Überdosis Liebe - Justin C. Skylark - E-Book

Überdosis Liebe E-Book

Justin C. Skylark

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Beschreibung

Neal verschwindet plötzlich und ist auch nicht wieder aufzufinden. Gero und Francis nehmen an, dass er den Drogen zum Opfer gefallen ist. Doch die Unsicherheit über sein Verschwinden lässt sie nicht los. Kann Dirk vielleicht weiterhelfen? Als Neal plötzlich wieder auftaucht, überschlagen sich die Ereignisse. Was ist in seiner Abwesenheit geschehen? Wie verläuft die Schwangerschaft von Francis? Kann Neal das Vertrauen von Gero und seiner Schwester zurückerobern? 'Überdosis Liebe' ist der 5. Teil der Neal Anderson-Reihe. (komplett überarbeitet) Inklusive der Bonusstory: 'Die Begegnung mit Randy'

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Nachwort

Mitwirkende Personen

Neal Anderson – 32 Jahre, Sänger der Band The Drowners, Abschluss eines Architekturstudiums, inzestuöse Bindung zu Schwester Francis, hat schwule Beziehung mit Gero Steinert

Stephanie und Peter Anderson

Inhaber des Mode-Konzerns Anderson Creation, mit zwei Firmen standhaft in England und Deutschland, Sohn Neal stammt aus Stephanies erster Ehe, Sohn Jarvis aus Peters erster Ehe, nur Francis ist ihre gemeinsame Tochter.

Francesca (Francis) Anderson

24 Jahre, arbeitet als Designerin in der Firma ihrer Eltern

Jarvis Broker-Anderson

Sohn von Peter, Stiefsohn von Stephanie, lebt in Bristol als Künstler, pflegt zu seiner Familie einen spärlichen Kontakt, schlechtes Verhältnis zu Neal

Nicholas Anderson

8 Jahre, Sohn von Francis und Neal, der aus ihrer inzestuösen Liebe hervorgegangen ist

Thilo Wulf

Bester Freund von Francis (seit der Schulzeit), Dauerstudent, WG-Bewohner, Gothic- Anhänger

Gero Steinert

21 Jahre, Medizinstudent, Freund von Neal, später bisexuelle Neigung und Beziehung auch zu Francis, wohnt mit Thilo in der WG

Dirk Martens

Neals erster Freund aus der Schulzeit, der in Neal die schwule Ader „erweckte“, studierter Modedesigner mit eigener Firma in L.A. / USA, schizophrene Psychose im Kindes-/ Jugendalter bekannt, bisexuell

Butler Ralph

Hausdiener und Gärtner von Neal, gebürtiger Engländer, betagter Junggeselle

Samuel Falkenberg (Sam)

Langjähriger Freund von Neal, Dealer

Christen Stern

Freundin von Francis, ebenfalls Designerin bei Anderson Creation

Carsten

Neals bester Freund aus der Jugendzeit, Anwalt, schwul

Theo

Arbeitskollege von Francis, Designer für Herrenmode, schwul

Pascal

Schwul, Modell

Lucy

Freundin von Thilo, hat lange in Indien studiert

Randy

Pferdepfleger im Stall der Andersons

Eltern von Gero (ohne Namen)

Frau Dresen

Putzfrau und Mieterin in dem Haus, in dem Francis, Gero und Thilo wohnen

Zum Inhalt der Neal Anderson-Reihe:

Der gebürtige Engländer Neal Anderson ist bekannter Sänger der Band The Drowners.

Im Jugendalter von 16 Jahren zieht er nach Deutschland und erlebt sein Coming-out. Allerdings wird er von seinem ersten Freund Dirk unvorbereitet verlassen, da der in den USA studieren möchte.

Diese Trennung traumatisiert Neal, sodass er sich 14 Jahre auf keine feste Beziehung mit einem Mann einlassen kann und seine homoerotische Neigung nur durch One-Night-Stands stillt.

Mit 23 Jahren entdeckt er die Liebe zu seiner Halbschwester Francis. Als die schwanger wird, bleibt ihm nur die Flucht nach England, wo er den Durchbruch mit seiner Band erfährt.

Nach vier Jahren kehrt er zurück, um erneut festzustellen, dass die Liebe zu Francis nicht erloschen ist. So unauffällig, wie möglich, halten die Geschwister ihre Beziehung aufrecht.

Mit 30 Jahren kann sich Neal endlich lösen – von dem Trauma seiner Jugend – und verliebt sich in einen Mann: den jungen Medizinstudenten Gero.

Neal schafft es, neben Francis, auch eine Beziehung zu Gero aufzubauen.

Als Neal wegen der Arbeit an einem neuen Studioalbum für Monate nach London muss, beginnen die Probleme.

Der Stress und die lange Abwesenheit von seinen „Lieben“ treiben ihn in die Tabletten- und Drogensucht.

Was zuvor geschah:

Als Neals Leben nur noch von Drogen geleitet wird, und er sich und seine Mitmenschen damit zutiefst belastet, sieht sein Freund Gero nur noch den Ausweg des Selbstmords.

Der gelingt zum Glück nicht, doch nach diesem Zwischenfall gesteht sich Gero endlich ein, dass er die Beziehung zu Neal beenden muss.

Am Boden zerstört und unter der Trennung leidend, sucht Neal die intensive Nähe seiner Schwester, aber auch sie kann Neals Leid nicht mehr ertragen.

Es gibt einen Streit zwischen den Geschwistern, nach dem Francis ihren drogensüchtigen Bruder verlässt und nach England reist, um dort Erholung bei ihrem Bruder Jarvis zu suchen.

Neal bleibt mit gebrochenem Herzen zurück und scheint sich nur durch weitere Drogen beruhigen zu können…

Kapitel 1

Zwei Monate waren seit ihrer Abreise vergangen.

Von dem Flug zurück war sie erschöpft, und so musste sie zwischendurch öfter anhalten, um tief Luft zu holen. Im Treppenhaus war es ruhig, bis die Stimme ihres Sohnes ertönte:

„Mami? Wo bleibst du denn?“

„Ich kann nicht mehr so schnell“, erwiderte die schwangere Francis, dann folgte sie.

Vor ihrer Wohnungstür blieb sie stehen und lauschte. Eine sonderbare Stille herrschte. Als sie die Tür aufschloss, rannten ihr Sohn Nicholas und ihr Hund in die Wohnung, bevor sie folgte.

Eine stickige, verbrauchte Luft kam ihr entgegen. Im Schlafzimmer öffnete sie das Fenster, dann sah sie sich zaghaft um. In der Tür zum Bad waren die Scherben und das zerstörte Regal verschwunden. Allerdings konnte sich Francis gut daran erinnern, wie Neal das Glasregal mit zu Boden gerissen und sich danach an den Scherben verletzt hatte. Fest im Teppich eingetrocknet sah sie ein paar Blutstropfen.

Ihr Herz schlug schneller. Zügig verließ sie das Schlafzimmer. Im Wohnzimmer war niemand.

„Neal?“, rief sie durch die Wohnung, aber keine Antwort ertönte.

In der Küche hatte sich kaum etwas verändert. Lediglich die Kochtöpfe mit dem Essen waren von den Herdplatten verschwunden. Im Kühlschrank fand sie abgelaufene Lebensmittel. Die Pflanzen waren verwelkt.

Im Kinderzimmer erblickte sie Nicholas, der sie traurig ansah.

„Meine Meerschweinchen sind weg“, sagte er betrübt.

„Was?“ Francis konnte das kaum glauben, doch der Haustierkäfig stand tatsächlich nicht mehr im Kinderzimmer.

Als sie bei ihrem Bruder Jarvis in England gewesen waren, hatte Nicholas oft nach seinen Meerschweinchen gefragt. Francis hatte ihm stets versichert, dass sich bestimmt jemand um die Tiere sorgen würde. Sie seufzte. „Ich kümmere mich darum“, versuchte sie ihren Sohn zu beruhigen, „aber jetzt pack erstmal deine Sachen aus, okay?“

Sie wollte sich umdrehen, als Nicholas weiter fragte: „Und wo ist Papi?“

Francis zuckte leicht mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, mein Schatz“, sagte sie. Und das stimmte. Seit sie nach England gefahren war, hatte sie keinen Kontakt mehr zu Neal gehabt. „Wahrscheinlich bei sich – zu Hause.“

Im Schlafzimmer packte sie ihren Koffer aus, doch die innere Unruhe ließ sie nicht los. Schließlich griff sie nach dem Telefon im Flur, um Neals Nummer zu wählen. Aber in dessen Villa meldete sich niemand.

Fast zwei Stunden brauchte sie, um wieder Ordnung in ihre Wohnung zu bringen, dann machte sie eine Pause. Die Ungewissheit über das, was geschehen war, ließ ihr keine Ruhe. Zu lange war sie fort gewesen. Immer mehr Fragen taten sich auf.

„Ich geh kurz rüber in die WG!“, rief sie ihrem Sohn entgegen. „Bin gleich zurück.“

Es klang selbstbewusst, doch als sie vor der Wohnung von Thilo und Gero, die auf selbiger Etage lag, stand, verließ sie der ganze Mut.

Sie konnte unmöglich nach zwei Monaten in die WG treten, ohne Vorankündigung! Also schloss sie die Wohnung nicht einfach auf, sondern klingelte zaghaft. Ihr Herz schlug höher. Was würde sie erwarten?

Sie hörte Schritte, die Tür wurde geöffnet, und Francis blickte in das Gesicht von Gero.

Als der Francis sah, strahlte er. Ohne zu zögern, nahm er sie in die Arme.

„Endlich bist du wieder da! Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

Nur schwer konnte er sich lösen, aber ihre Worte beruhigten sein Gemüt.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, sagte sie. „Dir geht es besser?“

Gero nickte. Sie musterten sich gegenseitig, sodass er lächelnd ihre Rundungen betrachten konnte.

„Dem Baby scheint es gut zu gehen“, stellte er zufrieden fest. Er deutete hinter sich in die Wohnung. „Komm doch erstmal rein. Erzähl! Wie war es in England?“

Gemeinsam betraten sie die Küche.

„Es hat mir gutgetan. Endlich konnte ich etwas Abstand gewinnen. Und es tut mir leid, dass ich vorher nicht Bescheid gesagt hatte, doch es ging auch für mich so schnell. Ich hatte keine Zeit, um logisch nachzudenken. Ich musste einfach weg.“

Gero konnte das gut verstehen. „Du hast es auch nicht mehr ausgehalten?“

Francis schüttelte den Kopf. „Nein.“

Sie ließ den Kopf hängen und dachte an den Tag ihrer Abreise zurück.

Sie dachte an ihren drogensüchtigen Bruder, an all die Spannungen, die zwischen ihnen lagen, sie entsann sich an die missglückten Versuche, Neal zu einer Therapie zu bringen, sie erinnerte sich an Geros Selbstmordversuch…

„Ich musste gehen, sonst wäre ich wohl verrückt geworden. Es war zu viel.“

Gero nickte mitfühlend. Er drehte sich der Kaffeemaschine zu.

„Soll ich Kaffee machen?“

Francis bejahte und nahm auf einem Küchenstuhl Platz. „Den könnte ich gut gebrauchen.“ Sie atmete tief durch. Die erste Hürde war überwunden. Sie war wieder zu Hause. Ihre Sorge um Gero löste sich in Luft auf, denn dem ging es gut.

Aber es gab noch andere Dinge zu klären: „Sag mal, weißt du, wo Nicholas’ Meerschweinchen sind?“

Zu ihrer Überraschung antwortete Gero sofort.

„Ja, ich habe sie zu mir geholt, weil ich nicht ständig in deine Wohnung gehen wollte. Sie ruft noch immer negative Erinnerungen in mir hervor“, erklärte er, als sei es das Natürlichste der Welt, dass er sich um Nicholas’ Haustiere gekümmert hatte. „Ich hab dort nur ein wenig aufgeräumt. Was ist denn mit dem Regal im Bad passiert?“

Francis verzog das Gesicht. „Neal hat es kaputt gemacht. Ich hatte keine Zeit, es zu entsorgen. Und Neal hielt es wohl auch nicht für nötig.“

Gero schwieg und sagte nichts mehr dazu. Er nahm Tassen aus dem Schrank, und als er den Arm danach ausstreckte, fiel Francis’ Blick auf seine Handgelenke. Noch nicht ausreichend verheilt, sah sie dort die rötlichen Narben – die letzten sichtbaren Zeichen seines Selbstmordversuches.

„Tut es noch weh?“, erkundigte sich Francis, auf Geros Hände deutend. Er zog daraufhin die Ärmel seines Pullis nach unten, sodass die Narben verdeckt wurden.

„Nein, nein … nicht mehr so“, stammelte er.

„Musstest du noch lange in der Klinik bleiben?“, fragte sie.

„Ich war noch eine Woche auf der geschlossenen Station und zwei weitere Wochen auf der offenen. Danach war ich nur noch ambulant dort – zu den Gesprächen … Mittlerweile gehe ich bei Bedarf zu einem Psychiater, wenn ich denke, mich belastet etwas, kann ich mir alles von der Seele reden“, erzählte Gero.

Francis griff nach seiner Hand, um sie zu streicheln. Was sie hörte, gefiel ihr. „Das freut mich“, gestand sie. „Ich wusste, dass du alles gut überstehen würdest.“

Er nickte. „Mit meinen Eltern ist auch alles im Reinen. Sie zahlen die Miete“, berichtete er. „Und ich gehe wieder zur Uni, ziehe mein Studium jetzt voll durch.“

„Schön.“ Francis lächelte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie hörte, dass sich in ihrer Abwesenheit tatsächlich Einiges zum Guten gewendet hatte. Doch trotzdem: Eine Sache lag ihr schwer im Magen. Sie fasste allen Mut zusammen und fragte schließlich: „Und, was macht Neal?“

Gero zögerte, kaum vernahm er die Frage, doch dann antwortete er:

„Ich weiß es nicht.“

Sie stutzte. „Du weißt es nicht?“

„Nein.“ Gero hob die Schultern an. „Ich habe keine Ahnung, was er macht … und wo er ist.“

Da wurde Francis richtig hellhörig. „Was soll das heißen?“

Sie war sichtlich erschrocken über die Aussage. „Du weißt nicht, wo er ist?“

Gero schüttelte still den Kopf.

„Aber das kann doch nicht sein!“, fuhr es aus ihr heraus. „Er ist sicher bei sich zu Hause. Ich werde nachher noch mal dort anrufen.“

Gero seufzte.

„Du kannst dir das sparen“, sagte er. „Neal ist nicht zu Hause. Er ist weg. Wie vom Erdboden verschluckt.“

„Was? Aber er muss doch irgendwo sein?“

Da Gero nicht antwortete, zweifelte sie allmählich nicht mehr an den Umständen.

„Wie lange ist er fort?“, fragte sie stattdessen.

Gero zuckte erneut mit den Schultern. „Schon lange. – Ich war ja noch in der Klinik. Aber Thilo meint, er ist ungefähr zum gleichen Zeitpunkt wie du verschwunden.“

„So lange?“ Francis wurde mulmig zumute. Ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich. „Habt ihr denn gar nichts unternommen?“

Gero stand auf und füllte die Becher mit Kaffee. Er zögerte mit der Antwort. Offensichtlich wollte er das Thema nicht vertiefen.

„Deine Eltern haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben, doch die Polizei hat nicht viel ausgerichtet. Es gibt keine Hinweise dafür, dass ein Gewaltverbrechen oder eine Entführung vorliegt. Einige Sachen fehlen aus seinem Haus. Kleidung und so. Es sieht so aus, als hätte Neal bewusst die Stadt verlassen.“

Was sie hörte, konnte sie kaum glauben. Immer mehr Fragen taten sich auf.

„Konnte Ralph denn nichts berichten?“, erkundigte sie sich verstört.

Gero schüttelte den Kopf, als er an Neals Butler dachte.

„Der ist auch nicht mehr da.“

Francis atmete geräuschvoll aus. Mit zittrigen Händen griff sie nach dem Kaffee, um ein paar Schlucke zu nehmen. Mit einer derartigen Nachricht hätte sie niemals gerechnet.

„Wieso weiß ich nichts davon?“, fragte sie leise.

„Deine Eltern wollten dich bestimmt nicht unnötig aufregen“, versuchte Gero die Situation zu erklären. Und wirklich: Francis war eigentlich froh gewesen, dass sie niemand gestört hatte. Meist war ihr Handy ausgeschaltet gewesen. Nur ab und zu hatte sie sich bei ihren Eltern gemeldet, um mitzuteilen, dass es ihr in Bristol, bei ihrem Bruder Jarvis, sehr gut ging. Doch weder Stephanie noch Peter hatten ihr erzählt, dass Neal verschwunden war.

„Aber, wo soll er denn hin sein?“, stellte sie in den Raum.

„Ihm ging es dermaßen schlecht, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Er hätte gar keine Kraft gehabt, irgendwohin zu gehen oder zu verreisen.“

Sie dachte daran, in welchem Zustand sich Neal bei ihrem letzten Zusammentreffen befunden hatte.

Er war deutlich unterernährt und schwach gewesen. Er hatte an Entzugserscheinungen und Schmerzen gelitten, hatte Drogen gebraucht … Er war nicht in der Lage gewesen Nicholas Essen warm zu machen. Und sie hatten gestritten …

Gero schwieg und senkte den Kopf.

„Glaubst du…“, sprach Francis weiter, „glaubst du, er ist … tot?“

„Ich … vermute es“, erwiderte Gero.

Seine Stimme zitterte dabei. Ruckartig erhob er sich und stellte sich an das Fenster. Krampfhaft versuchte er, aufkeimende Tränen zu unterdrücken. „Sonst hätte er sich doch mal gemeldet, oder?“

Francis’ Blick senkte sich. Ihre Mundwinkel zuckten. „Das ist schrecklich“, entwich es ihr. Betroffen hielt sie sich die Hände vor das Gesicht.

Gero schritt sofort ein. „Bitte, weine nicht“, bat er. „Es ist ja nur eine Vermutung. Genaues wissen wir nicht.“

Es sollte tröstend klingen, aber es kam unsicher über seine Lippen.

„Und wenn es so ist?“, fragte Francis. Ihre Stimme war lauter geworden. Sie schluchzte, und kurz darauf, wohl durch die Lautstärke animiert, trotteten zwei Doggen in die Küche, um sie erfreut zu beschnuppern.

Augenblicklich versiegten ihre Tränen. „Was machen denn Neals Hunde hier?“

Gero seufzte abermals. „Tja, das ist auch so eine Sache. – Jemand muss sie hier hergebracht haben. Als wollte er uns darauf hinweisen, dass wir uns jetzt um sie kümmern müssen.“

Völlig perplex von all den Neuigkeiten, die auf sie einwirkten, lehnte sich Francis zurück. „Und er hat nichts dagelassen? Keinen Brief, keine Nachricht? Nichts?“

Gero schüttelte den Kopf, woraufhin sie erschöpft stöhnte.

„Da fahre ich weg, um dem ganzen Trubel hier zu entfliehen, und kaum bin ich zurück, geht das wieder von vorne los!“

Als sie erwachte, fühlte sie sich besser. Nach all den Strapazen am Nachmittag hatte sie sich hingelegt und etwas geschlafen. In der Tür erblickte sie Nicholas, der in seinen Händen die zwei Meerschweinchen hielt.

„Sieh mal, Mami, die sind gewachsen, während wir bei Onkel Jarvis waren“, sagte er stolz und kam mit den Tieren an ihr Bett.

„Ja, tatsächlich.“ Francis versuchte zu lächeln, dabei hatten sie ihre konfusen Gedanken schon längst wieder eingeholt.

Da sah ihr Sohn sie mit fragenden Augen an.

„Und wann kommt Papi?“

Francis atmete tief durch, dann richtete sie sich auf, um Nicholas gefasst in die Augen zu sehen.

„Du musst jetzt tapfer sein, Nicki“, begann sie mit ruhiger Stimme, „es kann nämlich sein, dass dein Papi nicht mehr wiederkommt.“

Nicholas’ Augen weiteten sich. „Wieso nicht?“, rief er erschrocken.

Francis zögerte mit der Antwort. Wie sollte sie ihrem Sohn klar machen, dass sie es selbst nicht wusste? Sie hatte ja nur diese Vermutung.

„Du weißt doch, dass Papi sehr krank gewesen war…“, begann sie schließlich.

Nicholas nickte traurig.

„Und es kann sein“, erklärte Francis weiter, „dass er nicht mehr gesund geworden ist.“

Sie erschauderte selbst, als sie daran dachte. Aber hatte es einen Sinn, ihrem Sohn etwas vorzumachen? Sie wollte ihn zumindest auf das Schlimmste gefasst machen.

„Ist er denn jetzt im Himmel?“, fragte Nicholas leise.

Francis schluckte.

„Ich weiß es nicht, mein Schatz“, sagte sie. „Aber es wäre möglich, ja, damit müssen wir auch rechnen.“

Sie drückte ihren Sohn, soweit es mit den Meerschweinchen in den Armen ging, an sich. „Vielleicht ist er im Himmel, und vielleicht geht es ihm dort besser als vorher.“

Als sie das sagte, stiegen Tränen in ihre Augen. Auch Nicholas rannen einige die Wange hinunter.

„Kann ich ihm denn Bilder malen und die für ihn aufhängen?“

Er schluchzte laut, trotzdem nahm er sich zusammen, das konnte Francis spüren. Genau wie sein Vater …

„Natürlich kannst du das machen“, sagte sie. „Darüber freut er sich sicher.“

Christen staunte, da Francis am nächsten Tag an ihrem Arbeitsplatz erschien.

„Schön, dass du wieder da bist.“

Die Freundinnen, die gleichzeitig Kolleginnen in der Firma der Andersons waren, nahmen sich in die Arme.

„Gut siehst du aus“, stellte Christen fest.

„Die Schwangerschaft scheint dir zu bekommen.“ Sie betrachtete Francis’ Bauch, der allerdings das Einzige war, was an Umfang zugenommen hatte. Die Figur ihrer Freundin war noch immer schlank und ihr Gesicht schmal, vielleicht auch von den vergangenen Strapazen ein wenig gezeichnet. Das Umstandskleid in bordeauxroter Farbe stand ihr hervorragend.

Francis war unschlüssig. „Meinst du? Ich denke eher, das Kind wird ein reines Nervenbündel sein, wenn es zur Welt kommt. Bei all dem Stress, den es schon mitgemacht hat.“

Sie nahm an ihrem Schreibtisch Platz und merkte, dass ihr die Arbeit gefehlt hatte.

„Wie steht es mit der Frühjahrskollektion?“, fragte sie sogleich. „Läuft alles?“

Christen nickte zuversichtlich. „Mach dir keine Gedanken. Die meisten Entwürfe stehen, und zudem arbeitet dein Vater derzeit mit einem Designer aus Amerika zusammen. Das wird ein Highlight!“ Sie freute sich offenkundig.

Francis konnte diese Freude nicht teilen. Ihr gefiel es nicht, dass in ihrer Abwesenheit so viel geschehen war.

„Designer aus Amerika?“, wiederholte sie schnippisch. „Na, das kann ja was werden.“ Unzufrieden schüttelte sie den Kopf. „Ich hätte nicht so lange wegbleiben sollen.“

Christen blieb optimistisch. „Ach, du wirst sehen, die neue Kollektion wird ein Renner.“ Sie setzte sich zu ihrer Freundin, um sie sensationslustig anzusehen.

„Aber nun erzähl mal von dir. Du warst wirklich bei deinem Bruder Jarvis in England?“

Francis bejahte dies.

„Warum so plötzlich und so lange?“

„Ach, dafür gab es mehrere Gründe“, erklärte Francis. „In erster Linie habe ich Ruhe gesucht. Meine Ärztin hatte mir jegliche Aufregung verboten. Und hier war es einfach nicht möglich, abzuschalten.“ Sie machte ein unglückliches Gesicht, als sie daran dachte, wie viel Theater sie vor ihrer Abreise ertragen musste. Wäre sie nicht abgereist, hätte sie wohl die Gesundheit des Kindes gefährdet.

„Wegen Neal?“, hakte Christen nach.

Francis nickte still.

„Der hat dir ganz schönen Kummer bereitet, stimmt’s?“

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte Francis. Nebenbei sortierte sie ein paar Dinge auf ihrem Schreibtisch, wobei sie auch ein Bild von Neal, das auf dem Tisch stand, still in eine der Schubladen verschwinden ließ. Als Christen das sah, staunte sie nicht schlecht.

„Oh, ihr müsst ja ordentlichen Stress haben.“

Francis zuckte mit den Schultern. Allmählich war sie es leid, ständig über Probleme reden zu müssen.

„Wenn es nur Stress wäre“, begann sie. „Derzeit habe ich überhaupt keinen Kontakt zu ihm.“

„Was?“ Christen konnte kaum glauben, was sie hörte. „Der lässt dich doch hoffentlich nicht mit dem Kind alleine?“

Francis schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich habe ich ihn verlassen. Doch nun ist er seit Wochen verschwunden.“

Die Augen ihrer Freundin wurden immer größer. „Einfach weg? – Oh, das wusste ich nicht. Das hat dein Vater nicht erwähnt. Das tut mir leid.“

Francis versuchte zu lächeln. Die tröstenden Worte ihrer Freundin taten gut.

„Mich belastet das ganz schön“, gestand sie trotzdem.

„Kann die Polizei denn nichts unternehmen?“, fragte Christen sofort. „Ich meine, wenn er verschwunden ist, muss man doch etwas tun.“

Francis seufzte. So schwer es ihr auch fiel, aber sie musste ihre Freundin leider über die derzeitige Haltung der Polizei aufklären.

„Die Polizei schätzt die Gesamtsituation als nicht bedenklich ein. Jeder erwachsene Mensch darf seinen Aufenthaltsort frei wählen, auch ohne diesen den Angehörigen oder Freunden mitzuteilen. Es ist daher nicht ihre Arbeit, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, wenn keine akute Gefahr für den Vermissten besteht.“

„Ach so ist das“, sagte Christen, dennoch war ihr Einiges unklar. „Aber dein Bruder war drogenabhängig …“

Francis senkte den Kopf. „Ich denke, mein Vater hat der Polizei nichts dergleichen gesagt. Wir können Neal nicht auch noch wegen Drogenbesitz anschwärzen! Was ist, wenn er wirklich nur verreist ist?“ Sie machte sich große Sorgen, und doch versuchte sie sich zu beruhigen. Unmöglich mochte sie Christen erzählen, dass sie ganz andere Befürchtungen in sich trug. „Die Polizei hat nichts Auffälliges feststellen können, also müssen wir einfach daran glauben, dass nichts Schlimmes passiert ist.“

Als Francis von der Arbeit kam und ihre Wohnung aufschloss, drang ihr ein leckerer Essensgeruch in die Nase. In der Küche erblickte sie Gero.

„Hi!“, grüßte der fröhlich. „Ich habe Pizza gemacht, hoffe, es ist dir recht?“

Sie staunte nicht schlecht, als sie den gedeckten Tisch sah.

Sogar ihr Sohn saß schon auf einem der Stühle.

„Das ist ja lieb“, sagte sie. „Und du hast Nicholas vom Hort abgeholt?“ Sie schmunzelte. „Hab ich mir fast gedacht, denn die Erzieherin meinte, ein hübscher Junge wäre da gewesen, um Nicki abzuholen.“

Gero hatte den Ofen geöffnet, um die Pizza in mehrere Stücke zu schneiden. Lächelnd sah er sich um.

„Kann man mich mit meinen einundzwanzig Jahren noch Junge nennen?“

Francis überlegte nur kurz, doch dann bestätigte sie die Frage. Gero sah in der Tat noch genauso jung aus, wie damals, als er mit seinen neunzehn Jahren die Bekanntschaft mit Neal gemacht hatte. Seine Haut war glatt und rein, seine Gesichtszüge makellos. Auch seine Figur glich der eines groß gewachsenen Jungen.

„War es anstrengend in der Firma?“, fragte er, während sie aßen.

Francis nickte. Ihr feines Gesicht mit den grünen Augen und dem sinnlichen Mund, der meist roten Lippenstift trug, sah tatsächlich übermüdet aus. „Ich hatte einiges zu regeln. Immerhin war ich zwei Monate nicht da.“

Was sie sagte, gefiel Gero gar nicht. Mit einem Mal schien er besorgt.

„Willst du nicht etwas kürzer treten mit der Arbeit?“ Er deutete auf ihren Babybauch. „Lange ist es nicht mehr, bis zur Entbindung.“

Francis’ Stirn legte sich in Falten, aber nur kurz. Sie hatte anscheinend noch nicht daran gedacht, in Zukunft weniger zu arbeiten.

„Stichtag ist in 10 Wochen“, erklärte sie.

„Das ist nicht mehr lange.“ Gero sah sie ernst an. „Du solltest dich weiterhin schonen. Oder wenigstens eine Putzfrau oder ein Kindermädchen einstellen.“

Francis überlegte. Sollte sie wirklich so tun, als sei sie krank?

Etwas Ablenkung tat ihr doch gut. Und geschont hatte sie sich bei Jarvis genug.

„Eigentlich möchte ich keine fremden Leute in meiner Wohnung, und die Firma braucht mich“, gestand sie. „Wenn ich weg bin, läuft einiges anders. Das will ich nicht.“

Sie musste wieder an den Designer aus Amerika denken. Was hatte sich ihr Vater dabei gedacht?

„Ich find es trotzdem nicht gut, dass du da ständig hingehst“, konterte Gero. Er verteilte noch weitere Pizzastücke, und Francis staunte immer mehr.

„Du machst dir tatsächlich Sorgen?“

„Klar!“ Gero nickte eifrig. „Außerdem hat Neal immer gesagt, ich soll mich so verhalten, als wäre es auch mein Kind. Wir wollten eine Familie sein.“

Als sie das hörte, senkte Francis ihr Besteck und ihren Kopf.

„Ja, was wir nicht alles wollten.“

Eine Geste, die in Gero sofortige Beklemmung hervorrief.

„Tut mir leid, wenn ich dich an Neal erinnert habe.“ Er drückte ihre Hand fest.

„Macht nichts.“ Sie versuchte, zu lächeln, was ihr sichtlich nicht glückte.

„Du liebst ihn noch, nicht wahr?“, fragte Gero sogleich.

Francis nickte. Sie wusste, dass es unglaublich klang, nach all dem, was passiert und Neal sich geleistet hatte. Aber die Gefühle für ihn konnte sie nicht abstellen.

„Ich hätte nie gedacht, dass alles einmal so enden würde.“

Sie fuhr sich über die Augen. Natürlich wusste sie seit Jahren, dass sie sich mit der innigen Beziehung zu ihrem Bruder auf dünnem Eis befand. Es gab immer merkwürdige Blicke, die Angst, das Wissen über ihre Geschwisterliebe könnte an die Öffentlichkeit gelangen. Es war nie einfach gewesen, diese Liebe gedankenlos zu leben, trotzdem hätte sie es nie für möglich gehalten, dass der Kontakt zu Neal einmal aus ganz anderen Gründen enden würde.

Gero bemerkte sofort ihr trauriges Gesicht, und um die Stimmung etwas aufzumuntern, erklärte er plötzlich munter: „Jetzt, wo du wieder da bist, fällt es mir viel leichter, hier, in deiner Wohnung zu sein. Und mein Psychiater sagt, ich soll bewusst die Stellen aufsuchen, die mich an Neal erinnern. So kann ich die Vergangenheit am ehesten verarbeiten und feststellen, ob ich klarkomme.“

Das klang einleuchtend. Und Francis konnte auch wieder lächeln.

„Ist er nett, dein Psychiater?“

Da wurden Geros Augen weit. „Ja, aber …“ Er sah sie prüfend an und hob abwertend die Hände. „Oh, nein, was Männer angeht, halte ich mich erstmal zurück. – Es tut noch weh, wenn ich an die Erfahrung mit Neal denke. So kann ich keine neue Beziehung anfangen. Und außerdem …“ Wieder fasste er nach ihrer Hand. „Das Baby geht vor … und mein Studium.“

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Francis trat heraus. Zielstrebig ging sie den langen Flur entlang, bis sie am Appartement angekommen war. Als sie klingeln wollte, bemerkte sie, dass die Tür angelehnt war, und sie in die Räumlichkeiten hineinsehen konnte.

„Hallo?“, rief sie, und schon im nächsten Moment jagte ein Schreck durch ihren Körper. Das Appartement war leer. Kein einziges Möbelstück befand sich in den Räumen. Lediglich eine Putzfrau stand im Wohnzimmer und feudelte den Parkettboden. Neugierig sah sie Francis an.

„Was wollen?“

Francis zögerte einen Augenblick. Noch immer sah sie sich perplex um.

„Nun, ich wollte eigentlich zu Herrn Martens. Der wohnt doch hier. So ein großer, schlanker Mann“, versuchte sie zu erklären, denn die Putzfrau schien nicht genau zu verstehen, wonach sie suchte.

„Hier nix Mann“, kam zur Antwort. Francis schüttelte den Kopf.

„Aber das kann doch nicht sein!“ Fassungslos sah sie sich weiter um, aber das Appartement war tatsächlich komplett leer geräumt. „Ist er umgezogen? Wo sind denn die ganzen Möbel?“

Die Putzfrau zuckte mit den Schultern. „Ich nix wissen.“

Am Abend entspannte sich Francis auf dem Sofa. Nicholas war im Bett, sodass sie genüsslich die Füße hochlegen und Musik hören konnte. Sie bemerkte Gero erst, als der vor ihr stand und sie fragend ansah.

„Du hörst Neals CD?“

Francis richtete sich etwas auf. In der linken Hand hielt sie die aktuellste CD von den Drowners. Neben ihr, auf dem Sofa, lagen aufgeklappte Fotoalben – mit Bildern von Neal.

„Ja.“ Sie seufzte tief, was unzufrieden klang. „Wir hätten Neal öfter sagen sollen, wie gut die neuen Stücke geworden sind.“

Sie drückte die CD-Hülle an sich. Als Gero näher kam, bemerkte er auch Fotos von Neal in ihrer Hand und ihre roten Augen.

„Hast du geweint?“, fragte er sogleich.

„Es geht schon wieder“, antwortete sie, während sie die CD-Hülle und die Fotos auf den Wohnzimmertisch legte und die Stereoanlage ausstellte. „So, genug, sonst werde ich melancholisch.“ Sie versuchte, zu lächeln.

Gero verstand ihr Verhalten jedoch. Er musste sich eingestehen, dass ihm ganz komisch wurde, als er die Fotos von Neal betrachtete, die jenen in jungen Jahren, offensichtlich zu einer glücklichen Zeit, zeigten.

„Ist doch in Ordnung, wenn du traurig bist. Man darf den Frust nicht in sich hineinfressen, das habe ich bei mir selbst bemerkt.“

„Sicher, du hast recht“, sagte Francis. Sie setzte sich aufrecht hin. „Ich muss bloß immer daran denken, was passiert wäre, wäre ich nicht zu Jarvis gefahren. Vielleicht wäre Neal dann noch hier?“

Unschlüssig sah sie Gero an, der schüttelte aber sofort den Kopf.

„Das ist Blödsinn! Red dir bloß nicht ein, dass du an seinem Verschwinden schuld bist… Außerdem habe ich mich erkundigt: Es gibt jährlich 6 000 vermisste Menschen zu verzeichnen, von denen die Hälfte innerhalb der ersten Wochen wieder auftaucht. Der Anteil der Personen, die länger als ein Jahr vermisst werden, bewegt sich bei nur 3%.“

Francis verzog das Gesicht. Diese Tatsachen beruhigten sie nicht. Sie konnte nicht aufhören, sich Vorwürfe zu machen.

Und die Ungewissheit darüber, ob Neal jemals wiederkommen würde, machte sie bedrückt. Zudem quälte sie der Gedanke, dass sie nicht wusste, was in ihrer Abwesenheit vorgefallen war.

„Aber was ist denn bloß geschehen?“, fragte sie verzweifelt.

„Wo ist Neal? Und Ralph? – Ich war heute bei Dirk, der ist auch nicht mehr da.“

Als sie das erzählte, musste Gero kräftig schlucken.

„Du warst bei Dirk?“ Es klang entsetzt.

„Na ja, ich dachte, er könnte uns sagen, wo Neal ist.“

Diesen Gedanken teilte Gero nicht. „Sei froh, dass Dirk weg ist. Der hat doch überall nur Unruhe verbreitet und alles nur schlimmer gemacht.“

Unzufrieden dachte er an Neals Ex-Freund, der stets betonte, helfen zu wollen und eigentlich nur noch mehr Chaos geschaffen hatte, oder?

Francis seufzte. Vielleicht hatte Gero recht?

Schon am nächsten Nachmittag versuchte sie sich abzulenken. Gero hatte sie von der Firma abgeholt und zusammen schlenderten sie durch die Fußgängerzone. In einem Geschäft für Babysachen blieben sie eine ganze Weile, um sich diverse Säuglingsartikel anzusehen.

„Was hältst du davon?“, fragte Gero, während er einen rosafarbenen Strampelanzug hochhielt. Francis schüttelte sofort den Kopf.

„Such lieber etwas Dunkles heraus.“

Gero senkte die Hand mit dem Strampler. Ihm machte es großen Spaß die vielen, kleinen Babysachen anzusehen und das Passende herauszusuchen. Hatte er doch noch nie zuvor Derartiges getan.

„Und wenn es ein Mädchen wird?“, gab er zu denken.

„Es wird wieder ein Junge, vermutet meine Ärztin, und Neal hatte es ja auch schon geahnt“, erwiderte sie.

Da kam Gero näher. „Wirklich?“ Von diesen Gegebenheiten hatte er bis dato noch nichts gehört. „Er hat sich viele Gedanken gemacht um das Kind, oder?“

Francis nickte. Mit einem Mal sah sie wieder traurig aus.

„Ja. – Nur am Ende hat es ihn kaum noch interessiert, da hatte er nur noch sein Heroin im Kopf.“

Planlos wühlte sie in einem anderen Ständer mit Babywäsche herum, doch dann stoppte sie.

„Ich glaube, ich kann das heute nicht. Lass uns die Babysachen ein andermal aussuchen, ja?“

Bittend sah sie Gero an.

„Natürlich“, sagte der, als er ihre wässrigen Augen bemerkte.

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass es dich so mitnimmt.“ Er nahm sie in den Arm.

„Es ist so viel Schlimmes passiert“, erwiderte sie und schluchzte hörbar auf. „Ich kann das noch gar nicht begreifen.“

Gero begleitete sie aus dem Geschäft. Davor atmete sie tief durch.

„Du darfst dich nicht immer so aufregen“, sprach er. „Am besten holen wir Nicki vom Hort ab und machen uns einen gemütlichen Abend. Du schonst dich, auch morgen … Du gehst erstmal nicht mehr in die Firma.“

Thilo wirkte auch betroffen, als er von dem Ereignis am Nachmittag erfuhr. Er saß in der WG-Küche und lernte für sein Musikstudium, als er Gero anvertraute:

„Sie tut mir wahnsinnig leid. Ich könnte jedes Mal ausrasten vor Wut, wenn ich an ihre Lage denke.“

Gero nickte. „Sie hat es wirklich nicht leicht.“

„Ich habe immer gesagt, dass das nicht funktionieren kann“, fügte Thilo hinzu. „Das konnte gar nicht gutgehen mit den beiden. – Das mit Nicholas war schon Wahnsinn, und nun noch ein Kind?“ Er seufzte, als er an die verbotene Liebe seiner Freunde dachte. Geschwisterliebe – gab es das nicht nur in schlechten Filmen? „Und dann macht sich Neal einfach aus dem Staub. Das ist eine Schweinerei.“

Gero sagte nichts, aber er dachte dasselbe, wie sein Mitbewohner.

„Ich sage dir“, sprach Thilo weiter, „sollte Neal wieder auftauchen, bekommt der was zu hören von mir!“

Am nächsten Abend, als Gero wie gewohnt nach Francis sah, hörte er sie aufgeregt telefonieren.

„Ja? ... Nein, nicht Andresen. Anderson! ... Haben Sie nicht?

Gut, vielen Dank.“ Sie legte auf und seufzte laut. Auf ihrem Schoß lag ein Telefonbuch, welches sie genervt zuklappte.

„Was machst du?“, fragte Gero und trat näher.

„Ich habe in allen Kliniken der Umgebung angerufen, wenn es die Polizei schon nicht für nötig hält. – Aber Neal ist nirgends.“

Es klang ängstlich, und sie sah noch immer mitgenommen aus.

„Vielleicht hatte er einen Unfall oder wurde eingewiesen wegen der Drogensache …“

„So schnell gibst du nicht auf, was?“ Gero setzte sich zu ihr.

Francis schüttelte den Kopf.

„Was soll ich denn tun? Er ist mein Bruder und Vater meiner Kinder. Und meine Eltern, die von seinem Drogenkonsum gar nichts wissen, machen sich auch große Sorgen, und die Polizei unternimmt nichts. – Da kann ich doch nicht tatenlos herumsitzen.“

„Verstehe“, sagte Gero knapp.

„Machst du dir denn gar keine Gedanken?“, wollte Francis wissen und sah Gero gespannt an.

„Ich … will nicht darüber reden“, erwiderte der und wich ihrem Blick aus. Noch immer fiel es ihm schwer, über seinen Ex-Freund zu sprechen oder an ihn zu denken. Nicht ohne Grund hatte er sich von ihm getrennt.

Für einen Moment herrschte absolute Stille zwischen ihnen, bis Gero den Sichtkontakt wieder aufnahm. „Und? Wie war dein Tag?“, fragte er, um bewusst das Thema zu wechseln.

Sie zuckte mit den Schultern. „Eigentlich ganz gut. In der Firma läuft alles bestens.“

Gero stutzte. „Du warst Arbeiten?“ Er war sichtlich empört.

„Du solltest doch heute ausspannen!“, erinnerte er an ihr Abkommen. Dass Francis sich wieder nicht geschont hatte, machte ihn fast wütend. „Das geht wirklich nicht.“

Er nahm ihre Hand, um sie vom Sofa hochzuziehen.

„Du legst dich sofort ordentlich hin, und ich mache uns einen Tee.“

Kurze Zeit später kam Gero mit dem Tee ins Schlafzimmer, um sich zu Francis ans Bett zu setzen.

„Das wird dir guttun“, sagte er, dann schenkte er eine Tasse voll ein. Das Getränk war noch zu heiß, um es trinken zu können, deswegen stellte er die Tasse erst einmal wieder ab.

„Hättest du eigentlich was dagegen, wenn ich jetzt mitkomme zu den Frauenarztterminen?“, fragte er beiläufig.

Als sie diese Frage vernahm, erhellte sich ihr Gesicht.

„Nein. Ich würde es sogar sehr schön finden.“ Dankbar sah sie Gero an. „Du bist so fürsorglich. Ich weiß gar nicht, wie ich dir dafür danken soll.“

Er senkte den Kopf und wirkte mit einem Mal verlegen.

„Ich hab dich eben lieb, sehr sogar“, sagte er.

Francis staunte. „Wirklich?“ Sein Geständnis überraschte sie, obwohl sie längst bemerkt hatte, dass ihm viel an ihr lag. Und sie fühlte ebenso.

„Als du plötzlich nicht mehr da warst, nicht mehr in die Klinik gekommen bist, um mich zu besuchen“, erklärte Gero weiter, „da ist mir aufgefallen, wie sehr du mir fehlst.“

Er hob seinen Kopf, um ihr direkt in die grünen Augen zu sehen. Meist waren ihre Lider ebenso grün geschminkt, und ihr tiefbraunes Haar und ihre helle Haut dazu, erinnerten Gero stets an eine Prinzessin aus einem Märchenbuch.

„Ich habe mir unheimliche Sorgen gemacht. Und nun bin ich froh, dass du wieder da bist. – Ich brauche dich.“

Im nächsten Moment kam er näher. Mit seinen Händen fuhr er Francis über die Wangen, dann küsste er ihre Stirn.

„Ich brauche dich“, wiederholte er seine Worte, diesmal flüsternd. „Du darfst nie wieder so lange weggehen. Lass mich nie mehr allein“, bat er und schloss sie fest in seine Arme. „Ich brauche dich.“

Francis erwiderte die Umarmung. Sanft strich sie ihm über den Rücken. „Ich brauche dich auch“, gestand sie seufzend.

„Und ich werde dich nicht mehr allein lassen, wirklich nicht.“

Gero schwieg einen Moment, dann schien er sich zu fangen. Er ließ sie los, wurde sich augenblicklich bewusst, wie ungewöhnlich nah er ihr gekommen war. Fast reumütig sah er sie an.

„Tut mir leid. Es kam so über mich …“

Er erhob sich, konnte Francis aber nicht weiter in die Augen blicken.

„Ist in Ordnung, du musst dich nicht entschuldigen“, sagte sie.

„Nein, es tut mir leid. Echt. Wird nicht wieder vorkommen.“

Mit ernster Miene verließ er das Schlafzimmer.

Zwei Tage waren nach dem Ereignis vergangen, und Francis hatte nichts mehr von Gero gehört noch gesehen.

So entschloss sie sich, an einem schönen Nachmittag Neals Hunde aus der WG zu holen, um einen Spaziergang zu machen.

Thilo war sichtlich erfreut, als sie die Hunde abholte.

„Nimm sie bloß mit. Diese Tölen gehen mir mächtig auf den Keks“, gab er zu verstehen. „Es ist viel zu eng hier für diese großen Tiere. – Und mich hat niemand gefragt, ob ich die Kläffer haben will.“

Man merkte, wie sich erneute Wut in Thilo aufbaute. „Es ist eine Frechheit von Neal, die Tiere hier herzubringen, in der Annahme, wir kümmern uns …“

Francis, die sich über Thilos emotionalen Ausbruch eher belustigte, nahm ihren Bruder abermals in Schutz. „Er wird schon seine Gründe gehabt haben.“

Kurz darauf sah sie in Geros Zimmer. Er saß am Schreibtisch und las. Als er Francis bemerkte, schoss eine Röte in sein Gesicht. „Äh, hallo.“

Es klang unsicher, und sie trat näher. Es war längst an der Zeit, die Situation zwischen ihnen zu klären.

„Findest du das in Ordnung, dass du mir erst deine Gefühle offenbarst und dann die große Funkstille einsetzt?“

Sofort sah Gero zu Boden.

„Du hast ja recht“, begann er, „aber ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll.“ Er schüttelte den Kopf. „Das mit Neal ist noch so frisch. Ich will nicht noch einmal enttäuscht werden.“

Als Francis das hörte, verstand sie, warum sich Gero so merkwürdig verhielt. Sofort versuchte sie, ihn zu beruhigen.

„Wieso sollte ich dich enttäuschen?“, entgegnete sie. „Ich bin ebenso gefrustet, wie du. Und ich bin ebenso verletzt worden.“ Sie sah zu Boden und fügte leise hinzu: „Wir sind doch sonst auch miteinander klargekommen, wieso nun nicht mehr?“

Gero erhob sich.

Bevor er etwas dazu sagen konnte, sprach Francis weiter.

„Es bedeutet mir viel, dass du so für mich empfindest. Und ich brauche dich. Lass uns das nicht zerstören.“

Sie sah ihn flehend an, und schon war er da, um sie zu umarmen.

„Mein Verhalten war falsch, entschuldige“, sagte er. Kurz schloss er die Augen. Es tat so gut, sie zu berühren und zu wissen, dass sie immer für ihn da sein würde. Er brauchte jemanden, dem er sich anvertrauen konnte, jemanden, der ihn verstand. Er brauchte sie!

Als er sich wieder löste, deutete er auf die Hunde, die neugierig in sein Zimmer sahen. „Du wolltest Gassi gehen? Kann ich mitkommen?“

Francis nickte lächelnd, da anscheinend alles zwischen ihnen geklärt war.

„Gern. – Ich wollte allerdings noch einmal an Neals Haus vorbeigehen. Vielleicht haben wir doch etwas übersehen.“

Wenig später standen sie draußen, um den Weg zum Park einzuschlagen. Es war winterlich kalt. Nur den Hunden schienen die Temperaturen nichts auszumachen. Sie rannten erfreut vorweg und genossen den Auslauf.

Francis und Gero gingen stillschweigend nebeneinander her, bis Gero plötzlich stehenblieb.

„Oh, nein…“, entwich es ihm, und Francis reagierte sofort.

„Was ist?“

Gero sah geradeaus, dann deutete er nach vorne. „Die Bank …“, begann er. „An die hab ich ja gar nicht gedacht.“ Er schloss kurz die Augen, als wollte er nichts mehr um sich herum sehen und auch nicht weitergehen.

„Sollen wir einen anderen Weg nehmen?“, fragte Francis besorgt, doch Gero schüttelte den Kopf.

„Nein, da muss ich jetzt durch.“

Zielstrebig folgten sie dem Fußweg, bis sie schließlich vor der Bank stehenblieben.

Wie hypnotisiert sah Gero auf die Sitzgelegenheit und schien in Gedanken zu versinken. Hier hatte er Neal richtig kennengelernt.

Hier begann ihre Lovestory und auch irgendwie das ganze Drama, das ihre Liebe mit sich gezogen hatte.

„Da ist ein N + G eingeschnitzt. Wart ihr das?“, wollte Francis wissen. Gero nickte.

„Das hat Neal gemacht.“ Seine Stimme wurde leiser. Er schien sich die Vergangenheit sichtlich vorzustellen, doch sagte er nichts mehr dazu. Sie nahmen den Weg wieder auf.

„Na, so ganz scheinst du über die Sache noch nicht hinweg zu sein, oder?“, fragte Francis kurz darauf. Inzwischen hatte sie sich bei Gero eingehakt und genoss seine wärmende Nähe.

„Es geht schon.“ Er versuchte, zu lächeln.

Als sie bei Neals Villa angekommen waren, sahen sie auf einen verwilderten Rasen und einen prall gefüllten Briefkasten. Der Porsche stand in der Einfahrt, war jedoch von einer Staubschicht bedeckt, was signalisierte, dass der Wagen seit Monaten nicht mehr benutzt worden war.

„Habt ihr denn nie vorbeigeschaut?“, erkundigte sich Francis, als sie das verwahrloste Anwesen betrachtete.

„Thilo war ein paar Mal hier, aber wir hatten weder Schlüssel für den Briefkasten, noch für den Wagen.“

Francis seufzte. Sie wusste, wo Ralph, der Butler, die Schlüssel aufbewahrte. Zum Glück hatten sie den Schlüssel zum Haus, sodass sie problemlos eintreten konnten. Die Hunde blieben im Garten und tollten umher.

„Die Blumen sind alle verwelkt“, stellte sie unzufrieden fest, als sie sich umsah. Dann blickte sie Gero auffordernd an. „Sieh doch bitte mal oben nach. Vielleicht ist da irgendwas, was uns weiterhelfen könnte. Ein Hinweis oder eine Nachricht.“

Er tat, was sie sagte und verschwand in der oberen Etage. Inzwischen holte Francis die Schlüssel aus Ralphs Zimmer. Danach hörte sie den Anrufbeantworter ab, der auffällig viele Meldungen gespeichert hatte.

„Hi, hier ist Sam“, erklang es als Erstes. „Alles gut überstanden? Melde dich mal bei mir.“ –

Die nachfolgende Nachricht kam wieder von Sam: „Ich bin’s. Ruf mich zurück, wenn du da bist.“ – Schließlich ertönte eine Stimme auf Englisch: „Hi, here’s Matt. What’s wrong with you? Call me back, please.“ –

Dann hörte sie die Stimme ihres Vaters: „Neal, wir machen uns große Sorgen. Bitte melde dich, sobald du kannst.“ –

Danach folgte erneut eine Nachricht von Sam: „Mensch, wo steckst du denn? Ruf mich doch mal an. Oder schalte wenigstens dein Handy ein!“

- Die letzte Nachricht kam noch einmal von Matt, dem Bassisten der „Drowners“: „We are waiting for a message from you. It’s very importend. Please call us as soon as possible.“

Weitere Anrufe waren nicht eingegangen. Francis verharrte einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen, da kam auch Gero wieder ins Erdgeschoss.

„Und?“, wollte sie sofort wissen. „Hast du was finden können?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nichts Auffälliges, bis auf die Tageszeitung vom 10. September. War das nicht der Tag, an dem du abgereist bist?“

Francis musste nicht lange überlegen. Sie konnte sich zu gut an das Datum erinnern, an dem sie zu ihrem Bruder Jarvis nach Bristol gefahren war. Sie nickte.

„Ja, das stimmt.“ Ihre Stirn legte sich in Falten. Es hatte ein ganzer Haufen Zeitungen in der Einfahrt gelegen. Der Zusteller hatte sie anscheinend durch den Metallzaun gesteckt, da der Briefkasten mit Briefen zugestopft war.

Gero schluckte. „Dann bedeutet das, dass er nach dem 10. September nicht mehr hier zu Hause gewesen war?“

„Es sieht so aus“, antwortete Francis und erklärte: „Er war an dem Nachmittag bei mir in der Wohnung gewesen. Wir hatten uns gestritten, ziemlich heftig sogar.“ Sie sah nach unten. „Und dann bin ich abgereist.“

Jetzt wurde auch Gero nachdenklich. Allmählich fügte sich das Puzzle zusammen. „Also scheint er an demselben Tag verschwunden zu sein, an dem du abgereist bist. – Aber wieso bloß?“

Fragend sah er Francis an, die ganz verzweifelt aussah. „Ich weiß es nicht, aber allmählich mache ich mir wirklich Vorwürfe.“

Sie drehte sich und verschwand in der Küche, um dort ein wenig Wasser zu trinken. Der Druck, die Aufregung, alles wovor sie geflohen war, schien sie wieder einzuholen.

„Meinst du, er ist wegen des Streites abgehauen?“, fragte Gero, der gefolgt war.

„Vielleicht“, erwiderte sie.

„Ob er sich was angetan hat?“, überlegte Gero laut.

„Das wäre auch möglich.“ Francis klang traurig. „Ich hab keine Ahnung, aber irgendwas muss vorgefallen sein. Irgendwas Schlimmes. Ich kann mir das alles sonst nicht erklären.“

„Komisch find ich das auch.“ Gero sah sich um, doch Neals Haus lieferte keine weiteren Hinweise über seinen Verbleib.

„Er hat sich bei niemandem gemeldet“, erklärte Francis.

„Der Anrufbeantworter hat Nachrichten von Sam, seiner Band und meinem Vater – er hat nicht zurückgerufen. Und sein Handy ist ausgeschaltet.“

Sie seufzte. Derzeit schienen sie keine Antwort auf all ihre Fragen zu finden. Sie reichte Gero den Autoschlüssel.

„Fahr bitte den Porsche in die Garage. Ich kümmere mich um die Blumen und die Post.“

Ihr Blick wanderte nach draußen, auf die Terrasse und auf den Pool, der zur Hälfte mit verdrecktem Wasser gefüllt war, und auf dem unzählige Blätter schwammen.

Als hätte Gero ihren Blick verfolgt, sagte er: „Weißt du noch, als Neal im Frühling so einen Aufstand wegen des Pools gemacht und mir verboten hatte, bei der Gartenarbeit zu helfen? – Mir kommt es so vor, als ob es erst gestern war …“

Danach machten sie einen Abstecher in die Stadt. Francis war endlich bereit, ein paar Babysachen zu kaufen. Auch Gero gab etwas Geld für neue Kleidung aus. Als sie auf dem Heimweg waren, verkündete er schließlich, was es mit seinen Neuanschaffungen auf sich hat.

„Stell dir vor, heute Abend habe ich ein Date mit Theo.“

„Echt?“ Francis staunte. „Das freut mich für dich.“

Sie hakte ihn wieder ein, so wie sie es meistens tat, wenn sie zu Fuß unterwegs waren. Dass Gero einen Mann treffen wollte, beunruhigte sie tatsächlich nicht. Sie konnte damit umgehen. Sie wusste, dass Gero tief in seinem Inneren schwul war und die Beziehung zu einer Frau ihm nicht alles geben konnte. Sie hatte gelernt, so eine Situation zu akzeptieren, denn das musste sie in ihrer Bindung zu Neal ebenfalls.

„Es macht dir nichts aus?“, hörte sie Gero dennoch fragen.

„Nein“, erwiderte sie. „Im Gegenteil. Ich finde es schön, dass du dich wieder verabreden kannst – mit einem Mann. Und Theo ist wirklich nett.“

Trotz ihrer Aussage blieb Gero skeptisch. „Ich möchte dennoch nichts überstürzen. Ich möchte nur mal wieder unter Leute kommen und versuchen, mich zu amüsieren.“

„Lass dir Zeit“, sagte Francis. „Damit wirst du nichts falsch machen.“ Sie schlenderten weiter und bestaunten die Weihnachtsdekorationen in den Schaufenstern. „Puh, nur noch vier Wochen bis Heiligabend“, stellte sie fest. Bevor sie weitersprechen konnte, blieb sie stehen. Ihr Gesicht wurde ernst.

„Das gibt’s ja nicht!“, rief sie erschüttert. Zügig ging sie ein paar Schritte vor, bis sie vor einem Mann wieder anhielt.

„Wo ist er?“, fragte sie diesen, und ihre Stimme klang keineswegs freundlich.

Der Mann, vor dem sie Halt gemacht hatte, schüttelte den Kopf. „Was soll das? Was wollen Sie?“

„Tu nicht so blöd!“, erwiderte Francis. Wütend riss sie dem Mann die Sonnenbrille vom Gesicht. Und nun erkannte auch Gero den Mann. Es war Sam, Neals Dealer!

„Hey, was soll das?“, rief der aufgebracht. „Was ist, wenn mich jemand erkennt? Du spinnst wohl!“ Im nächsten Moment hatte er die Sonnenbrille wieder an sich genommen und aufgesetzt. Sein Kommentar war Francis egal.

„Sollen sie dich doch erkennen!“, fauchte sie. „Das würde dir recht geschehen! Du Dreckskerl!“, schrie sie. „Und nun erzähl uns mal, wo Neal steckt!“

„Neal?“, wiederholte Sam. Er zuckte mit den Schultern.

„Woher soll ich das wissen?“

„Lüg mich doch nicht an!“, keifte Francis weiter. „Du weißt genau, wo er steckt.“

Sam schüttelte den Kopf. „Nein! Ich weiß es nicht!“, beteuerte er. „Ich habe ja auch schon versucht, ihn zu erreichen, aber …“

„Du lügst!“ Sie geriet außer sich. Sie wollte nicht wahrhaben, dass Neals Dealer nichts vom Verschwinden ihres Bruders wusste. „Wo ist er?“, fragte sie und schien dabei regelrecht hysterisch. „Was hast du mit ihm gemacht?“

„Nichts!“, konterte Sam. „Ich hab nichts gemacht, und ich weiß auch nichts!“

Da schritt Gero ein. „Er scheint die Wahrheit zu sagen“, sprach er und blickte Sam prüfend an. „Du weißt echt nicht, was passiert ist? Ich meine, Neal ist verschwunden. Wir wissen nicht, wo er abgeblieben ist …“

Wieder schüttelte Sam den Kopf. Seine Stimme klang ehrlich.

„Ich kann euch nichts sagen, so sehr ich auch wollte … Ich mache mir selbst Sorgen“, gestand er. Er sah sich vorsichtig um. Anscheinend plagte ihn immer noch die Angst, wegen seiner Drogengeschäfte von der Polizei geschnappt zu werden.

„Wie lange hast du ihn denn nicht mehr gesehen?“, fragte Francis.

Sam grübelte. „Keine Ahnung. Mehrere Wochen waren es bestimmt …“

„Und er hat sich nicht bei dir gemeldet?“, forschte Gero weiter nach. „Auch nicht wegen Drogen oder so?“

Abermals Kopfschütteln. „Nein. – Es ist schon lange her, dass ich ihm was beschaffen musste. Da habe ich ihm reichlich Heroin besorgt, das weiß ich noch … Aber danach hat er sich nicht mehr gemeldet.“

„Verdammte Scheiße!“, entwich es Gero. Unzufrieden verzog er das Gesicht. Auch Francis wurde immer nachdenklicher.

„Wann war das, als du ihm so viel Heroin besorgen musstest? War es zufällig am 10. September?“

Sam wand sich. „Ach, ich weiß nicht mehr. Kann schon möglich sein.“

Francis senkte den Kopf. „Langsam wird mir einiges klar“, sagte sie leise.

„Wird er denn seit dem 10. September vermisst?“, startete Sam eine Gegenfrage. Gero nickte.

„Vermutlich…“

„Oh, das ist echt nicht gut“, fluchte Sam. „Ich mochte ihn, wirklich … aber dass das so enden musste.“

„Was meinst du?“, rief Francis entsetzt, dabei wusste sie zu gut, woraufhin Sam anspielte. Sie wollte es bloß nicht wahrhaben, nicht daran denken, es nicht in Erwägung ziehen.

„Wenn ihr mich fragt“, erwiderte Sam, „ist er hops gegangen … Er war nicht das blühende Leben, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Dabei habe ich ihn immer gewarnt … Heroin ist ein Todesurteil. Damit spielt man nicht.“

Er schüttelte den Kopf, griff in seine Jacke, um Zigaretten herauszuziehen, drehte sich um und ging.

„Hey, warte!“, rief Francis, aber Gero hielt sie davon ab, ihm nachzurennen.

„Lass ihn“, sagte er. „Er hat uns doch erzählt, was wir wissen wollten.“

Nur Thilo schien an diesem Tag gut gelaunt. Als Gero und Francis die WG Küche betraten und die Einkäufe ablegten, wedelte er mit einem Brief in der Luft herum.

„Stellt euch vor: Lucy kommt zurück!“ Thilo strahlte über das ganze Gesicht. „Sie hat mir heute geschrieben. Und ich habe gleich drauf geantwortet.“ Er griff seine Lederjacke.

Und bevor Francis und Gero etwas dazu sagen konnten, war er schon verschwunden – zur Post.

„Lucy?“ Geros Stirn legte sich in Falten. „Wer ist das denn?“

„Seine ehemalige Freundin. Sie hat jahrelang in Indien gelebt und dort studiert“, erklärte Francis. Sie schmunzelte ein wenig. „Es freut mich für ihn. Nun hat er endlich mal Glück!“

Kapitel 2

Gero hatte sich überreden lassen. Von Anfang an hatte er sich nicht gut dabei gefühlt, doch Theo, der deutlich angetrunken war, ließ ihm keine Chance.

So landeten sie nach dem Kino- und Kneipenbesuch bei Theo zu Hause und tranken Wein, woraufhin Theo den letzten Rest seiner Hemmungen verlor.

Wild knutschten sie auf dem Sofa. Gero tat das eher aus Neugier. Er wollte wissen, wie es mit einem anderen Mann war. Wollte er es nicht schon immer wissen?

Vielleicht war er längst bereit für einen anderen Mann.

Vielleicht nicht für eine Beziehung, aber vielleicht für eine Affäre oder wenigstens für einen One-Night-Stand?

Er leerte sein Weinglas, trank sich Mut an, bevor er Theo ins Schlafzimmer folgte.

„Aber … nur mit Gummi, okay?“, bat er.

„Selbstverständlich.“ Theo nickte.

Sie machten kein Licht und kamen auf dem Bett gleich zur Sache. In wenigen Minuten war Gero nackt. Er spürte Theo auf sich, roch seinen alkoholisierten Atem. Doch er spürte weder Zärtlichkeit noch eine Erregung. War Theo doch der Falsche?

„Nicht so schnell“, bat er und versuchte, Theo von sich zu schieben, aber der war viel zu stürmisch. Er rieb sich an Gero, küsste ihn gierig und drängte sich an ihn.

Gero verkrampfte sich. Die Küsse konnte er schon längst nicht mehr genussvoll erwidern.

„Hast du kein Gleitgel?“, fragte er mit zitternder Stimme, als er Theos Härte an seinem Spalt bemerkte. Er hatte die Beine angewinkelt, im nächsten Moment lagen sie auf Theos Schultern auf. In dieser Position war Gero absolut wehrlos.

Er ächzte.

„Meins ist alle, tut mir leid“, erwiderte Theo. Mit Gewalt versuchte er, in Gero einzudringen, was nicht gelang, denn Gero verkrampfte sich immer mehr.

„Dann hör auf, bitte!“, gab er von sich. Theos Vorgehen schmerzte. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Doch Theo hörte nicht auf.

Gero verzog das Gesicht.

„Es tut weh, bitte hör auf!“, rief er, als Theo noch ruppiger vorging. Bevor er komplett in ihm versunken war, wehrte sich Gero.

„Ich kann das so nicht!“, gab er lauthals zu verstehen. Mit aller Kraft stemmte er Theo von sich, der daraufhin ebenso laut zurückschrie: „Hey, was soll das! Bist du bescheuert?“

Gero achtete nicht auf seine Worte. In Windeseile zog er sich an. Er wollte weg, nur noch weg!

„Was bist du denn für ein Weichei?“, schrie Theo ungehalten. „Ich dachte, du warst mit dem Anderson zusammen!? Hat der dich nicht ordentlich rangenommen, oder was?“

Mehr konnte und wollte Gero nicht hören. Er verließ Theos Wohnung, so schnell er konnte, und war heilfroh, dass er so gehandelt hatte.

In Francis’ Wohnung brannte noch Licht, sodass er keine Hemmungen hatte, sie zu so später Zeit zu besuchen.

Allerdings war sie erstaunt, als Gero in ihr Schlafzimmer trat.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie. „Ich denke, du bist mit Theo aus? – War es nicht gut?“

Gero kam an ihr Bett, setzte sich zu ihr. Zuerst nickte er.

„Doch, es war nett. Wir waren im Kino, in einer Kneipe und dann bei ihm.“

Francis hörte gespannt zu. Sie grinste. „Bei ihm? Seid ihr euch nähergekommen?“

Gero senkte den Blick. Ihm wurde übel, als er an das Erlebte dachte. Er konnte Francis kaum in die Augen sehen, als er berichtete: „Er wollte mit mir schlafen, doch ich konnte das irgendwie nicht. Es ging mir zu schnell … und er war so … grob.“

Sofort wurden ihre Gesichtszüge glatt. „Was?“

„Er war betrunken“, versuchte Gero zu erklären. „Und ich war nicht wirklich bereit.“

Sie setzte sich auf, fasste an seinen Arm. „Du hast doch hoffentlich nicht gegen deinen Willen mit ihm geschlafen?“

Er schüttelte den Kopf, woraufhin sie erleichtert aufatmete. „Nein, ich habe rechtzeitig die Notbremse gezogen“, berichtete er. „Trotzdem hätte ich gern drauf verzichtet.“ Er seufzte und klang unzufrieden, was sie gut verstehen konnte.

„Wenn es dich beruhigt“, sagte sie. „Mein Abend war auch nicht sonderlich ergiebig. Nicholas wollte wieder nicht schlafen, das Baby hat so lange gezappelt, bis mir schlecht wurde, und im Fernsehen gab es auch nichts Gescheites.“

Sie lachten, zur selben Zeit und sahen sich an.

„Willst du heute nicht hier schlafen?“, fragte sie daraufhin.

Gero schluckte. Sie sah ihm an, dass er nachdachte, wie er dieses Angebot deuten sollte. Aber ihre Bitte konnte er unmöglich abschlagen. Er fühlte sich wohl bei ihr, genoss ihre Wärme und Zuneigung. Zudem wollte er nach dem verkorksten Abend mit Theo nicht alleine sein.

„Ich bleibe gerne hier“, sagte er. Er strich über ihr glänzendes Haar, über ihre weiche Wange und erfreute sich an ihrem sanften Lächeln.

Im nächsten Moment stand er auf, verschwand im Bad, um sich zu erfrischen, dann kam er zurück und zog sich vor ihren Augen aus. In Shorts und T-Shirt kam er zu ihr ins Bett. Sofort dachte er an die Zeit, in der Neal in London gewesen war. Da hatte er auch oft bei ihr übernachtet – und sie waren sich sogar näher gekommen.

„Was wird Thilo bloß wieder denken, wenn ich hier schlafe?“, gab er von sich, aber im gleichen Moment lachte er über diese Vorstellung.

„Ist doch egal, was der denkt, oder?“, sagte Francis. Sie rückte dicht an ihn heran und sah zufrieden zu, wie er sich das T-Shirt auszog. Sofort legte sie ihre Hand auf seinen nackten Oberkörper, um ihn zu streicheln, und sie merkte, dass es ihm gefiel. Auch ihr kamen Gedanken an früher.

Vor nur wenigen Minuten war ihnen noch nicht bewusst gewesen, wie sich ihr Zusammensein entwickeln würde, aber als Gero ihre Berührungen erwiderte, war es beiden sofort klar. Sie sahen sich an und wussten, dass sie an dasselbe dachten.

Mit großen Augen fixierte er ihren Mund.

„Darf ich … dich küssen?“, fragte er mit leiser Stimme.

„Möchtest du es?“, erwiderte sie kess.

„Ja, das würde ich sehr schön finden“, antwortete er, und ehe er weitersprechen konnte, kam Francis ihm zuvor. Sie küssten sich zärtlich.

„Das ist wunderbar“, entwich es Gero. Er strich durch ihr Haar, küsste sie immer wieder, bis er tief in ihre Augen blickte und sagte: „Du glaubst gar nicht, wie viel du mir bedeutest.“

Sie erwiderte seine Feststellung mit einem weiteren gierigen Kuss.

Gero war längst erregt. Das Fiasko mit Theo hatte er erfolgreich verdrängt, jetzt spürte er Verlangen – aber nach ihr! Seine warme, forschende Hand fuhr unter ihr seidenes Nachthemd und schon wurde er unsicher, fast verlegen.

„Willst du auch?“, fragte er, zudem deutete er auf ihren Babybauch. „Magst du überhaupt noch?“

Sie nickte und zog ihn mit deutlichen Absichten zu sich heran …

Als Gero am nächsten Morgen zum Bäcker ging, fühlte er sich wie ausgewechselt. Er hatte die Nacht mit Francis genossen und konnte endlich mal wieder behaupten, glücklich zu sein.

Die Sache mit Theo hatte er vergessen, obwohl der sich früh am Morgen per SMS entschuldigt hatte. Es täte ihm alles schrecklich leid, schrieb er. Gero konnte demzufolge nicht nachtragend sein.

Ein erneutes Treffen lehnte er aber vorerst ab.

Beim Bäcker kaufte er Brötchen, auch für Nicholas, den er ein Stück auf dem Schulweg begleitete.

„Viel Spaß in der Schule“, sagte er, während er dem kleinen Jungen Brötchen und Kakao in den Schulranzen steckte. „Wahrscheinlich hole ich dich nachher ab. Francis soll sich heute mal etwas ausruhen.“

Nicholas nickte und ging den Rest des Wegs alleine. Gero sah ihm hinterher. Und obwohl der Junge eine immense Ähnlichkeit mit Neal hatte, hegte er Sympathien für das Kind.

Ja, und irgendwie fühlte er sich verantwortlich für Francis’ Sohn. Er nahm sich vor, auch für Francis’ neuen Nachwuchs da zu sein, so gut es ging.

Im Hausflur traf er Thilo, dem er am liebsten aus dem Weg gegangen wäre, denn dessen Fragen setzten sofort ein, als sie aufeinanderstießen.

„Hast du wieder bei Francis übernachtet?“

Gero seufzte. Er wollte nicht lügen, nicht wie damals, als Neal in London gewesen war, und er bei Francis Trost gesucht hatte. Er wollte ehrlich sein und sich der Situation stellen.

„Ja, ich war bei ihr.“

„Da läuft was zwischen euch, hab ich recht?“, fragte Thilo weiter.

Gero nickte. Und da Thilo sich überraschenderweise nicht aufregte, fand Gero den Mut, offen darüber zu reden.

„Wir ergänzen uns wunderbar. Und wir können uns trösten.“

Thilo hörte ruhig zu, schien zu tolerieren, was sich hinter seinem Rücken entwickelt hatte. Trotzdem machte er ein nachdenkliches Gesicht.

„Geht das denn so einfach bei dir?“ Er dämpfte seine Stimme. Immerhin standen sie im Hausflur und führten ein Gespräch unter Männern. „Du bist doch schwul …“

„Tja.“ Gero fuhr sich verlegen über die Stirn. Er musste sich selbst eingestehen, dass er erneut von seinen Fähigkeiten überrascht war. Und Thilo war ein guter Freund, mit dem er offen reden konnte.