Juanita war ihr Name, die sehr früh schon ihre Eltern bei einem tragischen Unfall verloren hatte. So wuchs Juanita bei verschiedenen Tanten und Onkeln auf, die sich aber kaum um sie kümmerten, sie eher als Last empfanden und etwas, das nicht in ihre Familie gehörte. Aber da sie das Kind einer Verwandten war, musste man ihr wenigstens Unterkunft gewähren und etwas zu Essen geben. Manchmal musste Juanita aber auch sehr schwer dafür arbeiten, das sie etwas zu Essen bekam. Ihre Kleidung war stets abgetragen, da sie die Kleidung der bereits größeren Kinder auftragen musste.
Juanita war es nicht möglich, in der Kindheit und frühen Jugend Anschluss an die Familien, in denen sie lebte, zu finden, und so verbrachte sie viel Zeit allein im Wald, wo sie ihre Freunde – die Pflanzen und Tiere – fand. Es störte sie also nicht sonderlich, eigentlich keine Familie zu haben, aber in ihr und über ihr hing immer ein Hauch von Traurigkeit, der nie richtig verschwinden wollte. Juanita grübelte viel darüber nach, was sie in und mit ihrem Leben anfangen wollte, aber den rechten Dreh fand sie nicht. So ging sie wieder und wieder in den Wald und hoffte darauf, dass eines Tages eine Lösung ihres Problems von allein kommen möge.
Eines Tages, es war Juanitas 16. Geburtstag, war es dann so weit. Die Familie in der sie gerade wohnte, hatte ihren Geburtstag vergessen und den Tag wie gewöhnlich begonnen. Da sie keiner beachtete und niemand etwas von ihr wollte, ging Juanita allein in den Wald und pflückte traurig ein paar Blumen. Für eine kurze Weile schmuste sie mit einem kleinen Häschen und dann lief sie weiter, immer tiefer in den Wald hinein. So tief, wie sie niemals zuvor in den Wald gegangen war.
Plötzlich kam sie an eine kleine Lichtung, die wunderschön anzusehen war. Die Lichtung war teilweise mit nahrhaftem Korn bewachsen, rundherum waren wunderschöne Tannen, Fichten und Sträucher gewachsen und ein kleiner Bachlauf schlängelte sich geschickt hindurch.
„Das wäre ein wundervoller Ort zum Leben!“ rief Juanita lauthals über die Lichtung und lief wie ein kleines Kind von einer Pflanze zur anderen und berührte sie sacht. „Hier habe ich alles, was ich brauche. Das Korn wächst, ich habe das klarste Wasser, das ich jemals gesehen habe. Ich habe die Früchte der Erde und des Waldes – was will ich mehr?“ Und dann lief sie weiter und schaute sich ihren magischen Platz an, reckte ihre Arme gen Himmel und sagte laut: „Gott, ich danke dir für dieses Geschenk. Hier will ich leben!“
So baute sich Juanita eine kleine Hütte unter den Bäumen, ernährte sich von den Früchten, die sie im Wald fand und kehrte nicht wieder heim, ja, sie dachte nicht einmal daran, wieder von hier wegzugehen.
Aber eines Tages passierte etwas Merkwürdiges. Sie war gerade auf der Suche nach einigen Früchten, als sie jemanden mitten auf ihrer Lichtung entdeckte. Plötzlich war dort eine Art Thron, auf dem eine Frau im weißen Kleid saß. Juanita versteckte sich hinter einem Baum und beobachtete die Frau eine Weile, die eine mit vielen Diamanten besetzte Krone auf dem Kopf trug. Aber die Frau saß einfach nur da. Sie schien auf etwas zu warten und Juanita hätte zu gern gewusst, auf was.
So verging eine Stunde und niemand regte sich. Dann siegte Juanitas Neugier und sie schlich sich ein wenig näher heran, kam aus der Dunkelheit des Waldes heraus und betrat die offene Lichtung. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, sprach die Frau, die sie nur von hinten betrachten konnte, sie an.
„Ich warte auf dich, Juanita. Ich bin gekommen, dich zu lehren, was eine wahre Frau bedeutet.“ Juanita erschrak zutiefst, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass diese Frau sie kennen könne, geschweige denn, dass sie sie mit ihrem Namen ansprechen würde. „Du kannst ruhiger näher kommen, Juanita. Ich tue dir nichts, im Gegenteil – ich bringe dir Gutes!“ sagte die Frau mit der Krone dann weiter.
Zögerlich ging Juanita näher, wechselte die Richtung, so dass sie die Frau wenigstens von der Seite sah und kam Schritt für Schritt näher. „Wer bist du?“ fragte sie die Frau.
„Ich bin die Herrscherin des Waldes. Ich weiß alles über dich, meine Tochter, denn ich beobachte dich schon lange. Deine Vergangenheit ist kein Geheimnis mehr für mich, deine Gegenwart ist da und deine Zukunft liegt noch im Ungewissen. Aber das werden wir gemeinsam jetzt verändern.“
„Wie sollten wir das verändern können? Und warum sprichst du so merkwürdig mit mir?“ fragte Juanita, die jetzt ganz nah heran gekommen war und die Scheu ein wenig verloren hatte, da sie meinte, nichts befürchten zu müssen.
Und ohne auf die Fragen von Juanita einzugehen, sprach die Frau weiter: „Juanita, ich warte schon seit langem auf dich, denn du bist auserkoren, auf dieser Welt großes zu leisten. Dafür war es erforderlich, dass du viele Jahre hin und her gerissen worden bist. So haben wir sichergestellt, dass du wirklich auf deine Aufgabe vorbereitet werden kannst. Gewissermaßen haben wir dich einer Prüfung unterzogen, die du nun bestanden hast. Jetzt kann deine Ausbildung beginnen.“
„Wer ist ‚wir’ – und was für eine Ausbildung?“, fragte Juanita, der langsam gewahr wurde, dass die schöne, ruhige Zeit im Wald damit wohl vorbei war.
„Wir werden dich auf deine Aufgabe vorbereiten und das nötige Wissen dazu lehren“, antwortete die Frau und ging wieder nicht auf Juanitas Fragen ein. „Nur so viel: Auch du kannst eine Herrscherin sein, wenn du in der Lage bist, deine Macht als Frau wahrhaft gut zu gebrauchen. Du musst die weißen Kräfte der Magie nutzen lernen, die zum Wohle aller Menschen sind. Du musst deine eigenen Energien beherrschen und lenken lernen, damit dich die Krankheit verschont. Du musst deinen Stolz und deine Verehrung gegenüber Gott und der Natur in Ritualen üben, die wir dir zeigen werden, damit du ein wahrer Diener werden kannst. Du musst lernen, dich mit den Elementen zu verbinden, damit dir nichts geschieht. Du musst lernen, die weibliche Macht gut und weise einzusetzen, damit unsere Welt ein wenig besser wird.“
„Oh, je, ich glaube, das ist zu viel für mich“, wagte Juanita einzuwerfen. „Ich bin doch nur ein kleines Dorfkind, dessen Eltern früh gestorben sind. Ich kann nichts, ich habe nichts gelernt und ich weiß nichts, da ich in meinem ganzen Leben noch in kein Buch geschaut habe. Wie also sollte ich euch jemals dienlich sein können?“
„Genau deshalb. Denn du bist unschuldig und deine Gedanken sind trotz aller Schwierigkeiten klar und rein geblieben. Du bist nicht durch Buchwissen geblendet und du hast die seltene Gabe, auf deine innere Stimme und deine Intuition zu hören. Das sind die besten Voraussetzungen dafür, eine wahre Herrscherin zu werden.“
„Aber die ganze Welt sagt doch etwas ganz anderes!“ rief Juanita verzweifelt. „Alle wollen nur eine gute Schulbildung haben und Wissen aus Büchern ansammeln, damit sie vor anderen mit ihrem angeblichen Wissen glänzen können. All das habe ich nicht und werde es niemals haben, denn es interessiert mich nicht!“
„Genau deshalb bist du ja so wertvoll, denn du hast immer nur nach innen geschaut. Du hast in dein Herz gesehen und darin die Wahrheit entdeckt. Jetzt ist es Zeit, ein wenig darüber zu lernen, wie du diese Kraft verfeinern und ausbauen kannst. Wir werden dich in das Reich der Naturgeister einführen. Ich werde dir das Wesen der Meditation lehren und auch, wie du in Kontakt mit den Engeln und Elfen kommen kannst. Wir werden damit arbeiten, dass du deine Energie-ströme kennen lernst und werden dein drittes Auge, in der Mitte der Stirn, öffnen, damit die Bilder der Vergangenheit und die Bilder aus früheren Leben keine Schattenbilder mehr sind.“
„Und wie wird dann meine Zukunft?“ fragte Juanita, die sich mittlerweile zu Füßen ihrer Herrscherin gesetzt hatte.
Zum ersten Mal huschte ein kleines Lächeln über die Lippen der Herrscherin. „Die, meine Tochter, ist zwar noch ungeschrieben, aber ich denke, du wirst eine wundervolle Frau werden, die eine Familie hat und sich dennoch in den Dienst von anderen stellt – zum Wohle der gesamten Menschheit.“
„Gut, dann fangen wir an!“ rief Juanita, die ihr Schicksal ohne Widerspruch einfach akzeptiert hatte und es plötzlich nicht abwarten konnte, bis die Herrscherin ihr ihre Geheimnisse mitteilte.
In den folgenden drei Jahren machte Juanita eine einzigartige Wandlung durch. Durch die Herrscherin kam sie in Kontakt mit den Wesen des Waldes und vernahm ihre wunderbare Botschaft. Sie lernte die Kunst der Meditation und wann immer sie die Augen schloss, reiste sie in ihr innerstes Wesen, zu ihrem innersten Kern, in dem sie einen Teil Gottes erkennen konnte, der in ihr und in jedem anderen Wesen wohnte, gleichzeitig aber auch die ganze Natur selbst war. Sie lernte, ihre Energien und Gefühle zu lenken und zu stabilisieren und sie gewann mehr und mehr Vertrauen in alles – in sich selbst, in Gott, in die Natur, in die Menschen.
Es war eine wunderschöne, aber teilweise auch harte und anstrengende Zeit. Sehr oft fand sich Juanita in Tränen aufgelöst unter einem Baum sitzend wieder. Sie ließ aber ihren Tränen freien Lauf, beruhigte sich und lernte, dass es ihre eigenen Gedanken waren, die sie dazu brachten, sich schlecht zu fühlen.
Nach Ablauf der drei Jahre war Juanita ein ganz neuer Mensch geworden. Sie war zu einer jungen Frau herangereift, der niemand mehr ein X für ein U vormachen konnte. Sie wusste um die Geheimnisse des Menschseins und hatte in die Abgründe der Seele geblickt. Sie war in der Lage, ihre Ängste zu kontrollieren und sie in Liebe zu verwandeln, was das Allheilmittel gegen jede Art von Schmerz war.
Dann eines Tages sprach die Herrscherin zu ihr: „Juanita, wir haben dich gewissenhaft auf deine Aufgabe vorbereitet. Jetzt wird es langsam Zeit für dich, dich wieder unter die Menschen zu begeben und dieses Wissen an andere weiterzugeben. Die Welt muss gerettet und erlöst werden und du bist einer der Boten für eine neue Welt. Verabschiede dich von dieser Lichtung und kehre wann immer du Kraft brauchst hierher zurück. Aber dann gehe hinaus, lebe eine normales Leben und verbreite, wo immer du es kannst, das Wissen, das wir dich lehrten.“
Juanita verbeugte sich tief vor der Herrscherin und dankte ihr von Herzen. Sie versprach, ihr möglichstes zu tun und erbat sich einige Tage des Abschieds, die ihr gewährt wurden. Dann war die Herrscherin plötzlich verschwunden, aber Juanita wusste, dass sie sie jederzeit auf dieser Lichtung erreichen könnte, wenn sie meinte, Hilfe zu brauchen.
Juanita verbrachte einige Tage in Stille im Wald, dann nahm sie ihr kleines, spärliches Bündel und machte sich auf den Weg. Am darauf folgenden Tag kam sie in einem größeren Dorf an, bat um eine Unterkunft, die ihr gegen Mitarbeit im Haus gewährt wurde.
Schon bald erkannten die Menschen des Dorfes aber ihr wahres Wesen und fragten sie um Rat, holten Kräutermedizin bei ihr und brachten ihr die Kinder, die noch nicht getauft waren, damit sie sie segnen konnte. Schon bald war Juanita als Heilerin weit über die Grenzen des Dorfes hinaus bekannt und ihre Arbeit erfüllte sie mit Freude. Sie lebte ein ganz normales Leben, aber sie stellte ihr Leben in den Dienst der höheren Kraft, von der sie so reichlich mit Wissen und Weisheit beschenkt worden war.
Es war einmal eine junge Herrschertochter, Carmina war ihr Name, die mit ihrem Los, die Tochter eines Herrschers zu sein, gar nicht recht zufrieden war. Denn ihr Vater behandelte auch sie wie eine Unter-gebene, nicht aber als die Tochter, die sie nun einmal war. Carmina fehlte die Herzenswärme eines normalen Vaters, das Spiel mit ihm und die Unbeschwertheit. Alles das konnte sie nicht bekommen, denn der Vater behielt auch ihr gegenüber die Unnahbarkeit, die er gegenüber seinen Untergebenen zu zeigen hatte.
Als die Zeit kam, da sich Carmina einen Mann suchen sollte, gab es mit ihrem Vater immer wieder Streit darüber, wie ihr zukünftiger Mann beschaffen sein sollte. Der Vater wollte unbedingt einen Sohn aus edlem Hause, aber das war Carmina egal, denn sie wartete auf den Mann, der ihr Herz wirklich berühren konnte. Immer wieder stellten sich unverheiratete Jünglinge dem Vater vor, aber keiner war gut genug für den Herrschervater. Und wenn er jemanden aussuchte, so schaute Carmina dem jungen Mann in die Augen und fand dort keinen Wiederschein der Seele und ließ den Jüngling wieder gehen.
So verging die Zeit und der Vater wurde immer ungeduldiger. „Carmina, wir haben bald alle Jünglinge dieses Landes hier am Hof gehabt. Du musst dich langsam entscheiden. Ich will, dass du verheiratet wirst und ich will, dass das bald geschieht!“ donnerte der Vater los.
„Vater“, bat Carmina inständig, „so höre mir doch einmal zu... Ich kann nicht einfach irgendwen heiraten. Es muss auch das Herz mit dabei sein, verstehst du das denn nicht?“
„Herz, Herz, wer redet denn hier von Herz. Ich brauche einen Nachfolger, der noch eine lange Lehrzeit vor sich haben wird. Ich will mich zur Ruhe setzen und dich in sicheren Händen wissen. Also, muss ein Mann her – und zwar bald.“
„Nein, so geht das nicht Vater“, antwortete Carmina. Und sie wollte noch mehr sagen, aber der Vater fuhr dazwischen: „Keine Widerrede, mein Kind, der nächste Mann, der hier um deine Hand anhält, der wird genommen!“
Carmina war den Tränen nahe, denn sie spürte, dass jedes weitere Wort sinnlos wäre. Sie verzog sich still in ihre Kammer und weinte und suchte nach einer Lösung für ihr Problem. Nachdem sie die Nacht durch gewacht hatte, kam sie zu dem Entschluss, dass es besser für sie wäre, wenn sie eine Zeitlang vom Hof des Vaters verschwinden würde. Als noch alle schliefen, packte sie einen kleinen Koffer mit einfacher Kleidung, sattelte ihr Pferd und machte sich davon.
Zwei Tage und zwei Nächte gönnte sie sich kaum eine Pause, ritt einfach nur einem neuen Leben entgegen. Am dritten Tag kam sie in ein kleines Dorf, das einen idyllischen Marktplatz hatte. Hier stieg sie vom Pferd, kaufte sich ein Brot und ließ sich am Brunnen des Dorfplatzes nieder, um einmal zu verschnaufen. Sie besah sich die Hütten und Häuser und fand, dass dies ein guter Platz sei, um eine Weile hier zu verweilen. So nahm sie sich ein Zimmer in einem kleinen, sauberen Gasthof und erkundete die Gegend. Sie lernte mit ihrer freundlichen Art schnell viele Menschen kennen und fand einen kleinen Gutshof, der noch eine Wirtschafterin brauchte. So zog sie ein paar Tage später in den Gutshof um und machte sich an die Arbeit.
Eine Woche später sollte ein großes Fest auf dem Gut stattfinden. Carmina hatte viel zu tun, denn sie organisierte die Festlichkeiten. Und sie gab sich so viel Mühe, als sei es ihr eigenes Fest, das sie veranstaltete.
Als das Fest im vollen Gange war, kamen ein paar Reiter und unter ihnen ein junger Mann, der Carmina gut gefiel. Sie fragte sich, wer wohl dieser Jüngling sein möge und schielte ihm hinterher. Sie bekam die Antwort schon sehr bald, denn es stellte sich heraus, das es der Sohn des Gutsherren war, der von einer langen Reise zurückgekehrt war. Aber sie wollte nicht preisgeben, wer sie war, um den jungen Mann für sich zu gewinnen, sie wollte die Herzen entscheiden lassen.
Am nächsten Tag kam der junge Mann, Artus war sein Name, in die Küche, wo Carmina gerade damit beschäftigt war, den Dienstmädchen ihre Aufgaben für den Tag zu geben. Als er Carmina sah, fingen seine Augen an zu glänzen.
„Kennen wir uns nicht irgendwo her?“ fragte Artus freundlich und nahm sacht ihre Hand und küsste sie.
„Das ist schwer möglich, Herr“, sagte Carmina, wohlwissend das dieser junge Mann schon am Hofe des Vaters gewesen war, um um die Hand der Herrschertochter anzuhalten.
„Ich würde mich freuen, wenn ich sie später zu einen Spaziergang im Park einladen dürfte“, sagte Artus da formvollendet, während er sie bittend ansah. Und Carmina konnte nur nicken.
Und Carmina verliebte sich in Artus und Artus verliebte sich in Carmina. Erst als sie von heiraten sprachen, erzählte Carmina, wer sie wirklich war und welchen Ärger sie mit ihrem Vater hatte. Da hatte Artus eine Idee und er sprach zu Carmina: „Das, was du hier mit mir gemacht hast, um wirklich von Herzen geliebt zu werden, werden wir auch bei dir mit deinem Vater machen. Kehre du zurück an den Hof und ich werde kommen und die Stelle des Wirtschafters annehmen. Wir werden deinem Vater zeigen, dass die Kraft des Herzens stärker ist als alles andere auf der Welt!“
Gesagt, getan. Carmina kehrte nach Hause zurück und wurde mehr als freudig begrüßt, denn die verloren geglaubte Tochter war endlich wieder heimgekehrt. Einige Tage später bekam das Herrscherhaus einen neuen Wirtschafter und vom ersten Moment an entgingen niemanden die Blicke, die sich die beiden zuwarfen, so dass sehr bald schon überall am Hofe über die beiden getuschelt wurde. Auch dem Herrscher kam dieses zu Ohren und er zitierte Carmina zu sich.
Der Vater saß wie üblich auf seinem steinernen Thron, auf den er sich vier Widderköpfe als Symbole seiner Macht hatte einmeißeln lassen, hielt seinen Stab in der Hand und schaute grimmig auf Carmina herunter.
„Was fällt dir ein, Kind, dem Wirtschafter schöne Augen zu machen? Der ist nichts für dich und so ein Mann kommt mir nicht ins Haus. Suche dir einen anderen.“
„Aber Vater, wie kannst du nur so etwas sagen, du kennst ihn ja nicht einmal...“, warf Carmina ein.
„Ich weiß, dass er unser Wirtschafter ist und damit genug“, donnerte der Vater weiter und sein Stab fuhr dröhnend auf die Lehne des Thrones nieder.
Carmina wollte gerade etwas sagen, da klopfte es an der großen Türe. „Herein“, rief der Vater und staunte nicht schlecht, als der Wirtschafter den Raum betrat, aber er versteckte sein Erstaunen hinter seinem dicken, weißen Bart. „Was will er von mir?“ herrschte er ihn stattdessen ziemlich barsch an und blickte Artus unverwandt und auffordernd ins Gesicht. Der aber blieb ganz ruhig und sagte zum Herrscher: „Herr, ich bitte Euch um die Hand Eurer Tochter. Ihr soll es niemals an etwas mangeln und...“.
Weiter kam Artus nicht, denn er wurde ziemlich rüde vom Herrscher unterbrochen: „Ihr seid nur ein kleiner Wirtschafter und damit nicht gut genug für meine Tochter. Geht mir aus den Augen, denn dieser Hochzeit werde ich niemals zustimmen!“
Aber Artus gab nicht auf. „Herr, so wie ihr dort auf Eurem Thron sitzt und eure Macht demonstriert, gebt Ihr ein ziemlich erbärmliches Bild ab.“ Carmina hielt den Atem an, denn sie ahnte Schlimmes. Aber Artus fuhr unbeirrt fort: „Die Widder, die Rüstung, die ihr tragt und Eurer Stab und Eure Krone können Euch keine Macht verleihen, denn die einzige Macht, die es wert ist, sich ihr zu unterwerfen ist die Macht der Liebe. Und ich liebe Eure Tochter und wiederhole es noch einmal: Ich bitte um die Hand Eurer Tochter.“
„Niemals!“ polterte der Vater. „Niemals!!“
„So kann ich nur sehen“, sprach Artus geduldig weiter, „das ihr ein verbohrter, alter Mann seid, der Machthungrig ist und alle Menschen tyrannisiert, wo es nur geht. Euer Herz habt ihr hinter dem dicken Rüstungspanzer versteckt und Eure wahren Gefühle haltet ihr hinter der Maske des Herrschers versteckt. Das, mein hoher Herr, verstehe ich nicht unter einem würdigen Vertreter des Volkes! Mein Vater, der Lord von Asherville, würde sich weigern, einen derartigen Schwiegervater zu bekommen!“
Der Herrscher, der seinen Mund schon zu einer barschen Erwiderung geöffnet hatte, war bei den letzten Worten still geworden. „Ihr... Ihr seid der...“.
„Ja, ich bin der Sohn des Lords, dem Manne, dem ihr untersteht, auf dessen Wort ihr hören müsst. Und ich werde eure Tochter heiraten, ob ihr es wollt oder nicht.“ Mit diesen Worten zog er seinen Hut zum Gruß, nahm Carmina am Arm und zog sie mit sich fort.
Bis zur Hochzeit zwei Wochen darauf, wurde der Herrscher nicht mehr gesehen. Es wurde wieder ein großes Fest gefeiert und alle waren glücklich, tanzten und der Wein floss reichlich. Gegen Mitternacht wurde es plötzlich schlagartig still unter den feiernden Menschen. Ein Mann trat aus dem Hintergrund hervor zum Thron und es dauerte einen Augen-blick, bis die Anwesenden ihn als den Herrscher identifizieren konnten, denn er hatte seinen Bart kurz geschoren, seine Rüstung abgelegt und trug eine wunderbare Robe aus feinem Material. Seine Krone hielt er in der Hand und mit der anderen Hand gebot er den Gästen Ruhe, die auch augenblicklich eintrat.
„Hört, ihr Leute, ich habe etwas bekannt zu geben. Da meine einzige Tochter nun verheiratet ist, möchte ich meinen Platz räumen und dem Manne überlassen, der mich mit seiner Klugheit, seinem Mut und seiner Herzenskraft überzeugt hat, das es besser ist, mit dem Herz zu regieren, als mit dem Verstand – meinem neuen Schwiegersohn!“ Und er rief Artus zu sich, ließ ihn sich auf den Thron setzen und setzte ihm seine Krone auf das Haupt. „Ich ernenne dich hiermit zum wahren Herrscher von Kingsland!“
Und der Bann war für immer zwischen ihnen gebrochen. Kingsland bekam einen wunderbaren, herzensguten Thronfolger, der seine Frau Carmina und sein Land über alles liebte und verehrte und bald als der wahre Herrscher des Herzens überall im Land gefeiert wurde.
Es war einmal ein junger Mann, Baldur Elias war sein Geburtsname, der unbedingt Priester werden wollte. Sein Vater war ein schwer arbeitender Bauer und seine Mutter Bäuerin. Seine größeren Brüder waren schon lange aus dem Haus, als Baldur noch klein war. Sie waren Kaufleute geworden – gegen den Willen der Eltern, die natürlich einen Nachfolger für ihren Hof haben wollten. Aber gegen die beiden fast gleichaltrigen Brüder kamen die Eltern nicht gegen an und so waren diese eines Tages einfach gegangen und kümmerten sich fortan nur sehr wenig um die Eltern. Ab und an kamen sie einmal vorbei, aber dann kam immer wieder das Thema zur Sprache, warum sie denn in die Stadt gezogen seien und nicht den Hof übernehmen wollten. So war eigentlich von Anfang an klar gewesen, dass Baldur Elias den Hof übernahm. Gefragt, ob er das auch wollte, wurde er allerdings nicht.
So arbeitete Baldur tagein tagaus auf dem Hof der Eltern und unterdrückte seinen Kinderwunsch, einmal Priester zu werden. Aber damit fing für Baldur Elias auch eine Leidenszeit an. Er machte sich ständig Sorgen, grübelte den ganzen Tag, wie er der elterlichen Gewalt entfliehen konnte, sagte aber nichts. Er sprach nicht mehr viel mit anderen Menschen, zog sich zurück, tat einfach sein Tagewerk und schlief sehr viel, wenn er konnte, denn nachts lag er auch oft stundenlang wach und hatte dann am Morgen Mühe aufzustehen.
Und Baldur Elias wurde krank. Nicht schlimm, aber dafür sehr oft. Und er fiel bei der Feldarbeit aus, weil er mit Fieber nicht arbeiten konnte und sein Vater war ärgerlich, dass er nun keine Hilfe mehr hatte und mehr arbeiten musste. Und dann gab es wieder Streit mit ihm, warum Baldur denn krank sei und dieser verstand die Welt nicht mehr, grübelte noch mehr über seine Lage nach – und wurde wieder krank. Ein Teufelskreislauf entstand, aus dem er kein Entrinnen mehr sah.
Eines Tages starben die Eltern ganz unverhofft und da ergriff Baldur Elias seine Chance. Er verkaufte den Hof zu einem guten Preis, bezahlte alle Hypotheken seiner Eltern und machte sich mit dem restlichen Geld auf in die große Stadt, um dort die Priesterschule zu besuchen. Die Schule war sehr teuer und verschlang im Laufe der Jahre alle seine stillen Geldreserven, so dass ihm, als er die Ausbildung beendet hatte, nur sehr wenig Geld übrig geblieben war.
Baldur Elias, der nun ausgebildeter Priester war, hörte von einer Anstellung in einer Kirche in einer anderen Stadt, er bewarb sich um diesen Job und bekam ihn auch. So zog er um und trat seine neue Stelle an. Aber das Gehalt war sehr mager und reichte gerade so für ein dürftiges Leben. Zum Sparen blieb ihm nichts übrig, wenn er essen wollte. Und ein anderes Problem stellte sich ihm: Die Leute, die die Vorträge des Hohepriesters hören wollten, blieben immer mehr und mehr aus. Und da sie ausblieben, konnte bald schon das Gehalt von Baldur Elias gar nicht mehr bezahlt werden.
„Ich habe mir das eigentlich anders vorgestellt“, sagte Baldur Elias eines Tages zum Hohepriester. „Ich habe mein ganzes Hab und Gut in meine Ausbildung gesteckt – und jetzt bin ich ohne Brot, denn die Leute wollen gar nicht hören, was wir zu sagen haben. Wozu aber lerne ich so viel, wenn niemand es wissen will?“ Baldur Elias war wirklich frustriert und konnte wieder einmal in seinem Leben keine Lösung finden. Wieder befand er sich in einer Schicksalsschlaufe, die ihm Gott offenbar gesandt hatte, aus der es aber kein Entrinnen gab.
Der Hohepriester war ganz ruhig und blickte Baldur traurig an. „Ich weiß, mein Sohn, so geht es schon seit vielen Jahren. Und ich kenne auch keine Lösung. Und, Baldur, ich werde dein Problem noch vergrößern: Ich werde sterben und dich allein lassen. Ich möchte allerdings, dass du diese Kirche weiter führst. Ich werde dich in einigen Tagen zum Hohepriester ernennen, damit dir die Obhut für diese Pfarrei unterliegt. Du bist ein würdiger Nachfolger. Nutze deine Möglichkeiten weise.“
Baldur Elias war wie von Sinnen. Wieder einmal hatte er ein aussichtsloses Projekt vor sich und nicht die leiseste Idee, wie er dem entkommen konnte. Wieder einmal tat er etwas, was er nicht aus vollstem Herzen tun wollte. Und wieder einmal quälten ihn die über-nommenen Pflichten, die er nicht ablehnen konnte, so sehr, dass er sich grämte und sich leichte Anzeichen einer erneuten Krankheit bei ihm zeigten.
In der Nacht ging er allein in die Kirche, denn schlafen konnte er sowieso nicht. Er hockte sich vor den Altar und senkte sein Haupt tief. So verharrte er einige Stunden, bis ihn die Müdigkeit überfiel und er fast im knien einschlief. Traumbilder durchströmten seinen Kopf, Bilder von Menschen, die wieder in die Kirche kamen und einen Gott anbeteten, von dem Baldur Elias berichtete. Im Traum hörte er sich selbst schreien: „Aber wie kann ich von einem Gott berichten, wenn ich selbst nicht weiß, wo ich ihn finden soll?“ Aber sein Schrei blieb ungehört, seine Bitte unbeantwortet. Baldur Elias erwachte, als er vor dem Altar umkippte und ziemlich unsanft die Stufen, die zum Altar führten, herunter fiel. Für heute ging er ins Bett schlafen. Vielleicht brachte der neue Morgen ihm mit der Priesterweihe auch einen guten Gedanken zur Rettung der Kirche.
Am nächsten Morgen war es so weit. Viele Menschen von nah und fern waren gekommen, um dieser einmaligen Zeremonie beizu-wohnen, die für alle Bewohner der Städte und Dörfer ein großes Ereignis war. In einer prunkvollen, fast heiligen Zeremonie wurde Baldur Elias das rote Gewand des Hohepriesters umgelegt. Dann kniete er vor dem scheidenden Hohepriester nieder und empfing von ihm dessen goldene Priesterkrone, die von nun an ein Zeichen seiner übergroßen Macht darstellte. Eine Macht, die Baldur in seinem Inneren nicht fühlen konnte, denn er fühlte sich noch immer klein und unfähig und konnte sich nicht vorstellen, mit der Kraft Gottes ausgestattet zu sein. Dann musste Baldur sich auf den großen, steinernen Thron des Hohepriesters nieder setzen, der zwischen zwei grauen Säulen stand. Und in dem Moment, wo er sich setzte, durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er sah hinunter auf die zwei Schlüssel, die vor ihm auf dem Podest lagen und wusste plötzlich, was er zu tun und zu sagen hatte. Und so öffnete er seinen Mund und sprach Worte, die eigentlich nicht von ihm kommen konnten.
„Liebe Mitmenschen, liebe Gemeindemitglieder, liebe Brüder und Schwestern. Ich danke euch von Herzen dafür, dass ihr gekommen seid, um dieser Zeremonie beizuwohnen. Ich soll jetzt das Oberhaupt dieser Kirche sein – und dieses Amt will ich gern bekleiden. Ich möchte aber, dass ihr wisst, dass ich ein Mensch bin wie ihr. Nicht besser und nicht schlechter. Nicht höher und nicht mächtiger. Ich bin und bleibe einer von euch. Ich verstehe meine Aufgabe darin, euch zu dienen und so bin ich eigentlich geringer als ihr und doch auch wieder nicht, denn es ist der höchste Dienst, den ich mir, euch und unserem Gott geben kann. So schwöre ich feierlich, dass ich mein Amt mit Hingabe und Sorgfalt erfüllen werde, immer im Dienst des Höchsten. Ich habe ein offenes Ohr für euch und eure Sorgen. Ich werde euch von Gott berichten so gut ich kann – und wenn ihr Stütze im Alltag braucht, so will ich für euch da sein. Wenn ihr die Leiden nicht mehr allein tragen könnt, so will ich versuchen, euch zu helfen. Denn auch ich habe Sorgen und ich habe viele gehabt. Aber ich habe einen Bruchteil von Gott erschauen dürfen, einer Liebe, die unsagbar groß ist, dass keiner von uns sie je verstehen wird. Aber das, was ich erfahren habe, das will ich mit euch teilen. Ich will euch die Geschichten von Menschen erzählen, die aus dem Leid gelernt haben, damit ihr daran teilhaben könnt. Und in diesem Sinne lasst uns eine friedvolle Gemeinde werden, die auch einmal Feste in der Kirche feiert, die gemeinsam singt, um den Herrn, unseren Gott, zu preisen. Und es werden noch viele weitere Dinge hier geschehen. Ihr werdet sehen!“
Die Menschen, die gekommen waren, trauten ihren Ohren nicht, aber andererseits sah Baldur nicht gerade so aus, als wenn er sie belügen würde. Und so gingen sie alle neugierig und sehr verwundert wieder Heim.
Baldur begann mit seiner Arbeit, aber da die Leute skeptisch waren, kamen zunächst nur ein paar wenige Neugierige, um sich nach der weiteren Arbeit zu erkundigen. Aber Baldur ließ in seinen Bemühungen nicht nach. Er sprach mit vielen Menschen, motivierte sie und munterte sie auf. Und langsam, langsam verbreitete sich in den Dörfern und Städten die Kunde von Baldur, der ein wirklich verständnisvoller und einfühlsamer Hohepriester war, der den Menschen Gott wieder näher bringen konnte.