Familie mit Herz 77 - Nora Stern - E-Book

Familie mit Herz 77 E-Book

Nora Stern

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Beschreibung

Der kleine Junge steht auf der Bühne. Zu niedlich sieht er aus, als er den Bogen an die Geige hebt und mit geschlossenen Augen zu spielen beginnt.
So mancher Zuschauer wischt sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Und wenn der letzte Ton verklingt, springen sie begeistert auf und applaudieren. Mirko, das Wunderkind!
Aber niemand ahnt, welch trauriges Schicksal der Sechsjährige zu tragen hat. Sein Vater verlangt von ihm, dass er um seine Mama trauert, an die er sich kaum erinnert. Nie darf er mit anderen Kindern spielen, nie Streiche aushecken und unbeschwert lachen. Ja, sogar den Schulbesuch verweigert ihm sein Vater.
Doch damit geht er zu weit und erregt die Aufmerksamkeit des Jugendamtes. Die Sozialarbeiterin Romina Farkas erhält den Auftrag, sich um das "verwahrloste" Kind zu kümmern ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Der Junge, der nicht Kind sein durfte

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: vectorfusionart / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7325-9589-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Der Junge, der nicht Kind sein durfte

Die Welt sollte ihn als Wunderkind feiern

Von Nora Stern

Der kleine Junge steht auf der Bühne. Zu niedlich sieht er aus, als er den Bogen an die Geige hebt und mit geschlossenen Augen zu spielen beginnt.

So mancher Zuschauer wischt sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Und wenn der letzte Ton verklingt, springen sie begeistert auf und applaudieren. Mirko, das Wunderkind!

Aber niemand ahnt, welch trauriges Schicksal der Sechsjährige zu tragen hat. Sein Vater verlangt von ihm, dass er um seine Mama trauert, an die er sich kaum erinnert. Nie darf er mit anderen Kindern spielen, nie Streiche aushecken und unbeschwert lachen. Ja, sogar den Schulbesuch verweigert ihm sein Vater.

Doch damit geht er zu weit und erregt die Aufmerksamkeit des Jugendamtes. Die Sozialarbeiterin Romina Farkas erhält den Auftrag, sich um das „verwahrloste“ Kind zu kümmern …

Sebastian Schröder und seine langjährige Freundin Romina Farkas saßen unter uralten Kastanien und prosteten sich zu. Es war Rominas vierundzwanzigster Geburtstag, den sie beim Heurigen in Wien-Nussdorf feierten.

„Ich liebe Heurigenbesuche!“ Romina lachte fröhlich und biss mit Genuss in ihr Grammelschmalzbrot.

„Heute soll es hier ein besonders gutes Musikprogramm geben“, versprach Sebastian. „Ein Vater spielt zusammen mit seinem Sohn ungarische Volksmusik!“

„Na, dann wird der Abend bestimmt nach meinem Geschmack“, freute sich Romina.

„Ich hole uns noch etwas zu Essen und zu Trinken, dann können wir ungestört dem Vater-Sohn-Geigenduo zuhören.“ Sebastian schlenderte hinüber zur Theke und ließ sich die Teller mit warmem Schweinsbraten, Brot und verschiedenen „Schmankerln“, wie man sie nur beim Heurigen bekommt, auffüllen.

Kaum saß er wieder bei Romina am Tisch, jauchzte eine Geige auf, in die eine zweite einfiel. Die Töne eines feurigen Csárdás klangen durch die warme Juninacht.

Romina ließ ihr Brot sinken.

Sie starrte auf den hochgewachsenen Geiger mit den dichten schwarzen Locken, der seinem Instrument mit ungeheurem Einfühlungsvermögen die Töne entlockte. Doch noch mehr als der Ungar mit seinen ausdrucksvollen Zügen faszinierte sie der kleine Junge, der mit funkelnden Augen zu dem Mann aufsah und mit seinen Kinderhänden graziös den Bogen über die Saiten seines Instruments führte.

„Der Junge ist höchstens sieben Jahre alt“, stellte Romina wie nebenbei fest. „Das Kind müsste doch längst im Bett sein!“

„Du machst dir zu viele Gedanken! Lass dich wenigstens an deinem Geburtstag unbeschwert unterhalten“, sagte Sebastian.

„Es gibt so viel Elend bei den Kindern, das keiner sieht und an das niemand denken mag.“

„Vergiss es! Nur für heute. Bitte, Romina!“ Sebastian sah seine blonde Freundin eindringlich an.

Er arbeitete zwar selbst bei dem Jugendamt, deshalb verstand er Rominas Einwand auch – aber konnte sie denn nicht wenigstens an den Abenden, die sie beide gemeinsam verbrachten, ihr berufsmäßiges Interesse an den Kindern vergessen?

Sebastian betreute jugendliche Strafentlassene und Ausreißer. Oft genug besprach er mit Romina die vielfältigen Probleme, vor die ihn diese jungen Menschen stellten.

Und Romina konnte ihm fast immer raten, obwohl sie als Sozialarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe mit kleineren Kindern und vor allem deren Eltern zu tun hatte.

„Sei ehrlich, Romina: Die beiden spielen einfach fabelhaft!“, sagte Sebastian jetzt.

Nun ließen Vater und Sohn ein sentimentales ungarisches Volkslied erklingen, das von der Weite der Puszta erzählte und von der Einsamkeit der Pferdehirten dort, der Csikós.

„Schön“, seufzte Romina wohlig und entspannte sich wieder ein wenig.

Sebastian legte den Arm um ihre Schultern.

„Wie wäre es mit unserer Hochzeitsreise in die Puszta?“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Nun musste Romina doch lachen.

„Lass gut sein! Mit dem Heiraten haben wir noch genügend Zeit!“

Sebastian verdrehte die Augen zum samtig dunkelblauen Himmel.

„Kannst du denn nicht verstehen, dass ich dich endlich als meine Frau haben möchte?“

„Ach, Sebastian, ich wünsche mir ja auch eine Familie. Aber wenn sich einmal ein Kind anmeldet, muss ich meinen Beruf an den Nagel hängen. Du weißt, dass mir sehr viel an meiner Arbeit liegt.“ Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Lass uns doch noch ein Jahr warten, ja?“

„Und dann noch ein Jahr und noch ein Jahr …“

Romina senkte den Kopf. Hatte Sebastian recht? Die Zeit verging so schnell! Was hinderte sie eigentlich daran, endlich Ehefrau und Mutter zu werden, wie Sebastian ihr das immer wieder vorschlug?

„In einem Jahr gebe ich dir die endgültige Antwort“, sagte sie fest, und ihre blauen Augen blitzten auf.

„Versprochen?“ Sebastian erwiderte den langen Blick, der ihm in diesem Augenblick mehr versprochen hatte als alle Worte jemals zuvor. „Komm, lass uns darauf anstoßen!“

Nach ein paar Gläsern schunkelten sie zusammen mit den anderen Gästen fröhlich im Takt der Musik.

Als sie gegen Mitternacht aufbrachen, warf Romina einen letzten Blick auf den Jungen, der immer noch neben seinem Vater zwischen den Tischen umherging und seine Geige spielte.

Sie zuckte die Schultern. Was konnte sie schließlich tun, wenn sie auch der Meinung war, dass dieses Kind eigentlich noch viel zu jung war, um zu dieser Zeit noch aufzutreten?

Vielleicht konnte sie ja mit ihrem Vorgesetzten bei Gelegenheit darüber sprechen …

♥♥♥

Es war Mittagszeit, als Tibor Szabo die Treppen zum Kinderzimmer hinaufstieg.

Frau Brammer, die Vater und Sohn den Haushalt führte, hatte Wiener Schnitzel gemacht, das Lieblingsgericht des kleinen Mirko.

Tibor beugte sich über das Bett. Unter den mit Micky-Mäusen bedruckten Decken lugte ein schwarzlockiger Haarschopf hervor.

„Liebling, es gibt Mittagessen!“ Zärtlich zupfte der Mann am Kissen und strich über den Kopf des Jungen.

„Guten Morgen, Papa!“

Mirko hatte sich mit einem Ruck aufgesetzt. Er streckte sich, dann sprang er aus den Federn. Es war fast zwei Uhr nachts gewesen, als sie vom Heurigen nach Hause gekommen waren, aber nun hatte der Junge ausgeschlafen.

Mirko schlüpfte in seinen Trainingsanzug, dann lief er nach unten.

„Mmmh!“ Genießerisch fuhr er mit der Zunge über die Lippen, als er die duftenden Schnitzel und den knackigen Salat sah, die auf dem Tisch standen.

„Lass es dir schmecken, mein Junge.“ Frau Brammer lächelte und legte ihm das größte Schnitzel auf den Teller.

Moses, der zottelige Mischlingshund der Haushälterin, setzte sich zu Mirkos Füßen, in der Hoffnung, dass zwischendurch ein Stückchen Fleisch für ihn abfallen würde.

„Na, wie war es gestern?“, fragte Frau Brammer nun den Jungen.

„Weißt du, ich mag es gern, wenn ich merke, dass es den Leuten gefällt, wenn ich mit Papa zusammen Geige spiele. Und gestern haben sie sogar vor Begeisterung mitgesungen … wenn auch ziemlich falsch!“ Mirko verdrehte mit komischem Entsetzen die Augen.

„Na, es hat eben nicht jeder so ein feines Gehör wie du“, schmunzelte die Haushälterin, die genau wusste, dass es beim Heurigen nicht nur an der mangelnden Musikalität der Gäste lag, wenn sie falsch sangen. Die meiste Schuld trug der frische Wein, der zwar leicht schmeckte, es aber in sich hatte.

„Papa, wollen wir gleich nach dem Essen üben?“, wandte sich das Kind an Tibor, der schweigend aß.

Ein warmes Lächeln erhellte nun die ernsten Züge des Mannes.

„Hast du denn Lust zu üben? Draußen scheint die Sonne. Es wäre besser für dich, du würdest hinaus in den Garten gehen.“

„Aber Papa, du weißt doch, dass ich gern Geige spiele. Heute Abend sind wir ja noch einmal in Nussdorf, da bin ich den ganzen Abend über an der frischen Luft.“

„Na gut! Ich habe übrigens neue Noten besorgt. Wenn du willst, spiele ich dir die Stücke vor.“

„Au fein! Was ist es denn?“

„Zwei Polkastücke und eine Fantasie von Franz Liszt.“ Tibor stand auf.

Mirko folgte ihm in das winzige Musikzimmer. Dort hockte er sich in den verschlissenen Ohrensessel, schloss die Augen und wartete, bis sein Vater zu spielen begann.

Mirko konnte mit seinen sechs Jahren noch keine Noten lesen, aber sein feines Gehör ermöglichte es ihm, auch ohne Noten ein kleiner Meister seines Instruments zu sein.

Und Tibor Szabos Instrument begann zu singen. Die Geige erzählte von dem Land, in dem er geboren war, und sie sprach auch von der großen Liebe zu seiner Frau Aranka, Mirkos Mutter.

Tibor war vor sieben Jahren zusammen mit Aranka aus seiner ungarischen Heimat nach Wien gekommen. Er war ein vielversprechender junger Musiker gewesen, der sich vorgenommen hatte, sein Können am Konservatorium der bekannten Musikstadt Wien zu vervollkommnen. Für dieses Ziel hatte er die abendlichen Auftritte in Kneipen in Kauf genommen. Mit dem Geld, das er dort verdient hatte, war es ihm möglich gewesen, sein Studium zu finanzieren, und für einen bescheidenen Lebensunterhalt hatte es auch noch gereicht. Bald schon hatten sich die Gast- und Heurigenwirte um ihn gerissen, den es war ihm stets gelungen, das Publikum mit seiner Geige in Bann zu schlagen.

Aranka hatte sich mit ihm gefreut. Sie war in der kleinen Wohnung unter dem Dach mit Blick auf einen der vielen Hinterhöfe Wiens immer zufrieden gewesen.

Nach einem Jahr hatte das junge Ehepaar bereits ein hübsches Sümmchen erspart. Das Glück war vollkommen gewesen, als sich ein Baby anmeldete. Von nun an hatte Tibor noch härter gearbeitet. Er hatte nur eins im Sinn: seiner kleinen Familie ein behagliches Zuhause schaffen.

Ein Zufall war es schließlich gewesen, der ihn das preiswerte Häuschen an der Alten Donau hatte finden lassen. Viele mühevolle Stunden hatte er investiert, bis das Häuschen ein kleines Juwel geworden war.

Dass er sein Studium in dieser Zeit hatte vernachlässigen müssen, hatte ihn nicht gestört.

Als Mirko geboren wurde, hatten zwar immer noch Hypotheken auf dem Heim der Szabos gelastet, aber Tibor hatte gewusst, dass er genug verdienen konnte, um in zwei Jahren völlig schuldenfrei zu sein. Außerdem war ja auch noch jeden Monat Geld aus der Verpachtung seines Elternhauses in Vidakpußte dazugekommen. Eines Tages würde er sein unterbrochenes Studium fortsetzen, dessen war er sich sicher gewesen.

Sooft es seine Zeit erlaubt hatte, hatte er in diesem Sommer zusammen mit Aranka vor dem Häuschen gesessen und den Blick auf das ruhige Wasser des Flusses genossen, während Mirko zufrieden in seinem Körbchen neben seinen Eltern geschlafen hatte.

Aranka war eine ruhige stille Frau gewesen. Lange schwarze Haare hatten ihr feines Gesicht umrahmt, und in ihren Augen hatte ein Glanz gelegen, der auf wunderbare Weise Liebe und Frieden ausstrahlte.

Tibor hatte Aranka so sehr geliebt, dass es ihn manchmal sogar erschreckt hatte. Ihre Wärme war ihm so wichtig gewesen wie die Luft zum Atmen.

Bis heute hatte er den Schock des Abends nicht überwunden, als er von ihr hatte erfahren müssen, dass sie todkrank war. Ein heimtückischer Knochenkrebs hatte die junge Frau und Mutter dann innerhalb weniger Monate dahingerafft.

Tibor war nach ihrem Tod nicht mehr fähig gewesen, seinen Bogen zu führen. Stundenlang hatte er nur am Bettchen seines Kindes gesessen. Beim Anblick des Jungen war es ihm dann jedoch gelungen, sich an das Leben zu klammern, das ihm nach Arankas Tod oft so sinnlos erschienen war.

„Ich werde alles für dich tun, was ich kann, mein Sohn! Du sollst den besten Vater haben, den du dir wünschen kannst, wenn du schon mutterlos aufwachsen musst“, hatte er dem Baby geschworen.

Nach ein paar Monaten war Tibors Geld aufgebraucht gewesen, und die Bank hatte energisch die Zinsen für die Hypothek verlangt.

In seiner Verzweiflung hatte Tibor an jenem Tag wie früher Zuflucht bei seinem Instrument gesucht.

So weh hatte die Geige an jenem Abend hinaus in die Mainacht geschluchzt, dass Frau Brammer vor dem Häuschen stehen geblieben war und gelauscht hatte.

Gertrud Brammer war vor Kurzem Witwe geworden. Ihr Häuschen stand etwa zweihundert Meter von dem der Szabos entfernt, versteckt hinter wuchernden Weiden.

„So etwas Trauriges habe ich noch nie gehört.“ Sie hatte sich zu dem Mischlingshund niedergebeugt, der sie mit seinen treuen Augen ansah, als hätte er jedes Wort verstanden. „Wollen wir mal mutig sein?“

Und schon hatte Gertrud Brammer die Klinke des Gartentürchens niedergedrückt. Moses war wie der Blitz zur Haustür gesaust.