Krimi-Reise Reloaded - Rudy Namtel - E-Book

Krimi-Reise Reloaded E-Book

Rudy Namtel

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Beschreibung

Sieben Kriminalgeschichten, die an unterschiedliche Orte in Europa und zum Teil auch in vergangene Zeiten führen. - Manche Morde werden geklärt, manche nicht. Überraschungen sind das Salz in der Krimi-Suppe. Wie das Leben so spielt … Gehen Sie mit auf die Reise! - »Der Mord in der Rue Claude Chahu« schildert die Vorgänge in einer winterlichen Pariser Straße. Kommissar Renoir ist ein alter Fuchs … - »Weinerts Ende« entführt ins Jahr 1835. Zur Zeit Georg Büchners erlebt ein junges Paar seinen eigenen Alptraum. – Eine ganz andere Art von Krimi in einer anderen Zeit und einer anderen Sprache. - »Auf Messers Schneide« als Krimi-Variante eines Tratsches im Treppenhaus? Nein. Aber fast … - »Rosky« - ein Kommissar begegnet einem alten Bekannten wieder. - »Stuarts Geheimnis« - 1981. Eine Jagd durch Edinburghs Unterwelt. Jeremy Lennox sucht seine Loreena. - »6:30« - In London fällt am frühen November-Abend ein Schuss. Eine Frau sinkt tödlich getroffen zusammen. Eine harte Nuss für Inspector Sheppard. - »Notschrei« - ein Weihnachtskrimi aus dem Schwarzwald, mit dem Rudy Namtel über einen Wettbewerb seinen Einstieg in die Welt von Droemer Knaur beschritt. Die Story erschien in der eBook-Anthologie »Schneeflöckchen, Bluttröpfchen«. - Seitenzahl der Original-Ausgabe: 160 Seiten

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhaltsverzeichnis

Die Geschichten (Überblick)

Der Mord in der Rue Claude Chahu

Weinerts Ende

Ergänzende Einordnung zu »Weinerts Ende«

Auf Messers Schneide

Anmerkung zu »Auf Messers Schneide«

Rosky

Stuarts Geheimnis

Anmerkung zu »Stuarts Geheimnis«

6:30

Notschrei

Über den Autor

Taschenbücher / eBooks

Erweitertes Impressum

Die Geschichten (Überblick)

»Der Mord in der Rue Claude Chahu« schildert die Vorgänge in einer winterlichen Pariser Straße. (Eine weitergeführte Version eines Wettbewerbsbeitrags zum Agatha Christie Krimipreis 2013 unter dem Thema »Alibi«. Dabei greift die Story in vollkommen anderem Geschehen eine Konstellation auf, mit der auch Agatha Christie für Aufsehen sorgte.)

»Weinerts Ende« entführt ins Jahr 1835. Zur Zeit Georg Büchners erlebt ein junges Paar seinen eigenen Alptraum. – Eine ganz andere Art von Krimi in einer anderen Zeit und einer anderen Sprache.

»Auf Messers Schneide« als Krimi-Variante eines Tratsches im Treppenhaus? Nein. Aber fast …

»Rosky« - ein Kommissar begegnet einem alten Bekannten wieder.

»Stuarts Geheimnis« - 1981. Eine Jagd durch Edinburghs Unterwelt. Jeremy Lennox sucht seine Loreena.

»6:30« - In London fällt am frühen November-Abend ein Schuss. Eine Frau sinkt tödlich getroffen zusammen. Eine harte Nuss für Inspector Sheppard. (Eine weitergeführte Version eines Wettbewerbsbeitrags zum Agatha Christie Krimipreis 2014 unter dem Thema »Heute hier, morgen Mord«.)

»Notschrei« - ein Weihnachtskrimi, mit dem Rudy Namtel über einen Wettbewerb seinen Einstieg in die Welt von Droemer Knaur beschritt. Die Story erschien in der eBook-Anthologie »Schneeflöckchen, Bluttröpfchen«.

Der Mord in der Rue Claude Chahu

Paris - meine Stadt. Wie konnte ich jemals ohne diesen prickelnden Pulsschlag um mich herum leben? Wohl nur mein Unwissen über die Verlockungen der Welt behütete mich vor Depression und Resignation in meiner Jugend und den ersten Jahren meines Polizisten-Daseins. Mein Gott, wie wäre es mir ergangen, wenn ich mich nicht vor fünf Jahren aus der bretonischen Provinz in das Herz Frankreichs hätte versetzen lassen? Wie hätte ich ohne die Herausforderungen dieser Metropole mein tristes Leben gestaltet? Ich weiß es nicht. Und will es auch nicht wissen. Die Bretagne ist für mich Vergangenheit. Eine schöne Erinnerung durchaus, aber doch nur deshalb, weil ich dort nicht mehr lebe.

Wollte ich früher Abwechslungen von den immer wiederkehrenden Alltagsabläufen genießen, boten sich nur die Vergnügungen einer typischen Hafenstadt an. Brest hat zwar einen wohl klingenden Namen, doch scheinen mir die Angebote für das wahre Erleben, das einem Mann in jungen Jahren in immer ausreichender Menge zur Verfügung stehen sollte, in dieser entlegenen Ecke Frankreichs eher dünn gesät. Grandiose Küstenlandschaften sind für den Hunger der Jugend selten eine satt machende Mahlzeit.

Dagegen fängt mich die Insel im Herzen Frankreichs wie ein nie versiegendes Buffet ein. Als sei es dem schlummernden Verlangen ein maßgeschneidertes Schlaraffenland. Doch begegne ich um mich herum nicht jenen Schlaraffen, sondern jungen wie alten Menschen, die gemeinsam mit mir den besagten Puls dieser Stadt erzeugen - mit seinem geschäftigen Lärm und hektischem Verkehr, doch auch mit seiner ruhig dahinfließenden Romantik am Ufer der Seine.

Wie sehr genieße ich meine Spaziergänge hinüber an das Flussufer. Nur wenige hundert Schritte sind es - vorbei am Place de Costa Rica zur Stahlkonstruktion der Métro-Brücke, unter der man das seltene Vergnügen genießen kann, dass die U-Bahn offen über einen hinweg rattert, bevor sie in den Untergrund an der Station Passy verschwindet. Blendet man die umherfliegenden Sprachfetzen der Menschen um sich herum aus und konzentriert sich nur auf die eisernen Träger und das rhythmische Reiben der Métro-Träger an den Schienen, so darf man sich unwidersprochen wie in einem Chicagoer Straßenzug fühlen. Um sich dann aus dieser Vorstellung herausreißen zu lassen, wenn man die wenigen Schritte bis zum Port Debilly direkt am Wasser weitergegangen ist und sich der immer wieder überwältigende Blick auf den Tour Eiffel jenseits der Seine eröffnet. Für nichts möchte ich dieses Lebensgefühl eintauschen.

Noch tiefer dringe ich in das Pariser Leben in meiner täglichen Arbeit ein. Die Herausforderungen und tagtäglichen Überraschungen in meinem Job als Fallanalytiker bei der Pariser Polizei führen mich in verschiedenste Facetten des Lebens, in die – in ihrer Vielfalt – nur wenige Menschen in dieser Stadt Einsichten haben.

Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Pierre Laroque. Meine Profession nannte ich ja schon. Manch einer würde das neu-französisch vielleicht als Profiler bezeichnen, aber diese Leute haben wohl zu viel Fernsehen geschaut. Soweit ich weiß, verwenden selbst die realen amerikanischen Kollegen diesen Begriff nicht.

Analytisches Denken war schon immer meine Passion. Unterschiedliche, sich vielleicht sogar widersprechende Fakten und Puzzle-Teile zu einem stimmigen Gesamtbild zu formen – das ist meine größte Befriedigung. Und darin bin ich gut. Dieses Können in die Kriminalfall-Aufklärung einzubringen, ist für mich Ansporn und Erfüllung zugleich. Aber ich bin weit davon entfernt, mich für den Besten zu halten. Da gibt es Ermittler, die sind mir noch weit überlegen. Umso mehr fasziniert es mich, so jemanden bei seiner Arbeit zu beobachten oder ihm sogar zur Hand gehen zu dürfen. Ein solcher Jemand ist mein Chef, Claude Renoir. Er verblüfft mich immer wieder mit seinem geschulten, scharfsinnigen Blick und seiner punktgenauen Kombinatorik. Sein Ruf in Paris ist legendär. Er schüttelt manche Schlussfolgerung aus dem Ärmel, als sei es das Leichteste von der Welt. Er ist mein großes Vorbild. Ganz einfach gesagt – so gut wie er möchte ich auch werden.

Doch das logische Denken kann dann und wann verdammt schwerfallen – vor allem, wenn ein Opfer jemand ist, den man kennt. Dann lenkt Betroffenheit Ideen auch einmal in eine falsche, fatale Richtung. So war es bei dem vorliegenden Fall.

*

Ein strahlend blauer Himmel und die mittägliche Sonne ließen Paris in einem herrlichen winterlichen Glanz erscheinen. Die eisigen Temperaturen sorgten dafür, dass die Menschen auf der Straße immer wieder für einen kurzen Moment von ihren eigenen kristallisierten, schnell wieder verschwindenden Atemschwaden umtanzt wurden.

Meine Hände tief in den Manteltaschen vergraben begab ich mich zu Fuß auf den Weg zurück ins Commissariat des 16. Arrondissements in der Avenue Mozart. Ich sah vor meinem geistigen Auge schon die Kollegen lästern. Dass ein Pariser Polizist sein Auto so dumm parkte, dass es bereits nach wenigen Minuten während seiner Mittagspause abgeschleppt wurde, würde der Lacher des Tages sein. Aber ich würde damit leben können. Der blöde Pierre! Wäre er mit uns zusammen in die Mittagspause gegangen, statt sein eigenes Süppchen zuhause zu kochen, wäre ihm das erspart geblieben. So oder so ähnlich würde es tönen. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, dass die anderen mich mit meinem Mittagessen in der eigenen Wohnung aufziehen. Aber damit könnte ich umgehen. Dass ich aber dadurch meine Mittagspause ausdehnen musste, war schon ärgerlicher. Pünktlichkeit ist mir ein hohes Gut, Verspätung unverzeihlich. Also eilte ich beschleunigten Schrittes den etwas mehr als einen Kilometer langen Weg zum Commissariat.

Ich hatte das Büro nach der so überzogenen Mittagspause noch keine zehn Sekunden betreten und wollte meinen Wintermantel gerade aufhängen, da stürmte Claude herbei.

»Pierre, lass sein! Wir müssen direkt wieder los zu einem Tatort. Ich erzähle es dir unterwegs.« Und schon befand ich mich in seinem Schlepptau wieder auf der Außentreppe. Es ärgerte mich, dass ich den Eingang einer Meldung und damit die Aufnahme von Details verpasst hatte. Jetzt musste ich es mir von Claude erzählen lassen. Das war mir eher peinlich, obwohl es das natürlich nicht hätte sein müssen, denn so etwas kommt in unserem Geschäft oft genug vor. Aber der Grund war eine von mir selbst verschuldete Verspätung – und so etwas mochte Claude genauso wenig wie ich. Doch er ließ sich zu meiner Erleichterung keine Verärgerung anmerken.

In seiner alten Déesse chauffierte Claude uns durch den Pariser Verkehr. Ich liebte dieses Auto fast so wie er. Dieser alte, komfortable Citroën war für mich schon immer der Inbegriff französischer Fortbewegung gewesen. Die durchgehende vordere Plüsch-Sitzbank ließ ein Gefühl heimeliger Wohnzimmer-Atmosphäre aufkommen. Das auf der anderen Seite der Fenster vorbeifliegende Paris bot den zugehörigen zu genießenden Film. Das einspeichige Lenkrad mit seiner Lenkradschaltung hatte so unendlich viel Futuristisches an sich – und war doch schon so sehr in die Jahre gekommen. Nun ja, Claude war auch nicht mehr der Jüngste. Vielleicht unterschätzten ihn Übeltäter gerade deshalb.

»Was gibt‘s, Claude?«, fragte ich ihn.

»Mord in der Rue Claude Chahu.«

»Wie bitte?!« Das war in meiner Straße! »Wo denn da genau?«

»Hausnummer 11.«

»Merde!«

»Kennst du?«

»Und ob! Das ist bei mir vis-à-vis. – Wer ist es?«

»Eine France Bleu.«

»Mon Dieu! Die rote France!«

»Du kennst sie?«

»Wie man Nachbarn eben so kennt. Na, vielleicht sogar ein bisschen besser. Ein ziemlicher Feger. Eine Sünde wert.«

Ich holte tief Luft. Die rote France war wahrlich ein Prachtstück an weiblicher Erscheinung. Und dabei spielte die rote Haarfarbe noch die geringste Rolle. Schlanke, perfekt geformte Beine endeten oben in einem ebenso schlanken Körper, der seine Rundungen in jeder Situation und in jeder ihrer üblicherweise eng anliegenden Kleidungsstücke jedem Mann schon fast aufdringlich schmackhaft machte. Den Rest der Fahrt dachte ich darüber nach, was uns erwartete.

Claude war ein Glückspilz. Er fand tatsächlich unverzüglich einen legalen freien Parkplatz nahe bei dem Haus. Da es sich um einen Einsatz handelte, hätte er die Déesse auch durchaus direkt vor dem Haus in zweiter Reihe abstellen können, doch hätte das zu deutlichen Behinderungen in der schmalen Straße geführt. Claude versuchte, so etwas nach Möglichkeit zu vermeiden. Er war eben ein Pariser mit ganzem Herzen.

Vorbei an den Fassaden der schmalen, hohen Artdeco- und Jugendstil-Reihenhäuser mit ihrem schmuckvollen Mauerwerk, das bei den meisten schon um die hundert Jahre alt war, näherten wir uns der Hausnummer 11. Durch die kunstvoll verzierte Haustür traten wir ein und stiegen in den vierten Stock hinauf. Zwei Gendarmen erwarteten uns schon an der Wohnungstür. Wir streiften unsere Gummihandschuhe über und traten ein. In der Wohnung führten drei Türen von einem Flur aus in die verschiedenen Räume.

»Hier lang, Monsieur Le Commissaire.« Einer der Gendarmen wies uns den Weg in das Wohnzimmer.

Da krümmte sich die arme France leblos in einer roten Lache. Ganz offensichtlich erschossen. Wie grausam doch der Tod die Schönheit einer Frau zerstört! Ich betrachtete ihre Beine und die Rundungen ihres Körpers – für immer verloren! Wieder verlangte meine Brust nach einem tiefen Atemzug. Ich wünschte mir selbst die Objektivität, die ich normalerweise an den Tag legte, wenn ich ein Opfer anders als jetzt nicht kannte. Vergebens.

Eine Pistole – wahrscheinlich die Tatwaffe – lag einige Schritte entfernt vor dem Fenster. Claude gab den Kollegen Zeichen, was sie als Spuren sichern sollten. Zwei billige Gläser auf dem Tisch, eine Weinflasche, den Inhalt eines metallenen Fisches, dessen weit geöffnetes Maul sich bei genauerem Hinsehen als ein Aschenbecher entpuppte. Vorsichtig nahm Claude das eine oder andere Stück in die Hand und betrachtete es intensiv, indem er es vor seinen Augen in alle Richtungen drehte. Ich leerte den Ascher.

»Zigaretten-Kippen, zwei; eine mit, eine ohne Lippenstift«, stellte ich immer noch heftiger atmend als sonst fest.

Dann unterzog ich alle Regalfächer und den Schrank einer Sichtprüfung.

»Notizen? Briefe?« Claudes Frage war an uns alle gerichtet.

»Noch nichts, Claude.« Auch die beiden Gendarmen schüttelten die Köpfe. Wir gingen zum händischen Stöbern über.

»Wie wurde sie gefunden?«, fragte ich, denn das hatte Claude mir während der Fahrt noch nicht berichtet.

»Die Bewohnerin direkt hier unter uns hörte einen lauten Knall. Später ging sie hier hoch um nachzuschauen, als laufend das Telefon klingelte, es aber sonst ganz ruhig war.« Claude grinste. Er kennt diese »nur-mal-schauen«-Damen. »Die Tür stand auf. Dann rief sie uns an.«

Claude stöberte weiter und griff ein Fotobüchlein von dem kleinen Schreibtisch. Er blätterte darin, stellte es wieder weg.

»Irgendwelche weiteren Fotos?«

Ich zuckte mit den Schultern. Gesehen hatte ich noch keine. Auch die Gendarmen verneinten. Einer von ihnen reichte das Handy der Toten.

»Letztes Telefonat um 12 Uhr 25. Dann gab es noch weitere Anrufe um 12 Uhr 34 und später, die sie aber nicht annahm.«

»Deckt sich sehr genau mit der Angabe dieser Madame Gaillarde von unten. Sie gab an, dass der Schuss ziemlich genau um halb eins ertönte.«

Ich wurde hellhörig. Ich ließ meine Mittagspause noch einmal in meinen Gedanken ablaufen. Dann kam ich damit heraus.

»12 Uhr 30? Moment. Wenn ich mich nicht ganz täusche, dann habe ich um diese Zeit herum Monsieur Villepain hier am Fenster gesehen.«

»Du, Pierre? Von wo?«

Ich gab ein kurzes Handzeichen. Claude folgte mir zum Fenster.

»Von dort unten.« Ich zeigte Claude, wo ich im gegenüberliegenden Haus meine Wohnung habe. Zwei Stockwerke tiefer.

»Das dort ist mein Reich.« Ich glaube, ich sagte das nicht ohne einen Anflug von Stolz ob der durch die Seine-Nähe und seine beeindruckenden Häuser privilegierten Wohnlage. Das ein einfacher Polizist hier eine Wohnung gefunden hatte, stieß dem einen oder anderen durchaus sauer auf. Ich hatte einfach einmal Glück gehabt, egal wie die Neider dachten. Aber Claude reagierte ohne weiteren Kommentar und fragte nüchtern:

»Von da aus kannst du aber nur dann jemanden hier oben sehen, wenn er direkt am Fenster steht, stimmt’s, Pierre?«

»So ist es, Claude.«

»Schaust du oft hier hoch?« Claude grinste. Jetzt war es mit seiner Nüchternheit vorbei.

»Nein.« Ich war mir sicher, dass ich in dem Augenblick für alle sichtbar rot anlief. Zumindest spürte ich die Hitze an meinem Hals und in meinen Wangen aufsteigen. »Reiner Zufall. Ich kenne sie – und ab und zu blickt man eben hier einmal hoch.«

Claude blickte mich mit einem spitzbübischen Lächeln an. Schlagartig musste ich an das Bild meines Vaters denken, als er damals aus einer meiner Bemerkungen von meiner ersten intimen Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht erfuhr. Ich war froh, dass er nicht weiter bohrte - sowohl damals mein Vater als auch jetzt Claude. Auf Peinlichkeiten konnte ich gut verzichten.

»Wer ist dieser Villepain, Pierre?«

»Er betreibt einen kleinen Modeladen gleich um die Ecke in der Rue Gavarni.«

Claude nickte.

»Wo wohnt dieser Herr?«

»Ich glaube, auch hier im Haus.«

»Ist er tagsüber üblicherweise hier oder im Laden?«

»Soweit ich das weiß, ist er ganztägig in seinem Geschäft.«

»Gut, Pierre, dann lass uns diesem Monsieur Villepain direkt einen kleinen Besuch abstatten.«

Wir streiften unsere Handschuhe ab und gingen hinunter. Die Kälte nahm uns wieder in Empfang. Die winterliche Sonne konnte uns hier unten in der Gasse nicht erreichen. Dazu schirmten uns die hohen Häuser zu sehr ab. Die Strahlen blieben irgendwo in den höheren Stockwerken hängen. Die kurze Strecke liefen wir zu Fuß.

»Einen besseren Parkplatz würden wir hier sowieso nicht finden, oder Pierre?«

»Nein, sicher nicht.«

»Hast du dein Auto schon wieder?« Oh Mann, das wusste er auch schon!

»Nein. Ich … ähm … Darum konnte ich mich noch nicht kümmern. Sie haben mich ja gleich abgefangen.«

»Wo wurde es von den Kollegen abgeschleppt?« Claude konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. Sein breiter Schnauzbart zog sich jetzt noch breiter, als wolle er die Ohren kitzeln. Ich hasse so etwas!

»Gleich hier vorn.« Ich zeigte auf das Straßenstück direkt vor einem Hydranten. Ein absolutes Halteverbot!

»Du bist ein Herzchen! Wie kann man das Auto denn hierhin stellen?«

»Ja, ja. Aber es ging doch nur um zehn oder fünfzehn Minuten. So ein Glück wie Sie eben hatte ich nicht.«

»Oui. Und dadurch wurde daraus eine ganz schön lange Mittagspause.« Claude schüttelte lachend den Kopf und tätschelte mit der Hand den Hydranten. »Noch weit bis zu Villepain?«

»Nein. Wir stehen direkt davor.«

Wir drehten uns um. Über der Glasfront des Geschäfts stand in großen Lettern »Mode Villepain« geschrieben. Wir drückten die Tür auf. Ein heller Glockenklang signalisierte unser Eintreten. Wir waren allein im Laden. Nein, nicht ganz. Ein halbes Dutzend perfekt gestylter Schaufensterpuppen lächelte uns an. Einen Augenblick später kam eine junge Frau aus dem Hinterzimmer.

»Messieurs, kann ich Ihnen helfen?«

Claude fiel die Kinnlade herunter. Ich konnte es genau sehen! Das kommt bei ihm selten vor. Oder sonst auch gar nicht? Tatsächlich hatte ich eine so offensichtliche und komische Reaktion meines Chefs noch nie zuvor gesehen. Doch ich glaube, auch ich machte große Augen. Denn die Dame sah exakt so aus wie die zuvorderst stehende Puppe: gleiches Haar, gleiche Frisur, gleiches Kleid. Da hatte jemand eine hübsche Idee perfekt umgesetzt.

»Ist Monsieur Villepain zu sprechen?«

»Sicher. Einen Moment bitte.«

Die Dame nickte fast unauffällig und verschwand wieder in dem Hinterzimmer. Wenige Sekunden später kam ein Mann mittleren Alters und mit leicht angegrautem Haar in den Verkaufsraum. Ich hatte Villepain noch nie zuvor von so nah gesehen. Er machte eine durch und durch seriöse Erscheinung. Ich fragte mich, ob ich mich mit meiner Bemerkung zu seinem Erscheinen am Fenster nicht doch hätte zurück halten sollen, bis mehr Sachverhalte geklärt gewesen wären.

- Ende der Buchvorschau -

Impressum

Texte © Copyright by Rudy Namtel, Scheidertalstr. 8, 65510 Hünstetten, [email protected]

Bildmaterialien © Copyright by Rudy Namtel

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7393-0589-9