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Norwegen - Anfang der 90er erfährt der Black Metal seinen Höhepunkt. Thor Fahlstrøm ist ein angesehener Mann in der Black Metal Szene. Im Metal-Club „Metaller“ kontrolliert er die Vorkommnisse einzelner Gruppierungen und in der Kneipe seines Großvaters hält er Sitzungen mit auserwählten Anhängern ab. Als Sänger strebt der junge Fahlstrøm mit vielen andere Musikern nach Erfolg, den sie sich durch Provokation und Ablehnung der Gesellschaft einheimsen. Thor lernt den Gleichgesinnten Magnus Eidsvag kennen, der von sich Reden macht, indem er sich auf der Bühne die Arme aufschneidet.Thor nimmt den lebensmüden jungen Mann bei sich auf, in der Annahme, ihm helfen zu können. Aber nicht nur die Musik und ihre gemeinsame Band schweißen sie zusammen, sondern Gefühle, die in der Szene nicht gern offengelegt werden. Ungeachtet dessen verstricken sich Thor und Magnus in ein handfestes Drama, das geprägt ist von einer Liebe, die nur ein Ziel vor Augen hat: den Tod. Dieser Roman ist ein Prequel zur Dylan & Thor-Romanreihe (dead soft Verlag), separat lesbar. TW: freizügige Szenen (m/m), Depression, Todessehnsucht, Paraphilie
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Magnus
von
Justin C. Skylark
Magnus
/ˈmɑŋ.nʉs/
„Magnus“ erzählt die Geschichte von
Thor Fahlstrøm und Magnus Eidsvag
1. Edition,
© 2023 J.C.Skylark, alle Rechte vorbehalten
Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
ISBN: 9798853924680
Imprint: Independently published
Coverdesign von: J. C. Skylark, Canva
Coverbild Rückseite: 123rf.com/ahmadfarhann
Anschrift:
Kätnersredder 6 b
24232 Schönkirchen
www.jcskylark.de
(„Magnus“ ist ein Prequel zur Dylan & Thor-Reihe, www.deadsoft.de)
Wer den anderen liebt, lässt ihn gelten,
so wie er ist,
so wie er gewesen ist –
und wie er sein wird.
Kapitel 1
Vor der geöffneten Tür des Gebäudes war das Gedränge dicht und nicht jeder Gast fand Einlass. An den Seiten wachten breitschultrige Ordner und hereingelassen wurden nur bekannte Gesichter oder Personen, bei denen man sich sicher sein konnte, dass sie keinen Streit anzettelten. Es kam oft zu Stress unter den Gruppen, zwischen den Bands und den dazugehörigen Fans; fast ausnahmslos Männer.
Thor Fahlstrøm musste sich nicht ausweisen und nichts sagen. Mit einem einzigen Fingerzeig wurde er hereingewinkt, vorbei an den drängelnden und pöbelnden Gästen.
Thor schenkte ihnen keine Beachtung. Die Leute, die ihn begleiteten, durften ebenfalls passieren.
Im Club war die Luft zum Schneiden dick. Unter den niedrigen Decken hingen Zigarettenrauch und der Qualm der Nebelmaschine.
Die Besucher dünsteten unterschiedlichste Gerüche aus. Thor roch Alkohol und Schweiß. Er gelangte zur Bar, wo ihm eine Bierflasche ausgehändigt wurde. Seine Anhänger schoben sich am Tresen entlang. Sie orderten Getränke und drosselten die Stimmen nicht. Es war laut. Es war Wochenende. Niemand war nüchtern. Sogar die Musiker auf der Bühne sangen eher gequält, als talentiert. Das Gebäude vibrierte unter dem Bass und den Drums. Thor verspürte die Klänge der Instrumente in jeder Faser seines Körpers.
Wenn er hier war, zweifelte er an dem Entschluss, an den Partys teilzunehmen. Er liebte das Alleinsein und die Ruhe. Von diesen Vorlieben war hier nichts zu spüren. Doch in diesen Zeiten war es von Bedeutung, Präsenz zu zeigen.
Die Black Metal-Bewegung war von Schweden über die Grenze geschwappt. Talentierte Bands sprossen aus dem Boden wie Pilze. Eine Unaufmerksamkeit und man war weg vom Fenster. Ein falsches Wort und man spürte das Messer im Rücken.
Thor war wachsam und immer auf der Hut. Er lebte für die Mission und die Message. Black Metal war Krieg und der begann in den Vororten von Oslo.
Er nippte am Bier und ließ den Blick schweifen. Jedes Gesicht im Raum fixierte er gründlich. Es war seine Gegend, sein Terrain.
In der Kneipe seines Großvaters, die nur wenige Kilometer entfernt lag, hatte er mit kleinen Sitzungen angefangen, die inzwischen zu Versammlungen ausgeartet waren.
Dass es einen Mann gab, der die Black Metal-Bewegung zur großen Sache werden ließ, der nicht verhehlte, andere Gesinnungen abzulehnen, der bereit war, dafür das Gesetz zu brechen, machte schnell die Runde.
Thor gewann in kürzester Zeit so viele Anhänger, dass er den Überblick verlor. Er musste hier sein, um die Lage zu prüfen, um zu symbolisieren, dass er verfolgte, was um ihn herum passierte.
Die Band auf der Bühne beendete ihren Auftritt. Das war eine Wohltat, wie er empfand. Die Akustik im Club klang katastrophal. Aber es war eine Kunst, die Stücke dumpf vorzutragen. Davon lebte der Black Metal. Man spie auf Kommerz und je schlechter die Präsentation, desto höher das Ansehen.
Wenn Thor mit seinen Leuten auftrat, brachte er jedoch sein eigenes Equipment mit. Er wollte nicht, dass seine raue, eindringliche Stimme durch die alten Mikrofone verfälscht wurde. Vielleicht war das einer der Gründe, warum man ihn verehrte. Fahlstrøm symbolisierte Perfektion. Er ließ keine Fehler zu. Wenn etwas nicht nach seinen Regeln lief, konnten zwei Dinge passieren: Entweder zog er sich zurück, ohne Kompromisse einzugehen, oder er startete den Gegenschlag. Und davor hatten die Leute Angst.
Nach Minuten, in denen nichts passierte, die Stimmen im Raum aufdringlicher wurden, traten neue Musiker auf die Bühne. Thor schenkte ihnen ein besonderes Augenmerk. Den Bassisten Dagfinn Olsen erkannte er im Licht der flackernden Scheinwerfer. Henrik Andersson saß hinter den Drums. Thor konnte behaupten, dass er beide Männer nicht mochte. In seinen Augen waren sie nicht begabt. Wo sie hinkamen, lenkten sie die Aufmerksamkeit auf sich, doch nicht durch ihre Musik, sondern durch ihr Verhalten. Selten waren sie nüchtern. Sie zählten zu den Leuten, die dem Black Metal seinen schlechten Ruf anhefteten. Sie tönten mit Frevel, aber Thor hörte aus ihren Worten nur den Wunsch nach Beachtung und dem höchsten Rang, den sie vermutlich niemals erreichen würden. Sie verhielten sich, als stünde ihnen die Welt offen.
Den Sänger der Band kannte er nicht. Sein bleiches Gesicht war von blonden, strähnigen Haaren verdeckt. Seine hagere Statur warf kaum einen Schatten, seine enge schwarze Jeans besaß Löcher und sein helles T-Shirt strotzte vor Schmutz. War das beabsichtigt?
Das monotone Pochen der Drums begann. Dagfinn zupfte im gleichen lähmenden Rhythmus den Bass. Der Sänger behielt den Kopf gesenkt. Das Mikrofon lag in seiner Hand, er presste es dicht an die Lippen, startete einen Sprechgesang, von dem man die Hälfte nicht verstand.
„Wer ist das auf der Bühne?“, fragte Thor, ohne den Blick vom Frontmann abzuwenden.
„Keine Ahnung“, erwiderte Fynn, sein treuer Begleiter. „Den habe ich noch nie gesehen.“
„Finde heraus, wer es ist.“
Fynn nickte und verschwand. Thor blieb achtsam. Es war nicht die Musik, die sich schwer einen Weg in sein Inneres erkämpfte, sondern der Mann, der auf der Bühne posierte, ins Mikrofon grölte und damit seine absolute Aufmerksamkeit erlangte.
Es dauerte keine zehn Minuten, da stand Fynn wieder neben ihm. „Der Typ heißt Magnus Eidsvag, kommt nicht von hier. Aber er ist jetzt fester Sänger bei Olsens Band Død.“
Thor nippte an der Bierflasche und nickte.
„Soll ich ihn auf die Liste setzen?“, fragte Fynn sogleich. Thor lehnte ab.
„Ich mach mir ein eigenes Bild von ihm.“ Kaum war die Entscheidung gefallen, folgten den Worten Taten. Mit gemächlichen Schritten bahnte er sich den Weg durch die Gäste. Wenige von ihnen verfolgten das Treiben auf der Bühne. Im Gegensatz zu Thor, dessen Blick zu einem regelrechten Starren übergegangen war. Er bemerkte sofort, dass die Darbietung der Band aus den Fugen geraten war. Anstatt den Bass zu bedienen, hielt sich Dagfinn Olsen eine Schnapsflasche an den Mund. Ein Rinnsal des Alkohols glitt durch seinen struppigen Bart. Mehrfach unterbrach er das Gitarrenspiel, ebenso unkonzentriert wie Henrik, der die Drumsticks ohne passenden Rhythmus auf die Felle schlug.
Der Sprechgesang hatte nachgelassen und glich vielmehr einem Wimmern, einem Flüstern. Thor entdeckte Blut an der Kleidung des Sängers. Er war sich sicher, dass es vor wenigen Minuten noch nicht da gewesen war.
„Da stimmt doch etwas nicht!“, donnerte er mit seiner tiefen Stimme.
„Was stimmt nicht?“, hakte Fynn nach.
„Stopp den Auftritt!“, forderte Thor. Er setzte sich in Bewegung. Zügiger als zuvor steuerte er auf die Bühne zu. An der Seite erklomm er das breite Podest über zwei Stufen. Kurz darauf fasste er an die vibrierenden Saiten des Basses. Dagfinns Aufmerksamkeit erlangte er sofort.
„Hey, was soll das?“, brüllte er.
Thor deutete nach vorn, wo der Sänger inzwischen eine gebeugte Körperhaltung angenommen hatte. „Was geht da vor?“
Dagfinn winkte ab. „Magnus macht das ab und zu, gehört zur Show ...“ Ein dreckiges Lachen untermalte seine Bemerkung, die trotz der Geräuschkulisse in Thors Ohren drang und sofortiges Missgefallen auslöste.
„Runter von der Bühne“, knurrte Thor.
„Ey, wir sind noch nicht fertig.“ Dagfinn protestierte.
„Jetzt schon!“ Thor beachtete ihn nicht mehr. Vielmehr beugte er sich zum Sänger, der in sich zusammengekrümmt auf dem Boden kniete. Er presste den rechten Arm gegen den Bauch. Seine Hände waren blutverschmiert.
„Was soll das werden, he?“, meinte Thor. Mit einem Ruck zerrte er Magnus an der Schulter herum. Er sah in ein blasses Gesicht, teilnahmslose Augen. Ein Messer rutschte auf den hölzernen Boden. „Schluss damit, Freundchen.“
Der Sänger antwortete nicht. Reglos ließ er sich auf die Beine ziehen. Mit Fynns Hilfe schleppte Thor ihn von der Bühne.
*
Man beachtete Thor nicht, wie einen Geist, der zwar anwesend, aber nicht willkommen war. Es wunderte ihn nicht.
Die Zeitungen schrieben viel über die „neue Jugend“, die schrecklicher war, als alle Szenen zuvor. Die Menschen hatten Angst vor den schwarz gekleideten Männern mit den langen Haaren und den wüsten Bärten.
Traf man einen von ihnen auf dem Gehweg, wurde die Straßenseite gewechselt.
Thor war es gewohnt, dass man ihn argwöhnisch beäugte, dass man ihn mied und furchtvoll betrachtete. So gut wie nie erhob einer die Stimme gegen ihn.
Er missachtete das. Er stand über den Dingen, reagierte souverän und gelassen, solange man ihm nicht zu nahe trat.
Allerdings wurde der Bogen manchmal überspannt.
Es war mitten in der Nacht und die Mitarbeiter der Klinik speisten ihn mit vagen Aussagen ab.
Vor der Tür zur Notaufnahme, die für Besucher nicht zugänglich war, griff er sich den erstbesten Arzt.
„Was ist mit Magnus Eidsvag? Niemand sagt etwas und ich warte schon seit einer Stunde.“
„Soweit ich weiß, wurde seine Wunde genäht“, berichtete der Mediziner.
Dr. Knutsen stand auf seinem Mitarbeiterausweis, der an seiner Brusttasche klemmte.
„Bleibt er hier?“
„Bist du mit ihm verwandt?“, hakte der Arzt nach.
Thor schüttelte den Kopf. „Habe ihn nur hergebracht.“
Dr. Knutsen nickte. Ebenso gab er sich bedeckt. „Mehr kann ich nicht sagen.“
„Sind seine Eltern verständigt worden?“, fragte Thor.
„Ja, sie wissen, was passiert ist.“
„Werden sie ihn abholen?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Magnus ist 21 Jahre alt, somit volljährig. Im Grunde genommen kann er machen, was er will.“
Auf Fahlstrøms energisches Drängen hin ließ man ihn in den Untersuchungsbereich. wo die Patienten im Notfall versorgt wurden. Aus den Andeutungen der Schwestern hörte er heraus, dass Magnus ein bekannter Gast war und nie länger blieb als nötig.
Eigentlich wollte Thor auch nicht bleiben. Der sterile Geruch der Klinik missfiel ihm. Im Grunde genommen mied er Plätze, die von Menschenmassen besucht wurden.
Krankheit und Gebrechlichkeit waren zudem etwas, mit dem er schwer umgehen konnte, denn er wurde nie krank und wenn, missachtete er den Zustand.
Ein Leiden war ein Zeichen von Schwäche, so dachte er bislang. Aber der Mann, der sich an jenem Abend das Messer zu tief in den Arm gerammt hatte, machte ihm auf wundersame Weise bewusst, dass die Verletzlichkeit eines Menschen etwas in ihm bewirkte; etwas mit ihm machte – ja, geradezu veränderte?
Magnus war anders. Er funktionierte nicht so, wie Thor es gern sah, wie er es schätzte. Und genau diese Disposition brachte ihn dazu, im Krankenhaus zu bleiben und sich nach ihm zu erkundigen.
Er hätte wegsehen, ihn verbluten lassen und anderen Leuten die Entscheidung übertragen können, doch das hatte er nicht getan.
Er stand vor dem Krankenbett und betrachtete den blassen, schlanken Mann mit den schattenumringten Augen, weil er ihn nicht dem Schicksal überlassen wollte. Zudem ließ ihn die grausame Schwäche des Mannes hinschauen.
Magnus schien weder körperlich noch psychisch stabil, doch er brachte Thor dazu, seine Meinung zu überdenken. Und das bewies Stärke.
„Was willst du wieder hier?“ Magnus bekam kaum die Zähne auseinander. Mürrisch blickte er Thor durch die strähnigen Haare an. Wann hatte er sie zuletzt gewaschen?
Mit einem Ruck setzte er sich auf und verharrte auf der Kante des Krankenbettes wie ein Greis.
„Wollte sehen, ob du okay bist oder was brauchst.“
„Was brauchen ...“ Magnus lachte aufgesetzt. „Mitleid sicher nicht. Du hättest mich nicht herbringen müssen.“
„Sehe ich anders“, erwiderte Thor und zeigte auf den Verband. „War das wirklich nur Show vorhin?“
„Ist doch egal.“
„Bin ich nicht der Meinung“, antwortete Thor. Prüfend verfolgte er, wie Magnus auf die Beine kam und wankte. Da stützte er ihn spontan. „Hey, nicht so schnell!“
„Lass mich!“ Magnus entzog sich der Berührung.
„Ich will wissen, was im Club passiert. Also? Show oder nicht?“
„Find’s doch heraus!“, giftete Magnus – und plötzlich schlich sich ein Lächeln in sein Gesicht, das Thor nicht deuten konnte. Forderte er ihn auf oder machte er sich lustig? In dem Moment, in dem er sein Gegenüber betrachtete, fiel ihm dessen anziehendes Aussehen zum ersten Mal auf. Magnus Eidsvag war ein hübscher Mann: groß und schlank, er hatte blonde Haare und ein kantiges Gesicht. Wenn er lachte, zeigten sich die oberen Zahnreihen weiß und makellos. Das Grübchen am Kinn machte ihn besonders und obwohl er grüne Augen hatte, wirkte er durch und durch nordisch.
Das gefiel Thor und er sah länger hin.
„Schlaf dich aus“, entschied er schließlich. „Morgen fahre ich dich nach Hause.“
„Zurück geh ich nicht mehr, eher bringe ich mich um“, zischte Magnus.
„Dass du kein Talent dafür hast, musst du mir nicht noch einmal beweisen“, erwiderte Thor nüchtern.
„Was weißt du denn schon?“ Magnus klang nicht vorwurfsvoll, eher resigniert. Mit Argwohn betrachtete er sein bandagiertes Handgelenk. Thor bemerkte ältere Narben auf der unbedeckten Haut.
„Hast dich wohl schon öfter verletzt?“, fragte er nach.
Magnus sah ihn nur an und antwortete nicht.
„Was soll das hier?“, tönte plötzlich eine weibliche Stimme im Hintergrund. „Entweder ausruhen oder gehen!“ Eine Krankenschwester baute sich vor ihnen auf. Ihrem Tonfall zufolge kannte sie den Patienten, der sich nicht um seine Gesundheit scherte und sofort seine blutbefleckte Jacke griff. „Bin schon weg.“
Es regnete, doch das hielt Magnus nicht davon ab, das Krankenhaus fluchtartig zu verlassen und davor seine Zigaretten zu zücken. Ein leichter Wind wehte, der die Flamme des Feuerzeugs mehrfach im Keim erstickte. Er fluchte und unternahm nichts gegen Thors Hände, die den Luftzug abschirmten. Endlich fing die Zigarette Feuer. Magnus nickte und zog daran.
Er setzte sich mit ins Auto und schwieg. Thor fuhr los. „Wo wohnst du?“
„Hier und da ...“ Magnus war tief in den Sitz gerutscht und blickte durch die nassen Fensterscheiben des Wagens.
„Wo genau?“
„Bei Bekannten ...“
„Fester Wohnsitz? Noch bei deinen Eltern?“
„Lillehammer“, gestand Magnus schließlich.
Thor atmete tief durch. Von Oslo bis Lillehammer kam er um diese Uhrzeit in gut zwei Stunden. Obwohl er müde war, schlug er die Richtung ein.
Während der Fahrt sprachen sie nichts. Thor war ein stiller Zeitgenosse, Magnus ebenso.
In Lillehammer angekommen, wurde der jedoch nervös. Er rieb sich die Finger, bewegte sich im Sitz und schließlich räusperte er sich. „Halt an ...“
Thor setzte den Blinker und stoppte am Straßenrand. „Was hast du vor?“
„Ich will nicht weiter“, entgegnete Magnus. Sein Blick war durch das Seitenfenster gerichtet. Sie standen vor der Auffahrt zur Vingnesbrua, einer Brücke, die den See Mjøsa überquerte. Beidseitig der Straße zeigte sich das Gewässer in seiner dunklen Farbe. Magnus sprach es nicht aus, doch Thor ahnte, woran er dachte.
„Was soll ich deinen Eltern erzählen?“
„Nichts. Die werden froh sein, dass sie mich Missgeburt los sind.“
„Wer sagt, dass du eine Missgeburt bist?“
„Ich weiß es.“
„Hast du mit jemandem darüber gesprochen?“
„Mit wem?“
„Mit jemandem, der sich damit auskennt.“
„Du denkst, dass ich ein Psycho bin?“ Magnus stieß ein verachtendes Lachen aus.
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Aber gedacht …“
„Es ist jedenfalls nicht heldenhaft von einer Straßenbrücke zu springen.“
„Es gibt Schlimmeres, als im größten See Norwegens zu sterben“, wiegelte Magnus ab.
Thor sah in den Rückspiegel. Die Brücke füllte sich mit Berufsverkehr. Andere Autos rasten an ihnen vorbei. „Dann würde ich mich an deiner Stelle beeilen. Es sei denn, du wünschst Schaulustige.“
Magnus drehte sich um, betrachtete die Fahrbahn, schielte in den Seitenspiegel und seufzte laut.
„Fahr weg, fahr einfach weg …“
Kapitel 2
Dichter Nebel hing über den Bergen. Fast unbemerkt rollte er auf die Stadt zu; wie eine gefräßige Raupe, die das Ringsherum um sich verschluckte. Kälte drang ins Auto. Die Bäume am Straßenrand glichen bedrohlichen Statuen, die ihre Äste nach ihnen ausstreckten. Thor hätte es nicht gewundert, hätten sie sich bewegt, wären sie lebendig geworden. Stadtauswärts wurde der Nebel dichter. Nässe sammelte sich auf der Windschutzscheibe. Das Weiß vor seinen Augen schob sich wie eine Reihe von Gespenstern an ihnen vorbei. Er blinzelte mehrfach, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Die Umgebung wurde steiniger. Felsen türmten sich zwischen dem dürren gelben Gras. Auch ihnen hätte er ein Eigenleben zugetraut. Felstrolle, so groß wie Bäume, wurden in dieser Gegend seit Jahrhunderten vermutet.
Diese Wesen waren von Grund auf vernünftig, doch nicht sonderlich intelligent. Sich mit den Riesen anzulegen, konnte fatale Folgen haben, denn sie waren stark und warfen mitunter Steine nach ihren Gegnern.
Thor gab sich gern diesen Mythen hin.
Er versank in Gedanken. Am liebsten wäre er ausgestiegen und den Weg zu Fuß gegangen. Er hätte der Straße den Rücken gekehrt und sich vom Wald gefangen nehmen lassen. Er wollte die Kälte spüren und die Einsamkeit, die Feuchtigkeit auf der Haut und den festen Boden unter den Füßen. Es hätte ihn nichts ausgemacht, hätte ihn die Wildnis verschluckt. Er hätte nicht mehr reden brauchen – mit niemandem. Allenfalls hätte er Monologe geführt oder Diskussionen mit den Bäumen, die allesamt älter waren als er.
Dass Magnus neben ihm auf dem Beifahrersitz schlief, hinderte ihn an der Verwirklichung seines Traums. Der junge Mann mit den blonden Haaren und der hellen Haut sah selbst aus wie die zu Leben gewordene Einsamkeit. Draußen hätte er Ballast bedeutet, eine schwere Last, die einen in die Knie zwang, die zwischen Naturgewalten und Schicksal keinen Platz fand.
Thor wusste nicht wohin. Wohin mit einem Leben, das sich nicht wertschätzte? Er fuhr weiter, die geschwungenen Straßen entlang, hinaus in die Unendlichkeit – fern von den Leuten, die sie nicht verstanden. Wie ein Film raste die Landschaft an ihnen vorbei. Vereinzelte Hütten, vor denen die Flaggen der Nation im Winde wehten. Stolz und Freiheit, ja, beides spürte er ebenfalls. Seen tauchten auf, Wege, die ins Nirgendwo führten. Kleine weiße Punkte, die sich bewegten. Herden von Rentieren, die sich einen Spaß daraus machten von Weitem wie tänzelnde Flocken auszusehen.
Es regnete. Magnus ging einem tiefen Schlaf nach, während Thor anhielt und hinaustrat. Wind zerrte an seinen Haaren, Regentropfen landeten auf seinem glatten Antlitz. Tropfen perlten am schwarzen Mantel hinunter. Er schmeckte den Nebel wie salzige Watte.
Norwegens Kälte wollte ihn bezwingen, doch wusste er, sich zu wehren und mit ihr eine Symbiose einzugehen.
Wie lange er auf dem Stein gesessen hatte, konnte er nur erahnen. Der Nebel war verschwunden, stattdessen hatte sich die Sonne vor die Wolken geschoben. Er blinzelte, blendete die Kopfschmerzen aus. Es war helllichter Tag und er hatte noch keine Minute geschlafen.
„Wo sind wir?“
Stolpernde Schritte erklangen hinter ihm. Magnus hatte die Arme um den eigenen Leib geschlungen und sah sich um. War ihm kalt? Es wehte ein sanfter Wind, doch der brachte lediglich die nordische Frische mit sich.
„Irgendwo östlich von Dombås“, erwiderte Thor. Ihren genauen Aufenthaltsort wusste er nicht. Er war einfach weitergefahren. Mehrere Stunden.
„Faen! Das ist am Arsch der Welt.“
„Du wolltest weg ...“
„Ja, weg ... Aber ...“ Magnus sah sich zu allen Seiten um. „Ach, egal ...“ Er setzte sich auf den Boden. „Vermissen wird mich eh niemand.“
„Deine Band?“, hakte Thor nach.
„Ach, das ist auch irgendwie nichts richtiges.“ Magnus senkte den Kopf. Mit spitzen Fingern zupfte er ein paar gelbe Halme aus dem verdorrten Gras.
„Wirkt aber ganz ordentlich, was ihr macht.“
„Dagfinn Olsen ist ein Großmaul und Henrik ...“ Magnus winkte ab.
„Warum singst du für sie?“
„Dagfinn kennt Leute. Er organisiert uns einen Plattenvertrag.“
Thor nickte anerkennend. „Fint!“
„Ach, weiß nicht, ob das gut ist.“ Nun lächelte Magnus, aber verlegen. Er zog die Beine an den Körper und umschlang sie mit den Armen. Seine Lippen hatten eine bläuliche Farbe angenommen. Sanft wippte er vor und zurück.
„Du frierst?“, hakte Thor nach und es klang amüsiert. „Wir haben Sommer.“
„Mir ist immer kalt“, erwiderte Magnus. „Ich war mal tot, weißt du? Bin nie wieder aufgetaut.“
Thor runzelte die Stirn. „Tot?“
„Bin als Kind ins Eis eingebrochen.“ Für einen winzigen Moment schlich sich ein genügsames Lächeln auf Magnus‘ Gesicht. Doch es verschwand schnell. „Sie hätten mich verrecken lassen sollen“, zischte er und wandte den Kopf ab. Seine Finger zitterten und er blinzelte nervös.
„Nimmst du Tabletten? Irgendeinen Stoff?“
„Nei ... Auf keinen Fall.“
Thor ließ die Informationen auf sich wirken. Schlau wurde er aus dem jungen Mann nicht. Vielleicht würde die Zeit Klarheit bringen. Er lenkte den Blick in die Ferne und zündete eine Zigarette an.
„Du bleibst?“, wollte Magnus sofort wissen.
„Dachtest du, ich lasse dich hier?“
„Würde mich nicht stören, echt nicht.“
Thor zog an der Zigarette und betrachtete sein Gegenüber gründlich. „Ich bleibe.“
Mit geöffneten Augen dämmerte er vor sich hin.
Stunden vergingen, in denen sie nichts sprachen. Sie kannten sich nicht und trotzdem saßen sie zusammen in der Einöde und haderten mit dem Leben.
Thor konnte Magnus weder einschätzen noch ihm vertrauen, dafür waren sie sich zu fremd. Aber er konnte bei ihm sein, ihm Gesellschaft leisten und zeigen, dass er nicht allein war in einer Welt, mit der sie nicht konform gingen.
Denn das war klar: Sie waren Gleichgesinnte; der Musik und dem Black Metal verfallen. Sie trugen schwarze Klamotten und die Haare lang. Ihr Aufeinandertreffen war vorherbestimmt, da war sich Thor sicher. Welchen Weg sie zusammen beschreiten würden, schien allerdings nicht klar.
„Okay, du hast gewonnen“, sagte Magnus am Nachmittag. „Aber ich gehe nicht zurück.“
„Mit zu mir?“
„Zu dir? Nach Oslo?“ Es klang skeptisch.
Thor deutete ein Nicken an. Eigentlich wollte er die Frage nicht stellen, denn ihm war längst klar, dass er den jungen Mann nicht mehr ziehen lassen würde.
„Vorher holen wir deine Sachen.“
*
Zurück in Lillehammer wies Magnus ihm den Weg. Sein Elternhaus lag nahe der Einkaufspassage, dicht am Zentrum und nicht weit entfernt vom Freilichtmuseum Maihaugen, von dessen Parkplatz sogar eine Stabkirche zu sehen war.
Links von ihnen – in der Ferne auf einem Hügel – lag indes das Sportzentrum mit der weltbekannten Skischanze.
Thor hielt am Straßenrand vor dem Haus der Eidsvags. Einfamilienhäuser. Gepflegte Gärten. Heile Welt. Er konnte nachvollziehen, dass Magnus von hier ausbrechen wollte.
„Wird nicht lange dauern“, sagte der. „Eigentlich sitze ich schon seit Monaten auf gepackten Koffern.“
Thor nickte. „Ich warte.“
Magnus stieg aus.
Langsam, abwartend. Erst nach nachdenklichen Minuten steuerte er auf den Hauseingang zu und verschwand darin.
Thor lehnte sich in den Sitz zurück. Er musste schlafen, irgendwie, ansonsten hätten sie den Rückweg nicht an einem Stück geschafft. Ihm fielen die Lider zu. Er nickte ein.
Nur unterschwellig vernahm er, dass jemand den Kofferraum öffnete und etwas hineinlegte.
Doch dann weckte ihn ein Klopfen an der Fahrerseite. Im Nu war er wach. Ein junger Typ stand samt Fahrrad neben dem Auto. Schwarze lange Haare, dunkle Klamotten und ein spitzer Bart am Kinn – eindeutig ein Metal Fan.
Thor kurbelte die Autoscheibe herunter und beäugte ihn fragend. „Hva?“
„Zieht Magnus wieder ein?“, fragte der Fremde.
Thor schüttelte den Kopf. „Eher aus ... Wieso willst du das wissen?“
Der Mann, ungefähr gleichen Alters, Anfang zwanzig, sah erst zum Haus, bevor er antwortete.
„Bin mit Magnus zur Schule gegangen, habe ihn lange nicht gesehen. Habe gehört, dass er in einer Band spielt. Wohin zieht er denn?“
„Frag ihn doch selbst“, erwiderte Thor.
Der Fremde wand sich ein wenig. „Weiß nicht ...“
„Wovor hast du Angst?“
Wieder visierte der Junge das Haus, als fürchtete er Magnus‘ Erscheinen. „Man sagt, dass er gestört ist, geisteskrank ... Seine Eltern wollten ihn in eine Psychiatrie schicken, da ist er weg ...“
Thor richtete sich auf und riskierte ebenfalls einen prüfenden Blick zum Gebäude. Magnus war nicht zu sehen.
„Warum sollte er geisteskrank sein?“, fragte er schließlich.
Der junge Mann bog sich zurück. „Also ich habe das nicht gesagt, aber man redet über ihn.“
„Tut man das, aha ...“ Nochmals sah Thor zum Haus. Magnus war schon zu lange darin verschwunden. Er schnallte sich ab und stieg aus. Der Mann schob sein Rad sofort zurück und nahm Abstand. „Ich glaube ja eher, dass es an diesem Vorfall seiner Kindheit liegt“, sagte er. „Ich studiere Medizin. Man nennt das Posttraumatische Belastungsstörung.“
Thor kniff die Augen zusammen. „Was für ein Vorfall?“
„Er ist ins Eis eingebrochen und musste reanimiert werden.“
Thor nickte. „Ja, das hat er mir auch erzählt.“
Der fremde Mann schwang sich plötzlich aufs Rad. „Dann grüß ihn von mir. Falls ich es einrichten kann, komme ich mal zu einem Konzert, um seine Band zu sehen.“ Er wandte sich ab und fuhr davon.
Erst jetzt registrierte Thor, was ihn anscheinend zum Wegfahren gebracht hatte. Ein Mann mittleren Alters war aus dem Haus getreten. Er trug eine Reisetasche mit sich und einen Karton unter dem Arm. Mit gesenktem Haupt steuerte er auf das Auto zu.
Thor nahm an, dass es Magnus‘ Vater war und kam ihm entgegen.
„Wo ist er denn jetzt?“, fragte Herr Eidsvag und spähte zum Pkw, dann rechts und links auf den Gehweg.
Thor nahm ihm den Karton ab und verstaute ihn im Wagen. Da Magnus‘ Vater sich nicht vorstellte, tat er es auch nicht. „Magnus?“, vergewisserte er sich stattdessen. „Ist er nicht mehr drinnen?“
„Nein!“ Die Stimme des Mannes vibrierte zornig. Er hievte die Tasche in den Kofferraum und seufzte. „Man kann ja nicht mit ihm reden. Er holt seine Sachen und sagt nicht, was er vorhat!“
Missgestimmt blickte er Thor an. „Wo will er denn hin? Wer zahlt das? Hat er wieder irgendwas angestellt?“
Zu viele Fragen. Thor machte einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die Hüften.
„Wenn er nichts erzählt hat, werde ich das auch nicht tun.“
„Na großartig!“, schnauzte Herr Eidsvag. „Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Verbaut euch die ganze Zukunft mit diesem Satanskult!“ Nochmals sah er sich um. Von seinem Sohn fehlte jede Spur. „Aber sag ihm, wenn er jetzt geht, braucht er gar nicht mehr wiederkommen. Zumindest nicht so, wie er sich verhält.“
„Richte ich aus.“ Der Dialog brach ab. Herr Eidsvag verschwand im Haus. Thor schloss den Kofferraum.
*
Er musste nicht lange suchen. Auf dem Weg in Richtung See kam er an der Kirche von Lillehammer vorbei. Dort stand Magnus umringt von Gräbern. Thor parkte, stieg aus und gelangte über den Sandweg auf das grüne Gelände. Es war ein übersichtlicher Friedhof. Magnus‘ dünne Figur mit den grauen und viel zu weiten Klamotten sah zwischen den Grabsteinen verloren aus. Doch er wollte offensichtlich hier sein.
Thor blieb neben ihm stehen und betrachtete die Gräber.
„Die sind schon zu beneiden“, entwich es Magnus.
„Bist du gläubig?“
„Das meine ich nicht.“ Magnus neigte das Haupt und fuhr sich über die Stirn. „Sie sind tot.“
„Okay, das reicht jetzt.“ Thor fasste nach Magnus‘ Arm und drehte ihn in Richtung Ausgang. „Musste mich mit deinem Alten abgeben, weil du einfach weg bist.“
„Ach, der ...“ Magnus winkte ab. Wie paralysiert starrte er auf die Gräber und Thor war sich sicher: Würde er nichts unternehmen, würden sie stundenlang an diesem Ort verweilen und darauf hatte er keine Lust. „Deine Sachen sind im Auto, lass uns fahren.“
*
Thor wohnte abseits der Stadt, gut 30 Minuten Fahrstrecke vom Anfang der Sognsveien – ein Weg, der zum See Sognsvann führte und von dem sich zahlreiche Wander- und Waldwege abzweigten.
Sein Großvater Mats Saarheim besaß eine Kneipe im Zentrum von Oslo. Erst vor kurzem war er näher an den Stadtkern gezogen, um schnellere Dienstwege zu haben.
Aber es gab zwei größere Hütten im Wald, die der Familie Fahlstrøm gehörten.
Da sich Thors Eltern und sein Bruder Arvid nie für die Gebäude in der Wildnis begeistern konnten, half Thor seinem Großvater, sie und das zugehörige Grundstück in Schuss zu halten.
Es war mühsame Arbeit, die Mats neben der Kneipe schwer bewerkstelligen konnte.
Mit sechzehn Jahren war Thor hierher gezogen. Seit einiger Zeit bewohnte er die größere der zwei Hütten. Dort fand er Ruhe, um zu komponieren.
Die andere Hütte stand leer. Bis zu dem Tag, an dem Thor mit dem alten Land Rover davor hielt und einen Entschluss fasste.
„Wenn du willst, kannst du in die rechte Hütte ziehen. Denke, meinem Großvater muss ich kein Einverständnis entlocken.“ Er lachte, denn ihm war klar, dass Mats nichts dagegen haben würde. Thor hatte von ihm immer Zuspruch erfahren.
Magnus regte sich im Sitz und wischte die beschlagene Autoscheibe frei. „Echt? Und wer wohnt noch da?“
„Niemand!“ Thor stieg aus und betrachtete das Holzhaus. Eigentlich kam Magnus im richtigen Moment. Das zweite Gebäude musste bewohnt werden, damit es nicht verrottete.
Angesichts der Tatsache, dass sie nach dem Vorfall während des Konzerts, der Stippvisite im Krankenhaus und der Fahrt nach Lillehammer, Dombås und zurück, kein Auge zugetan hatten, trennten sich vorerst ihre Wege.
Magnus bedankte sich und verschwand samt Gepäck in der Hütte, indessen Thor sich in sein Haus verzog und früh zu Bett ging.
Am nächsten Tag machte er sich auf zu seinem Großvater, der zwanzig Minuten Fußmarsch stadteinwärts wohnte.
Thor begrüßte die Spaziergänge, vornehmlich am Morgen. Es war still in der Gegend. Lediglich die Vögel zwitscherten und der blaue Himmel kündigte einen schönen Sommertag an.
„Ich habe einen Gast“, verkündete er, kaum saß er bei seinem Großvater am Frühstückstisch.
Mats nickte und deutete auf den gedeckten Tisch. „Du kannst Brot und Käse mitnehmen.“
Thor winkte ab. „Um Essen geht es nicht …“
„Ach so?“ Mats schenkte Kaffee ein, doch seinen Enkel ließ er nicht aus den Augen.
„Magnus ist schwierig … benötigt eine Bleibe“, fuhr Thor fort.
Mats nahm ein Stück Graubrot und schmierte es mit Butter. „Du möchtest ihm eine Unterkunft bieten?“
Thor nickte still.
„Die zweite Hütte?“
Thor bejahte wieder. „Daran hatte ich gedacht.“
„Warum nicht?“ Mats nahm das Marmeladenglas, löffelte etwas der selbst gemachten Heidelbeermarmelade auf das Brot und schob das Glas anschließend in Richtung seines Enkels. „Die Hütte sollte nicht unbewohnt sein, müsste ohnehin beheizt werden.“ Er willigte ein. „Lass deinen Gast dort wohnen, bis er etwas Besseres findet.“
„Und wenn er bleibt?“, hakte Thor nach.
„Dann ist das auch in Ordnung.“
*
Nach dem Frühstück hielt es Thor für angebracht, seinem neuen Mitbewohner einen Besuch abzustatten.
Am vergangenen Tag hatten er und Magnus sich ohne Absprache verabschiedet. Abgesehen davon wollte er wissen, wie es dem jungen Mann ging.
Der erste Rundblick kam mit Ernüchterung einher. Das Gepäck stand noch im Eingangsbereich auf dem sandigen Boden. In der Hütte war lange nicht mehr geputzt worden und Magnus hatte es anscheinend auch nicht für nötig gehalten. Es war schmutzig, die Küche schien ungenutzt. Thor gelangte über die schmale Treppe in die erste Etage und spähte dort ins Schlafzimmer, in den Raum, den er zu Jugendzeiten genutzt hatte, als sein Großvater noch im Haus gegenüber gelebt hatte.
Das Bett sah unberührt aus. Auch im Gästezimmer war niemand. Lediglich im Bad erkannte er an den nassen Spuren im Waschbecken, dass Magnus dort gewesen sein musste.
Und nun? War er sang- und klanglos abgehauen? Ohne sein Gepäck mitzunehmen?
Grübelnd gelangte Thor wieder ins Erdgeschoss, wo er einen Blick ins Wohnzimmer warf. Es war abgedunkelt, denn vor dem kaputten Fenster klebte eine Schicht aus Zeitungspapier.
Trotzdem betrat er den Raum und schließlich erkannte er den Körper, der unter einer Wolldecke auf dem Sofa lag.
Thor räusperte sich, aber Magnus blieb liegen.
Er machte Licht an und berührte seinen Gast vorsichtig an der Schulter.
„Hei!“
Magnus drehte sich auf den Rücken und blinzelte. „Hva?“
„Das Papier hält nicht dicht, es kommt noch immer Licht herein“, meinte Thor. „Vielleicht solltest du das Fenster zunageln. Im Winter zieht es ohnehin. Neue Scheiben kann ich mir nicht leisten.“
Abrupt kam Leben in Magnus‘ Leib. Er stemmte sich auf die Unterarme. „Meinst du das ernst?“
„Im Schuppen müssten Bretter sein … Aber mach das ordentlich, damit man sie auch wieder entfernen kann.“
„Ich versuch es, doch ... kann es dauern, bis ...“ Magnus stoppte und senkte den Kopf, sodass seine langen Haare vor sein Gesicht glitten. Unentschlossen strich er am bandagierten Arm entlang, schließlich ging die Bewegung in ein nervöses Kratzen über.
„Ach, lass, ich mach das“, entschied Thor kurzerhand. „Ist besser, wenn ich das mache ... Die Gebäude sind alt, anfällig.“ Er nickte seinen Beschluss ab. „Ich mach das.“
Kurz darauf holte er das Holz aus dem Schuppen und bahnte sich einen Weg durch die Büsche, die das Fenster von außen verdeckten. Dennoch kam Licht ins Zimmer und Magnus sah zufrieden zu, wie Thor die Bretter in den Fensterrahmen hämmerte.
„Danke“, sagte Magnus nach getaner Arbeit.
„Kein Ding“, entgegnete Fahlstrøm. Routiniert brachte er die Werkzeuge zurück. Es kam nicht selten vor, dass er Reparaturen an den Häusern übernahm. Irgendetwas war immer defekt oder zu verbessern. Die Hütten waren alt und dem Wind und Wetter tagtäglich ausgesetzt. Doch sie hielten den Umwelteinflüssen stand, so wie Thor, dem eigentlich keine Wetterlage etwas anhaben konnte.
Er verließ den Schuppen und betrachtete Magnus, der noch immer vor den Büschen verweilte und auf die verbarrikadierten Fenster blickte. Nachdenklich, wie erstarrt. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Vielleicht tat sie das für ihn.
Kapitel 3
Mit kraftvollen Zügen schwamm Thor zum Ufer. Schon als Kind hatte er es geliebt, die Seen Norwegens zu überqueren, mit dem Boot oder durch eigene Manneskraft. Das klare Wasser ließ ihn die Kälte bis auf die Knochen spüren, aber damit konnte er inzwischen umgehen. Wann immer es ihm möglich war, nahm er kurz nach dem Erwachen ein Bad im See.
Im flachen Wasser richtete er sich auf. Am Steg hatte er ein Handtuch hinterlegt, mit dem er sich trocknete. Ungeniert schob er es zwischen die Beine, bevor er es um die Hüften schlang. Er bemerkte, dass Magnus ihn beobachtete. Wie lange schon? Er stand nicht unweit vor dem Haus und neigte das Haupt, kaum trafen sich ihre Blicke.
*
Thor stand eine Weile auf der Schwelle. Draußen strahlte die Sonne. Im Wohnzimmer war es düster. Kein Tageslicht drang in den Raum und die alte Glühbirne entpuppte sich als schwache Lichtquelle. Es gab einen Deckenfluter, aber der war mit einem Tuch verhüllt.
„Du scheinst kein Freund des Lichts zu sein“, stellte er fest.
Magnus sah erschrocken auf. Zuvor hatte er planlos in einem mit Kleidung bestückten Umzugskarton gewühlt.
Ausgepackt hatte er nichts.
Träge ließ er sich auf das Sofa fallen. „Die Dunkelheit ist mir lieber“, gestand er.
Thor trat ins Zimmer ein. Auf dem Boden standen zwei weitere Kartons. Sie waren mit Büchern und Schallplatten gefüllt. Im Regal türmten sich CDs. Magnus hatte keine Möbel mitgenommen, doch Musik und Literatur schienen ihm offensichtlich wichtig.
„Ich kann dir beim Einräumen helfen“, sagte Thor. Er zeigte auf den Schrank, aber Magnus winkte ab.
„Das schaff ich schon, irgendwann …“
Thor zögerte zuerst und nahm schlussendlich ebenfalls auf dem Sofa Platz.
„Du kannst morgens mit mir schwimmen, wenn du magst“, sagte er.
Magnus antwortete nicht sofort. Überlegte er? „Wieso?“
„Du hast mir vorhin zugesehen“, erwiderte Thor. Er neigte den Kopf zur Seite. Schließlich legte er eine Hand auf Magnus‘ Knie. „Du hast mich beobachtet?“
„Mhm, ja.“ Magnus lächelte kurz.
Fahlstrøm ließ seine Finger auf dem schlanken Oberschenkel. Langsam strich er dort entlang, festigte den Griff, bis Magnus die Hand von sich schob.
„Du hast da etwas falsch verstanden“, sagte er gedämpft.
Thor beugte sich vor und suchte erneut den Blickkontakt. „Ja, hab ich das?“
„Das läuft bei mir nicht … wie normal …“ Magnus hielt den Kopf geneigt.
Thor stieß ein Lachen aus. „Ich glaube, normal will hier niemand von uns beiden sein.“
„Du verstehst das falsch.“
Thor hob die Augenbrauen an. „Ach, ja? Ich hatte, das Gefühl, dass du …“
Ihre Blicke trafen sich endlich. „Absolut …“
„Okay …“ Thor nickte kaum merklich. „Vielleicht brauchen wir mehr … Zeit?“
Magnus schüttelte den Kopf. „Das nicht …“
„Verstehe.“ Thor stand auf. Einen weiteren Schritt wollte er nicht wagen. Die Ablehnung kam mit hörbarer Deutlichkeit einher. Hatte er sich getäuscht?
„Es liegt nicht an dir“, hörte er Magnus sagen. Worte, die in Fahlstrøm arbeiteten, doch er ließ sie kommentarlos stehen.
*
Thor hatte ein Lagerfeuer entfacht. In regelmäßigen Abständen warf er Zweige in die Glut. Er sah so lange in die Flammen, bis sein Gesicht glühte. Dann lehnte er sich zurück und entzündete eine Zigarette. Diese entspannten Momente am Abend genoss er in vollen Zügen. Der Schatten, der sich plötzlich auf dem Boden abzeichnete, erinnerte ihn allerdings daran, dass er nicht mehr allein war.
„Darf ich?“ Magnus stand neben ihm wie eine Erscheinung. Thor nickte still und so ließ sich sein Mitbewohner auf einem Stein nieder und blickte ebenso konzentriert auf das Feuer.
Sie sprachen nichts und hingen den Gedanken nach. Fahlstrøm hatte auch nicht das Gefühl, dass er sich erklären oder rechtfertigen musste für das, was am Nachmittag geschehen war. Vermutlich wäre es unbedeutend geworden und mit der Zeit verblasst. Womöglich war ihr Zusammentreffen doch nicht vorherbestimmt gewesen, obgleich er stets der Meinung war, dass nichts im Leben ohne Grund passierte. Vielleicht war ihr Miteinander ein Test, eine kurze Begebenheit, ein klitzekleiner Akt im Universum. Aber Thor bemerkte auch, wie Magnus den Kopf drehte und ihn musterte.
Das Feuer wurde nebensächlich, vielmehr war da der prüfende Blick, der alles bedeuten konnte. Und wie aus dem Nichts erklang die forschende Stimme dazu.
„Du willst mich ficken, stimmt’s?“
Die Ernüchterung kam mit einem Atemzug. Die Illusion war fort, die Gedanken verspielt. Mit dieser konkreten Frage legte Magnus die Karten auf den Tisch. Thor räusperte sich. Er hatte nicht das Gefühl, der Antwort ausweichen zu müssen.
„Kann ich nicht leugnen“, erwiderte er knapp, ohne ihn anzusehen; den Mann, den er noch immer nicht lesen konnte. Wie ein verschlossenes Buch saß er neben ihm, mit Seiten, die sich nicht blättern ließen, mit einem Inhalt, den er nicht verstand.
„Dann tu mir etwas an …“, flüsterte Magnus.
Eine Aufforderung? Seine Stimme zischte die Message in die Nacht wie ein Geist seinen kühlen Atem. Wenn er in Rätseln sprach, wo war die Lösung? Sie sahen sich an.
„Hva?“ Unschlüssig schüttelte Thor den Kopf. Begriffen hatte er den Sinn des Dialogs noch nicht.
„Du musst mir etwas antun“, wiederholte Magnus. Das Feuer flackerte auf seinem Antlitz und es sah diabolisch aus. Thor angelte sich seine Bierflasche und nahm einen Schluck. Erst danach gab er sein Statement ab.
„Keine Ahnung, was du meinst.“ Sofort erkannte er die Enttäuschung in Magnus‘ Augen. Das teuflische Grinsen verschwand.
Stattdessen zeigte das kantige Gesicht die gewohnte Traurigkeit, die unermüdliche Dunkelheit, der Thor nicht folgen konnte.
Um die kuriose Unterhaltung zu beenden, stand Fahlstrøm auf. Ja, vermutlich wollte er Magnus ficken, seitdem er ihn das erste Mal auf der Bühne gesehen hatte; hilflos und verletzt, lebensmüde und schwach – doch mit einer Ausstrahlung, die ihn faszinierte.
Was machte ihn begehrenswert, so reizvoll, dass Thor es in jeder Faser seines Körpers spürte?
Die erste Annäherung war ein Reinfall gewesen.
Thor ließ sich weder zum Narren halten, noch wollte er Verdruss präsentieren. Er wusste nicht einmal, was ihn an Magnus ansprach. War es sein blondes Haar, seine nordische Blässe, sein kantiges Gesicht oder die schneeweißen Zähne, die er just entblößte, um ihn anzulächeln. Lachte er ihn gar aus?
„Ich geh schwimmen“, raunte Thor. Er streifte sich die Kleidung vom Körper und präsentierte sich nackt. Gewiss nicht mit Absicht, denn er schwamm immer so, wie die Natur ihn geschaffen hatte. Am Ufer angelangt drehte er sich noch einmal um. Magnus stand neben dem Feuer und sah ihm hinterher.
Das kühle Wasser brachte neue Lebensgeister mit sich. Binnen weniger Sekunden war Thor wacher, aber nicht unbedingt weiser, was seinen Mitbewohner anging.
Er hatte ihn für einen offenen und ehrlichen Menschen gehalten, denn unverblümt hatte er seine Schwächen präsentiert und sein kaputtes Leben offenbart.
Was blieb, war dieser bittere Beigeschmack, den Thor nicht deuten konnte. Er wusste längst nicht alles über Magnus Eidsvag. Doch irgendwann würde er hinter dessen Geheimnis kommen, oder?
Wenn es denn ein Geheimnis war.
Er sah den jungen Mann am Ufer stehen und jeden seiner Schwimmzüge freimütig verfolgen. Nein, Thor hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl, dass Magnus etwas vor ihm verbarg. Vielmehr war es die Scheu, die Unsicherheit, die ihn nicht sofort einweihte – aber vielleicht auf die Probe stellte?
Thor sah, dass Magnus sich dem Wasser näherte und Schuhe, Socken, Jeans und T-Shirt auszog.
Wollte er der Aufforderung, zusammen zu schwimmen, doch nachkommen? Es hätte Thor gefallen, die Leidenschaft für den See und die Natur zu teilen.
Bislang hatte er die Einsamkeit abseits der Stadt genossen, selten empfing er Besuch. Dass Magnus bei ihm wohnte, fühlte sich allerdings nicht verkehrt an.
Er schmunzelte, tauchte unter, schwamm kräftige Züge, entfernte sich vom Ufer. Ein kurzer Blick zurück signalisierte, dass Magnus ihm gefolgt war. Bis zur Hüfte stand er bereits im Wasser.
Ob er ein ebenso guter Schwimmer war wie Thor? Vermutlich nicht, denn sein Körper war mager anstatt trainiert. Doch vielleicht würde er es bis zur Badeplattform, die mittig im See installiert war, schaffen. Dort angelangt würde sie Schwärze umgeben. Das trübe Wasser, der dämmergraue Himmel. Nur vereinzelte Sterne glänzten über ihnen.
Thor stoppte, trieb auf der Stelle. Nochmals visierte er den Uferbereich, die Feuerstelle, den Steg. Von Magnus keine Spur. Er stand weder im Wasser noch schwamm er darin. Hatte er die Meinung geändert und war umgedreht? Seine Kleidung lag nach wie vor am Ufer.
Thor reckte den Hals und ließ den Blick über die Oberfläche gleiten. „Magnus?“, schrie er in die Dunkelheit. Das gute Gefühl in ihm schwand. Er drehte sich zu allen Seiten, wobei kleine Wellen in sein Gesicht schwappten. „Magnus!?“
Nichts. Sein Mitbewohner blieb wie vom Erdboden verschluckt. Lediglich ein paar Meter von Thor entfernt, stiegen kleine Blasen auf. Sofort stach er die Arme ins Nass und kraulte dorthin.
Schließlich sah er ihn: den reglosen Leib, der versunken im Wasser trieb.
„FAEN!“ Thor brüllte und im gleichen Moment tauchte er ab, fasste Magnus‘ Körper und zog ihn an die Oberfläche. Er packte ihn unter den Amen und zerrte ihn an Land. Keine Regung ging von dem Körper aus. Seine Augen waren geschlossen.
„Magnus, hey, hörst du mich?“ Thor rüttelte an ihm und berührte seine Schulter. Da Magnus sich nicht regte, klopfte er ihm auf die Wangen, erst sanft, dann stärker. „Hei!“
Er tastete einen schwachen Puls, oder war es sein eigener, der unter seiner Brust wummerte?
Thor legte die flache Hand auf Magnus‘ Oberkörper und registrierte keine Atembewegung.
Da zögerte er nicht mehr und kniete sich über den nassen Körper, bettete gleich beide Hände auf dessen Brustkorb und drückte zu. 15 Mal, wie zur damaliger Zeit üblich. Anschließend umfasste er Magnus‘ Kopf und presste die Lippen auf seinen Mund. Kaum begann er, ihn zu beatmen, ging ein Zucken durch Magnus‘ Leib.
Er stöhnte, hustete und bewegte die Arme. Thor atmete auf. „Hey, hörst du mich?“
Er fasste an Magnus‘ Kinn und drehte dessen Kopf in seine Richtung. Magnus blinzelte und völlig unpassend zur Situation, schlich sich ein Lächeln auf sein blasses Antlitz.
„War ich tot?“, krächzte er.
„Nur bewusstlos, wie es scheint …“
„Aber du hast mich wieder ins Leben geholt.“
Thor klärte auf. „Ich hab dich geschlagen, damit du wach wirst.“
Magnus‘ Augen weiteten sich, gespannt sah er durch die Nacht.
„Zeig mir, wie es war.“
„Wieso?“, fragte Thor.
„Zeig’s mir ...“ Magnus streckte die Arme von sich, sein Blick wurde leer, die Atmung wieder flach.
Da fackelte Fahlstrøm nicht mehr und folgte der flehenden Anweisung. Er behielt die kniende Haltung bei und legte eine Hand auf Magnus‘ Oberkörper.
„Du lagst da, mit geschlossenen Augen“, berichtete er, woraufhin Magnus die Lider zuklappte. „Ich sah dich nicht atmen, da hab ich …“ Er sprach nicht weiter, sondern bäumte sich auf, schlug Magnus auf die Wange. Der regte sich nicht, sodass Thor mit den flachen Händen auf seine Brust drückte. „Atme, atme, verdammt, hab ich gerufen.“
Es war wie ein Rollenspiel, das ihm gefiel. Er stieß ein leises Lachen aus.
Magnus regte sich nicht, aber er flüsterte. „Und dann?“
„Da du nicht geatmet hast, habe ich dir meinen Atem geschenkt.“
„Und wie?“ Magnus verharrte in seiner Starre und Thor wiederholte seine Handlung. Er beugte sich über den kühlen, nassen Körper und presste seine Lippen auf dessen Mund. Statt einer Beatmung starteten sie einen Kuss. Erst zögernd, dann verlangend, bis Magnus die Zärtlichkeit unterband.
„Mach es“, flüsterte er im Austausch. Ungeniert fasste er sich an den Bund seiner Unterhose und zog sie geschickt über die schmalen Hüften, zwischen denen sich der Ansatz einer Erektion andeutete. Nachfolgend drehte er sich auf den Bauch. Verlockend schimmerte seine feuchte Kehrseite in der Dunkelheit.
Thor zögerte. „Jetzt, hier?“ Verstohlen sah er sich um. Selten kam um diese Uhrzeit jemand vorbei. Sie waren ungestört.
„Ja, jetzt, bitte!“, presste Magnus hervor. Er hatte den Blickkontakt unterbrochen und das Gesicht gegen den sandigen Boden gedrückt. Das reichte aus, um Thor umzustimmen. Er wollte den Körper, der vor ihm lag. Er wollte ihn bezwingen, seitdem er ihn das erste Mal auf der Bühne gesehen hatte. Bislang hatte sich Magnus ihm gegenüber verweigert. Doch nun forderte er ihn direkt auf, es zu tun.
Ob sich ihm die Möglichkeit noch einmal bieten würde?
Mit langsamen Bewegungen neigte Thor sich über den nassen Körper. Da er selbst nackt und mit Wassertropfen bedeckt war, nahm er die Vereinigung geradewegs auf.
Er packte Magnus‘ Gesäßhälften und spreizte sie auseinander. Ohne Umschweife bohrte er sein hartes Geschlecht zwischen Magnus‘ Spalt; missachtete das Stöhnen und das angestrengte Keuchen.
Mit Gewalt schob er sich vor. Er stemmte sich auf die Handflächen und startete mit kräftigen Stößen. Magnus verzerrte das Gesicht und rieb es auf der Erde.
Der Akt glich einem Übergriff und doch hatte Thor zu keiner Zeit das Gefühl, etwas gegen Magnus‘ Willen zu tun.
Der suggerierte, dass er Lust verspürte, und so stieß Thor fester zu. Er vollzog den Akt so wild und fordernd, dass der Leib unter ihm ungnädig hin- und her rutschte. Durch halb geschlossene Augen registrierte er, wie Magnus sich zwischen die Beine fasste, seine Männlichkeit umschloss und sich ebenso zackig rieb.
Der erlösende Moment dauerte nicht lange an. Magnus kam und Thor ließ sich mitreißen. Er spritzte ab; emotional beherrscht und doch ganz tief.
Für wenige Atemzüge blieben sie ineinander verkeilt, bis er sich löste, sich auf die Fersen setzte und verschnaufte.
Magnus verweilte zusammengekauert. Seine Augen waren geschlossen und seine Lippen bebten. Er zog die Hand aus seinem Schritt. Sperma hing in Fäden an seinen dürren Fingern.
„Kannst du gehen?“, bat er.
Thor hielt einen Moment inne. Hatte er richtig gehört? Wortlos richtete er sich auf.
„Geh, bitte!“, wiederholte Magnus, diesmal eindringlicher.
Es war ein Befehl in der Nacht, dem Fahlstrøm nachkam, wenn auch verhalten, vielleicht verstört. Kleine Steine hatten sich während des Aktes in seine Haut gedrückt. Still strich er sie ab.
Er griff nach dem Handtuch und verschwand …
*
Wie jeden Morgen erwachte Thor zeitig, ohne dass ihn ein Wecker aus dem Schlaf gerissen hatte. Er drehte sich und registrierte das wunde Gefühl an den aufgeschürften Knien. Die blutige Haut war mit dem Laken eine Verbindung eingegangen und riss bei seiner drehenden Bewegung auf.
Den brennenden Schmerz blendete er aus. Kaum stand er vor dem Bett, warf er einen Blick durchs Fenster. Magnus lag nicht mehr am Ufer des Sees. Was zwischen ihnen vorgefallen war, glich einem rätselhaften Traum.
Nicht selten unternahm Thor bereits am Morgen eine Wanderung zu seinem Großvater. Primär, um den ersten Spaziergang des Tages zu tätigen, um das Areal rund um die Häuser zu begutachten und zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Obendrein, weil die Beziehung zu Mats von großer Bedeutung für ihn war. Mats zeigte Interesse an seinem Enkel, er hörte zu, hatte Verständnis und manchmal einen Rat, wusste Thor nicht weiter.
Auch an diesem Morgen dauerte es nicht lange, bis sein Großvater erkannte, was ihm Sorgen bereitete.
„Was macht dein Gast?“, fragte er beim gemeinsamen Frühstück.
„Musste ihn gestern aus dem See fischen, hat vorgegaukelt, er könne nicht schwimmen“, berichtete Thor.
„Er wollte Aufmerksamkeit?“
Thor hob die Schultern an. „Möglich …“ Er kaute zu Ende und schluckte. „Werde noch nicht schlau aus ihm.“
„Trotzdem gut, dass du dich um ihn kümmerst“, erwiderte Mats. Er klopfte Thor auf den Rücken. „Deine Großmutter wäre stolz auf dich.“
Thor zögerte eine Antwort hinaus. Er strich sich über die Oberschenkel, dabei erinnerte ihn der Schmerz seiner Knie an das, was am Abend zuvor geschehen war.
„Wird sich zeigen, ob es gut ist.“
*
Da Magnus sich bis zum frühen Nachmittag nicht blicken ließ, übernahm Thor die Initiative. Kaum betrat er das Haus, was seinem schräg gegenüberlag, wusste er, warum sich sein neuer Bekannter bislang rargemacht hatte.
Magnus lag im Erdgeschoss auf dem Sofa und schlief. Offensichtlich lag er dort seit der vergangenen Nacht. Er hatte nichts an. Lediglich eine Wolldecke lag gerafft über seiner Körpermitte. Sein Gesicht war sandig, die Knie zerkratzt und am linken Ellenbogen machte Thor eine Verletzung aus, die mit Sicherheit von ihrer Kopulation am See herrührte.
Hart und brutal war ihre Zusammenkunft gewesen ... Und trotzdem erfüllend.
Fahlstrøm räusperte sich. Nachdem Magnus sich nicht regte, fasste er ihm vorsichtig an die nackte Schulter.
„Hei, du könntest langsam aufstehen“, meinte er.
Magnus erwachte, doch er schlug die Augen nicht auf.
„Geh duschen. Die Wunden sollen sich nicht entzünden“, riet Thor.
„Nei.“ Magnus zog die Wolldecke unters Kinn und entblößte dadurch seine dünnen Oberschenkel.
Eine Weile starrte Thor auf den trägen Leib, bevor er einen weiteren Vorstoß wagte.
„Nun steh auf, wir sollten reden.“ Sein Griff wurde fester.
„Nei ...“ Magnus drehte sich auf die Seite und präsentierte sein blasses Gesäß.
Thor sah weg, gab aber nicht auf. „Wieso schläfst du nicht oben im Schlafzimmer?“
„Betten sind nichts für mich“, nuschelte Magnus ins Kissen.
„Sind doch bequemer ...“
„Bequem ist das Letzte, was ich will.“
„Solange du mein Gast bist, hast du dich an ein paar Regeln zu halten“, tönte Thor dunkel. Mit einem Ruck drehte er Magnus auf den Rücken. „Also hoch jetzt!“
„Macht es dir Spaß, mich rumzukommandieren?“
„Gewiss nicht ...“
Magnus griente. Er setzte sich an die Bettkante. Mit der Wolldecke kaschierte er seine Blöße. „Und nun?“ Sein Blick zeigte eine Art von Sensationslust, fast so, als erwartete er eine große Show, aber Thor deutete lediglich in Richtung der Treppe. „Du gehst ins Bad und nimmst eine Dusche.“
„Ts!“ Magnus schüttelte den Kopf. Es machte den Anschein, als wollte er sich der Anweisung nicht fügen, doch konterte er nichts. Mit schleppendem Gang schlurfte er durchs Zimmer, in den Flur und die Treppe hinauf.
Während er eine Dusche nahm, räumte Thor auf. Er beseitigte das benutzte Geschirr vom Wohnzimmertisch und sammelte die dreckige Kleidung vom Boden auf. Auch in der Küche sorgte er für Ordnung. Eigentlich ging es ihm gegen den Strich, hinter Magnus herzuräumen. Auf der anderen Seite sagte ihm eine innere Stimme, dass er genau das tun musste, damit der junge Mann nicht völlig verwahrloste. Das Zimmer, in dem er hauste, sah schon schlimm genug aus. Thor entdeckte tote Insekten auf der Fensterbank und einen zum Bersten gefüllten Mülleimer. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass Magnus nie gelernt hatte, Ordnung zu halten. Sein Elternhaus hatte gepflegt ausgesehen und lag in einem angesehenen Viertel.
Es konnte kein pubertierendes Auflehnen sein, das er auslebte, denn das Jugendalter hatte er hinter sich gelassen. Magnus hatte anscheinend auch keine Probleme damit, Anweisungen zu befolgen, doch er benötigte deutliche Ansagen, das lag klar auf der Hand.
Thor kochte Kaffee und machte belegte Brote, dabei festigte sich seine Annahme, dass Magnus nicht hilflos war, sondern hilflos sein wollte.
Der Inhalt des Kühlschrankes hatte trist ausgesehen, sodass Thor sich an der Nahrung aus eigenem Bestand bedienen musste. Magnus hatte nicht eingekauft, vermutlich schien er auch nicht planmäßig zu essen.
Die Tatsache spiegelte sich in seinem Erscheinungsbild wider. Nur mit einem Handtuch um die Hüften kam er die Treppe herunter und präsentierte eine hagere Brust. Kraftlos nahm er auf dem Sofa Platz. Mit sichtbarer Skepsis blickte er auf Kaffee und Brote.
„Iss was, bevor du aus den Latschen kippst“, meinte Thor.
„Oh, ich muss nicht regelmäßig was zu mir nehmen“, sagte Magnus. Mit den Fingerkuppen schob er den Teller auf dem Tisch hin und her. „Letztes Jahr habe ich mal eine Woche lang nichts gegessen, bis mich meine Eltern in die Klinik gebracht haben.“
Auf Thors Stirn bildete sich eine Denkfalte. „Warum hast du das Essen verweigert?“
„Keine Lust.“ Magnus lächelte, doch ebenso hob er die Schultern an. „Aber Verhungern fühlte sich nicht gut an. Es war nicht das, was ich brauchte.“ Er griff nach einem Stück Brot und biss hinein. Den Kaffee schob er mit angewiderter Miene von sich.
„Was machten sie in der Klinik?“
„Zwangsernährung“, gab Magnus preis. Er kaute schwerfällig, als schmeckte ihm das Brot nicht. „Ich musste essen, damit sie mich entließen.“
„Du hast einiges durchgemacht“, stellte Thor fest. Abwartend stand er im Raum, irgendwie unpassend. Aber es schien ihm sinnvoller, Abstand zu bewahren. Die anfängliche Abfuhr hatte er nicht vergessen und Magnus bat ihn auch nicht näher. Stattdessen sah er gedankenvoll auf den Wohnzimmertisch. Er kaute nicht mehr, sondern grübelte und antwortete nicht.
„Okay, wenn du das Zimmer oben nicht nutzt, bleib hier unten. Doch wir sollten eine Wand ziehen.“
Augenblicklich sah Magnus auf. „Eine Wand? Ernsthaft?“ Seine Mundwinkel zuckten.
„Du brauchst Privatsphäre“, räumte Thor ein. Nachfolgend löste er seine Haltung und musterte die Küche und den offenen Essbereich. Eigentlich hatte er schon länger vorgehabt, zu renovieren, doch bislang war es nicht vonnöten gewesen, da die Räumlichkeiten nicht genutzt wurden. Früher, als seine Großeltern in seinem Haus gelebt hatten, durfte er hier wohnen. Nachdem seine Großmutter gestorben und sein Großvater näher an den Stadtkern gezogen war, hat die zweite Hütte leergestanden. Thor hatte das Haupthaus bezogen ... Besuch kam selten vorbei.
Prüfend rieb er sich den Bart am Kinn. Es sollte machbar sein, den Essbereich vom Wohnbereich abzutrennen.
„Wir besorgen Spanplatten und Ziegelsteine – gleich morgen.“
„Ich schaff das allein“, erwiderte Magnus.
„Zu zweit geht es schneller“, meinte Thor. „Alles Weitere besprechen wir heute Abend.“
*
Er kam in den Abendstunden wie abgemacht. Mit gewaschenen Haaren, in grauen ausgewaschenen Jeans und Metalshirt gekleidet, sah er geordneter aus als am Morgen. Thor hatte den Tisch in der Essecke für zwei Personen gedeckt. Magnus nahm still Platz und starrte auf den Teller. „Was gibt es zu essen?“
„Fisch aus dem See“, antwortete Thor. Da Magnus den Wein ablehnte, schenkte er nur sich ein Glas voll ein. Anschließend holte er gebratene Forellen, Pellkartoffeln mit Quark aus der Küche und drapierte die Speisen auf dem Tisch.
„Morgen werden die Ziegelsteine geliefert“, berichtete er. Nebenbei füllte er die Teller. „Ich suche jemanden, der uns beim Türsturz und dem Einbau der Tür helfen kann.“
„Brauch ich nicht“, meinte Magnus. Mit der Gabel pickte er ins Essen und schob es zwischen die Zähne. Sein blondes Haar war mit einem Scheitel frisiert und hinter die Ohren geklemmt, ansonsten wären ihm die Strähnen wohl auf den Teller gerutscht.
„Kannst du das denn?“, erkundigte sich Thor. „Ein Mauerwerk ziehen und eine Tür integrieren?“
Magnus hob die Schultern an. „Kann es probieren ...“
„Dein Ehrgeiz in Ehren, aber es wird besser und schneller gehen, wenn wir einen Fachmann zu Rate ziehen.“
Magnus antwortete nicht. Stattdessen stocherte er im Essen herum.
„Schmeckt es dir nicht?“, vergewisserte sich Thor.
„Geht so“, meinte Magnus.
„Was geht dir gegen den Strich?“, fragte Thor.
„Hör auf, mich zu behandeln als wüsste ich nicht, was ich will“, ertönte als Antwort.
Fahlstrøm hob die Augenbrauen an und lachte dunkel. „Oh, da ist jemand eigen.“
„Was willst du von mir?“ Magnus legte die Gabel ab. „Ich brauche keine Hilfe.“
„Ich denke schon, dass du Hilfe brauchst ...“
„Von dir? Vergiss es.“
Ihr Dialog verstummte. Sie aßen auch nicht weiter. Ein paar Minuten verharrten sie regungslos, bis Magnus sich erhob und Anstalten machte, zu gehen.
Thor blieb sitzen, doch mit einer raschen Bewegung fasste er nach Magnus‘ Arm. „Du gehst nicht.“
„Hast du nicht zu bestimmen.“ Ebenso flink riss Magnus sich los. Da kam Thor auf die Beine.
„Zügel deine Zunge, sonst knallt’s!“, drohte er mit erhobener Hand. Da sein Gegenüber nur lachte, schlug er ihm auf die Wange.
Und da geschah etwas Unerwartetes:
Magnus schrie nicht und zeigte auch kein Entsetzen. Stattdessen quittierte er den Schlag mit einem Lächeln und gespielter Gegenwehr.
Er holte mit dem Arm aus, als wollte er die Ohrfeige zurückgeben, aber ehe er sich zur Wehr setzte, schlug Thor ihn erneut. „Du willst wohl Ärger!“
Magnus rieb sich die gerötete Wange. Das Grinsen in seinem Gesicht verschwand allerdings nicht.
„Na, endlich hast du es begriffen“, sprach er gedämpft.
Thor fasste sich an den Kopf. „Du bist doch gestört.“
„Wenn du das so siehst, frag ich mich, warum du mich hergebracht hast!“
„Vielleicht, um zu helfen?“, stellte Thor in den Raum.
„Ich brauche deine Hilfe nicht“, wiederholte Magnus. Er drehte sich um, verließ das Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
*
Am nächsten Tag wurden die Mauersteine geliefert. Eine Menge, die ausreichte, um eine Wand zu ziehen. Vielleicht nicht so robust, aber zumindest zweckmäßig, sollten die Steine mit Spanplatten den Eingangsbereich mit Sitzecke von dem Wohnbereich abtrennen.
Thor ließ die Handwerker ins Haus gegenüber eintreten, doch unterließ er es, vorher nach dem Rechten zu sehen.
Der neue Mitbewohner hatte sich am vergangenen Abend stur verhalten, dazu frech und widersprüchlich. Thor konnte das nicht befürworten. Dennoch versuchte er stets, das Für und Wider einer Tat zu beleuchten. Aber Magnus Eidsvag hatte ihn an seine Grenzen gebracht. Da hieß es erst mal Abstand halten.
Normalerweise hätte Thor Nägel mit Köpfen gemacht und einen unbequemen Gast postwendend vor die Tür gesetzt.
Bei Magnus war es anders. Obgleich der beteuerte, keine Hilfe zu benötigen, war sich Thor sicher, dass er Hilfe brauchte – und ebenfalls ersuchte.
Der Zeitpunkt, um diese Unterstützung anzunehmen, war jedoch noch nicht gekommen.
Thor wollte ihm Zeit geben. Er war demzufolge nicht überrascht, als die Handwerker wenige Minuten später aus dem Haus kamen und abwinkten.
„Was ist los?“, rief er ihnen entgegen.
„Wurden rausgeschmissen“, berichtete ein Arbeiter. „Sollen wir einen anderen Tag wiederkommen?“
Thor dachte kurz nach und verneinte.
„Und die Baumaterialien?“
„Behalten wir. Danke!“ Thor nahm die Rechnung entgegen und sah den Männern zu, wie sie das Anwesen verließen.
Nach dem Rechten sehen wollte er dennoch nicht. Wenn Magnus meinte, die fachmännische Hilfe wie angekündigt abzulehnen, sollte er zusehen, wie er klarkam.
*
Fahlstrøm ging seinem Alltag nach. Er besuchte seinen Großvater, half ihm im Garten, machte einen Spaziergang und erledigte den Einkauf. Am späten Nachmittag bemerkte er, dass Magnus aktiv wurde, indem er das Haus verließ und sich im Schuppen an Hilfsmitteln bediente.
Thor ließ ihn walten und wartete ab – bis zum Abend …
Im Sommer machte er eigentlich immer ein Lagerfeuer, nicht nur, um sich daran das Essen zu erwärmen. Er zog die ruhigen Momente vor, die Stunden unter freiem Himmel.
In der warmen Jahreszeit wurde es auch in Oslo nicht komplett dunkel, sodass er am Abend sah, wie Magnus sich auf die Stufen seines Wohnhauses setzte und den Blick auf seine Hände richtete.
Irgendetwas war nicht in Ordnung. War der Moment gekommen, um erneute Hilfe anzubieten?
Thor stand auf und kam näher. Schon von Weitem registrierte er das Blut an Magnus‘ Händen. Offensichtlich hatte er die Steine geschleppt, die Wand gezogen, den Fugenmörtel angerührt – alles ohne Handschuhe und fremde Hilfe.
Keine Arbeit für einen jungen Mann, dessen Finger schmal und feingliedrig waren, dessen Fingerkuppen an die Saiten einer Gitarre gehörten und nicht an Sand und Stein.
„Sieht übel aus“, meinte Thor.
„Ich finde es okay“, erwiderte Magnus. Demonstrativ rieb er die geschundenen Handflächen aneinander und verteilte Blut und aufgerissene Hautschuppen auf der Außenseite seiner Hand.
Thor riskierte einen Blick in den Wohnbereich. Ausnahmsweise brannte dort Licht. Die Wand war gezogen. Nur mittig klaffte eine Lücke.
„Kann ich dir denn wenigstens mit dem Sturz und der Tür helfen?“
„Ja, vielleicht … aber nicht heute.“
„Okay.“ Thor gab sich mit der Antwort zufrieden. Das Blut an Magnus‘ Händen ertrug er hingegen schwerlich.
„Komm ans Lagerfeuer, ich verbinde die Schnitte.“
Thor war selten verletzt und wenn, tat er die Blessuren als Lappalien ab. Wohnte man in der Natur, musste man mit deren Einflüssen umzugehen lernen. Kälte, Hitze, Regen, Schnee, Stock und Stein. Er lebte seit seiner Kindheit damit.
Magnus hingegen schien ein Stadtmensch zu sein.
„Wo hast du gelernt, eine Wand zu ziehen?“, fragte Thor. Derweilen reinigte und desinfizierte er die Hände und versah sie mit einer Binde. In seiner Not hatte er sich am Verbandskasten des Wagens bedient, doch zog er es in Erwägung, sich für die Zukunft besser auszustatten.
Die Narben an Magnus‘ Unter- und Oberarmen sprachen Bände. Er ließ sich auch verbinden, als wäre es Routine für ihn. Es schimmerte sogar eine Art von Gefallen in seinen Augen. Konnte das sein?