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Neal Anderson ist neu an der Schule. Für den 16-jährigen Engländer wird die Integration zu einem Spießrutenlauf. Erst, als er den Schülersprecher Dirk kennenlernt, ändert sich das Blatt. Dirk ist an der Schule sehr beliebt und Neal zieht Vorteile daraus. Als sie schließlich eine Beziehung miteinander eingehen, lernt Neal jedoch auch Dirks dunkle Seite kennen. Er wird zur Zielscheibe von Dirks psychisch kranken Attacken, doch das merken er und seine Mitmenschen viel zu spät ...Liebeswut ist der 1. Teil der Neal Anderson-Reihe
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Band 1: Liebeswut: Coming out
Band 2: Dein Glück hat mein Gesicht: Inzest
Band 3: Wir zwei zu dritt: Liebe
Band 4: Von Liebe und Gift: Drugs
Band 5: Überdosis Liebe: Desire
Band 6: Blick heimwärts, Engel
3. Edition, 2024
Copyright © 2024 J. C. Skylark
www.jcskylark.de
Kätnersredder 6 b
24232 Schönkirchen
Deutschland
Independently Published
Coverdesign: Daylin Art
www.daylinart.webnode.com
Bildrechte © Manuel Tennert
© antgor (fotolia.com)
ISBN-10: 1977736238
ISBN-13: 978-1977736239
Die Neal Anderson-Reihe ist Brett Lewis Anderson gewidmet.
von
Justin C. Skylark
Neal kannte keinen der Schüler im Klassenraum. Ihre aufgeregten Stimmen – in einer Sprache, die ungewohnt wirkte – verstummten, als er den Raum betrat. Die Jugendlichen sahen ihn an. Verkrampft steuerte er auf einen Tisch zu, an dem niemand saß. Augenblicklich setzte das Getuschel ein.
„Ist das der Neue?“
„Guck mal die Klamotten ... Wo gibt es denn so was?“ Die Mädchen der Klasse kicherten.
„Und die Frisur“, flüsterte ein Junge nicht leise genug. „Der Neue hat wohl einen Überschuss weiblicher Hormone.“ Die Behauptung wurde mit Gelächter belohnt.
Neal starrte zu Boden.
Der Lehrer erschien und es kehrte Ruhe ein. Neal fuhr sich durch die schwarzen Haare. Er ließ den langen Pony ins Gesicht fallen. Dahinter konnte er zumindest seine Augen verstecken.
„Du bist der Schüler aus England?“, begrüßte ihn Weiler, der Klassenlehrer. „Erzähl deinen Mitschülern doch etwas über dich.“ Neal schüttelte den Kopf. Das Kichern und Tuscheln hörte nicht auf.
*
„Ich verstehe, dass der erste Schultag in einem fremden Land nicht leicht fällt“, sagte Weiler nach dem Unterricht. „Doch ich verlange eine gewisse Kooperation von dir.“
Spießer, dachte Neal, als er in der Pause abseits auf dem Schulhof stand. Er lehnte am Zaun, kramte Zigaretten hervor und steckte eine an. Dennis und Kevin, zwei Jungen aus der Klasse, steuerten auf ihn zu.
„Guck, der Neue hat Kippen!“, rief einer von ihnen. Sie kamen näher. „Gib uns auch eine.“
„Träumt weiter“, erwiderte Neal.
„Wird nicht frech, Antonsen!“, zischte Dennis. Er war ein bulliger Typ mit kurzen Haaren. Seine Stimme dröhnte in Neals Ohren.
„Ich heiße Anderson.“ Neal zog lässig an der Zigarette.
„Deine Hochnäsigkeit vergeht dir noch!“
Neal versuchte, gelassen zu bleiben, aber Dennis drängte. „Los, gib uns eine zu deinem Einstand.“ Er lachte gehässig.
„Verzieht euch!“, rief Neal übermütig. Mit der Aggressionsbereitschaft der Mitschüler hatte er nicht gerechnet. Dennis stürmte vor und stieß ihn gegen den Zaun. Die Zigarette fiel zu Boden. Er ging zum Gegenangriff über, obwohl er chancenlos war. Kevin mischte mit. Im Nu hatte Neal mit beiden zu kämpfen. Er schlug um sich und hoffte auf Hilfe.
Die helfende Hand blieb nicht lange aus. Ein junger Mann kam herangeeilt. Er griff nach Dennis und zog ihn beiseite.
„Euch geht es wohl zu gut!“, schrie er. Neals Klassenkameraden erstarrten. „Haut ab! Sonst könnt ihr was erleben!“ Sofort liefen die Jungen davon. Neal kam auf die Beine und klopfte den Staub von der Hose. Ein leises „Danke“ kam über seine Lippen.
Der Helfer lächelte. Er war größer als Neal, hatte blonde Haare, war schlank und wirkte gepflegt. Er trug nicht, wie die anderen Schüler, Jeans und Pullover, sondern war mit einem hellen Hemd und grauer Seidenhose gekleidet.
„Wer bist du?“, fragte er. „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“
„Was für ein Wunder“, entgegnete Neal sarkastisch. Er war dankbar für die Hilfe des fremden Schülers, und doch hatte er keine Lust, sich mit ihm zu befassen. „Ich bin den ersten Tag hier.“
Der junge Mann nickte verständnisvoll.
„Ich bin Dirk aus der Dreizehnten“, stellte er sich vor. „Ich bin Schülersprecher an der Schule. Wenn du ein Problem hast ...“
Neal winkte ab. „Ja, ja ...“ Erneut griff er zu den Zigaretten.
„An deiner Stelle würde ich hier nicht rauchen“, sagte Dirk, doch Neal überhörte den Rat. Stattdessen begann er zu fluchen. Sein Klassenlehrer kam auf sie zu.
„Was war hier los?“, fragte der aufgebracht. „Dirk? Warum sind Sie nicht auf dem Oberstufenschulhof?“
Der Schülersprecher berichtete mit klarer Stimme: „Ich wollte zur Cafeteria, und da sah ich das Knäuel von Halbstarken.“ Er grinste und schielte zu Neal, der ein unzufriedenes Gesicht zog. „Da kann ich nicht einfach vorbeigehen, oder?“
Weiler nickte. „Schon gut.“
Dirk entfernte sich – doch drehte er sich dabei mehrfach um. Er betrachtete Neal von Kopf bis Fuß. Er musterte die von Staub und Sand verdreckte Jeans, die einen Schlag warf, das dunkle Hemd und die schwarze Lederjacke, die nur bis zur Taille reichte. Dirk fixierte das knochige, blasse Gesicht des Neuen und dessen rote Lippen.
Weiler verbot Neal, auf dem Schulhof zu rauchen, doch der protestierte. „Das ist Kinderkram!“
„Du solltest in deinem Alter nicht rauchen“, mahnte Weiler. Sein Kopf glühte vor Empörung. „Ich melde es deinen Eltern.“
„Die wissen das.“ Neal tat desinteressiert. Sein Lehrer drohte ihm mit einer Strafarbeit, würde er ihn abermals rauchend auf dem Pausenhof antreffen. Und er warnte Neal: „Das Schuljahr hat erst angefangen. Glaube nicht, dass ich so etwas ständig durchgehen lasse.“
*
Am Nachmittag kamen Neal und seine Schwester Francesca nach Hause. Sie wohnten auf dem Land, außerhalb der Stadt. Ihre Eltern wollten in ihrer knapp bemessenen Freizeit Ruhe genießen. Ihr Haus besaß eine weitläufige Auffahrt und einen großflächigen Garten. Auch die Pferde hatten sie aus England mitgebracht. Die Trakehnerzucht war in einem separaten Stall untergebracht. Tagsüber standen die Tiere auf der Weide.
In der Umgebung gab es keine Nachbarn. Die Andersons lebten abgeschnitten von jedem Trubel. Die Geschwister legten von der Bushaltestelle einen ordentlichen Fußmarsch zurück. Ihre Taschen waren mit den neuen Schulbüchern bestückt. Neal half Francesca beim Tragen. Das alles stimmte ihn unzufrieden.
Im Esszimmer stand das Mittagessen auf dem Tisch. Es gab Blätterteigpasteten, gefüllt mit Zwiebeln, Kartoffeln und Äpfeln, wie Neal es aus der alten Heimat kannte. Er nickte zufrieden, denn die Speisen enthielten ausnahmsweise kein Fleisch.
Es kam oft zu Diskussionen, da er das vegetarische Essen bevorzugte.
Stephanie Anderson begrüßte ihre beiden Kinder herzlich. „How was the first day at school?“
Sofort verdunkelte sich Neals Miene. „Horrible.“
Seine Mutter hakte gleich nach, warum es ihrem Sohn nicht gefallen hatte. Nachdenklich runzelte der die Stirn. „I don’t know. In England, all people are friendlier.“
„You will master it.“ Stephanie klang zuversichtlich. Sie strich ihrer Tochter über das braune Haar. Ihr erster Schultag schien besser verlaufen zu sein.
Als die Geschwister die Treppe erklommen, um sich vor dem Essen die Hände im großen Badezimmer zu waschen, stutzte Neals Mutter.
„What happend with your trousers?“ Fragend deutete sie auf die staubige Hose ihres Sohnes. Neal wirkte genervt. „Ich habe mich im Sand gewälzt.“ Demonstrativ sprach er deutsch. Er hasste es, an die Vergangenheit erinnerte zu werden. Sie waren nicht mehr in England.
Er zwang sich, damit klarzukommen. „Ist das wahr?“ Stephanie reagierte erschrocken.
„Ich hatte eine Auseinandersetzung“, erklärte Neal. Stephanie bemerkte die aufgestaute Wut in seinem Gesicht und den Zorn in seinen Augen. „They don’t like me.“ Es klang wie eine unverrückbare Feststellung.
„But Neal ...“, entgegnete Stephanie. Zärtlich strich sie ihm mit einer Hand über die Wange. Er zuckte zurück.
„Did they hurt you?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich bin okay.“
„Du darfst dich nicht schlagen. Versuch, darüber zu reden.“
Neal seufzte und schwieg. Dass er den Streit nicht angezettelt hatte, erwähnte er nicht.
*
Der nächste Schultag verlief nicht erfreulicher. Die erste Stunde verging ohne Vorkommnisse. Im Englischunterricht hatte Neal den Mitschülern einiges voraus. Doch in der Pause starteten die Sticheleien wie gehabt:
„Guck, was isst der Neue da?“, rief Kevin. „Igitt, Anderson, was ist das?“ Er starrte auf Neals Brote, als wären sie lebendig.
Neal blieb gelassen. Er entsann sich an die Worte seiner Mutter. „Das ist Sandwich mit Ei.“ Genüsslich biss er vom Brot ab.
„Hier in Deutschland isst man aber Semmeln mit Salami! Ist das klar?“, entgegnete Kevin provozierend.
Neal spürte Wut in sich aufsteigen, doch er versuchte, die Ruhe zu bewahren. „Ich weiß, was ich am liebsten esse, okay?“ Er lächelte Kevin verkrampft an.
„Das werden wir ja sehen“, mischte sich Dennis ein. Er entriss Neal die belegten Brotscheiben und warf sie in den Mülleimer. Neal sprang sofort vom Stuhl auf. „You son of a bitch!“
Dennis stürmte auf ihn los. „Meinst du mich?“
„Wen sonst, du Idiot!“, erwiderte Neal knallhart. Die Mitschüler versammelten sich um die beiden Jungen. Gespannt verfolgten sie die Auseinandersetzung.
„Lass dir erst mal die Haare schneiden, bevor du mit mir redest, Anderson!“
„Was gehen dich meine Haare an? Guck doch mal, wie du herumläufst!“
„Da schreit jemand nach Prügel“, rief Dennis.
Der Rest der Klasse lachte. Unsicher sah sich Neal um. Keiner der Klassenkameraden verteidigte ihn, somit versuchte er, die explosive Lage zu schlichten.
„Ich will keinen Streit. Ich sehe bloß nicht ein, dass du mein Essen wegwirfst. Das war das Einzige, was ich heute mithatte.“
„Ach, wie traurig“, spottete Dennis. Er sah an Neal herab und lachte. „So, wie du aussiehst, isst du doch eh nix, du Spargeltarzan!“
„Besser Spargeltarzan, als Fettklops!“, konterte Neal gereizt. Die Situation eskalierte. Dennis sprang auf ihn zu und würgte ihn. Sein Kopf wurde krebsrot, er schrie: „Dich mach ich alle!“
Er drückte Neal auf den Tisch. Die Mitschüler grölten. Sie feuerten die Streithähne an. Neal blieb die Luft weg. Unter der Masse des anderen Jungen konnte er sich kaum rühren. Er schrie, doch aus seiner Kehle kam nur ein heiseres Krächzen.
Plötzlich ertönte die Stimme des Klassenlehrers. „Was ist hier wieder los?“ Schnell löste sich die Ansammlung. Auch Dennis ließ los. Erleichtert griff sich Neal an den Hals.
„Der hat angefangen!“, rief Dennis und zeigte auf Neal.
„Das ist nicht wahr.“ Erschöpft setzte Neal sich auf den Stuhl. Der Schmerz in seiner Kehle wich einer unbändigen Wut.
Nach der Stunde ermahnte ihn Weiler erneut. Am Nachmittag informierte der seine Eltern. Neal brauchte nicht viel erklären. Als er von den weggeworfenen Sandwiches erzählte, war Stephanie Anderson klar, dass ihren Sohn keine Schuld traf. Aber für Neal änderte es nichts an der Lage, dass er in der Klasse unerwünscht war. Er überlegte, wie er mit den Mitschülern auskommen könnte, doch eine Lösung bot sich ihm nicht.
Somit ging er den Klassenkameraden am nächsten Tag bewusst aus dem Weg. Er sah niemanden an und aß die Sandwichs nicht öffentlich in der Klasse. Dass nicht einer mit ihm redete, wurmte ihn. Unentwegt starrte er auf den leeren Platz an seiner Seite.
In England hatte seine Freundin neben ihm gesessen. Nach der Schule hatte er mit Freunden lustige Dinge unternommen. Er war beliebt gewesen. Und seine Freundin hatte ihn stets mit einem bewundernden Blick angesehen. Sadie ...
Neal lächelte wehmütig. Als er aus den Träumen zurückkehrte, war der Stuhl weiterhin unbesetzt. Dort saß kein Mädchen aus England, das mit ihm lachte und ihn mochte.
Gelangweilt blätterte er in den Büchern herum. Es war Pause und die meisten Schüler standen vor der Tür. Nur er saß am Tisch – und ein paar Mädchen hinter ihm. Er wusste nicht, warum, doch wie unter Zwang drehte er sich um. Das Mädchen, das hinter ihm saß, hatte braune Haare, die sorgfältig zu einem Zopf geflochten waren. Ihr reizvolles Gesicht erinnerte Neal an eine Barbiepuppe. Lange Wimpern umrahmten ihre grünen Augen. „Hi“, grüßte er.
„Hallo“, erwiderte sie. Neal lächelte. Sie hatte geantwortet. Würde sie ein paar Worte mit ihm wechseln? Nur ein paar ...
„Mir ist aufgefallen, dass du gut in Deutsch bist.“ Verlegen fuhr er sich mit einer Hand durch den langen Pony.
„Ja, ich hatte letztes Jahr eine Zwei“, sagte das Mädchen kurz angebunden.
„Wie war noch dein Name?“, fragte er vorsichtig.
„Cecile.“
„Ach, ja ...“ Er behielt das Lächeln bei und blickte ihr tief in die Augen. Sie errötete. Neal nahm all seinen Mut zusammen und löcherte sie mit weiteren Fragen.
„Hast du Lust, mir in Deutsch zu helfen?“
„Ich?“, rief sie erschrocken. Ihre Nachbarin Laura kicherte. „Wie kommst du darauf?“
Neal hörte einen Anflug von Arroganz in ihrer Stimme. Sie drehte das Gesicht weg, sah ihn nicht mehr an. War es Unsicherheit?
„Im Austausch bekommst du von mir die Aufgaben, die wir in Englisch machen müssen“, schlug er vor. „Ist ein fairer Deal, oder?“
Sie drehte ihren Kopf zurück und überlegte.
„Also, ich gebe dir die Deutschhausaufgaben, und du gibst mir die Englischen?“
Neal nickte. „Solange wir die Aufgaben nur vorlesen müssen, sind wir auf der sicheren Seite.“
„Hm, ich weiß nicht.“ Sie zögerte. Fragend sah sie ihre Sitznachbarin an.
„Klingt gut“, mischte die sich ein.
„Na schön.“ Cecile gab nach. „Wir können es ja mal versuchen.“
„Das finde ich super, echt.“ Neal verbarg seine aufrichtige Freude. Es war das erste Mal, dass er in der Klasse nicht enttäuscht wurde. Cecile sah auf ihr Heft, dann nochmals auf Neal, der sich gelassen in den Stuhl zurücklehnte.
„Meinst du, es war richtig, auf das Angebot einzugehen?“ Cecile rutschte unsicher auf dem Stuhl herum.
„Na klar. Der wird dir die Spitzenaufsätze liefern.“ Lauras Gesicht strahlte. „Und hast du gesehen, was er für schöne Augen hat?“
Cecile nickte. Ihre Wangen leuchteten. „Ja, hab ich gesehen. Ein wunderschönes Blau.“
*
Obwohl es nieselte, bestand der Sportlehrer darauf, den Schulunterricht draußen abzuhalten. Fußball stand auf dem Plan und Neal atmete auf. Wenn er etwas beherrschte, war es Soccer. Seine Mannschaft führte gegen die Gegnerische. Das war vor allem seinen raffinierten Tricks zu verdanken.
„Der Anderson ist nicht schlecht im Fußball“, stellte Dennis fest. „Scheint aber das Einzige zu sein, was er kann.“
„Ohne ihn würde seine Mannschaft nicht führen.“ Kevin beobachtete Neal, der erneut auf das gegnerische Tor stürmte. Er und Dennis verweilten als Auswechselspieler am Rand.
„Unglaublich! Wie macht der das?“ Dennis war fassungslos.
„Vorhin hat er mir gegen das Schienbein getreten – mit Absicht“, sagte Kevin düster.
Just in dem Moment rannte Neal vorbei und lächelte gönnerhaft. „Na? Alles klar?“
„Halt die Fresse, du nervst!“ Dennis ballte die Hände.
Auch der Sportkurs von Dirk, dem Schülersprecher, trainierte draußen. Gebannt verfolgte er das Spiel und gesellte sich zu Dennis, der noch immer fluchte. Neal ließ er nicht aus den Augen. Der zog sich unterdessen das schweißnasse T-Shirt aus und verließ den Sportplatz. Er schüttelte die verschwitzten Haare, sodass ihm ein paar Strähnen ins Gesicht fielen. Ein Lächeln umspielte seinen Mund – ein Siegerlächeln. Der Unterricht war zu Ende.
Dirk betrachtete die lange, silberne Kette mit den schwarzen Perlen, die um Neals Hals hing. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, dann sah Neal weg.
„Sag mal, Dennis, wer ist das?“, fragte Dirk. Er deutete auf den Schüler, der in den Umkleideräumen verschwand.
„Der?“ Dennis‘ Worte klangen abfällig. „Das ist unser arrogantes Schwein aus England.“
„Aus England kommt der?“ Dirk staunte. „Wie heißt er?“
„Anderson, Neal Anderson. Der wird es hier nicht leicht haben.“
„Wie kommst du darauf?“
„Der ist eine miese Ratte“, zischte Dennis. Er verließ mit den anderen Schülern den Platz.
„Neal ...“, wiederholte Dirk und lächelte.
Wehmütig starrte Neal auf das Foto. Mit einer Hand strich er sanft darüber. Er führte es an die Lippen, um es zu küssen. „Sadie“, sprach er leise, dann legte er das Foto zurück in die Schublade.
„Bist du traurig, Neal?“, fragte eine Kinderstimme. In der Tür erblickte er seine Schwester. „Etwas“, antwortete er.
„Wenn du traurig bist, bin ich es auch.“ Francesca kam auf ihn zu. Er schloss sie liebevoll in die Arme. „Wenn wir erwachsen sind, gehen wir zurück nach England, ja?“ Seine Schwester nickte eifrig.
*
Am nächsten Tag stand Neal in der Pause wie üblich abseits der anderen Schüler. Er lehnte am Holzzaun und rauchte. Er trug eine helle Cordhose mit schwarzem Gürtel. Sein T-Shirt reichte nur knapp hinunter bis zum Bauch – und wie jeden Tag hatte er die kurze Lederjacke an. Sein Pony war zur linken Seite frisiert und verdeckte die Hälfte des Gesichtes.
Dirk beobachtete ihn eine Weile, bevor er auf ihn zukam. „Hallo“, begann er. „Stehst du hier immer allein herum?“
„Was geht dich das an?“, erwiderte Neal gereizt. Dirk hob entschuldigend die Hände. „Sorry, war nur eine Frage.“ Er musterte sein Gegenüber prüfend. „Und? Hast du dich eingelebt?“
„Davon kann kaum die Rede sein“, sprach Neal knapp. Er zog an der Zigarette und blickte Dirk nicht an.
„Du, rauchen ist auf dem Schulhof echt verboten.“
„Ich rauche, wo und wann ich will!“ Neal reagierte wütend. „Was soll das eigentlich?“ Er drehte sich um. „Was willst du von mir?“
Der Schülersprecher zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen. „Ich habe dich in den letzten Tagen beobachtet. Du scheinst es in deiner Klasse nicht leicht zu haben.“
Neal zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm egal. Dirk fasste behutsam an seinen Arm. „Als Schülersprecher und Mensch, finde ich es nicht in Ordnung, dass die anderen dich fertigmachen. Ich kann dir helfen.“
„Ich brauche keine Hilfe!“ Neal riss sich los. „Ich komme klar!“
„Wenn du dich abkapselst, findest du nie Freunde.“
Neal behielt die finstere Miene bei. „Auf die Typen hier an der Schule verzichte ich gern.“
Dirk überlegte, sah auf den Boden, danach in Neals verbissenes Gesicht. „Dann kommst du nicht zur Schulparty?“
Plötzlich wurde Neal hellhörig und seine Augen groß, als glaubte er nicht, dass ihm eine Information entgangen war. „Welche Party?“, fragte er entgeistert.
„Das Schulfest. Es steigt immer nach den Sommerferien“, erklärte Dirk. „Am Freitagabend.“
„Aha.“ Neal kaute auf der Unterlippe herum und schnippte den Zigarettenstummel weg.
„Das wird lustig. Für dich eine gute Gelegenheit, um neue Leute kennenzulernen.“
„Gegen nette Feste habe ich nichts.“ Nun schlich sich ein Lächeln auf Neals blasses Gesicht. „Ich überlege es mir.“
„Okay.“ Dirk schien zufrieden. Er zwinkerte Neal zu und verschwand auf dem Oberstufenschulhof.
Die Party fand in einer Diskothek statt. An der Seite des großzügigen Raumes stand ein kaltes Buffet. Getränke schenkte man an der Theke aus, allerdings gab es an alkoholischen Drinks nur Sekt und Bier. Und es wurde darauf geachtet, dass kein Alkohol an unter Sechzehnjährige verteilt wurde. Als Neal die Disko betrat, war sie schon gut besucht. Auf einer Bühne, von Scheinwerfern angestrahlt, hielt Dirk eine Rede.“Wie jedes Jahr begrüße ich euch zu unserer Schulparty. Essen und Trinken sind gratis, gesponsert vom Direktor ... Musik gibt es von DJ Tommy – wenn sie euch nicht gefällt, beschwert euch bei ihm ... Ich wünsche viel Spaß!“ Der Applaus fiel groß aus. „Dirky, Dirky!“, tönte es aus den ersten Reihen. Der Schülersprecher winkte in die Menge und verließ die Bühne. Ein Schüler reichte ihm eine Flasche Bier, die er dankend annahm.
Neal staunte: Dirk schien beliebt zu sein.
Er selbst fühlte sich unter den fremden Leuten jedoch unwohl. Da tippte ihm plötzlich jemand auf die Schulter.
„Finde ich klasse, dass du gekommen bist.“ Dirk strahlte ihn an. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Er wirkte älter und reifer, als die anderen Schüler der Oberstufe.
„Hallo“, grüßte Neal. „Coole Ansprache. Die Schüler mögen dich wohl.“
Dirk lächelte selbstsicher. „Ich versuche, sie gewissenhaft zu vertreten und viel rauszuschlagen. Die Party, zum Beispiel, soll es auch noch geben, wenn ich mit der Schule fertig bin.“
Neal nickte. Er entsann sich, dass Dirk nur noch ein Schuljahr vor sich hatte.
„Dann steht mir die Welt offen“, erklärte der in Hinsicht auf das Abitur. Er griente erfreut. „Aber jetzt hole ich ein Bier für dich, okay?“
Neal stimmte zu. Während er wartete, sah er sich um. Die Party lief gut, der Saal war voll. Das war ihm recht. So bestand nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass er den Schülern seiner Klasse begegnete. Als er das dachte, erkannte er Cecile und Laura in der Menge. Er hob grüßend die Hand. Cecile winkte zurück.
„Geht die in deinen Jahrgang?“, fragte Dirk. Er drückte Neal ein Bier in die Hand.
„Ja, die einzige normale Person. Die anderen Mitschüler nerven total.“
Dirk musterte Cecile gründlich. „Hübsches Mädchen. – Hast du eigentlich eine Freundin?“
Neal schüttelte den Kopf. „Nicht mehr ... In England hatte ich eine.“ Er klang betrübt. „Aber das ist vorbei.“
Dirk hakte sofort nach. „Warum bist du nach Deutschland gekommen?“
Neal winkte ab. „Wegen meiner Eltern“, begann er. „Kennst du Anderson Creation?“
Dirk runzelte die Stirn. „Die Klamotten-Firma?“
„Ja, genau. Das ist der Betrieb meiner Eltern. Sie wollen nicht nur in England, sondern auch in Deutschland groß rauskommen. Deswegen mussten wir umziehen.“
Dirks Blick schweifte ab. Er kam ins Schwärmen. „Mode ... Finde ich interessant. Ich will später auch so etwas in der Richtung machen.“
Neal kniff fassungslos die Augen zusammen. „Echt? Das ist doch langweilig. Das einzig Gute sind die Models.“ Sie sahen sich einen Moment lang an und lachten.
Plötzlich trat ein Junge aus der Menge. Er trug ein bunt kariertes Hemd und eine weit geschnittene Hose. Sein strohblondes Haar stand wirr von seinem Kopf ab. „Mann, Dirk, ich warte schon die ganze Zeit“, sagte er vorwurfsvoll. „Wo bleibst du denn?“
Dirk reagierte unerwartet gereizt. „Muss ich mich bei dir abmelden, oder was?“
Der Junge zuckte zusammen, doch hörte er nicht auf, Neal anzustarren. „Und wer ist das?“
Dirks Gesichtsausdruck lockerte sich wie von Geisterhand. „Das ist Neal. Er ist neu an der Schule. Kommt aus England. – Neal, das ist Sparky.“
„Hallo.“ Neal hielt dem Besagten, die Hand entgegen, doch der griff nicht zu und sah demonstrativ weg. Neal zuckte mit den Schultern. Sparky redete weiterhin auf Dirk ein. „Gehen wir woanders hin?“
Dirk verneinte und wandte sich ab. Auch Neal sah suchend in die Menge, bis er Cecile entdeckte. „Ich geh tanzen“, sagte er und deutete auf das Mädchen.
„Alles klar!“ Dirk zwinkerte ihm zu.
Mit weichen Knien nahm Neal Kurs auf seine Mitschülerinnen. Er merkte, dass er zu viel getrunken hatte. Das Bier in Deutschland hatte es in sich! Ein unverschämtes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Er wusste, wie charmant er wirken konnte, und so legte er den Kopf zur Seite und forderte Cecile auf. „Hast du Lust zu tanzen?“
„Wer? Ich?“, fragte Cecile erstaunt.
Neal nickte. „Wer sonst?“
„Ich ... ich weiß nicht“, stammelte sie. Wie gewohnt suchte sie Zuspruch bei Laura. Die zuckte desinteressiert mit den Schultern. War sie enttäuscht, nicht selbst aufgefordert worden zu sein? Kurz darauf schlenderte er mit Cecile zur Tanzfläche. Sie schlossen sich vorsichtig in die Arme und bewegten sich zur Musik.
In der Zwischenzeit kämpfte Dirk weiterhin mit Sparkys Aufdringlichkeit. Neal verfolgte es aus den Augenwinkeln.
„Hör auf, mich zu nerven!“, fauchte Dirk. Sparky sah betrübt zu Boden und biss sich auf die Lippe. Nur langsam beruhigte sich der Schülersprecher. Er sah Dennis und Kevin, die aus der dunklen Menge auftauchten und sich zu ihm gesellten. Sie bemerkten nicht, wie angespannt er war.
„Tolle Party, echt“, sagte Dennis. Er sah sich um. „Wird jedes Jahr besser.“
Dirk nickte still.
„Hey!“, rief Kevin aufgeregt. „Sieh mal, wer mit Cecile tanzt!“
Dennis‘ Augen weiteten sich in ungläubigem Staunen. „Dieses Anderson-Schwein!“, fluchte er. „Macht er sich an sie ran? Der kann was erleben!“ Demonstrativ krempelte er die Ärmel nach oben und ging in Angriffsstellung. Dirk hielt ihn zurück. „Ey, keinen Streit! Ist das klar?“
Dennis verdrehte die Augen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Wieso nicht? Ich sehe nicht ein, dass sich der Typ an sie ranmacht!“
„Ist sie deine Freundin?“, fragte Dirk. Dennis lächelte zerknirscht.
„Äh, nein ...“ Im Hintergrund ertönte Kevins Kichern.
„Dann kann sie machen, was sie will, oder?“ Dirk beobachte das Paar. Dennis erwiderte nichts. Doch plötzlich wurden Dirks Worte konkreter. Seine Augen funkelten bedrohlich. „Lass Neal in Ruhe. Er hat dir nichts getan. Wenn ich sehe, dass ihr ihn fertigmacht, passiert was!“
Dennis hob abwehrend die Hände. „Ist ja gut ...“ Er verschwand mit Kevin im Partygewühl. „Schade“, sagte er. „Chance verpasst.“
Kevin starrte ihn ängstlich an. „Also, ich will keinen Stress mit Dirk.“
Dennis winkte ab. „Ach, der Anderson läuft uns nicht weg. Wenn nicht heute, dann ein andermal ... Der kriegt, was er verdient.“ Sie lachten.
Neal und Cecile unterbrachen den Tanz. Sie sah ihn erschöpft an. „Können wir eine Pause einlegen?“ Er nickte zustimmend.
Sie verabschiedeten sich von Laura und Neal zog seine Klassenkameradin hinter sich her. Kurz darauf standen sie vor der Disco. Cecile genoss die frische Luft.
„Komm, wir setzen uns auf die Bank.“ Mit beiden Händen umfasste Neal ihren Körper und zog sie auf seinen Schoß. Vorsichtig legte er einen Arm um sie. „Wenn du dich an mich kuschelst, wird dir wärmer.“ Er strich durch ihr Haar. Sie schmiegte sich an ihn. „Du hast schöne Haare.“
Eine Röte überzog ihre Wangen. Offensichtlich gefielen ihr seine schmeichelhaften Worte.
„Und einen wunderschönen Mund“, fügte er hinzu. Er küsste sie. Zaghaft erwiderte sie die Liebkosung. Er festigte die Umarmung. Die Küsse wurden gewagter. Mit der freien Hand strich er über ihren Hals, er berührte ihre Brüste. Schließlich führte er die Hand auf ihren Oberschenkel und unter ihren Rock. Da schob sie ihn erschrocken von sich. „Nicht, Neal.“
„Was ist?“ Es kostete ihn einige Überwindung, aufzuhören. „Gefällt es dir nicht?“
Cecile zögerte. „Doch, aber ... ehrlich gesagt, geht mir das alles zu schnell.“ Sie sah ihn zerknirscht an. „Weißt du, ich hatte noch nie einen Freund.“
„Oh.“ Es klang harsch. „Tut mir leid, das konnte ich nicht wissen.“ Unauffällig drehte er sich von ihr weg. Es fiel ihm nicht leicht, die Enttäuschung zu verbergen.
„Bist du jetzt böse?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er drehte sich zurück und bemerkte ihren ängstlichen Gesichtsausdruck. Auf keinen Fall wollte er ihr wehtun. „Es ist okay. Es war wohl zu viel Bier.“ Er lächelte verlegen. „Ich bin ja sonst auch eher … schüchtern.“
Nun lächelte sie zufrieden. Zaghaft fuhr sie durch sein dunkles Haar. „Du bist lieb“, sagte sie. „Ich weiß gar nicht, was die anderen gegen dich haben.“ Neal zuckte mit den Schultern.
Kurz darauf gesellte er sich wieder zu Dirk, der schelmisch grinste. „Hast du ne Abfuhr erhalten?“
„Ach, hör bloß auf!“ Neal verdrehte die Augen. Seine Hände steckten verkrampft in den Hosentaschen. „Erst macht sie mich heiß, knutscht mit mir rum, und dann tut sie einen auf jungfräulich. Ist nicht fair, oder?“ Er schüttelte den Kopf. „Das war echt ein Reinfall.“
Dirk zeigte Verständnis für die Situation. „Was erwartest du von ihr? Mädchen in dem Alter sind so – nichts Halbes und nichts Ganzes.“
Neal runzelte verärgert die Stirn und gab zu verstehen, dass seine Freundin in England keineswegs derart prüde war. Dirk lachte erneut. „Weißt du was?“, fing er an. „Ich gebe am Dienstag eine Party. Wenn du kommst, lernst du richtige Frauen kennen.“
Der Gedanke brachte Neal zum Grinsen. „Klingt nicht schlecht.“
„Was? Der kommt auch zur Party?“ Sparky wankte auf sie zu. „Lass Dirk in Ruhe ... Wenn ich merke, dass ...“
„Hey, Sparky!“, unterbrach Dirk. „Halt den Mund. Du bist ja betrunken.“ Er fasste den Mitschüler am Arm. „Ich bring dich besser nach Hause.“ Seufzend drehte er sich zu Neal um. „Wir sehen uns dann Montag in der Schule.“
Routiniert tauschten sie am Montagmorgen die Hausaufgaben. Cecile bedankte sich und sah Neal eindringlich an. „Ist alles in Ordnung? Du warst Freitag so schnell verschwunden. Warst du sauer?“
Neal schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hatte mich nur festgequatscht mit ein paar Typen an der Bar. Ich habe dich noch gesucht, aber ...“ Er zuckte mit den Schultern.
„Wir wurden zeitig abgeholt“, erklärte Cecile.
„Verstehe ...“ Neal versuchte, zu lächeln, und doch drangen ihm Dirks Worte ins Gedächtnis. Nein, die Mädchen in seiner Klasse waren tatsächlich nichts Ganzes.
In der Pause stand er wieder am Holzzaun. Er wunderte sich nicht, dass Dirk sich zu ihm gesellte. „Na, was macht deine Grazie?“, erkundigte der sich.
Neal lachte leise. „Die macht sich Gedanken wegen Freitag.“
„Sie scheint dich zu mögen.“
„Nein“, wehrte Neal ab. Doch sah er verlegen aus. „Glaube ich nicht. Obwohl sie die Einzige ist, die mit mir redet. Die anderen gehen mir noch immer aus dem Weg.“
„Du hast aber nicht vor, etwas mit ihr anzufangen, oder?“ Dirks Blick war forschend, sodass es Neal aus dem Konzept brachte. „Nein. Sie ist nett – mehr nicht“, stammelte er.
Dirk klopfte Neal auf die Schulter.
„Gute Entscheidung. Du brauchst was Anständiges.“
„Wie meinst du das?“
„Wirst du merken, wenn es so weit ist.“
„Du sprichst in Rätseln.“ Neal schüttelte den Kopf. Unbemerkt wechselte Dirk das Thema.
„Du kommst Dienstag zu meiner Party?“
Neal lehnte sich zurück an den Zaun. „Soll ich?“
„Ein Nein akzeptiere ich erst gar nicht.“
Neal fuhr vier Stationen mit der S-Bahn, bevor er ausstieg, um die Straße zu suchen, in der Dirk wohnte. Nach wenigen Minuten fand er sie. Er sah auf ein Haus, vor dem zwei Autos parkten. Abgesehen vom Haupteingang gab es eine Tür, die zu einer separaten Wohnung im Keller führte. Hier hatte Dirk sein eigenes Reich errichtet.
Neal ging ein paar Steinstufen hinab, fand den Hintereingang und klingelte. Aufregung machte sich breit. Was würde ihn erwarten? Er hörte Musik. REM, wie er unschwer feststellte.
Dirk öffnete und trat heraus. Er trug eine dunkelblaue Schlaghose. Sein Pullover lag eng an seinem Körper auf und hatte ein braun-orangefarbenes Karomuster. Sein Haar war mit einem Seitenscheitel frisiert. „Schön, dich zu sehen“, begrüßte er Neal. Der staunte nach wie vor.
„Du hast hier echt deine eigene Wohnung?“
„Ist eine Ferienwohnung. Aber ich konnte meine Mutter überreden, dass ich hier einziehe. In meinem Alter sollte man auf eigenen Beinen stehen, oder? Ist ja auch nur eine Kellerwohnung ... Ich kann jederzeit über die Treppe ins Erdgeschoss gelangen.“ Dirk lachte. „Meine Mutter bringt mir oft Essen runter. Aber komm, sieh dich um.“
Neal hängte die Lederjacke an die Garderobe und folgte ins Wohnzimmer, wo etwa zehn Jugendliche saßen. Sie erzählten, lachten und tranken Alkohol. Kerzen brannten, was eine gemütliche Atmosphäre erzeugte. Mittig im Zimmer standen ein Glastisch, mehrere Sessel und ein Ledersofa. Dirks Freunde bevorzugten jedoch den Fußboden.
„Das hier ist Neal, ein Freund“, rief Dirk in die Runde. „Seid nett zu ihm!“
Die Jugendlichen nickten. Zum ersten Mal wurde Neal nicht ausgelacht oder angestarrt. Die Freunde von Dirk schienen toleranter zu sein – und erwachsener. Das gefiel ihm. Er fühlte sich sofort akzeptiert.
„Nimm dir was zu trinken.“ Dirk deutete auf den Tisch, wo Getränke und Gläser standen. „Ach, übrigens ... Sparky ist hier. Geh ihm aus dem Weg, okay? Ich will keinen Streit.“
Neal nickte verwundert. „Klar, aber was hat Sparky gegen mich? Ich habe ihm nichts getan.“
Dirk lächelte schmal. „Er hat nichts gegen dich. Er mag bloß nicht, wenn ich mit neuen Freunden ankomme, verstehst du? Er ist neidisch.“ Es klang gedrückt, doch Dirk behielt das Lächeln bei. „Du lernst auch die anderen kennen. Du wirst sie mögen.“
Er wandte sich ab, um für Neal etwas zu essen zu holen. Währenddessen sah der sich um. Die Freunde von Dirk waren alle in bunte Kleidungsstücke gehüllt. Einige Jungen trugen glitzerndes Make-up, Wimperntusche und Lidschatten.
Dirk kam mit belegten Broten aus der Küche. Auf seinem Weg wurde er von einem Mädchen aufgehalten. Sie war grell geschminkt, trug ebenfalls eine Schlaghose und ein bauchfreies Oberteil aus Plüsch. Um ihren Hals war eine Federboa geschlungen. Sie küsste Dirk ungeniert und tanzte kichernd weiter. Diese Freizügigkeit faszinierte Neal sofort.
„Und – gefallen dir meine Leute?“
Neal zögerte. „Äh, die Klamotten ... und der Glitzerkram ...“
„Machen wir alles selbst“, offenbarte Dirk mit unverhohlenem Stolz und erklärte damit sein eigenes Outfit. Neal staunte erneut. Ein Typ, der Klamotten nähte? „Mode ist echt dein Ding, was?“
„Klar.“ Dirks Augen leuchteten. „Ich hätte gern in den 60ern gelebt. Wir machen hier ein bisschen Revival.“
„Ach, so“, sagte Neal und hoffte, dass Dirk sich nur auf die Kleidung bezog und nicht auf die eingefleischten Gangs dieser Zeit.
Ein Junge mit weichen, weiblichen Gesichtszügen tänzelte auf sie zu. Er schob Dirk eine Cocktailtomate in den Mund und zwinkerte ihm zu. „Der nächste Tanz gehört uns“, flüsterte er nicht leise genug, sodass Neal mithörte. „Und wenn du willst, auch die Nacht.“ Er kicherte und drehte um. „Das war ein Witz“, klärte Dirk auf. Er hatte Neals verstörten Blick bemerkt und knuffte ihm in die Seite. Neal wagte ein Lächeln.
Als er am Morgen erwachte, brummte ihm der Schädel. Er hatte deutlich zu viel getrunken. Besonders die Bowle zeigte ihre Schattenseiten. Er lag auf dem Sofa in Dirks Wohnzimmer. Trotz der Wolldecke, die ihn bedeckte, fror er. Und dann bemerkte er das Mädchen, das neben ihm schlief. Ein paar Sekunden starrte Neal auf den Frauenkörper, versuchte, sich zu erinnern, wer sie war, doch sein Gedächtnis lieferte ihm keine Antwort. Auf den Sesseln, auf dem Teppich: Überall ruhten Dirks Freunde – die Schnapsleichen der letzten Nacht.
Träumte er das nur? Der Blick auf die Armbanduhr signalisierte, dass alles Realität war und dass er nackt war, verunsicherte ihn. Er erhob sich, ohne das Mädchen zu wecken.
Aufgewühlt suchte er nach seiner Kleidung. Auf dem Boden lagen seine Jeans, das Hemd und die Schuhe, mehr nicht ...
Er zog an, was er fand, und bahnte sich einen Weg über die Körper. Heftig klopfte er gegen Dirks Zimmertür.
„Bist du wach?“ Zuerst hörte er keine Antwort, aber dann wurde die Tür geöffnet. Dirk sah ihm verschlafen entgegen. Er trug ein T-Shirt und kurze Shorts. „Was ist los? Ist es nicht etwas früh?“
„Mensch!“ Neal war aufgeregt. „Ich muss zur Schule! Gehst du nicht?“
Dirk schüttelte den Kopf.
Neal biss sich auf die Unterlippe. Wäre er volljährig gewesen, hätte er sich auch eine Entschuldigung geschrieben.
„Soll ich dich fahren?“, fragte Dirk. Neal lehnte ab. „Das schaffe ich ohnehin nicht bis zur ersten Stunde ... Ich nehme die Tube ... S-Bahn.“ Er wollte sich umdrehen, doch zögerte er. Die Situation war ihm peinlich. „Kannst du mir eine Unterhose und Socken leihen? Ich finde meine Sachen nicht.“
Dirk grinste. „Klar. Aber, ob das passt?“ Er sah an Neals schlanker Figur herunter.
„Egal.“ Neal folgte zum Kleiderschrank. Dass er die Kleidung „verlegt“ hatte, sorgte weiterhin für Erheiterung. „War wohl zu viel Bowle gestern, was?“ Dirk lachte, während er den Schrank durchwühlte.
„Glaube ich auch.“ Neal fuhr sich durchs Haar. Augenblicklich entsann er sich an die Szene im Wohnzimmer. „Auf dem Sofa lag ein Mädchen. Wer ist das?“
„Das muss Natalie sein.“ Dirk grinste amüsiert und zog Kleidung aus dem Schrank.
„Natalie“, wiederholte Neal. „Warum lag die neben mir? Ich hatte nichts an. Hab ich etwa ... Hab ich mit der ...?“
„Ja, du hast.“
Neals Augen weiteten sich. „Woher weißt du das?“
„Weil ich es gesehen habe. Das ging mächtig ab bei euch.“
„Shit!“, fluchte Neal. „Das auch noch.“
„Kommst du immer so schnell zur Sache?“, erkundigte sich Dirk gespannt. Neal winkte ab.
„Nein. Weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich kann mich an nichts erinnern.“ Er nahm Dirk die Kleidung aus der Hand. „Natalie hoffentlich auch nicht.“ Er zog sein Hemd aus. Als er mit entblößtem Oberkörper vor Dirk stand, fiel dem wieder die silberne Kette mit den Perlen auf, die um Neals Hals hing. Vorsichtig griff er danach. „Hübsches Teil.“
„Von meiner Ex“, gestand Neal. Er zog das geliehene T-Shirt an. In der Tat war es zu weit.
„Wird Zeit, dass du sie vergisst“, erwiderte Dirk.
Neal zuckte mit den Schultern. Er schlüpfte ins Hemd, dabei wirkte er nachdenklich. „Sadie war ein tolles Mädchen, findest du nicht überall.“
„Das sehe ich nicht so“, konterte Dirk. Seine Stimme nahm einen merkwürdigen Unterton an. Aber Neal blieb keine Zeit, um nachzuhaken. Er schielte auf seine Uhr. „Ich muss mich beeilen.“ Hastig zog er die Hose aus. Stillschweigend nahm er die Unterhose entgegen und stieg hinein.
„Du hast echt einen Knackarsch.“ Dirk unterdrückte ein Grinsen.
„Ich mach Sport.“ Neal zog sich komplett an. Die Zeitnot hinderte ihn daran, über den Kommentar nachzudenken. „Ich muss los!“ Er ging zur Tür und als er das Schlafzimmer verließ, erblickte er im Bett einen Jungen. „Ist das Sparky?“
Dirk nickte. „Er war gestern so betrunken, echt heftig. Ich dachte, er schläft den Rausch besser hier, als auf dem Teppich aus.“
„Aha.“ Neal wandte den Blick ab. „Man sieht sich! Und danke nochmals für die coole Party!“
Die erste Stunde war zu Ende, als Neal den Klassenraum betrat. Zielstrebig nahm er an seinem Tisch Platz. Gehetzt drehte er sich zu Cecile um.
„Hab verschlafen. Kannst du mir mit einem Blatt Papier und Stift aushelfen?“
Sein Haar war ungekämmt. Nervös strich er es zur Seite, doch es fiel immer wieder in Strähnen vor sein Gesicht.
„Wieso hast du deine Sachen nicht mit?“, fragte Cecile erstaunt. Sie sah frisch und ausgeschlafen aus.
Er grinste verschmitzt. „Ich bin direkt von Dirk zur Schule. Da war gestern Party. Wurde etwas spät.“
„Du warst auf einer Party von Dirk?“ Ceciles Augen weiteten sich. Nebenbei reichte sie ihm Kugelschreiber und Notizblock.
„Ist was dabei?“ Neal zuckte mit den Schultern. „Die Party war gut – und Dirks Freunde sind nett.“
„Aber, die sind doch alle älter.“
„Die paar Jahre.“ Es klang gleichgültig.
„Kann sein“, erwiderte Cecile, ihre Stimme dämpfte sich augenblicklich, „aber die Partys von Dirk haben nicht den besten Ruf.“ Sie sah sich gründlich um, ging sicher, dass niemand mithörte.
„Die Feten sollen extrem sein“, berichtete sie.
„Extrem?“ Neal tat unwissend.
„Ja, mit Alkohol und Mädchen. Man sagt, es soll dort freizügig zugehen.“ Sie betonte das Wort so merkwürdig, dass Neal sich auf die Unterlippe biss, um ein Lachen zu unterdrücken.
„Na, wenn man das sagt ... Ich kann mich nicht beklagen. Die Feier war okay.“ Er drehte sich um und konzentrierte sich auf den Unterricht.
Cecile schüttelte den Kopf. Unsicher sah sie Laura an. „Meinst du, wir sollten ihn warnen? Auf was er sich da einlässt?“
„Warnen? Wegen Dirk?“, fragte Laura nach.
Cecile nickte nachdenklich. „Neal weiß bestimmt nicht, wie Dirk drauf ist. Wir sollten es ihm erzählen.“
„Ach, jetzt übertreibst du.“ Laura winkte ab. „Es geht uns nichts an.“
Cecile machte ein bedrücktes Gesicht. „Wenn du meinst. – Ich finde es trotzdem nicht gut, dass er sich ausgerechnet mit Dirk abgibt.“
In der Pause drohten Neals Lider zuzufallen. Er stand müde am Holzzaun, atmete die kühle Luft ein und rieb sich die verschlafenen Augen. Als er eine Zigarette ansteckte, erblickte er Dirk.
„Ich dachte, du machst heute blau?“
„Mach ich auch.“ Dirk nahm sich aus Neals Zigarettenschachtel eine Zigarette heraus. Dann sah er auf den Schulhof. Sie waren ungestört. „Ich wollte dir nur deine Sachen bringen. Habe sie beim Aufräumen gefunden.“ Er reichte Neal eine Tüte entgegen. Darin lagen T-Shirt, Socken und die Unterhose.
„Danke!“ Neal grinste.
„Es war alles hinter das Sofa gerutscht.“
„Dass du deswegen extra zur Schule kommst?“
Dirk zuckte mit den Schultern. „Freunden tut man einen Gefallen, oder?“ Er klopfte Neal auf den Rücken.
Neal hatte ein geräumiges Zimmer. Es enthielt ein Bett, einen Schreibtisch sowie einen Kleiderschrank. In einer Ecke standen ein Sofa und ein Beistelltisch. Dort übte er vornehmlich mit der Gitarre. Auf dem Boden verstreut lagen CDs und Kleidungsstücke. An den Wänden hingen Poster von David Bowie und James Dean.
Eines Abends, er probte ein paar Gitarrengriffe mit Gesang, klopfte es an der Zimmertür und Dirk trat herein. „Warst du das, der gesungen hat?“
„Nein, das war eine Platte.“
„Hey, lüg nicht. Du hast gesungen ... Das klang super!“ Dirk schien begeistert. Er nahm auf dem Sofa Platz. Heute war er in hellblauen Jeans gekleidet.
Neal legte die Gitarre beiseite. „Wie kommst du in mein Zimmer?“
„Deine Schwester hat mich reingelassen. Süß, die Kleine.“
Neal nickte. „Ja, sie ist ein Engel ... Und? Was willst du?“
„Ich dachte, wir könnten etwas unternehmen. Hast du Lust?“
Neal runzelte die Stirn. „Ehrlich gesagt ... Es ist spät. Morgen schreibe ich eine Geschichtsklausur, und meine Eltern sind nicht da.“
„Passt doch bestens.“ Dirks Gesicht strahlte.
„Ich muss sie fragen, ob ich wegkann. Meine Schwester soll nicht allein bleiben“, erklärte Neal mit Nachdruck.
„Sie ist doch alt genug“, beschwichtigte Dirk unternehmungslustig.
„Sie ist erst acht ...“, erinnerte Neal.
„Also, in deinem Alter brauchte ich mich nicht mehr abmelden“, setzte Dirk nach.
Neal stand auf und nickte. „Du hast recht. Lass uns rausgehen.“
Sie saßen im Auto und fuhren durch die Straßen. Nur hier und da waren ein paar einsame Gestalten unterwegs.
„Dein Gesang hat mich beeindruckt“, begann Dirk. „Nimmst du Gesangsunterricht? Deine Stimme ist so klar.“
„Nein, ich nehme keine Stunden ... Ich spiele Gitarre.“
„Du solltest mehr singen. Vielleicht wird aus dir was“, sagte Dirk. „Ein zweiter Elvis.“
Neal lachte bei dem Gedanken an den übergewichtigen Sänger. Er war das krasse Gegenteil. „Nein, danke.“
„Nimm Gesangstunden, echt! Du wirst es nicht bereuen“, drängte Dirk.
„Meine Musiklehrerin meint das auch. Aber das ist Quatsch. Lass uns das Thema wechseln ... Wo sind wir?“ Neal sah aufmerksam aus dem Autofenster.
„Goethestraße. Mann, hier gibt es Villen, was? Hier möchte ich leben.“
„Hier wohnt Cecile.“
„Das Mädel aus deiner Klasse? Mit der du rumgeknutscht hast?“, erkundigte sich Dirk.
Neal nickte.
„Hausnummer?“
„Keine Ahnung.“ Neal zuckte mit den Schultern.
Mit quietschenden Reifen hielt Dirk an. „Das haben wir gleich. Wie ist ihr Nachname?“
„Hoffmann.“
Dirk stieg aus dem Wagen, lief zur anderen Straßenseite und verschwand in einer Telefonzelle. Keine Minute später kam er mit einem Lächeln im Gesicht zurück. „Nummer zehn“, berichtete er. „Das muss hier gleich sein.“ Er setzte sich hinter das Steuer und fuhr weiter.
„Was hast du vor?“, fragte Neal verunsichert.
Dirk hielt wieder an. „Da ist es. Oben brennt Licht. Was für ein Zufall.“
Er drehte sich um und griff nach einem Fernglas, das auf dem Rücksitz lag, dann sah er Neal auffordernd an. „Was ist? Kommst du mit?“
Neal folgte, bis sie vor dem Haus der Hoffmanns standen. Sie schlichen in den Garten und stoppten vor einem Baum.
„Da müssen wir hoch“, sagte Dirk. Er hängte das Fernglas um den Hals. „Los, hilf mir!“
Neal nickte und verschränkte die Hände ineinander, damit Dirk hineinsteigen konnte, um an den ersten Ast zu gelangen. Dirk hangelte sich hoch, bis er in der Mitte des Baumes angekommen war. Er blickte durch das Fernglas.
„Wer sagt’s denn.“ Er grinste. „Genau zur richtigen Zeit. Komm schnell hoch.“
„Wie soll ich hochkommen?“, rief Neal zurück. Suchend sah er sich um. Er erblickte eine graue Mülltonne und benutzte sie als Kletterhilfe. Er hangelte sich von Ast zu Ast, bis er neben Dirk in der Baumkrone Platz fand. „Was ist?“, fragte er neugierig.
Dirk grinste schelmisch. „Sieh selbst.“
Neal nahm das Fernglas, sah hindurch und fixierte das beleuchtete Zimmer in der ersten Etage.
Überrascht klappte ihm die Kinnlade herunter. Seine Klassenkameradin stand vor einem Spiegel und kämmte ihr dunkelbraunes Haar. Anschließend legte sie die Bürste weg und entkleidete sich.
„Sie zieht sich aus“, zischte Neal. Er drückte das Fernglas vor die Augen. „Wahnsinn!“
„Zeig mal! Ich will auch sehen.“ Dirk entriss ihm das Fernglas. Er grinste. „Wenn die wüsste, dass wir hier spannen.“
„Lass mich auch sehen“, bettelte Neal und nahm das Fernglas wieder entgegen. „Oh, nein, sie zieht ein Nachthemd an ... schade, schade ...“
Das Licht ging aus, und Neal senkte das Fernglas.
„Vorstellung zu Ende.“ Dirk seufzte. „Hat sich aber gelohnt, oder?“
Neal nickte eifrig. „Echt klasse die Idee.“ Er lachte. „Wir sind bestimmt die ersten Kerle, die Cecile nackt gesehen haben. Mensch, wenn die das rausbekommt.“
„Dann hättest du sie in der Hand. Aber du willst ja nichts von ihr, oder?“, erkundigte sich Dirk.
Neal schüttelte den Kopf.
„Okay, hier ist nichts mehr zu holen.“ Dirk sah auf die Erde. Langsam hangelte er sich nach unten, kletterte auf die Mülltonne und sprang das letzte Stück herunter.
Neal folgte. Als er die Füße ausstreckte, um auf die Mülltonne zu gelangen, rutschte er ab. Die Tonne kippte um. Mit einem Aufschrei landete er auf dem Rasen.
„Was machst du denn da?“ Dirk klang erschrocken. „Hast du dich verletzt?“
Neal sah sich verwundert um. „Nein, alles okay.“
„Wirklich? Das sah gefährlich aus.“
„Nein, hab mich nur erschrocken“, beruhigte ihn Neal. Dirk half ihm, aufzustehen.
„Hast du Schmerzen?“
„Nein. Ich sagte doch: Alles in Ordnung.“ Neal klopfte die dreckige Hose ab.
Dirk atmete auf. „Nicht auszudenken, wenn du dir ein Bein gebrochen hättest. War eine Schnapsidee, auf den Baum zu klettern.“
„Ich fand die Idee gut, wirklich“, entgegnete Neal. „War meine Schuld. Wenn ich zu dämlich bin, um auf die Mülltonne zu steigen ...“
„Na ja, ist ja noch mal gut gegangen ... Aber auf den Schreck muss ich was trinken“, sagte Dirk. Er fasste Neal am Arm. „Komm, wir fahren in eine Kneipe.“
Kurze Zeit später saßen sie in einer Bar an einem Tisch in der Ecke. Dort redeten sie ungestört. „Du merkst echt nichts von dem Sturz?“, vergewisserte sich Dirk erneut.
„Kein Stück. Du musst nicht ständig nachfragen.“
„Ich mache mir halt Sorgen. Das waren fast zwei Meter, die du gefallen bist.“ Dirks selbstsicherer Gesichtsausdruck zeigte deutliche Bedenken. Neal staunte. „Du machst dir echt Gedanken, was?“
„Ja, natürlich.“ Dirk senkte den Kopf, als müsste es ihm unangenehm sein.
„Ich habe das Gefühl, dass du der einzige Mensch bist, der sich um mich kümmert. Oder den es interessiert, was ich mache“, erwiderte Neal. „Keiner will etwas mit mir zu tun haben.“
Dirks Kopf blieb geneigt, sodass Neal sein Lächeln nicht sehen konnte. „Das ändert sich bald.“
Aufgebracht schrie Stephanie ihren Sohn an. „Wo warst du so spät?“
„Ich war nur kurz draußen“, startete Neal einen Verteidigungsversuch.
„Du hast Francesca allein gelassen!“
„Mum, she is old enough!“
Stephanie machte einen Schritt auf ihn zu. „Du sollst sie nicht alleinlassen, wenn wir weg sind. Und du hast spätestens um Mitternacht zuhause zu sein! Nun ist es gleich halb zwei!“
„Sorry, Mum, I didn’t look at my watch ...“
„Das wird ja immer besser!“ rief Stephanie wütend. „Letzte Woche kommst du nicht nach Hause und heute siehst du nicht auf die Uhr! Was ist mit dem Test morgen?“ Bedrücktes Schweigen.
*
Neal saß vor einem Blatt Papier und starrte Löcher in die Luft. Von hinten näherte sich der Geschichtslehrer Herr Jensen. „Du schreibst nichts?“
„Mir fällt spontan nicht das Richtige ein. Aber gleich“, stammelte Neal. Er versuchte ein Lächeln.
„Halt dich ran, die Hälfte der Stunde ist vorbei.“
Jensen ging nach vorn. Neal seufzte. Französische Revolution ... Was sollte er darüber wissen? Hatte er es gestern gewusst? Er sah lediglich die Bilder des gestrigen Abends vor sich: das Haus, den Baum, Cecile - nackt! Er lächelte verträumt und drehte sich um, beobachtete Cecile beim Schreiben.
„Neal! Umdrehen! Hier wird nicht gespickt!“
„Sorry, ich habe nur reflektiert.“
„Frech wirst du auch noch“, ärgerte sich der Lehrer. „Du kannst vorzeitig abgeben, wenn du nicht aufhörst, bei deinen Mitschülern abzuschreiben.“
Neal stand auf. Von Jensen ließ er sich nichts sagen. Mit schlurfenden Schritten marschierte er nach vorne, dort legte er das Papier auf das Pult.
„Was soll das?“, fragte der Lehrer erstaunt. „Du hast nichts geschrieben!“
„Gut erkannt“, sagte Neal. Er verließ den Klassenraum.
„Hast du das gesehen?“, fragte Kevin leise.
„Der Anderson hat echt ne Meise“, flüsterte Dennis zurück.
„Er wird eine Sechs kriegen“, sagte Laura. Sie grinste.
„Das ist nicht witzig“, fauchte Cecile ungehalten.
Laura schüttelte den Kopf. „Wie kann er denn auch ein leeres Blatt abgeben?“
„Er wird seine Gründe haben.“ Cecile seufzte. „Ich finde das mutig.“
„Wie war die Klausur?“, fragte Dirk. Er lehnte sich in der Pause neben Neal an den Holzzaun.
„Eine Sechs plus wird es nicht.“
„Hast du nichts gewusst?“ Dirk sah ihn entgeistert an.
„Nichts gewusst und nichts geschrieben. Alles weg, was ich gelernt habe.“ Nervös scharrte Neal mit den schwarzen Sneaker im Sand herum. Er wirkte unausgeglichen.
„Wie kommt das? Hat der Sturz gestern etwa alles ausgelöscht?“
„Bestimmt nicht“, sagte Neal. „Ich war nur zu unkonzentriert, zu müde, zu genervt ... Weiß nicht. Die nächste Arbeit wird besser.“
„Sicher.“ Dirk klopfte ihm auf die Schulter.
„Wie schaffst du das, alles zu behalten? So kurz vor dem Abi?“, wollte Neal wissen. „Ist das nicht irre viel Paukerei?“
„Ich kann das“, antwortete Dirk überzeugt. „Ich mach das Abitur mit Eins, das steht fest.“
Am nächsten Tag musste Neal zur zweiten Stunde. Er beschloss, die S-Bahn zu nehmen, anstatt mit dem überfüllten Schulbus zu fahren. Er stand an der Haltestelle und fror. Seine Lederjacke wärmte nicht ausreichend. Es regnete. Die S-Bahn rauschte heran und Neal trat an die Plattform. Die Bahn fuhr vor und hielt.
„Sieh mal, der Anderson!“, rief Dennis. Er sah aus dem Fenster der S-Bahn.
„Tatsächlich.“ Kevin staunte ebenfalls.
„Den lassen wir nicht rein.“ Mit einem hinterhältigen Grinsen stürzte Dennis zur Tür der S-Bahn, die Neal öffnen wollte. Als Neal den kalten Griff anfasste, sah er in die Gesichter der Mitschüler. Beide hielten die Tür von innen zu und bogen sich vor Lachen.
„Sehr witzig!“, schrie Neal genervt. „Lasst mich sofort rein!“
„Wir denken nicht daran!“
Neal ließ von der Tür ab, um zur Nächsten zu laufen. Doch in diesem Moment ertönte ein schriller Piepton und alle Türen schnappten zu. Die Bahn rollte an. Wütend blieb er am Bahnsteig zurück.
Nicht zum ersten Mal kam er zu spät. Weiler sah ihn strafend an. „Du bist wieder unpünktlich. Das häuft sich in letzter Zeit!“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Neal. „Ich habe die S-Bahn verpasst.“
Weiler schüttelte den Kopf.
Neal setzte sich und erhaschte Dennis‘ gönnerhaftes Lächeln. Wütend zog er die Lederjacke aus und hängte sie auf die Stuhllehne. Als er sich drehte, um Cecile die Hausaufgaben zu reichen, rutschte sein kurzer schwarzer Pullover hoch und gab den Blick auf seinen Bauch frei. Cecile starrte ihn an.
„Hey, Anderson! Dein Pullover ist eingelaufen“, zischte Dennis.
Neal verdrehte die Augen. „Der gehört so, du Idiot!“
„Ruhe da hinten!“, rief Weiler, mittlerweile erbost.
„Wenn ich Dennis nur sehe, könnte ich brechen“, flüsterte Neal.
Cecile nickte. „Ja, er ist nervig.“ Sie zögerte. „Sag mal, gehört dein Pullover wirklich so kurz?“
„Sure, das ist total angesagt in England.“ Es klang vorwurfsvoll.
„Ist bauchfrei nicht eher etwas für Frauen?“, fragte sie vorsichtig.
Neal schüttelte den Kopf. Von Mode hatten die Leute in Deutschland keine Ahnung ...
„Das war noch nicht alles für heute“, sprach Dennis leise. Er nahm ein Stück Papier und kritzelte ein paar Worte darauf. „Hier“, sagte er zu Kevin gewandt, „wenn Neal nicht guckt, steckst du ihm das in die Tasche, okay?“
Kevin nahm den Zettel entgegen. „Was steht drauf?“
„Ach, nur ein kleiner Gruß.“ Dennis grinste hinterhältig.
„Morgen! Wie geht’s?“ Dirk lehnte sich gegen den Zaun.
„Könnte besser sein“, antwortete Neal. „Habe die S-Bahn verpasst, weil Dennis und Kevin die Tür zugehalten haben.“
„Ehrlich? Solche Spinner!“
„Idioten sind das, Kleinkinder!“ Neal war noch immer wütend.
„Ignorier sie einfach.“
„Leicht gesagt ...“ Neal seufzte und griff in den Rucksack. „Willst du ein Sandwich? Mir ist echt der Appetit vergangen.“
„Gern.“
„Das Brot ist wirklich das Einzige, was mich noch an England erinnert. Es ist zum Heulen.“ Neal kramte in der Tasche und gab Dirk ein Sandwich, als er plötzlich stutzte. „Was ist das denn?“ Er zog einen Zettel hervor.
„Ein Liebesbrief?“ Dirk grinste.
Neals Gesicht blieb ernst. Vorsichtig faltete er das Papier auseinander und las.
„Das ... glaub ich nicht“, sagte er mit zitternder Stimme. Er schien blasser als sonst. „Das geht zu weit.“
„Was ist denn los?“, fragte Dirk. Neal reichte ihm wortlos den Zettel.
Dirk sah gespannt auf die krakelige Schrift und las: Go home, Anderson! Du schwule Sau!
Er schluckte. „Wer war das?“ Seine Stimme bekam einen gefährlichen Unterton.
„Scheiße, keine Ahnung!“ Neal schien ehrlich verzweifelt. „Bestimmt Dennis oder Kevin ... Wie können die so etwas schreiben? Das ist unglaublich! Ich bin nicht schwul! Wie kommen die darauf? Solche Arschlöcher!“ Tapfer rang er mit den Tränen. „Wieso hören die nicht auf damit? Ich tu ihnen nichts ... Verdammt! Wann lassen die mich endlich in Ruhe? Ich kann langsam nicht mehr.“
Dirk legte mitfühlend den Arm um Neals schmale Schultern und versuchte, zu trösten.
„Bist du sicher, dass das jemand aus deiner Klasse war?“
„Wer denn sonst?“
Dirk nickte. „Ja, du hast recht, es ist naheliegend.“ Er überlegte. „Haben die schon mal so etwas zu dir gesagt?“
„Nein, das ist das erste Mal ...“
„Hast du sie provoziert?“, erkundigte sich Dirk.
Neal sah ihn empört an. „Provoziert? Wie denn?“
Dirks Blick verharrte einen Moment auf Neals Pullover, der den Blick auf seinen Bauch freigab, dann auf der figurbetonten Cordhose, die einen weiten Schlag warf. „Vielleicht durch deine Klamotten, durch deine Frisur?“
„Na super! Hältst du mich jetzt auch für schwul, oder was?“ Neal war außer sich.
„Ich habe nichts gegen dein Outfit“, beschwichtigte Dirk. „Aber die Leute in der Klasse kommen offensichtlich nicht damit klar.“
„Und? Was soll ich jetzt tun?“
„Nichts. Du bleibst hier. Du rührst dich nicht vom Fleck, bis ich dich hole, ja?“
Neal sah ihn erstaunt an. „Was hast du denn vor?“
„Ich regle das“, sagte Dirk und ging.
Die Schüler der Zehnten ahnten Schlimmes, als Dirk den Klassenraum betrat.
Wenn keine Schulparty oder sonstige Ereignisse bevorstanden und der Schülersprecher unangekündigt vorbeikam, erwarteten sie negative Neuigkeiten. Es kehrte sofort Ruhe ein. Dirk stellte sich nach vorne. Er sah die Schüler an und hielt den Zettel hoch, den Neal in seinem Rucksack gefunden hatte.
„Wer hat das geschrieben?“, wollte er wissen. Die Klasse schwieg. „Na, los! Wer war das?“, fragte er wütend, doch er bekam keine Antwort. Die meisten Schüler sahen beschämt zu Boden oder wichen Dirks Blick aus.
„Nun gut“, begann der mit bebender Stimme. „Wenn sich niemand freiwillig zu der Tat bekennt, muss ich euch alle verantwortlich machen ... Was hat euch Neal getan, dass ihr ihn fertigmacht? Was hat er getan?“ Dirk sah die Schüler der Reihe nach an.
„Ist es normal, dass ein neuer Mitschüler so behandelt wird, nur, weil er anders aussieht, anders spricht und vielleicht nicht so ist, wie ihr? Ich dachte, in eurem Alter weiß man, was Toleranz bedeutet und wie man sich fremden Menschen gegenüber verhält! Aber da habe ich mich wohl geirrt. Total geirrt! – Ich glaube das nicht!“ Mit der flachen Hand schlug er auf das Lehrerpult. „Was habt ihr euch dabei gedacht?“
Sein Kopf war hochrot angelaufen. Die Schüler rührten sich nicht.
„Meine Güte, der regt sich auf“, flüsterte Laura. „So wütend habe ich den ja noch nie gesehen. Da kann man ja Angst bekommen.“
Cecile schwieg. Mit großen Augen fixierte sie Dirk, der aufgebracht und nervös mit den Fingern auf das Pult klopfte. „Wer sagt eigentlich, dass Neal schwul ist? Weiß es jemand genau?“ Dirk sah in die Runde. Kein Mucks war zu hören.
„Na bitte! Ihr habt keine Ahnung.“
Seine Stimme wurde noch einen Tick lauter, sodass sich ein Junge in der ersten Reihe die Ohren zuhielt.
„Zudem ist Schwulsein nicht schlecht! Kapiert? Es ist anders, aber nicht schlecht! – Und einen Mitschüler aufzufordern, zurückzugehen, ich zitiere: Go home, Anderson! Das ist das Allerletzte!“ Er machte eine kurze Pause und atmete durch. Seine enorme Wut konnte er nicht mehr zügeln.
„Neal hat sicher Heimweh“, sagte er. „Hat einer von euch danach gefragt; sich erkundigt, wie es ihm geht ... in einem fremden Land? – Nein! Stattdessen machte ihr ihm das Leben schwer. Das ist ungerecht und feige!“ Die Klasse schwieg weiterhin. „Ich dachte, einige von euch sind erwachsener geworden, doch da habe ich mich wohl getäuscht! ... Ich setze mich für euch ein, und was ist der Dank? ... Ich muss mich ständig mit euch rumärgern!“ Dirks Stimme hallte durch den Klassenraum. „Es ist verdammt traurig!“ Er knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Mülleimer. „So einen Zettel will ich nie wieder sehen, verstanden?“, ermahnte er die Klasse.
„Und überhaupt: Wenn irgendjemand oder gar die ganze Klasse etwas gegen Neal unternimmt, passiert was! Und dann – Gnade euch Gott!“ Die Augen der Jugendlichen weiteten sich. Cecile rann ein Schauer über den Rücken.
„Ich hoffe, ihr nehmt euch das zu Herzen“, fügte Dirk hinzu, dann öffnete sich die Klassentür. Weiler betrat den Raum und stellte verwundert die Anwesenheit des Schülersprechers fest. „Ist etwas passiert?“
Dirk starrte ihn aus kalten Augen an. „Ich hatte was zu klären.“
„Soll ich einen Augenblick draußen warten?“
„Nein, danke. Ich bin fertig.“ Dirk warf einen schwarzen Blick auf Neals Mitschüler, die beschämt zu Boden sahen.
„Das hört sich so an, als ob meine Klasse etwas ausgefressen hat“, sagte Weiler lächelnd.
„Zum Lachen ist das nicht.“ Dirk fuhr sich über das Gesicht. Die Angelegenheit strapazierte ihn sichtlich. Dennoch blieb er gefasst. „Neal ging es nicht gut. Er kommt gleich nach, aber ich habe ihm geraten, an der frischen Luft zu bleiben. Ich schicke ihn gleich rein.“
Als Neal verspätet den Klassenraum betrat, war er noch immer blass und schien gestresst. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich mit zusammengebissenen Zähnen bei dem Lehrer. Der nickte verständnisvoll. „Geht es dir besser?“
„Es geht.“ Neal setzte sich auf den Platz zurück. Doch er wirkte schwach. Fast so, als hätte ihm der Vorfall das Genick gebrochen. Weiler ließ ihn für den Rest der Stunde in Ruhe. Neal konnte dem Unterricht ohnehin nicht folgen. Seine Gedanken kreisten ständig um den Zettel. Als die Stunde zu Ende war, packte er erleichtert die Sachen zusammen. Er wollte nur noch weg.
Am Sportunterricht nahm er nicht teil. Diese Abwesenheit nutzten die Mitschüler aus. Aufgeregt diskutierten sie den Vorfall in der Umkleidekabine. „Das mit Anderson können wir für alle Zeiten vergessen“, startete Dennis das Gespräch. „Da gibt es nichts mehr zu holen.“
„Ich hätte sowieso nicht mehr mitgemacht. Mit Dirk will ich keinen Ärger. Und mit dem Direktor schon gar nicht“, bemerkte Kevin. Er setzte sich auf eine Bank und schürte die Schuhe zu.
„Schöne Scheiße, dass Neal ausgerechnet Dirk auf der Seite hat.“ Dennis‘ Unzufriedenheit war deutlich herauszuhören. „Neal hat Glück, großes Glück. Mit Dirk im Nacken können wir nichts mehr unternehmen ... Nee, das ist eine Nummer zu groß.“
Neal stand mit Francesca an der Bushaltestelle. Sehnlicher als sonst wollte er das Schulgelände verlassen. „Mir ist kalt“, jammerte Francesca. Unglücklich sah sie ihren Bruder an.
„Komm her.“ Neal schloss sie in die Arme. Er seufzte. „Blöder Tag, heute. Und diese Kälte!“ Ein Seufzer glitt über seine Lippen, als er sich umsah. Richard, ein Mitschüler, kam auf sie zu. „Auch das noch,“ stöhnte Neal. Er sah weg. Doch Richard stand kurze Zeit später neben ihm.
„Gehst du nicht zum Sportunterricht?“, erkundigte er sich.
„Sieht so aus, oder?“ Neals Tonlage war pampig.
„Bist du noch sauer, wegen des Zettels?“, fragte Richard.
„Nein, mir ist schlecht.“
Richard zeigte auf Francesca. „Ist das deine Schwester?“
„Ja, lass sie bloß in Ruhe! Hörst du?“
Neal klang unüberhörbar aggressiv. Er verkrampfte sich unbewusst. Doch Richard machte eine abwehrende Geste. „Ich tu ihr nichts.“ Sogleich erklärte er den Grund seiner Anwesenheit. „Ich habe gehört, dass du Gitarre spielst ...“
„Na und?“ Neal verdrehte die Augen. Ihm ging die Unterhaltung auf die Nerven.
„Hast du nicht Lust in einer Band zu spielen? Hier an unserer Schule?“
„Bei diesem Schulorchester? – Nein, danke.“ Neal verschränkte die Arme vor dem Bauch und sah weg.
„Nein, bei einer richtigen Band. Wir proben an der Schule und wir suchen dringend einen Gitarristen. Oli ist für längere Zeit ausgefallen. Er hat sich den Arm gebrochen.“
„Und ich soll einspringen, oder was?“, fragte Neal ungläubig.
„Ja, genau! Hast du Lust?“
Richard sah ihn erwartungsvoll an. „Ich spiele Gitarre, zwei Leute aus der Elften spielen Schlagzeug und Keyboard, und Kevin ist am Bass. Singen tun wir abwechselnd“, erklärte Richard.
„Kevin? Und du? – In einer Band, in der ich mitmachen soll? Das ist wohl ein Witz.“
Richard runzelte die Stirn. „Wieso?“
„Ihr macht mich permanent fertig, schon vergessen?“
„Das meinen wir nicht so, echt nicht. Komm doch einfach mal vorbei.“
Neal zögerte. Er fixierte Richard. Er war kräftig, klein gewachsen, hatte dunkle Haare. Neal konnte sich nicht erinnern, von ihm ernsthaft gehänselt worden zu sein. Dennoch stimmte ihn der plötzliche Wandel nachdenklich. „Warum bin ich auf einmal so wichtig?“
Tatsächlich wandt sich Richard ein bisschen. „Ich habe dich schon länger als Gitarristen im Auge. Du hast bestimmt gute Ideen aus England.“
„Ich weiß nicht, ob ich das Angebot ernst nehmen kann.“
„Der Bus kommt!“, rief Francesca dazwischen.
„Ich muss los.“ Neal wandte sich ab.