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Die hübsche Stefanie aus der Musikerfamilie Fuchs wird wegen ihrer Haarfarbe und ihres Namens die Füchsin genannt. Es ist jedoch kein Name, der abfällig oder respektlos benutzt wird, denn Stefanie vermag jeden, der sie kennen lernt, zu bezaubern. Vieles weiß Paul Friedl über dieses Mädchen zu erzählen, in allen Einzelheiten wird sie dem Leser mehr und mehr vertraut.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
LESEPROBE ZU
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2005
© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelfoto: Rainer Erl, Hamburg
eISBN 978-3-475-54697-6 (epub)
Paul Friedl
Im Wald klingt eine Melodie
Die hübsche Stefanie aus der Musikerfamilie Fuchs wird wegen ihrer Haarfarbe und ihres Namens die Füchsin genannt. Es ist jedoch kein Name, der abfällig oder respektlos benutzt wird, denn Stefanie vermag jeden, der sie kennen lernt, zu bezaubern. Vieles weiß Paul Friedl über dieses Mädchen zu erzählen, in allen Einzelheiten wird sie dem Leser mehr und mehr vertraut.
Der Böhmerwald war schäbig geworden wie ein räudiger Schafspelz. Unter dem bleigrauen Himmel des Vormärzen trugen die Berge nur noch auf ihren Waldblößen weiße Flecken, denen gegenüber die Forsten kohlschwarz erschienen. Wo aber das Land in Hügeln gegen die Moldau und den böhmischen Kessel verlief, war schon mehr schmutzigbraune Erde als stumpfer Schnee. Dieser verkümmerte in den Ackerfurchen und an den Rainen und säumte die Schattenseiten der Wälder.
Im Märzmorgen blies ein stoßender Wind aus dem Nordosten und hielt den Boden im beinharten Frost.
Auf dem ruppigen Sträßlein, das aus Winterberg und dem tiefeingeschnittenen Tal des Annabaches über die Höhen hinaus gegen Osten führte, klapperte ein quietschender Leiterwagen, und die großen Hufe des kopfnickenden Gaules tappten einen gleichmäßigen Takt. Ein abgestoßener brauner Kleiderkasten polterte mit Bettstellenbrettern und einer Truhe zusammen, und der Lärm übertönte das Gespräch der beiden Männer, die auf einem Kutschbrett nebeneinander saßen.
„Hämisch, ist noch weit?“ Der bleiche, abgezehrte Mann neben dem Fuhrmann zog fröstelnd einen Sackrupfen enger um die Schultern.
„Ist noch ein schönes Stückel. Fahren nächste Weg über Wetzmühl, könnten auch über Gansau und Buchen fahren, ist aber nit so gut“, erklärte der Fuhrmann und sah den Frager mit einem raschen Seitenblick unter dem bis an die Augen heruntergezogenen Hut an. Sein graubärtiges Gesicht zuckte spöttisch, und er bemerkte: „Bist sonderbarer Hochzeiter, wo nit weiß, wo seine pani, eh Frau wohnt.“
„Hast recht, Hanusch. Bin freilich ein seltsamer Hochzeiter, aber da herein in das Tschechische bin ich noch net gekommen. Kennst du die Rednitschekin?“ meinte der Mitfahrer resigniert.
„Werd ich nit kennen, ist Gevatter von mich, kmotra!“
Schweigend sahen sie vor sich hin, bis wieder der bleiche Mitfahrer fragte:
„Ist Huschitz ein großes Dorf?“
„Huschitz? Ni ves, nix Dorf, ist trh, ist Markt.“
„Rede deutsch, ich versteh dich sonst net“, forderte unwillig der Hagere.
„Da ist cara hranice, Grenze, da ist nix mehr deitsch. Da, diese Berg, diese Baum und diese Kreuz an Weg ist Grenze. Mußt tschechisch lernen, Fuchs, wenn du leben willst in Huschitz. Sonst besser du umkehren.“
„Warum?“
„Gibt in Huschitz nur eine Deitsche, ist die alte Rednitschekin. Und junge Rednitschekin kann noch deitsch, alle anderen nur tschech.“
Sie fuhren an einem Wegkreuz vorbei. Der linke Arm des holzgeschnitzten Gekreuzigten hatte sich aus dem Nagel gelöst und hing nach unten, als wollte er auf ein kleines, halb in der Erde versunkenes Steinkreuz weisen.
„Hier ist Grenz! Hier hat Huß den Pfleger von Winterberg totgemacht und ihm Haut abgezogen.“
Der bleiche Mitfahrer zog wieder fröstelnd den Sackrupfen enger.
„Daß der Alban Fuchs von Klösterle nach Huschitz heiraten tut, ist sonderbar, wahrhaftig und wahr, ist sonderbar“, fuhr der Bärtige fort, als der andere nichts zum Überfahren der unsichtbaren Grenze zu sagen wußte, die hier, scharf wie ein Messer, zwei grundverschiedene Völker schied.
„Was ist da sonderbar? Mein Weib ist gestorben, und ich kann net allein mit den Kindern dahinten weiterwerkeln. Als Glasmacher in der Adolfhütte hab ich aufhören müssen, weil es mich auf der Lunge gepackt hat, und zum Weiterleben brauch ich eine Musikantin. Muß spielen gehen, wie es der Vater schon getan hat. Bis die Kinder alle soweit sind, solange kann ich net warten. Die Stefanie ist ja schon eine passable Harfenistin, und die Geige spielt sie auch gut, aber die Agnes und der Alex sind mir noch zu klein. Da hab ich die Rednitschekin gefunden. Hab sie in der Adolfhütte kennengelernt.“
„Hast nit gefunden eine andere?“
„Hast du gegen die Anna etwas?“
„Oh, die Anna — hodny, brav! Aber Matka Rednitschek! Ist dabel, Teifl!“
Bedrückt sah sich der Alban Fuchs von Klösterle um. Die Reden des Fuhrmanns Hanusch spürte er wie eine eiskalte Hand, die nach seinem Herzen griff. War das wirklich eine andere Welt, in die er über einen Katzensprung gelangte? Keine gerade Ackerfurche mehr und drüben ein Waldstück mit zerzausten Fichten, verkrüppelt und verstümmelt, der Weg auf einmal voller Löcher, in die der Wagen polterte, am Hang ein Haus, rotbemalt wie eine Schinderhütte, am Wegrand das hohe gefrorene Gras aus dem Vorjahr und trostlose Nebelfahnen, die über die Höhe zogen. Ein Tag, so kummervoll wie jener Allerseelentag im vergangenen Jahr, als man sein Weib in Winterberg begrub. Drei Kinder standen neben ihm vor der gähnenden Grube, in der der Sarg verschwunden war, und froren in ihren leichten Kleidern. Nun trabten sie hinter dem Wagen her, der ihre Habe und sie selbst in eine neue Heimat bringen sollte, gar nicht weit von der alten, aber doch eine andere Welt.
Die Anna war gut, und um die anderen brauchte er sich nicht zu kümmern. Sie war in der Adolfhütte eine stille und fleißige Arbeiterin gewesen, und sie konnte das Zimbal spielen und singen. Ihre Mutter ist ja eine echte Böhmerwäldlerin gewesen, aus Innergefild, und wie es halt oft hergeht bei den jungen Leuten und mit der Liebe, da hat sie sich den Rednitschek genommen, der kein Wort Deutsch konnte, und ist mit ihm über das Hussenkreuz hinaus nach Huschitz gewandert, wo er ein kleines Häusl hatte. Von ihrem Vater hatte die Anna das kohlschwarze Haar und von der Mutter den Blick der Böhmerwäldler, Augen, in denen immer etwas von einer ungestillten Sehnsucht brannte.
Und von der Mutter hatte sie auch die deutsche Sprache, die ihr fast geläufiger war als das Tschechische.
Mit der Anna würde ein Auskommen sein. Er konnte sie gut leiden und sie ihn wohl auch.
Aber die Kinder!
Wenn er daran dachte; bekam er in der Brust eine Kälte, die ihm weh tat. Er zog fröstelnd die Schultern zusammen und hustete.
Die Kinder des Alban Fuchs von Klösterle trotteten hinter dem klappernden Gefährt her und bildeten das wunderliche Gefolge dieses Umzuges.
Groß und schlank wie der Vater die Älteste, die fünfzehnjährige Stefanie, ein grünes Kopftuch um die rotblonden Wuschelhaare, das ebenmäßig schöne Gesicht blaß und durchsichtig, eigenartig belebt von den wachen, grünschimmernden Augen und dem vollen roten Mund. Ein roter Rode und eine weiße Schürze und dazu ein grünes Jankerl konnten sie vor der Kälte des Märzmorgens nicht schützen, auch nicht der braune Wollschal, den sie um die Schultern trug. Auf dem Rücken hatte sie einen unförmigen Ledersack, aus dem oben der Kopf einer Harfe sah.
Neben ihr stapfte die um zwei Jahre jüngere hellblonde Agnes, rotbackig, und zwei lange Zöpfe hingen ihr über die Brust. Unlustig schleppte sie einen dreieckigen Holzkasten. Klein und untersetzt, schwarzhaarig und mit den strengen Gesichtszügen der verstorbenen Mutter, der schmalen Nase und dem fast lippenlosen Mund, trug der elfjährige Alex einen Geigenkasten.
„Ich glaube, es wäre gescheiter, wir rennen zurück und verstecken uns oder gehen zur Base nach Innergefild. Ich fürcht mich vor dem Böhmischen. Lieber tät ich zu den Bauern gehen und als Hüterdirndl arbeiten, als zu den Böhmen nach Huschitz“, mäkelte die Agnes und wechselte den schweren Zimbalkasten von der Linken zur Rechten.
„Daß der Vater noch einmal hat heiraten müssen — und noch dazu eine Böhmin, das versteh ich net“, kritisierte auch der Alex. „In die Schule bringt mich in Huschitz niemand, auch net, wenn man mich totschlägt, und Tschechisch lern ich auch net, um alles in der Welt net!“
„Warum hat uns der Vater net in Klösterle gelassen?“ jammerte nun die Agnes.
„Ich mag die Rednitschekin net, das ist eine Fremde, eine Böhmin“, klagte der kleine Alex, „magst du sie, Steffi?“
„Hört jetzt endlich einmal das Lamentieren auf! Es ist, wie es ist. Der Vater hat geheiratet, und wir ziehen nach Huschitz. Wenn ihr einmal groß seid und wollt net dort bleiben, dann könnt ihr ja in den Böhmerwald zurück. Kann auch sein, daß die Rednitschekin gar net so unrecht ist“, wies sie die rothaarige Stefanie zurecht.
„Ich renn am ersten Tag davon, wenn es mir net gefällt!“ drohte die Agnes.
„Das wirst du net! Wir bleiben beinander, und wenn wir es in Huschitz net aushalten, dann gehen wir auch miteinander. Aber ich meine, daß wir den Vater net im Stich lassen dürfen. Ich halt es aus, weil wir eh bald zum Spielen gehen werden, ins Bayern hinaus und ins Rheinland, und da hör ich nix von Huschitz. Vielleicht tut euch der Vater zur Basl nach Innergefild, bis wir zurückkommen.“
„Wenn du net da bist, bleib ich keine Stunde in Huschitz!“ begehrte die Agnes auf.
„Ja ja, so geht es halt im Leben“, sagte die Stefanie mehr zu sich und sah auf den klappernden und polternden Wagen vor sich, auf dem der braune Kleiderkasten hin und her schwankte.
Aus den ziehenden Nebeln tauchte die Sonne, und das bleigraue Wintergewölk zerteilte sich. Das lehmige Sträßlein wurde klebrig und feucht, und die Äcker dampften. Aus einer Wiese stieg singend eine Lerche auf.
„Wenn die Lerch da ist, muß der Musikant auf den Weg“, sagte der Fuchs zum Hanusch. Die wärmende Sonne ließ ihn den Tag nun froher sehen. Die Reifkristalle an den alten Gräsern am Weg wurden zu schillernden Tropfen, die wie Diamanten in den Regenbogenfarben leuchteten. Nun schob auch der Hanusch den Hut zurück, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Er riß am Lederzügel, und der Gaul zog, den Kopf hebend, tüchtig an. Über der alten Wetzmühle, die schon keinen deutschen Namen mehr hatte, sah aus einem kleinen Feldkapellchen der heilige Wenzeslaus, mit grellen Farben auf Glas gemalt, und auf dem Dächlein kauerte eine Krähe und begrüßte sie mit lautem Krächzen.
„Dort über dem Wald ist Huschitz“, sagte der Hanusch und wies mit dem Peitschenstiel nach vorne. Dann lachte er kopfschüttelnd: „O du seltsam muz, du seltsam Mann! Heirat und weiß nit wohin.“
„Red net, mir ist eh bang“, brummte der Fuchs, „weiß eh net, soll es mich jetzt schon reuen!“
„Kehr um!“ spöttelte der Hanusch.
„Nein!“
Die Äcker dampften, und in den Birken sangen die Meisen.
„Warum aber hat der Vater noch einmal geheiratet?“ fragte die Agnes nun wieder die Stefanie und biß vor Ärger in das Band, das einen der langen Zöpfe zusammenhielt.
„Weil er halt net allein bleiben wollt, und auch wegen dem Spielen.“
„Allein — allein! Wir wären ja eh dagewesen. Was braucht er da noch ein stockfremdes Weibsbild?“
Die Stefanie ruckte den Tragriemen auf ihrer Schulter, und die Saiten der Harfe klirrten leise im Sack.
„Werde ja net frech gegen die Rednitschekin, sonst reiß ich dir die Haare aus, und der Vater haut dir den Buckel voll!“ drohte die Ältere und schüttelte ihre rotblonden Locken, von denen sie das Tuch genommen hatte.
„Am End sollen wir etwa zur Rednitschekin Mutter sagen?“ forschte der Alex, und die Agnes bemerkte boshaft: „Matka mußt sagen, Mutter versteht sie net.“
Da zerrte die Stefanie sie am Zopf und fuhr sie zornrot an:
„Die Anna, die Rednitschek, ist net bös, ist eine gute Frau, das merk dir! Und wenn du zu ihr grob bist, dann hast du es mit mir zu tun! Der Vater hat sie geheiratet, und das geht uns nix an.“
„Mir ist es ja eh gleich“, schmollte die Agnes.
Sie wurden schon müde, und ihr Gang war schon schwer geworden.
„Sind wir noch net bald da?“ wollte der Alex wissen.
„Ich weiß es net, in der Gegend bin ich auch noch nie gewesen.“
Vorne, auf dem Kutschbrett, sinnierte der Fuchs vor sich hin und blinzelte gegen die Sonne.
War eine schnelle und einfache Hochzeit gewesen am gestrigen Tag. In der ersten Morgenstunde hatte der Dekan sie in Winterberg kopuliert, und die Anna war neben ihm gestanden, steif und fremd, als ginge sie das alles gar nichts an. Der Druck ihrer Hand war fest gewesen, und sie hatte ihn angesehen wie der Jäger, der den Fuchs in der Falle hat, mißtrauisch und doch zufrieden. Knapp und kurz hatten sie dann noch den Umzug besprochen, und sie war davongegangen. Das war enttäuschend gewesen, wenn er aber daran dachte, wie froh und voll innerer Würde sie gewesen war, als er sie kennenlernte, damals, als sie beim Prokop die Geige spielte und dann das Zimbal schlug, wie er es noch nie gehört hatte, dann vergaß er die schnelle und geschäftsmäßige Trauung.
Eine Musikantin brauchte er, und das war die Anna. Das hatte sie von ihrer Mutter, und sie kannte alle die Weisen des Böhmerwaldes.
Der Hanusch stieß ihn in die Seite und weckte ihn aus seinen Gedanken.
„Zena — dein Weib!“
Er deutete nach vorne. Groß und schmal, ein dunkler Schatten gegen die Sonne, stand sie mitten auf dem Sträßlein, eng um den Kopf einen Schal gezogen, und wartete, bis sie näher kamen, stand stumm und unbewegt, drehte sich dann um und ging langsam, mit gefalteten Händen, vor dem Gaul her.
„Warum sagt sie nix?“ fragte der Fuchs betroffen den Hanusch.
Dieser winkte ihm energisch ab und flüsterte: „Das ist so, das weißt du nit, wie es da ist. Tu sie ja net anrufen, bis sie net zu dir was sagt.“
Er setzte sich nun steif in Positur und hielt die Peitsche, als hätte er nun nicht mehr den Umzug eines armen Teufels, sondern eine königliche Kutsche zu fahren.
Der Fuchs nahm den Rupfensack von seinen Schultern und legte ihn auf den Wagen zurück, richtete sein Halstuch und saß gerade, den Blick auf seine vorangehende Frau gerichtet, neben dem Hanusch. Plötzlich erschien ihm alles so fremd und unwirklich, daß er die Fäuste gegen die Knie stemmte, bis sie schmerzten, um zu wissen, daß er nicht träumte. Einige Leute, die ihnen begegneten, blieben schweigend am Straßenrand stehen, und die Männer nahmen den Hut vom Kopf, bis sie an ihnen vorbeigefahren waren.
Der Böhmerwald war tintenblau geworden, und auf der sonnenüberglasten Höhe des Vorlandes zog der bescheidene Umzug dahin wie eine wunderliche Prozession, voran, gemessenen Schrittes, die Anna Fuchs, geborene Rednitschek von Huschitz, dann das rumpelnde Gefährt mit dem schaukelnden Hausrat und hintennach die drei Musikantenkinder mit ihren Instrumenten. Und das rotblonde Haar der Stefanie Fuchs leuchtete wie Gold.
Eine kleine Anhöhe noch, dann klang ihnen bimmelnd ein Kirchenglöckel entgegen, und in einer Mulde lagen die graugeschindelten Häuser, zusammengedrängt wie eine scheue Schafherde. Ein Stück vor dem Ort stand in einem schrägen Wiesenflecken ein niederes Häusl, und am Weg dorthin standen Frauen und Männer in dunkler Kleidung links und rechts vom Sträßlein wie ein rastendes Rabenvolk.
Der Hämisch stieß den Fuchs in die Seite und machte mit dem Kopf eine Bewegung nach dem grauen kleinen Haus.
„Da ist es“, murmelte er. Saß wieder steif und würdevoll, wie es einem Brautzeugfahrer geziemte.
Sie näherten sich dem Menschenspalier, und die Gesichter starrten ihnen entgegen, stumpf und teilnahmslos, nur die dunklen Augen winkten Neugier und Ablehnung zugleich. Die Männer zogen umständlich die Hüte, als passierte ein Leichenzug den Weg, und zischend fuhr ein Wort durch die Reihen, scharf und heftig. Der Fuchs verstand es nicht.
Er sah unbehaglich nach dem grauen Haus, dessen Wände mit verwitterten Brettern und Schindeln verkleidet waren, und das nur zwei Fenster hatte, die außen an die Hauswand geklebt schienen. Grellbunt hingegen war das Vordächlein über der Haustüre bemalt. Es zeigte in seinem kleinen Giebelfeld das dreieckige Auge Gottes, und die zwei Holzpfosten, die das Dächlein trugen, waren rot angestrichen.
Der Hanusch bog vom Sträßlein ab und fuhr bis vor die Haustüre. Die junge Frau aber war, ohne sich umzusehen oder anzuhalten, ins Haus gegangen. Der Fuchs saß verstört über die eigenartige Auffuhr und wollte absteigen, als ihn der Hanusch festhielt und zischte:
„Bleib, bis sie wieder da ist.“
„Was ist —“, begann der Fuchs zu fragen, doch da erschien die Anna, seine Frau, wieder in der Haustüre, hielt in der Hand einen kleinen Holzteller mit einem faustgroßen Laiblein Brot und trat nun lächelnd an den Wagen heran. Wortlos reichte sie den Teller dem Fuchs hinauf.
„Sollst abbeißen“, flüsterte der Hanusch, „und auch die Kinder.“
Das tat der Fuchs, stieg vom Wagen, wobei ihm die Anna die Hand reichte und ihn stützte, und ging mit dem Brot zu den Kindern, die völlig verschreckt waren.
„Abbeißen“, sagte er leise und hielt es zuerst der rotblonden Stefanie hin, die es dann an die Agnes und den Alex weitergab.
In diesem Augenblick zischte wieder ein Wort durch die Reihen der Zuschauer, und sie entfernten sich gegen den Ort zu. Die Anna lachte belustigt über die Verlegenheit ihres Mannes und brach damit den Bann, der über diesem brauchvollen Einstand gelegen hatte.
„So, und jetzt kommet alle herein!“
Der Fuchs wischte sich den Schweiß von der Stirne und meinte: „Das hab ich net gewußt, daß das so ist.“
„Mutter freut sich schon, wird dich liska nennen, macht aber nix. Liska bedeutet Fuchs.“ Dazu lachte sie, faßte ihn am Arm und führte ihn über die Türschwelle, nachdem sie ihm das Kreuzzeichen auf die Stirne gemacht hatte.
Sie war eine herbe, dunkle Schönheit, obwohl sie schon bald an die Vierzig herangehen mußte. Unter der hohen Stirne blitzten muntere Schwarzaugen. Die ausgeprägten Backenknochen gaben den eingefallenen Wangen eine schwungvolle Linie zum Kinn, über dem der Mund wie eine gerade Linie gezogen war.
Ein schmaler und finsterer Hausgang tat sich auf, und durch eine offene Tür kamen sie in einen Raum, wohl die einzige vorhandene Stube. Der Fuchs erschrak. Diese Wände waren schwarz wie in einer Schmiede und hatten wohl ein Menschenalter lang keine Tünche mehr erhalten. Die vorhanglosen Fenster enthüllten eine Trostlosigkeit, daß er am liebsten wieder umgekehrt wäre. Der Boden war gestampfter Lehm, und die gesamte Einrichtung bestand aus Tisch und Bank und einem breiten Bettkasten in der Ecke bei einer alten Feuerstelle, wie er sie noch nie gesehen hatte. Grobe Steine waren zu einem Viereck geschichtet, in dem ein Feuer brannte, und darüber hing an einer hölzernen Zahnstange ein Kessel. Er mußte sich erst in dem Dunkel, das von den verrußten Wänden und der schwarzen Decke ausging, zurechtfinden. Im Bettkasten richtete sich nun eine alte Frau auf. Das graue Haar war strähnig, und über der scharfen Hakennase glühten die Augen wie feurige Kohlen.
„Matka, mein muz“, sagte die Anna und zog den Fuchs an den Bettkasten heran.
„Red deitsch, ich bin nix Tschechin. Liska, da, setz dich!“ Sie wies auf einen Schemel neben dem Herd. Eng aneinander gedrängt standen an der Türe die Kinder und rührten sich nicht von der Stelle, bis die Anna sie freundlich an den Tisch schob.
„Oh, ich hab Deitsch noch nix vergessen“, plapperte die Alte, „hab alleweil gewunschen, daß Anna kriegt deitsches Mann — oh, ich so dumm gewesen, hab den Rednitschek genommen. Aber Rednitschek ein guter Mann gewesen. Ja!“
„Laden wir ab“, sagte die Anna und zog ihren Mann aus der Stube, nahm von einem Bord eine Flasche und reichte sie draußen dem wartenden Hanusch.
„Eh, coralka!“ knurrte dieser befriedigt, und lächelnd sagte die Anna erklärend: „Schnaps.“
Sie trugen Kasten, Truhe und Bettladen ins Haus, und nun sah der Fuchs, daß es doch noch einen zweiten kleinen Raum unter diesem Dach gab, ein Zimmerchen mit einem Fenster, durch das man kaum den Kopf hätte stecken können. Hier waren die Wände frisch gekalkt, und ein Bretterboden war gelegt. Das mochte einmal ein Ziegenstall gewesen sein, nun aber erschien es ihm, nach der schwarzen Stube, recht passabel.
„Alban, die Mutter ist alt, mußt nix denken, ist eine gute Frau und ist vom Böhmerwald“, sagte die Anna entschuldigend, und lebhaft erklärte sie ihm dann, daß die Kinder droben unterm Dach ein schönes und frisches Heulager hätten.
„Hab sie gern — aber ob sie mich mögen?“
„Oh, die Stefanie ist recht gescheit, und die andern sind auch brav“, versicherte er.
Die Agnes und der Alex waren indes verschüchtert in der Stube zurückgeblieben und drückten sich an ihre große Schwester.
„Kommt“, winkte ihnen die alte Rednitschekin und lachte mit dem zahnlosen, klaffenden Mund. Sie mußte ihre Einladung wiederholen, bis die Stefanie die anderen an der Hand nahm und sie in die Ecke zum Bettkasten führte.
„Bin alte Frau, kann nimmer gehen.“ Mit dürrem Finger wies sie nach der Wand, wo die Kinder ihre Instrumente abgestellt hatten. Und bettelnd die Hände faltend, sagte sie:
„O Kindl, gutes Kindl, hudba, hudba, Musik!“
Die grünschimmernden Augen der Stefanie leuchteten auf. Nun war ihr die hilflose Alte, die nur mühsam aufsitzen konnte und aussah wie die Hexe im Bilderbuch, auf einmal sympathisch geworden. Musizieren, ja musizieren mußten sie, und die Klänge aus dem Böhmerwald würden alles Fremde aus dieser Stube vertreiben.
„Ja, Mutter Rednitschek, spielen tun wir gerne“, sagte sie und begann die Harfe auszupacken. Der schmollenden Agnes gab sie einen kräftigen Rippenstoß, und der Alex war sichtlich froh, nun etwas zu tun zu haben, und nahm die Fidel aus dem Kasten.
Im kleinen Stübl drüben horchte die Anna auf, als sie das Stimmen der Instrumente hörte. In ihrer Freude schlang sie die Arme um den Hals ihres Mannes und warf, ihn anlachend, den Kopf zurück.
„Alban, es wird schön, wenn wir fortgehen zum Spielen! Oh, bin schon weit herumgekommen und kenn mich in Bayern draußen aus. Wir verdienen viel Geld, und dann machen wir unser Häusl schön, mit gute Stube und eine Kuh.“
Er nickte: „Ja, wenn es geht, wandern wir nächste Woche.“
Sie entlohnte den Hanusch, und dieser verabschiedete sich, um in sein Heimatdorf, die Gansau, zurückzukehren.
Drüben in der Stube klangen Harfe und Zimbal auf, und die Geige fügte sich zart und zaghaft ein in die Weise eines Ländlers. Da nahm die junge Frau die Hand ihres Mannes und führte ihn hinüber.
Auf der Bank sitzend, hatte die Stefanie die Harfe vor sich auf den Boden gestellt, die Agnes auf dem Tisch das Zimbal aufgebaut, und daneben stand der kleine Alex und mühte sich, der heiteren Melodie mit der Geige wenigstens begleitend zu folgen. Draußen hatte sich der Nebel völlig verzogen und der Himmel gesäubert. Die Sonne schien durch das Fenster und ließ das Wuschelhaar der Stefanie brennen. Die klimpernde Musik ließ die trüben Schatten aus dem rußschwarzen Raum schwinden, und sie nahm allen die Befangenheit. Die schlanken Finger der Stefanie tanzten zupfend über die Saiten, und die dunklen Bässe summten unter der Decke und rissen das helle Klingen des Zimbals mit.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen kauerte die alte Rednitschekin, eingemauert in die weißrot gestreiften Kissen, und über ihre knöchernen Züge liefen die Tränen.
Als die kleinen Musikanten geendet hatten, stammelte sie unverständlich vor sich hin.
„Matka!“ schrie die junge Frau auf und kniete am Bettkasten nieder. Die Alte jammerte:
„Oh, Anna, der Böhmerwald! Fünfzig Jahr bin ich weg vom Böhmerwald! Hätt nit den Rednitschek nehmen sollen — aber war guter Mann, der Rednitschek — aber die Huschitzer haben mich fünfzig Jahr gehaßt. Deitsches Sprach hab ich schier nimmer — sag nit Matka!“ Sie schlang die dürren Arme um ihre Tochter, und ihre Worte überstürzten sich im Wechsel der Sprachen: „Fuchs, schau auf mein Anna — Anna ist gut — wenn ich smrt — tot — leg mich auf Wagel und fahr mich in Böhmerwald.“ Sie schluchzte, und tröstend streichelte die Anna ihre grauen Haarsträhnen.
„Ist schon recht, Mutter, mein Fuchs ist braver Mann.“ Lächelnd stand sie auf und wandte sich lebhaft an die Kinder, die nun wieder verschüchtert und ratlos auf der Bank saßen.
„So, Kindel, und jetzt wollen wir essen. Sollt gern da sein bei Anna und Mutter.“ Zärtlich strich sie der Agnes und dem Alex über die Wangen und sah die Stefanie, die trotz ihrer fünfzehn Jahre schon groß und erwachsen aussah, scheu an.
„Wollen dann Musik machen, Steffi.“
Kühl und ohne ein Wort zu sagen, nickte die Stefanie und lehnte die Harfe an die Wand. Leise klirrten die Saiten. Mit dem verhallenden Ton wurde die Stube wieder dunkel und trostlos. Die Anna war zum Herd geeilt und hatte das Feuer unter dem Kessel angefacht. Der Duft von Kraut und Rauchfleisch erinnerte die Kinder an ihren Hunger, und als sie alle zum Essen um den Tisch saßen und die Anna erzählte, wurden sie schon gesprächiger.
Es war die Agnes, die sich am ehesten in die neue Umgebung einfügte und sich zuerst an ihre Stiefmutter wandte.
„Wie sollen wir nun zu dir sagen? Anna? Oder — Mutter?“
„Sag nur Mutter“, sagte der Fuchs barsch.
Seine Frau lächelte, froh darüber, daß nun der Bann gebrochen war.
„Sag, wie du willst“, meinte sie, „und lach mich nit aus, wenn ich mal was Böhmisches sage.“
Vor fünfzig Jahren, also etwa um 1850, habe die Mutter den Rednitschek geheiratet und sei nach Huschitz gezogen, erzählte sie, aber sie sei hier immer fremd geblieben und auch als Fremde abgelehnt worden. Bis heute ist sie die einzige Deutsche im Ort geblieben, und auch dem Rednitschek habe man es spüren lassen, daß er eine Deutsche aus dem Böhmerwald genommen hatte. Die langen Jahre ging die alte Mutter den weiten Weg bis Winterberg in die Kirche, um wenigstens an den Sonntagen wieder unter Deutschen zu sein, dennoch aber habe sie die Muttersprache fast verlernt. Ihr größter Wunsch aber sei immer gewesen, daß ihre einzige Tochter einmal wieder in dem Böhmerwald zurückkehre und einen Deutschen heirate. In der Glashütte Adolf hatte sie gearbeitet und war als Geigerin und Gitarrespielerin mit einer Böhmerwäldler Familie gewandert. Hatte mitgespielt bei Hochzeiten und Unterhaltungen in Winterberg, in den umliegenden Orten, und dabei den Fuchs kennengelernt. Die Tschechen würden ihm nichts zu verdienen geben, und weil ihn die Glasmacherei krank gemacht habe, so wollten sie den Sommer über ins Bayern spielen gehen. Nach Huschitz hinein kämen sie nur zum Einkaufen, sonst habe auch die Mutter den Ort nie betreten. Auch die Einkäufe machte meistens der Rednitschek, als er noch lebte, und oftmals kam der Handelsmann Isak Geigel selbst heraus, um ihnen den Weg und die Anfeindungen zu ersparen.
„Warum seid ihr dann nicht weggezogen?“ wollte nun die Stefanie wissen.
„Weil der Rednitschek hier das Häusl gehabt und Feld und Wiese und Wald und nit vom Vaterhaus hat weg wollen.“
„Da hätt ich das Häusl verkauft.“
„Die Tschechen kaufen es nit und ein Deutscher auch nit.“
Beim Herd in der Ecke kicherte die Alte: „Weil sie gehabt Ärger über uns, sind wir dageblieben.“
„Solange die Mutter noch lebt, können wir nit fort. Nachher gehen wir in den Böhmerwald zurück“, flüsterte die Anna ihrer Stieftochter zu.
Der magere Finger der Alten richtete sich auf die Stefanie, und krächzend lachte sie: „Heißen Fuchs — rot wie liskova — Füchsin.“
„Die Füchsin!“ kicherte die Agnes. „Das ist gut, das stimmt!“
„Halt deinen Mund!“ wies der Vater sie zurecht. Stolz und hochmütig reckte sich die Stefanie: „Was meint sie? Meine roten Haare? Das macht mir nix aus. Bin ich also die Füchsin!“
„Die Füchsin von Huschitz!“ lachte die Agnes verstohlen und die Ältere nickte nur dazu:
„Jawohl!“
„Red keinen Mist!“ schimpfte der Vater, und während die Anna die hölzernen Teller abräumte, ordnete er an: „Heut wird gleich fest probiert. Ich nehm das Zimbal und die Anna die Geige, und zusammensingen müssen wir uns auch noch. In vierzehn Tagen müssen wir auf dem Weg sein, sonst sind wir die letzten. Muß eh erst mit dem Vetter in Innergefild den Weg ausmachen. Am Sonntag nach der nächsten Woche kommen wir dort zusammen, und die Elender und die Pribil sind auch da. Die haben ihre alte Tour, und wir müssen erst die Orte ausmachen, auf daß wir net in ihren Weg kommen.“
„Wer geht mit uns?“ fragte die Stefanie.
„Du und ich und die Anna, deine neue Mutter“, gab ihr der Vater Bescheid.
Die Agnes fuhr auf: „Und wir zwei sollen dableiben?“
„Freilich! Ist ja die Großmutter da und braucht jemanden.“
„Da renn ich auf und davon!“
Das bleiche Gesicht des Fuchs wurde rot vor Ärger: „Und ich reiß dir die Zotteln aus, wenn ich komm und du bist net da! Tut fleißig lernen, dann könnt ihr im nächsten Sommer mitziehen, aber mit eurem Gegagel laßt sich noch kein Geld verdienen in Bayern!“
Die Anna lenkte ein und tröstete: „Wenn wir im Herbst früh genug heimkommen, dann machen wir mit euch noch eine Woche nach Wallern zu und vielleicht sogar bis Passau.“
Sie stimmten die Instrumente zusammen, und nun hatte die Stefanie das Anschaffen, und ihre Wangen glühten vor Eifer. Kein falscher Ton entging ihr, und immer wieder spielte sie den anderen die Weise auf der Harfe vor, trieb das Tempo an, bis die Landler und Polkas voller Feuer klangen und die perlenden Töne von Harfe und Zimbal über den gestampften Lehmboden zu kollern schienen. Begeistert und mit aufgerissenen Augen folgte ihnen die Rednitschekin, summte die Melodien mit und schlug mit den mageren Armen den Takt.
Als die schmeichelnden und erzählenden Lieder des Böhmerwaldes und der alten Spielfamilien an die Reihe kamen, rannen ihr die Tränen über die abgezehrten Wangen.
Die Anna konnte eine gute erste Stimme singen, die voll und weich zur Harfe klang und sich harmonisch an die Altstimme der Stefanie anschmiegte. Bewundernd sah diese sie von der Harfe weg an, und im Singen wurden die beiden Frauen gute Freunde. Stiefmutter und Stieftochter sahen sich dabei tief in die Augen. Nur bei einigen Liedern sekundierte der Vater mit einem leichten Baß, und die zwei Jüngsten mußten für sich die eigenen Lieder üben.
Nachmittag und Abend vergingen wie im Fluge, und sie fühlten sich im Rednitschekhäusl bei Huschitz schon am ersten Tag heimisch, als wären sie schon Jahre hier gewesen.
Der eiserne Topf über dem Herd wurde gereinigt und mit Milch gefüllt und diese in Schüsselchen auf den Tisch gestellt. Die Anna zündete eine Petroleumlampe an.
Die alte Rednitschekin war still geworden und in die Kissen zurückgesunken. Die Herdflammen röteten die schwarzen Wände.
Besorgt sah die Anna immer wieder nach ihrer alten Mutter, die leise murmelnd dalag und plötzlich laut zu reden anfing.
„Sie hat wieder ihr Gesicht“, bedeutete die Anna ihrem Mann und den Kindern und legte den Finger warnend auf den Mund. Sie schwiegen. In der Stube wurde es drückend still, so still, daß man die Flamme der Lampe blaken und das Herdfeuer knistern hörte.
„Sind hundert Jahr um — nix hundert Jahr — kommen neue hundert Jahr — auch nix gut“, knurrte die Alte, „Fuchs wird den Böhmerwald nimmer sehen. Oh, oh! Die vielen Kreuz, die viel weiße Stein, die viel Häuser und Kirch! Oh, oh — Fuchs! Oh, oh, Anna, arme Anna!“ So schien sie mit sich selbst zu reden, und ihre Hakennase stach spitz aus dem welken Gesicht. Die dürren Finger fuhren, als zeigten sie an der Stubendecke etwas auf oder zählten dort eine für die anderen unsichtbare Schrift ab.
„In Winterberg wollen sie mich nicht haben — wird ein kleiner Leichenzug sein und kein Rößlein dran — Füchsin, Füchsin, wirst groß und reich werden — einer wird sich totmachen — einer wird dich heiraten — von weit her. Füchsin, wenn du wiederkommst nach Huschitz, wird kein Steindl mehr da sein von Rednitschekhäusl, und im Böhmerwald wird nit mehr gesungen und gespielt. Das kleine Losmaul zieht an die Donau, und der Bub wird die Kutten tragen. Anna —“ Die Alte zuckte in schweren Krämpfen.
„Wenn sie ihr Gesicht hat, redet sie kein Wort Tschechisch“, flüsterte die Anna, „und wenn sie den Krampf bekommt, ist bald alles vorbei.“
Schweratmend lag die Rednitschekin und fing nun schnarchend zu schlafen an.
„Werdet müd sein, kommt!“ Stumm vor Schreck ließen sich die Kinder von der Stiefmutter über eine Leiter im schmalen Hausgang unter das Dach bringen, wo Heu und Decken ihr Nachtlager bildeten. Sie zeichnete jedem das Kreuzzeichen auf die Stirne und stieg wieder nach unten. Dort löschte sie die Petroleumlampe und ging mit dem Fuchs in die kleine Stube hinüber.
„Ich fürchte mich“, jammerte der Alex leise unter der Decke, und die Agnes maulte: „Da bleib ich net! Da renn ich davon! Gleich morgen früh!“
Die Stefanie lachte leise: „O ihr Angsthasen. Ist doch ganz schön da! Schlaft jetzt!“
Der Wind strich huschend über das Schindeldach, und das Heu raschelte, wenn sie sich bewegten. Bald hörte sie die tiefen Atemzüge der Geschwister, sie selber lag aber noch lange und horchte auf das Schnarchen und Murmeln der alten Rednitschekin, das durch den Boden heraufklang. Im Halbschlaf sah sie sich wieder auf dem Weg nach Huschitz, und links und rechts an der Straßen saßen stumm und drohend schwarze Krähen und blickten sie an.
Ein dumpfer Schlag riß sie wieder aus dem Dösen. Ein zweiter Schlag folgte, und die Wände dröhnten. Dann kamen die Stöße dicht hintereinander, und draußen in der Nacht wurde ein zischendes Geschrei laut.
„Dale priz znizeti, dale, dale!“
Sie erkannte an den Stimmen, daß es junge Burschen waren, und das Pumpern mußte von Steinen kommen, die sie an die Wände warfen. Schnell zog sie sich an und schlich über die Leiter in den Hausgang, suchte den Türriegel und stand mit einem Sprung im Freien. In der hellen Nacht sah sie einen Burschen vor sich stehen, und sie fiel wie eine wilde Katze über ihn her, daß er in seiner Überraschung sich zu wehren vergaß und zu Boden stürzte. Die Fäuste der Füchsin schlugen auf sein Gesicht nieder. Er fing zu brüllen an, sprang auf und hastete den trappenden Schritten nach, die im Dunkel gegen Huschitz hin verklangen.
Als sich die Stefanie, zitternd vor Zorn, wieder zur Haustüre wandte, kamen auch ihr Vater und die Stiefmutter, die erschrocken rief:
„Steffi, was ist los? Wie kommst du da her?“
„Einen hab ich erwischt und hab ihn verhauen“, antwortete sie schweratmend und fragte: „Was haben sie geschrien? Hab es net verstanden.“
„Sie haben — wir sollen verschwinden, sollen fortgehen“, sagte die Stiefmutter zögernd, „aber das ist nit so schlimm, solch Spektakel machen die Huschitzer Burschen oft.“
In der Stube fing die alte Rednitschekin gellend und geifernd zu schimpfen an, halb deutsch, halb tschechisch die Huschitzer verfluchend.
„Leg dich wieder nieder und schlaf gut“, sagte die Anna hastig zu ihrer Stieftochter, und auch ihr Vater fand nun die ersten Worte:
„Wird net so schlimm sein“, meinte er langsam. Während die Anna ihre Mutter beruhigte, stieg die Stefanie wieder die Leiter hinauf.
„Was ist?“ wollte die Agnes wissen.
„Gar nix. Hab einen Burschen verhauen, und dann sind sie alle weggerannt. Das ist hier so. Schlaft!“
Der Regen klatschte und trommelte auf das Dach, als die Stefanie fröstelnd erwachte. Durch eine helle Ritze sah sie, daß es schon lange Tag sein mußte. Die Agnes und der Alex schliefen noch, die Decken fest über die Köpfe gezogen. Drunten in der Stube hörte sie die Stiefmutter monoton dahinreden, dazwischen wieder die spitze und brüchige Stimme der Alten oder kurz brummend den Vater.
Überlegend blieb sie noch liegen und sah auf den Spalt in der geborstenen Schindel, in dem der abfließende Regen gegen den Himmel ein perlendes Spiel trieb und in tappenden Tropfen auf den Boden der Dachkammer fiel.
Die gestrige Nacht waren sie noch daheim gewesen, im Beihäusl des Peterbauern von Klösterle, in zwei bescheidenen, aber sauberen Stuben, daheim an dem Ort, an dem sie zur Welt gekommen waren und wo vor einem Jahr die Mutter gestorben war.
Das Dorf Klösterle und das Beihäusl lagen nun drüben auf der anderen Seite, lagen im Böhmerwald, und die Grenze, die man nicht sehen konnte, die aber doch da war und von der Erde bis zum Himmel reichte und zwei Sprachen scharf abgrenzte, trennte sie vom alten Heimatl.
Und hier herüben war ein fremdes Land mit fremden Leuten, die eine zischende Sprache redeten, die sich böse anhörte. Sie konnte den Jammer der alten Rednitschekin verstehen. Fünfzig Jahre hatte sie hier aushalten müssen, mit einem Mann, der ihre Muttersprache so wenig kannte, daß sie gezwungen war, die seine zu lernen und sich in diese Umwelt einzufügen. Sie mußte die Anna bewundern, die nun ihre zweite Mutter sein sollte. Sie hatte das deutsche Wesen und die deutsche Sprache besser bewahrt als ihre Mutter und war viele Jahre den weiten Weg bis Adolf bei Winterberg in die Arbeit gegangen, im Sommer und im Winter, bei jedem Wetter, weil es sie zu den Böhmerwäldlern gezogen hatte, war als Musikantin mit einer Spielfamilie gewandert, singend und geigend, hinaus ins Bayerische.
Nun verstand sie den Vater schon besser. Er selber, dem die Musik im Blut lag und der seine Kinder mit viel Opfern wieder zur Musik erzogen hatte, der sich das Geld vom Mund absparte, um beim Strunz in Außergefild die teuren Instrumente bauen zu lassen, hatte eine Spielfamilie gründen wollen. In der Glasfabrik hatte er gearbeitet, bis er Blut spuckte, und was hätte er nach dem Tode der Mutter anders tun sollen, als zur Musik zu greifen, um sich und seine Kinder durchzubringen? Der kranke Vater hatte das Reden verlernt, weil ihn die Sorgen zu stark drückten. Schwester und Bruder, die neben ihr unter den Decken schliefen, ahnten das alles noch nicht, sie aber spürte ein Erbarmen mit dem Vater, daß sie hätte weinen können.
Und dann hatte er halt die Rednitschekin kennengelernt: die Anna!
Gestern, auf dem Umzug hierher, war ihr vor der Bekanntschaft mit der Stiefmutter bange gewesen, aber als sie dann so fein und mit leuchtenden Augen gegeigt und so hell und warm gesungen hatte, da war ihr die Anna so lieb geworden. Diese Frau tat alles so selbstverständlich und mit so ruhigen Bewegungen, tat alles mit einem leichten, entschuldigenden Lächeln, daß sie die bangen Vorbehalte der kritischen Stefanie gleich in den ersten Stunden beseitigte.
Waren sie nun wirklich erst einen Tag und eine Nacht hier in dem Häusl bei Huschitz? Mit dem Musizieren und Singen am gestrigen Nachmittag war sie in diesem Häusl so heimisch geworden, als wären sie schon Wochen und nicht erst Stunden hier.
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