Komplementarität - Günter Hiller - E-Book

Komplementarität E-Book

Günter Hiller

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Beschreibung

Das Verständnis der Komplementarität setzt voraus, dass wir uns die Welt, unser Universum, Gott als lernendes System vorstellen, das per se nicht vollständig sein kann und darf, da dann kein Lerneffekt möglich ist. Diese Unvollständigkeit erlaubt jedoch keine Vorhersagen und beschert uns eine Unsicherheit, die uns Menschen unangenehm ist. Wir versuchen, diese Unannehmlichkeit zu verringern, in dem wir das System durch Randbedingungen, virtuelle Randbedingungen, die sich aber niemals überprüfen lassen, vervollständigen. In der Religion ist solch eine Randbedingung beispielsweise ein allmächtiger und allwissender Gott, in den Wissenschaften z.B. eine konstante, universelle Lichtgeschwindigkeit. Durch solche Randbedingungen erzeugen wir Märchen, die sich gut erzählen lassen, aber die Lernfähigkeit, auch die eigene Lernfähigkeit, unnötig begrenzen und die Komplementarität als allgemeines Prinzip negieren.

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Vorwort

Das Plädoyer für Schizophrenie bezieht sich nicht auf die medizinische Krankheit, die mit diesem Begriff verknüpft ist, sondern auf die ursprüngliche Bedeutung im Sinne von gespaltener Geist oder gespaltene Persönlichkeit. Dabei geht es natürlich nicht um eine gespaltene Persönlichkeit, sondern eher um eine gespaltene Betrachtungsweise. Wir müssen uns von der Vorstellung trennen, dass es nur eine, eine einzige Wahrheit geben könnte. Wir müssen lernen, Problemstellungen aus ganz unterschiedlichen Blickrichtungen zu betrachten.

Wir müssen uns davon trennen, mit Dogmen und festen Überzeugungen zu argumentieren, die aus Annahmen resultieren, die prinzipiell nicht überprüfbar sind. Wenn eine Aussage in einigen wenigen Fällen zutrifft, lässt sich daraus keine universelle Gültigkeit ableiten. Selbst wenn in Hunderten von Fällen eine Übereinstimmung im Rahmen des Auflösungsvermögens festgestellt wird, ist eine weitergehende Verallgemeinerung schlicht fahrlässig. Grundsätzlich verändert jedes Element, das sich selbst verändert, auch sein Umfeld und damit auch sein Verhältnis zum Umfeld.

Unterschiedlich ist nur die Geschwindigkeit der Veränderung und deren Relativität zu unserer eigenen Lebensspanne ist verantwortlich für deren Relevanz für unser eigenes Leben und Verständnis. Veränderungen sind das Elixier des Lebens, Leben ist ohne ständige Veränderungen undenkbar. Deshalb sind wir mit Sinnen und Verstand ausgerüstet, um diese ständigen Veränderungen wahrzunehmen und darauf reagieren zu können. Veränderungen des Umfelds sind immer regional und man muss deshalb immer regional und dezentral auf diese Veränderungen reagieren.

Es gibt keine vernünftigen universellen Regeln und es kann somit auch keine vernünftige und sinnvolle Zentralmacht geben. Eine Überlebensstrategie in der Sahara muss auch anders geartet sein als eine Überlebensstrategie in der Antarktis. Allmachtsphantasien entspringen einem menschlichen Wunschdenken, einer Fehleinschätzung und horrender Selbstüberschätzung. Zu diesen Allmachtsphantasien neigen insbesondere alte senile Männer. Beispiele dafür sind Putin, Xi Jinpeng oder Trump, aber auch der Papst und der Ayatollah, der eine betrachtet sich als Stellvertreter Gottes auf Erden und der andere als legitimer Nachfolger des selbsternannten Propheten Allahs.

Die Selbstüberschätzung all dieser Personen hat ein dermaßen fatales Ausmaß angenommen, dass die Folgen unabsehbar sind. Das Fatale dabei ist nicht die geistige Krankheit dieser selbsternannten Führer, sondern die Dummheit der Massen, die diesen Führern hinterherlaufen. Erst der Wahn großer Menschenmassen ist verantwortlich für die Katastrophen, die dem Größenwahn einzelner entspringen. Man stelle sich vor, es ist Krieg und keiner geht hin! Das würde allerdings ein kritisches Denken jedes einzelnen erfordern und das ist genauso ein Wunschdenken, denn es ist sehr viel anspruchsvoller, kritisch zu denken als einer Heilslehre zu folgen, die die persönlichen Sehnsüchte virtuell befriedigt.

Es gibt keine Vorteile ohne Nachteile und allein diese Aussage ruft bereits den Unmut der Massen hervor, denn Nachteile sind unerwünscht und passen nicht zu einem positiven Denken. Was soll das sein, positives Denken? Allein der Begriff entbehrt jeder Sinnhaftigkeit. Wer solch ein Schlagwort propagiert, sollte erst einmal anfangen, selbst zu denken und sich mit dem Begriff der Komplementarität befassen. Komplementarität erfordert in jeder Situation das Abwägen unterschiedlicher Betrachtungsweisen und nicht das Wiederholen von ungeprüften Parolen oder Lehrmeinungen. Wir Menschen sind zwar Herdentiere, aber nicht um den Preis blinden Gehorsams, denn dafür hätten sich unsere Sinne und unser Gehirn nicht so fulminant entwickeln müssen.

Am einfachsten versteht man Komplementarität, wenn man die Unterhaltung von zwei Menschen betrachtet. Der eine sagt etwas und der andere versteht etwas anderes. Der plausible Grund dafür ist die Tatsache, dass das System aus Informationsgeber, Information und Informationsnehmer asymmetrisch ist und niemals symmetrisch sein kann und darf. Unsere Welt existiert nur wegen dieser fundamentalen Asymmetrie!

Die zweite Auflage habe ich noch durch das Kapitel Komplementarität und Glaube erweitert. Komplementarität steht schließlich dafür, dass es nicht eine einzige Wahrheit geben kann, sondern dass es immer mindestens zwei komplementäre Betrachtungsweisen geben muss! Ein von einigen Religionen geforderter unbedingter Glaube ist somit mit einem Komplementaritätsprinzip unvereinbar.

Berlin, im März 2022

Günter Hiller

Die Dosis ist das Gift

Paracelsus

Inhalt

Einleitung

Komplementarität und Evolution

Komplementarität und Symbiose

Ein Plädoyer für Schizophrenie

Der Muff von 1000 Jahren

Eine komplementäre Welt

Virtual Reality

Auflösungsvermögen

Grenzen des Wachstums

Organisation der Menschen

Physik, Evolution und Komplementarität

Raum, Zeit und Gleichungen

Komplementarität und Glaube

Literatur

Einleitung

Der Begriff der Komplementarität ist eng mit Evolution verknüpft und hat unser Denken von Grund auf verändert. Alles, was über Jahrhunderte unsere Überzeugungen geprägt hat, sowohl eine monotheistische Religion als auch die klassische Physik, muss auf den Prüfstand. Die wichtigste Erkenntnis, die uns die Evolution gelehrt hat, ist die Aussage, dass sich Evolution und Perfektion gegenseitig ausschließen. Wir haben gelernt, dass sich unsere Erde evolutionär entwickelt hat, dass auch der Kosmos einer evolutionären Entwicklung unterliegt. Allein das Wissen, dass Sterne entstehen und vergehen, ist mit der Vorstellung einer perfekten Welt unvereinbar.

Die Vorstellung einer perfekten fehlerfreien Welt entspricht einer altertümlichen Wunschvorstellung, allerdings einer sehr naiven Wunschvorstellung. Ähnlich naiv ist allerdings auch die neuzeitliche Wunschvorstellung einer mathematischlogischen Beschreibbarkeit unserer Welt. Unsere mathematische Logik ist ein geeignetes Hilfsmittel, um Systeme zu beschreiben, die per Definition begrenzt oder vollständig sind. Kurt Gödel hat 1931 mit seinem Unvollständigkeitstheorem gezeigt, dass diese Logik bei Unvollständigkeit nicht mehr relevant ist. In diesem Essay geht es um diese Unvollständigkeit und darum, dass Komplementarität bereits ein Merkmal von Unvollständigkeit ist. Als komplementär werden zwei Betrachtungsweisen bezeichnet, wenn die eine nicht durch die andere beschrieben oder erklärt werden kann, aber beide Betrachtungsweisen sich ergänzen und zum Gesamtbild beitragen. Die Unvollständigkeit der Komplementarität ist nicht sofort offensichtlich, aber bei genauerer Betrachtung doch sehr deutlich.

Komplementarität bezieht sich nicht auf ein System, sondern dessen Beschreibbarkeit. Vielleicht ähnelt sie der Aussage des Aristoteles: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Aus Sicht eines Teils ist dieses mehr nicht erkennbar und wir Menschen sind ein Teil der Welt und somit ist für uns dieses mehr, das für das Ganze, für die Welt verantwortlich ist, nicht zugänglich. Wir beschreiben unsere Welt mit zwei Parametern, Raum und Zeit, gewissermaßen zwei Teilen, wobei das mehr, die Beziehung zwischen Raum und Zeit, uns nicht zugänglich ist.

In der Physik betrachten wir immer Systeme, die wir in ihrer Ganzheit wahrnehmen können. Diese Ganzheit wird durch die entsprechenden Randbedingungen gewährleistet und diese Randbedingungen sind letztlich für die Vollständigkeit des Systems verantwortlich. Wenn wir diese Randbedingungen nicht formulieren können, ist die von uns geschaffene mathematische Logik nicht mehr relevant. In der Mathematik steht dafür der Begriff Unendlich, für den es sogar ein mathematisches Zeichen gibt (∞). Unendlich bleibt immer unendlich, egal ob man etwas addiert oder subtrahiert, folgt also nicht mehr unserer bewährten Logik.

Randbedingungen sind folglich für die Anwendbarkeit unserer mathematischen Logik unabdingbar, sie sind somit auch für unser logisches Verständnis der Welt unverzichtbar. Komplementarität sollte daher an fehlende oder mangelhafte Randbedingungen gekoppelt sein. Wenn man also Physik als Wissenschaft von Systemen definiert, für die Randbedingungen postuliert werden können, dann wird sofort deutlich, dass man Physik nicht für die Beschreibung der Welt als Ganzes verwenden darf. Man darf nicht von Teilen auf das Ganze schließen, das ist logisch einfach unsinnig und damit sind auch Vorhersagen über die Welt als Ganzes unsinnig.

Da jedes System eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, kann man folglich auch nur von einem vollständigen System sprechen, wenn es entweder in der Zeit unveränderlich ist oder wenn es einen bekannten Anfang und ein bekanntes Ende hat. Wenn keine der beiden Bedingungen erfüllt ist, muss das System als unvollständig eingestuft werden, mit all den bereits erwähnten Konsequenzen der Komplementarität. Ein Verständnis der Komplementarität zeigt aber sofort auch seine Tücken. Für die Komplementarität gilt ein sowohl…als auch, für all unser Handeln, für all unser Tun jedoch ein entweder…oder. Wir müssen das eine oder das andere machen und wissen eigentlich schon vorab, dass unser Handeln unvorhersehbare Konsequenzen nach sich ziehen wird, auf die wir früher oder später reagieren müssen. Jede Handlung hat nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile, die meist aber erst verzögert erkennbar werden.

Verantwortlich dafür ist eine endliche Informations- oder Kausalgeschwindigkeit. Diese erzeugt eine zeitliche Asymmetrie, die erst spät in der Physik Beachtung fand. Noch heute denken viele Physiker in Symmetrien und Symmetriebrechungen und negieren damit die Ursachen von Komplementarität und Evolution, die Asymmetrie. Unser Handeln wird bestimmt durch offensichtliche Vorteile und zunächst verdeckte Nachteile. Diese Asymmetrie ist die Grundlage des Wettbewerbs, der in der Evolution tatsächlich nur eine Bewertung von Vor- und Nachteilen bezeichnet. Diese Asymmetrie von Vor- und Nachteilen ist die Ursache aller Veränderungen, ist die Ursache dessen, was unsere Welt bewegt.

Diese Vorstellung lässt sich nicht mit toter Materie erklären, denn für tote Materie kann es keine Vor- oder Nachteile geben, das macht keinen Sinn. Dabei macht für tote Materie nicht einmal der Begriff Sinn einen Sinn. Wenn man davon ausgeht, dass Informationen nur Sinn machen, wenn sie irgendwie übertragen werden, benutzen wir den Begriff Sinn. Auch wenn wir physikalische Gesetze betrachten, fragen wir nach einem Sinn und den Folgen dieser Gesetze. Warum?

Diese Abhandlung kann keine eindeutigen Antworten bereitstellen, aber jede Menge Fragen aufwerfen. Tote Materie stellt aber keine Fragen, kann keine Fragen stellen. Durch diese Fragen verliert die Physik ihre Eindeutigkeit, eine Eindeutigkeit, die ursprünglich das Markenzeichen der Physik war. In einer perfekten Welt, in der sich physikalische Gesetze nicht ändern, waren wir daran gewöhnt, mit Begriffen wie richtig oder falsch zu argumentieren. Wenn Ereignisse jedoch das Umfeld beeinflussen und verändern, werden die ursprünglich absoluten Begriffe richtig und falsch relativ und beziehen sich nur noch auf das jeweilige Umfeld. Richtig und falsch machen nur bei einer entweder…oder Logik Sinn, nicht jedoch bei einer sowohl…als auch Logik, bei der man besser die Begriffe vorteilhaft und nachteilig verwenden sollte.

Ein Beispiel dafür bietet das Bevölkerungswachstum auf der Erde. Vor einiger Zeit trafen Wissenschaftler die Aussage, dass wir ca. zweieinhalb Erden benötigten, um die vorhandenen 7,5 Milliarden Menschen nachhaltig versorgen zu können, d.h. dass eine Erde gut wäre für ca. 3 Milliarden Menschen. Eine Bevölkerung von 3 Milliarden Menschen hatte die Erde etwa um das Jahr 1960. Davor war ein Bevölkerungswachstum vorteilhaft, danach war es nachteilig. Strategien müssen folglich den jeweiligen Umständen angepasst werden und dürfen nicht dogmatisch sein.

Dieses Beispiel macht zwei Dinge deutlich, zum einen, dass Strategien den jeweiligen Verhältnissen gerecht und entsprechend angepasst werden müssen, zum anderen aber auch, dass die Notwendigkeit eines Strategiewechsels erst im Nachhinein offenkundig wird. Dieses Verhalten wird recht gut mit dem sogenannten Hype-Cycle dargestellt, der ursprünglich den Verlauf neuer Technologien beschreiben konnte.

Abb. 1: Hype-Zyklus

Das Bevölkerungswachstum wurde zunächst nie in Frage gestellt, weil es über Jahrtausende nicht in Frage gestellt werden musste. Erst 1972 veröffentlichte Meadows seine Studie für den Club of Rome Die Grenzen des Wachstums. Das Konzept dieser Veröffentlichung war im Prinzip richtig, nur waren diverse Annahmen bezüglich der Wirkungen neuer Technologien zu optimistisch. Das ist aber absolut normal, wenn man Neuland betritt, für das es keine überprüfbaren Anhaltspunkte gibt. Gerade in Grenzbereichen sind Vorhersagen ein Glücksspiel, da noch keine Datenbasis existieren kann.

Ein altes indisches Sprichwort lautet: Man badet niemals zweimal im gleichen Fluss. Wenn wir dieses Sprichwort beherzigen und dem Fluss mehr Achtsamkeit widmen, werden wir überrascht sein, mit wie vielen irreversiblen Veränderungen wir jeden Tag konfrontiert sind. Auch wenn wir vieles als bekannt einstufen können, bleibt dennoch eine große Zahl von neuen, von emergenten Ereignissen. Emergenz ist nicht vorhersagbar und insofern als zufällig einzustufen, sie ist aber auch notwendig, damit die Welt nicht erstarrt. Emergent lässt sich somit auch als nicht perfekt titulieren und Emergenz als Motor der Evolution betrachten. Diese brillante Idee entwickelte Jacques Monod in seinem Buch mit dem treffenden Titel Zufall und Notwendigkeit.

Wenn man sich intensiv mit dieser Thematik beschäftigt, kommt man zu der Einsicht, dass dieses Prinzip weit über den Rahmen der biologischen Evolution hinausreichen muss und auch für andere Vorgänge in unserem Universum Gültigkeit haben könnte oder sollte. Ohne zunächst den Begriff Evolution präzisieren zu müssen, könnte man alles jenseits der Perfektion als Evolution bezeichnen. Erst in einem zweiten Schritt kann man dann darüber nachdenken, welche Prinzipien einer Evolution zu Grunde liegen könnten.

Komplementarität und Evolution

Ein hervorragendes Beispiel für Komplementarität und Evolution ist unsere Vorstellung von Masse. Einerseits verbinden wir mit Masse die Gravitation, wie sie durch das Newtonsche Gravitationsgesetz beschrieben wird. Ich möchte diese gegenseitige Anziehung mit dem Begriff Affinität (A) belegen. Die Affinität von zwei Massen m1 und m2 ist nach Newton proportional zum Produkt dieser beiden Massen, also A ∼ m1 ⋅ m2. Diese Beziehung ist aber nur anwendbar, wenn beide Massen beweglich und nicht miteinander verbunden sind. Wenn die beiden Massen miteinander gekoppelt sind, also eine Einheit bilden, dann addiert sich ihre Trägheit (T), die eine Eigenschaft von Masse ist.

Diese Trägheit ist proportional zur Summe der beiden Massen, T ∼ m1 + m2. Die Affinität ist zudem noch umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands der beiden Massen voneinander, also A ∼ m1 ⋅ m2 / r2. In der Physik bezeichnet man diese Affinität auch als schwere Masse und die Trägheit als träge Masse. Man sieht sofort, dass man die schwere Masse nicht durch die träge Masse beschreiben kann und umgekehrt, aber beide berücksichtigen muss und sich beide ergänzen.

Ich habe mich deshalb dem Begriff der Komplementarität bewusst unwissenschaftlich genähert, um jede Voreingenommenheit zu minimieren. Wenn man bei Wikipedia nach Komplementarität oder dem Komplementaritätsprinzip sucht, findet man einen ganzen Strauß von Antworten, die ganz unterschiedliche Bereiche abdecken, wie z.B. Physik, Psychologie oder Logik. Allen gemeinsam ist die Feststellung, dass man ein Komplementär nicht durch sein Gegenstück beschreiben kann und sich damit eine rein mathematisch-theoretische Analyse vor vorneherein verbietet.

Aber schon in der chinesischen Philosophie wurde mit dem Yin-Yang-Prinzip die unlösbare Verbundenheit von Gegensätzen zu einer Ganzheit beschrieben, dem Kerngedanken des Taoismus. In den alt-ägyptischen Vorstellungen wurde diese Ganzheit und ihre Gegensätze durch eine Waage und die Göttin Ma'at repräsentiert. Die Thematik der Komplementarität zog sich durch die Jahrhunderte in unterschiedlichen Variationen.

Die Lehre von Baruch de Spinoza betrachtete Geist und Materie als zwei Seiten der gleichen Medaille (una eademmque res), Gottfried Wilhelm Leibniz sprach vom psychophysischen Parallelismus und Immanuel Kant definierte in seiner Kritik der reinen Vernunft eine Antinomie als einen Widerstreit der Gesetze. In den Sprachwissenschaften beschreibt das Antonym (Gegenwort) den Komplementaritätsbegriff, den meines Wissens nach zuerst William James in der Psychologie benutzte, um die Abspaltung von Bewusstseinsbereichen zu beschreiben, die dann nebeneinander bestehen und deren Inhalte wechselseitig unzugänglich werden.

Niels Bohr übernahm dann diesen von William James geprägten Begriff für den Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts und erweiterte ihn zu einem Komplementaritätsprinzip, das damit auch Einzug in die Physik halten konnte. Als Teilaspekt dieses Komplementaritätsprinzips lässt sich auch die von Werner Heisenberg formulierte Unschärferelation betrachten, die besagt, dass beispielweise ein Ort und ein Impuls nicht gleichzeitig scharf oder genau sein können.

Egal, ob es sich um einen Dualismus von Geist und Materie, von Welle und Teilchen oder von Energie und Masse handelt, in allen Fällen beruht dieser Dualismus auf etwas, was man nicht anfassen oder lokalisieren kann und etwas, das man anfassen und lokalisieren kann. Man könnte auch sagen, dass Materie, Teilchen und Masse durch eine feste oder stabile Struktur gekennzeichnet sind, Geist, Welle und Energie dagegen nicht. Das heißt nicht zwingend, dass Letztere keine Struktur haben, sondern nur, dass diese Struktur für unser Zeitempfinden zu flüchtig ist.

Möglicherweise hat das etwas mit unserem zeitlichen Auflösungsvermögen zu tun, mit unserer Wahrnehmung und unserer eigenen Lebensspanne. Diese Betrachtungsweise verändert einen absoluten Dualismus in einen relativen Dualismus. Dadurch wird dieser Dualismus nicht ausgeschlossen, sondern nur in seiner Erscheinungsform relativiert.

Es ist daher durchaus angemessen, über Gemeinsamkeiten der jeweiligen Seiten nachzudenken und über ein übergeordnetes Konzept, dass allen diesen Dualismen gemein ist. Es dürfte sofort klar sein, dass das für erkennbare Strukturen einfacher sein sollte als für die nicht erkennbaren Strukturen. Körper, Materie, Teilchen oder Masse lässt sich durchaus unter dem Sammelbegriff Materie zusammenfassen, bei Geist, Welle oder Energie ist das nicht so offensichtlich.

Spannend wird diese Überlegung, wenn man berücksichtigt, dass Materie immer in irgendeiner Form Raum beansprucht. Wie beschreibt man dann den Raum zwischen Materieteilchen? Dieser leere Raum kann ja nicht wirklich leer sein! Auch in Newtons Gravitationsgesetz spielt der Abstand r eine zentrale Rolle und ist nicht vernachlässigbar.

Der Raum zwischen Materieteilchen ist folglich auch nicht lokalisierbar und müsste somit der Seite mit Geist, Welle und Energie zugerechnet werden. Wenn man diese Seite unter dem Sammelbegriff Energie zusammenfasst, dann ließe sich auch der leere Raum als eine Art Vakuumenergie verstehen. Eine Welle könnte dann eine Energieschwingung repräsentieren und Geist eine besondere Form von Energieleistung.

Wenn man Materie als Struktur betrachtet, benötigt man für eine Welt nicht nur diese Strukturen, sondern auch noch Veränderungen dieser Strukturen. Wenn sich diese Veränderungen der Strukturen nicht durch die Strukturen selbst erklären lassen können und umgekehrt, sind Strukturen und ihre Veränderungen komplementär! So, wie wir unsere Welt sehen, lässt sich diese Komplementarität anscheinend nicht aus der Welt schaffen. Diese Komplementarität ließe sich nur durch eine eindeutige Verknüpfung der Strukturen und ihrer Veränderungen beheben.

Wenn man diese Strukturen als Merkmale des Raums betrachtet und Zeit als Maß der Veränderung, dann führt das zu einer generellen Komplementarität von Zeit und Raum. Beide, Zeit und Raum, verändern sich immerfort und beeinflussen und ergänzen sich gegenseitig. In einer abstrakten mathematischen Formulierung könnte man schreiben:

Das ist eine Gleichung mit zwei Unbekannten, die nur dann eindeutig lösbar ist, wenn eine weitere Verknüpfung von Zeit und Raum verfügbar wäre. Bisher hat uns die Welt oder die Wissenschaft diese Verknüpfung nicht offengelegt und das führt automatisch zu weiteren Fragen. Ist es für uns Menschen prinzipiell möglich, diese Verknüpfung zu erkennen und wenn nicht, welche Möglichkeiten stehen und dann zur Verfügung.

Die erste Frage lässt sich ganz klar mit Nein beantworten. Eine exakte Verknüpfung von Zeit und Raum steht uns nicht zur Verfügung, da wir selbst ein Teil dieses Raum-Zeit-Gefüges sind und daher keinen Blick auf das Ganze haben können. Schon Aristoteles bemerkte, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und aus unserem begrenzten Blickwinkel ist uns der Außenblick, der Blick auf das Ganze niemals möglich. Aus unserer Perspektive erscheint uns unser Universum als ein unvollständiges System!

An dieser Stelle tritt tatsächlich das 1931 von Kurt Gödel formulierte Unvollständigkeitstheorem in Aktion, dass selbst unsere Logik und logischen Schlüsse ad absurdum führt oder einfach nicht zulässt. Alle Schlussfolgerungen unserer mathematischen und physikalischen Erkenntnisse sind in diesem Fall nicht gültig oder anwendbar. Sie sind nicht falsch oder ungenau, sondern einfach nur sinnlos.

Für unsere Physik, unsere Mathematik und unsere Logik benötigen wir vollständige Systeme oder, wenn das nicht möglich ist, zumindest quasi-vollständige Systeme. Solche quasivollständigen Systeme benötigen einen Rahmen oder einen Rand und genau aus dieser Forderung heraus hat sich der Begriff der Randbedingungen etabliert. Je nach Wahl dieses Rahmens kenn man entsprechende Erhaltungsgrößen definieren und daraus die entsprechenden Erhaltungssätze formulieren.

Erhaltungssätze sind keine naturgegebenen Erfahrungssätze, sondern nur das Ergebnis willkürlicher Randbedingungen. Wenn ich ein System so wähle, dass keine Energie abfließen oder hinzukommen kann (wie geht das?), dann gilt für dieses System natürlich der Energieerhaltungssatz, aber was habe ich außer Willkür damit gewonnen?

Sinnvollere Randbedingungen sind dann schon die Festsetzung von Zeit- und Längeneinheiten auf der Erde. Wenn man beispielsweise die Rotation der Erde um ihre eigene Achse für die Zeiteinheit wählt und als Tag bezeichnet, dann ergeben sich daraus Stunden, Minuten und Sekunden. Wenn man den Umfang eines Meridians für die Längenbestimmung heranzieht und diesen in 360° unterteilt, dann wird eine Bogenminute als Seemeile (sm) definiert und diese wiederum als 1852 Meter.

Mit diesen Randbedingungen hat man zwar keine Verknüpfung von Zeit und Raum erzielt, wohl aber Rechenvorschriften ermöglicht, die die Ermittlung und Anwendung physikalischer Regeln auf der Erde und in Erdnähe gestatten. Welchen Sinn diese Randbedingungen allerdings für die Vermessung des Kosmos oder Universums machen, ist dabei zunächst nebensächlich, denn kosmologischen Erkenntnissen stehen ganz andere Schwierigkeiten entgegen.

Randbedingungen sind per se niemals universell, sondern immer auf einen Standpunkt angewiesen. Wir können unser Universum nur von unserer Erde oder aus Erdnähe beobachten, andere Optionen sind nicht gegeben. Endliche Informationsbzw. Kausalgeschwindigkeiten verhindern eine gleichzeitige Beobachtung selbst des sichtbaren Kosmos. Wenn wir Prozesse beobachten, die vor Millionen von Jahren stattgefunden haben und nicht einmal eine zuverlässige Zeitskala besitzen, dann sind Messungen und Spekulationen mit äußerster Vorsicht zu bewerten.

Um das noch einmal klarzustellen, sind auch eherne Naturgesetze oder eine konstante Vakuum-Lichtgeschwindigkeit nichts anderes als willkürliche Randbedingungen, auch wenn manchmal der Eindruck erweckt werden soll, dass es sich dabei um grundsätzliche oder universelle Konstanten handelt. Randbedingungen sind zumeist willkürliche Annahmen, die möglicherweise vernünftig erscheinen, aber im Grunde genommen niemals wirklich überprüft werden können. Eine besondere Gefahr besteht darin, dass manche dieser willkürlichen Annahmen in den Wissenskanon übernommen werden und dann nicht mehr ernsthaft hinterfragt werden. Sie gelten dann als bestätigtes Wissen und verbreiten sich folglich fast ungebremst.

Wenn man Strukturen als Symbole des Raums betrachtet und Veränderungen als Symbole der Zeit, also Raum als Maß für Strukturen und Zeit als Maß für Veränderungen, dann lassen sich Raum und Zeit als Abstraktionen verstehen, um unsere Welt zu vermessen oder zu beurteilen. Raum und Zeit, so wie sie hier verwendet werden, sind als solche weder physikalisch noch wissenschaftlich definiert und somit kann auch eine Komplementarität von Zeit und Raum nicht wissenschaftlich gerechtfertigt werden.

Ich bin mir dieser Kritik sehr wohl bewusst, muss dann aber auch all jene in diese Kritik mit einbeziehen, die einen Energieerhaltungssatz als wissenschaftliche Aussage bewerten und als Annahme in ihre Überlegungen integrieren. Physiker benutzen dennoch gerne die Begriffe Zeit, Raum oder Energie, obwohl eine klare Definition dieser Begriffe überhaupt nicht gegeben ist. Da nutzen auch keine komplizierten Formeln oder Redewendungen, wenn die Grundvoraussetzungen gar nicht gegeben sind.