Greenland - Justin C. Skylark - E-Book

Greenland E-Book

Justin C. Skylark

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Beschreibung

Nichts sollte unmöglich sein! - so lautet der Slogan des neuen Kreuzfahrtschiffs der Superlative, das neben faszinierenden Reisezielen auch mit Nachhaltigkeit glänzt. Gustaf von Andres-Rathenau - kurz Gus genannt - war an der Entstehung des Schiffes beteiligt und reist als Ehrengast mit. Drei Wochen lang möchte es sich der Mittdreißiger gutgehen lassen. Doch die Reise nach Grönland - via Schottland und Island - beschert ihm ungeahnte Emotionen. Ausgerechnet sein Ex-Freund Jan ist Kapitän des Schiffes. Ein Unfall, bei dem Gus sein linkes Augenlicht verlor, brachte ihre Beziehung damals endgültig zu Fall. Wird ihre alte Liebe neu entfachen? Und wer ist der blonde, junge Kellner, der Gustaf nicht mehr aus dem Kopf geht? Fremde Länder, andere Kulturen, kulinarische Streifzüge, das Meer und das einzigartige Bordleben, die Flucht aus der Einsamkeit und der Wunsch nach Veränderung - all diese Dinge begleiten Gus auf der wohl schönsten Reise seines Lebens.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Greenland

Der Weg zu dir

Justin C. Skylark

Greenland

Der Weg zu dir

Justin C. Skylark

[email protected]

www.jcskylark.de

Impressum

1. Edition, 2023

© J.C.Skylark, all rights reserved

24232 Schönkirchen, 2023

http://www.jcskylark.de

Cover: Irene Repp, www.daylinart.webnode.com

Bildrechte: © Prometeus / 123rf.com

Landschaftsfoto: Ilimanaq, Disco Bay © J. C. Skylark, 2022

[email protected]

Für Inge und alle, die ihre Träume leben …

Prolog

Gustaf von Andres-Rathenau, kurz Gus genannt, hatte einen erfolgreichen Job in der Kreuzfahrtbranche. Trotz seiner Augenverletzung war er zudem eine akkurate Erscheinung. Doch der Mann an seiner Seite, der fehlte. Und Grönland. Das hatte er auch noch nie gesehen ...

Tag 1: Abreise (Bremerhaven)

Rasant fuhr Gus auf den Hafenvorplatz. An der Schranke hielt er mit einer sanften Vollbremsung. Normalerweise verhielt er sich nicht wie ein Prolet, aber er war spät dran und zugegeben: Er wollte vermeiden, zeitgleich mit den anderen Gästen an Bord zu gehen.

Immerhin hatte er dieses spezielle Ticket, das ihm ein frühes Check-in ermöglichte und vermutlich auch sämtliche Türen des Schiffes öffnete.

Er mochte es beschaulich, ein wenig galant. In seinem Job liefen die Tage oft viel zu schnell. Es blieb kaum eine Minute, um innezuhalten, einen tiefen Atemzug zu nehmen oder zu resümieren. Das wollte er mit dem ersten Urlaub seit Jahren ändern.

„Sie reisen allein, Herr von Rathenau?“, fragte ihn ein Mann vom Hafenpersonal.

„Von Andres-Rathenau genau genommen“, korrigierte Gus seinen Familiennamen. Nachdem das Crewmitglied sein Ticket kontrolliert hatte, steckte er es zurück in die Seitentasche des Handgepäcks. „Ja, ich reise allein.“

„Also kein Butler, kein ... Chauffeur?“

Gus lugte durch das geöffnete Fenster des Wagens. Über seinem linken Lid lag eine Augenklappe, die er flüchtig berührte. „Warum fragen Sie nicht gleich, ob ich des Autofahrens bemächtigt bin?“

„Oh!“ Der junge Mann wand sich ein wenig. „Entschuldigen Sie bitte, aber ...“

„Auf Landstraßen 80 km/h, auf Autobahnen 100 km/h. Wollen Sie das ärztliche Attest sehen?“

„Nein, nein, in Ordnung.“ Der junge Mann trat zurück. „Ich wünsche Ihnen eine unvergessliche Reise und einen entspannten Urlaub bei uns an Bord.“

Gus nickte, wartete ab, bis sich die Schranke öffnete, dann fuhr er auf den Parkplatz, wo ihm die Koffer abgenommen wurden.

*

Eine Suite, die beste Kabine, das wusste er, denn die Deckpläne kannte er so gut wie seine Westentasche. Er hatte das nagelneue Schiff mit etwas Stolz und Andacht betreten, nicht nur, weil er an dessen Entstehung beteiligt gewesen war.

Es war das Erste seiner Art: nachhaltig gebaut, emissionsarm und dennoch in der Ausstattung allen Luxuslinern überlegen.

Eine Oase für die High Society, für Gäste, denen nichts zu teuer war, für Kreuzfahrer der Superlative.

Es war nahezu grotesk, dass er zu den Mitreisenden gehörte, denn eine Auszeit hatte er lange nicht mehr gehabt. Das wurde ihm richtig bewusst, kaum trat er auf die Veranda, um die frische Seeluft zu schnuppern und einen Blick über das Hafengelände zu werfen.

Inzwischen war die Schar der Gäste vor dem Terminal zu einer Traube gereift. Aber nur kurz, wie er zu seiner Zufriedenheit erkannte. Das Boarding verlief zügig. Es gab genug Personal, das Tickets, Personalien und die Gesundheitsfragebögen kontrollierte. Keine langen Wartezeiten, weder eine Schlangenbildung noch genervte Gesichter.

Der gespaltene Gedanke an drei Wochen auf See, der leichte Zweifel in ihm geweckt hatte, löste sich in Luft auf, denn allein seine Suite bot allerhand Raffinessen: eine Wohnfläche auf zwei Etagen verteilt, Panoramascheiben, die für einen ungehinderten Meerblick sorgten, einen Außenbereich mit Whirlpool, Hängematte und Lounge, eine Mini-Bar; einen Essbereich für die Mahlzeiten im Separee. Eine Treppe führte hinauf zum Schlafzimmer, auf das man von unten durch ein gläsernes Geländer blicken konnte. Es gab einen begehbaren Kleiderschrank und einen Springbrunnen mit Trinkwasser. Ganz zu schweigen von dem marmornen Badezimmer. Die Suite besaß außerdem einen exorbitanten Flat-TV und goldene Wasserhähne.

Es würde ihm an nichts fehlen. Vermutlich müsste er nicht einmal die Kabine verlassen, um unterhalten zu werden. Er lächelte in sich hinein. Es hätte schlimmer kommen können und er beschloss, es sich drei Wochen lang gutgehen zu lassen.

Ein zaghaftes Klopfen riss ihn aus seinen Träumereien. Flüchtig sah er auf die Zeitanzeige seines Handys. Das Auslaufen war für den Abend vorgesehen. Er hatte nichts geordert noch die digitale Sicherheitsübung, die einen Kontrollcheck beinhaltete, durchgeführt. Wer störte ihn also?

„Ja? Bitte?“

Niemand trat ein. Stattdessen klopfte es nochmals. „Moment!“ Gus hastete zur Tür, die sich von außen nur mit der Zimmerkarte öffnen ließ. Daran hatte er gar nicht gedacht.

Im nächsten Augenblick stockte ihm der Atem, denn vor der Tür stand weder eine Reinigungskraft noch der Zimmerservice. Er blickte in die braunen Augen von ...

„Jan?“

Wie in einer kleinen Schockstarre sahen sie sich an, bis Jan verschmitzt lächelte. So charmant wie damals.

„Ich hatte gehofft, dich jetzt schon zu sehen. Bist du gut hergekommen?“

„Ja, ja ...“, stammelte Gus. Er konnte nicht aufhören, Jan zu betrachten. Der steckte in der weißen Kapitänsuniform, dessen Schulterklappen – die sogenannten Epauletten – einen goldenen Stern und vier Streifen besaßen.

„Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich wiederzusehen“, meinte Jan.

„Ja, es ist eine Weile her ...“ Gus zog die Tür weit auf und deutete hinter sich. „Komm bitte rein. Wir müssen das nicht zwischen Tür und Angel besprechen.“

„Natürlich nicht.“ Jan betrat die Suite, hatte dabei einen Arm vor dem Bauch verschränkt. Er wirkte geordnet, fast akkurat, so, wie man es von einem Kapitän erwartete. „Das ist wirklich eine schöne Kabine“, äußerte er sich.

„Die beste, wie ich gehört habe.“ Gus trat neben ihn und gemeinsam sahen sie durch das Fenster.

„Das hast du dir auch verdient. Das Schiff ist wundervoll geworden.“

„Oh!“ Gus lächelte, doch er merkte, dass ihm die Äußerungen nicht gefielen. Sie waren nicht angebracht, nach so vielen Jahren. Und er hatte Probleme damit, Jan direkt anzusehen. „Unsere Firma hat nur dafür gesorgt, dass den Kreuzfahrtgegnern langsam die Argumente ausgehen. Für das Design sind andere Obrigkeiten verantwortlich.“

Jan nickte. Er drehte den Kopf zur Seite und fixierte Gus im Profil. „Es läuft noch gut mit der Firma?“

„Ja, bestens. Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Ich kann mich nicht beklagen ... Mein Vater hat sich zwar zur Ruhe gesetzt, aber mein Bruder Olaf übernimmt jetzt die Angelegenheiten im Ausland.“

Plötzlich machte Jan ein betroffenes Gesicht. „Oh, ich habe das von deiner Mutter gehört, tut mir leid.“

Gus deutete ein Nicken an und erwiderte die Beileidsbekundung mit einem Augenzwinkern. „Schon okay.“

„Bist du, hast du ...“ Jan suchte hörbar nach den passenden Worten. Gus konnte ihm das nicht verübeln. Auch für ihn war es schwer, den Dialog zu führen. Zu viele Jahre waren vergangen. Unausgesprochenes lag zwischen ihnen. Wo sollte man da anfangen? „Konntest du dich wenigstens mit ihr aussprechen?“

Gus schüttelte den Kopf. Das Thema schnürte ihm die Kehle zu. Als ältester Sohn und Stammhalter war es für ihn stets eine Herausforderung gewesen, seiner Mutter ins Gesicht zu blicken, mit dem Wissen, dass er ihr die ersehnten Enkel nie hätte schenken können. Sein jüngerer Bruder hatte das für ihn erledigt, aber für sie war es nie dasselbe gewesen. Doch inzwischen musste er sich mit dem Thema nicht mehr befassen.

„Das tut mir leid.“ Jan blickte wieder geradeaus. Für einen tiefen Atemzug stockte die Unterhaltung. Die Stimmung war nahezu erdrückend, vielleicht unangenehm, doch Gus hatte das alles erwartet, genau so, wie es in diesem Augenblick geschah.

„Und du hast dich auch nicht komplett erholt, wie ich sehe?“ Noch einmal wagte Jan die Konfrontation. Mit geweiteten Augen und leichtem Entsetzen im Gesicht starrte er auf die schwarze Augenklappe, die Gus‘ linkes Lid bedeckte und deren elastisches Band sich quer hinter seinem Kopf spannte.

„Das Auge konnten sie nicht retten“, erklärte Gus. „Ansonsten ist alles wieder in Ordnung.“ Das war gelogen. Er berichtete nichts von den Narben, die geblieben waren. Körperliche und seelische.

Er hörte, wie Jan nochmals seufzte und sichtbar in sich einbrach. „Das tut mir so schrecklich leid. Es war meine Schuld und ...“

„Oh, nein!“ Gus wirbelte herum. Sie sahen sich endlich an. ... Das, wovor er sich gefürchtet hatte, war ausgesprochen. „Niemand hat Schuld. Einen Verantwortlichen zu suchen, ist verkehrt. – Abgesehen davon saß ich am Steuer.“

„Aber wir haben gestritten!“, konterte Jan und seine Stimme zitterte. „Wegen mir, es war wegen mir.“

„Es bringt nichts, in einer Krise den Schuldigen zu suchen.“ Gus wich diesem Theater aus und senkte den Blick. „Bitte, lass gut sein. Es ist passiert und niemand ist schuld daran.“

„Oh, Mann ...“ Jan machte ein paar Schritte über den weichen grauen Teppich, legte die Hände in den Nacken und schloss die Augen. Vorwürfe, vielleicht hatte er sie sich jahrelang gemacht, aber Gus wollte davon nichts hören.

„Es sollte so kommen“, sagte er demzufolge, in der Hoffnung, das Thema abschließen oder zumindest mildern zu können. „Und wie ich sehe, hast du deinen Weg auch ohne mich gefunden: Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes.“ Er stieß einen leisen Pfiff aus und entlockte Jan sogar ein Lächeln damit. „Alle Achtung! Du hast dein Ziel erreicht.“

„Ich bin auch glücklich, dieses Schiff zu fahren – und dann in diese sagenhaften Gebiete.“

Jan ließ die Arme baumeln. Gus erblickte einen Ring an der rechten Hand.

„Und wie ich sehe, wartet jemand auf dich im Heimathafen?“, fragte er frei heraus. Verspürte er geradewegs etwas Neid?

„Ja.“ Jan hob die Hand und betrachtete seinen Ringfinger mit dem goldenen Ehering. „Seit fünf Jahren ist es offiziell.“

„Oh!“ Gus hob die Augenbrauen an. Einen weiteren Pfiff ersparte er ihnen.

Jan lächelte, doch es sah verkrampft aus. „Und du ... reist allein?“

„Ja, allein“, berichtete Gus wie aus der Pistole geschossen.

„Kommst du denn zurecht? Soll dir jemand beim Auspacken helfen? Ich kann auch einen Mitarbeiter vom Service schicken, der ...“

Gus winkte sofort ab. „Sprich nicht mit mir als wäre ich behindert. Mir fehlt ein Auge, mehr nicht.“

„Klar, entschuldige bitte.“

Das Wichtigste schien geklärt. Jan blickte auf seine Armbanduhr. „Ich muss zur Brücke, sorry, aber wir sehen uns sicher später nochmal.“

„Natürlich.“ Gus begleitete seinen Besuch zur Tür. „Du hast zu tun“, meinte er lächelnd. „Und ich werde auspacken und mir das Schiff mal genauer ansehen.“

*

Nachdem Gus seinen Schrank mit Kleidung und das Bad mit seinen Kosmetikartikeln bestückt hatte, machte er die digitale Sicherheitsübung. Dafür musste er sich durch das Dokument klicken und einen kurzen Film ansehen. Kaum hatte er das Formular im Handy ausgefüllt und abgeschickt, kam ein Mitarbeiter vom Service vorbei, der seine Bordkarte checkte und überprüfte, dass Gus sich mit der Rettungsweste vertraut gemacht hatte. Damit galt die Übung als abgeschlossen.

Anschließend startete Gus den Rundgang über das Schiff. Es gab drei Restaurants, fünf Bars, einen Fitness- und Spabereich, einen Frisör, einen Shop und eine Bibliothek, die aus hygienischen Gründen jedoch geschlossen war. Er sah sich das Theater an, das in zwei Ebenen verlief, dazu studierte er das Programm der nächsten Tage: Vorträge über Land und Leute, Workshops von Edutainern und Shows am Abend kündigten sich an.

Bei seinem Rundgang stieß er auch auf das Bordhospital und die Diskothek und meinte, beides sicher nicht in den drei Wochen aufsuchen zu wollen.

Auf dem obersten Deck genoss er die frische Luft und die Sonne, die ihn rasch wärmte. Von dort hatte er einen Rundblick über Bremerhaven, aber auch auf die anderen Gäste, die sich bereits im Pool vergnügten oder Burger mit Pommes vom Grill holten.

Am Nachmittag hatte er so viel gesehen, dass er meinte, schon lange unterwegs zu sein, dabei lagen sie nach wie vor im Hafen.

Gelegentlich linste er hinauf zur Brücke. Hinter den getönten Scheiben blitzten die weißen Hemden der Offiziere auf. Ob auch Jan unter ihnen war?

Gus holte sich in die Realität zurück. 12 Jahre waren vergangen, seitdem er mit Jan liiert gewesen war. Inzwischen hatte sich viel in ihrem Leben verändert. Sicher war er nicht auf dieses Schiff gekommen, um eine zerbrochene Liebe zu kitten.

Oder doch?

Das Kreischen der Möwen erinnerte ihn daran, dass etwas Einmaliges vor ihm lag: eine Kreuzfahrt, die viel versprach und ihn hoffentlich von seinem Alltag ablenkte.

Inzwischen war die Reling gut besucht. Die Gäste drückten sich gegen die Brüstung, trugen Handy und Fotoapparate mit sich, um den besten Schnappschuss zu schießen.

Gus begab sich zum Superior-Deck. Dort hatten nur erlesene Gäste Zutritt. Er kam rechtzeitig, um das Lösen der Taue mitzuverfolgen. Kurz darauf bewegte sich das Schiff vom Kai, das Wasser sprudelte, aus den Lautsprechern dudelte Musik und das Schiffshorn jagte ihm durch Mark und Bein. Er lächelte, verspürte eine Gänsehaut und atmete tief durch. Die Reise begann ...

*

Gus war es gewohnt, vornehm essen zu gehen, aber stets mit Geschäftsleuten und niemals allein.

Der Weg zum Restaurant, dessen Buffet sich über viele Gänge und Nischen zog, war demzufolge von gemischten Gefühlen geprägt.

Im Grunde genommen konnte ihm egal sein, was andere dachten, doch es blieb nicht aus, dass die Mitreisenden ihn beäugten wie eine Sonderheit. Denn er war Alleinreisender unter Paaren und Gruppen, die Vierer- und Sechsertische eingenommen hatten.

Seine Bedenken waren allerdings unbegründet. Schon von Weitem stieß er auf lächelndes Personal, das sogar seinen Namen kannte.

Ohne ein Wort, ohne nur einen Wunsch geäußert zu haben, geleitete man ihn an einen separaten Platz eines Zweiertisches – selbstverständlich ein Fensterplatz mit einer Trennwand zu den größeren Tischen.

Dennoch hatte er von hier aus nicht nur eine uneingeschränkte Sicht aufs Meer, sondern auch auf die Mitarbeiter und die anderen Gäste, die sich am Buffet bedienten wie ausgehungert.

Hatte er einige Reisende nicht am Nachmittag noch am Grill gesehen? Mit vollgefüllten Tellern und leuchtenden Augen brachten sie ihre Beute an die besetzten Tische.

Ob sie sich all die drei Wochen ebenso gierig verhalten würden?

Gus entschied sich für einen einzigen Gang zum Buffet am Abend inklusive Dessert. Er würde genug Zeit haben, alle Köstlichkeiten zu probieren.

Ehe er sich versah, war das Weinglas vor ihm gefüllt. Er bedankte sich auf Englisch, denn die Kellner waren asiatischer Herkunft: günstige Arbeitskräfte, die auf diesem Schiff jedoch mehr verdienten als Daheim.

Nach dem ersten Schluck Wein stand er auf und nahm sich einen beheizten Teller, der so warm war, dass er ihn kaum halten konnte. Die Essensauswahl bot sich ihm reichhaltig, wie erwartet: bunt und vielfältig. Zurück am Tisch blickte er auf Wildschwein, Gnocchi mit Bohnen und es schmeckte ihm.

Die erste Anspannung fiel ab. Er aß mit Genuss, beobachtete abwechselnd das Meer und die Kellner, die wie fleißige Bienen ihre Arbeit verrichteten: Tische abräumen, abwischen und neu bestücken, Gäste willkommen heißen oder sie verabschieden.

Während des Essens kam eine Durchsage des Kapitäns. Eine Wohltat. Gus hatte Jans Stimme schon immer gern gelauscht. Gebannt hörte er zu, wie der Schiffsführer alle Mitfahrenden begrüßte, den folgenden Seetag und den ersten Hafen ankündigte, eine schöne Reise wünschte und zum Schluss auf den Sektempfang am Pooldeck hinwies.

Diese Einladung ließ sich Gus nicht nehmen.

Auf Deck 11 standen die Gäste dicht gedrängt. Er kam rechtzeitig, um die Ansprache der Offiziere mitzuerleben. Jan war nicht unter ihnen. Natürlich nicht. Als Kapitän hatte er andere Dinge zu tun, als die Reisenden mit Sekt und Musik zu bespaßen.

Sie hatten Bremerhaven verlassen und ab sofort hieß es: Sie haben Urlaub!

In bunten Farben wurde der Champagner gereicht. Gus entschied sich für ein grünes Getränk.

Sein Durst war verhalten. Der Wein floss noch in seinen Venen und ließ ihn duselig werden. Er war das nicht gewohnt. Nach der Ansprache startete Live-Musik. Die Band machte ihre Arbeit gut. Einige Gäste tanzten, während das Schiff unter dem Sternenzelt an Fahrt aufnahm. Dunkle See – mit festem Ziel.

Nahezu unbemerkt verließ Gus die Feierlichkeit. Der Begrüßung beizuwohnen hielt er für seine Pflicht. Sehnen tat er sich jedoch nach Ruhe.

Während andere Reisende im Treppenhaus in Richtung Oberdeck strömten, steuerte er bereits am frühen Abend die Kabine an.

Irgendjemand hatte in seiner Abwesenheit Pralinen auf das Bett gelegt, dazu ein Notizheft mit der Aufschrift: ,Mein persönliches Logbuch‘. Gus schätzte diese Aufmerksamkeit und hoffte, dass es in den anderen Kabinen ebenso gehandhabt wurde.

Sein Bett, ein Doppelbett, besaß ein Seitenschläferkissen. Bettdecke und weitere Kissen trugen seine Initialen: G. v. A.-R..

Was für ein Aufwand für einen einzelnen Gast. Die Matratze wirkte von Anfang an bequem. Er ließ los und entspannte. Noch während er daran dachte, sich daheim ebenfalls eines dieser Kissen anzuschaffen, schlief er ein.

1. Seetag 

~ Wer an der Küste bleibt, kann keine neuen Ozeane entdecken. ~ F. Magellan

Gus hatte gut geschlafen. Das sanfte Brummen des Schiffes hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn, das Bett war bequem und von anderen Gästen hörte er keinen Mucks. So sollte Urlaub sein und er hoffte, dass die nächsten Wochen ebenso verliefen.

Am Buffet musste er das erste Mal lächeln, denn der Schriftzug Guten Morgen aus gebackenem Pancake-Teig war ein amüsanter Anblick. Sein Platz war reserviert – natürlich für ihn. Er fühlte sich nahezu fürstlich, so bedient zu werden. Das hatte er sich verdient, rief er sich Jans Worte in den Sinn. Was sein Ex wohl momentan machte? Ein Kapitän konnte nicht 24 Stunden auf der Brücke sein, das war klar. Heutzutage liefen viele Dinge auf einem Kreuzfahrtschiff automatisch, vorprogrammiert wie ferngesteuert. Helfende Offiziere hatten ebenso wichtige Arbeiten zu verrichten wie das Oberhaupt des Schiffes.

Trotzdem war der Kapitän ein Fachmann, der sich mit der gesamten Schiffstechnik, dem Navigieren, den Gefahren auf hoher See und der Meteorologie auskennen musste. Er war quasi ein Allround-Manager, der für die Planungs- und Überwachungsabläufe, Sicherheitsvorkehrungen, Ladungsvorgänge und diverse administrative Aufgaben verantwortlich war. Das forderte wahre Leidenschaft für diesen Beruf, ein sicheres Auftreten, ein hohes Selbstbewusstsein und ständige Einsatzbereitschaft.

Ob Jan in seiner Kabine war und sich von der Nachtschicht ausruhte?

Gus‘ Blick verlor sich in dem Gläschen mit Birchermüsli. Das schmeckte fabelhaft, obgleich er die Zutaten in dem gräulichen Matsch nicht durchweg identifizieren konnte. Die große Kanne Kaffee stellte ihn ebenso zufrieden. Es gab nichts auszusetzen an der Verpflegung. Auch der Service war zuvorkommend. Mit FFP2-Maske ausgestattet sahen sie allerdings alle gleich aus: Asiaten. Thailänder? Zumindest klein gewachsen und dunkelhaarig. Sie sprachen überwiegend Englisch, Männer und Frauen, fleißig und höflich.

Die Gäste trugen nur vereinzelt Masken, denn es war keine Pflicht an Bord. Gus hatte sich dafür entschieden, die Mund-Nasen-Bedeckung nur aufzusetzen, wenn er sich ins Gedränge begab. Das kam beim Buffet ab und an vor. Er wartete den Ansturm ab, bevor er sich nach Croissant und Lachsbrötchen einen Nachschlag holte: Joghurt und Obst, dazu einen Smoothie. Da er vorhatte, an den Seetagen Sport zu treiben, setzte er sich keinen Riegel vor die kulinarischen Köstlichkeiten. Daheim musste er vielleicht etwas Diät halten, doch bis dahin war noch lange hin.

Er studierte die Kellner. Nur einer von ihnen fiel ihm negativ auf. Hatte der von Natur aus einen schlurfenden Gang oder war er genervt von der Arbeit? Gus nahm sich vor, diesen Punkt auf seine Liste zu setzen, denn er war nicht nur Ehrengast dieses Schiffes, sondern würde auch am Ende der Reise um ein Resümee gebeten werden – um etwaige Mängel für zukünftige Fahrten beheben zu können.

Gus‘ Gedanken drifteten ab. Asiaten waren nicht sein Fall. Sie waren nett und aufmerksam, aber auf diesen Typ stand er nicht. Abgesehen davon hatte er mal gehört, dass Asiaten nicht sonderlich gut ausgestattet waren im Gegensatz zu dunkelhäutigen Männern. Denen wurde ja eigentlich immer ein üppig gebautes Gemächt nachgesagt. Meine Güte! Wie konnte er solche Gedankengänge hegen – schon beim Frühstück?

Er seufzte, sah sich um. Nein, ein Flirt würde wohl nicht zustande kommen. Zumindest nicht mit den Kellnern. Ob diese überhaupt mit Gästen anbandeln durften? Sollte er Jan mal danach fragen? Jan? Jan. Oje! Es war nicht einmal Mittagszeit und er dachte schon viel zu oft an seinen Ex.

Aber, was war das? Sah er da einen blonden Kerl unter den Bediensteten? Einen gertenschlanken Typ, vielleicht erst Anfang zwanzig mit hellen Haaren?

Gus reckte sich, versuchte, einen besseren Blick durch den Raum zu gewinnen, und schon stand ein Kellner neben dem Tisch. „Everything allright?“

„Ja, ja!“ Gus hob den Daumen. „Everything is perfect.“

Verschmitzt lächelnd sah er an der Servicekraft vorbei. Der blonde Jüngling war aus seinem Sichtfeld verschwunden.

*

Er rang mit sich und schließlich entschied er sich dafür, hinzugehen: Zum Alleinreisendentreff in einer der Bars, die bei Tageslicht ziemlich unspektakulär wirkten. Mit ihm zwanzig Gäste, vornehmlich Frauen. Er lächelte verhalten und kam dann doch nicht ins Gespräch. Stattdessen hielt er sich verkrampft am Sektglas fest. Er trank schon wieder Alkohol, das war echt nicht zu fassen.

Aus reiner Höflichkeit hörte er sich die Unterhaltungen der anderen an; wie sie über vergangene Reisen, von den Corona-Fällen in der Familie, geplatzten Festen und den Abenteuern mit Rotel-Tours plauderten.

Just stellte eine Dame ihr Glas ab, um das Treffen zu verlassen, reihte er sich ein.

Eine Runde unter Singles war nicht sein Ding. Da fühlte er sich fehl am Platz.

Der Vortrag des Lektors über ihren ersten Anlaufhafen Invergordon brachte dagegen spannendere Unterhaltung.

Noch faszinierender war jedoch das Referat eines Meereisphysikers über die größte Arktisexpedition unserer Zeit:

MOSAiC, kurz für Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate.

Ende 2019 trieb der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern eingefroren durch das Nordpolarmeer. Auf der Expedition erforschten Wissenschaftler aus zwanzig Nationen die Arktis. Sie überwinterten in einem Gebiet, das in der Polarnacht nahezu unerreichbar war. Auf einer ausgewählten und für passend befundenen Eisscholle schlugen sie ihr Forschungscamp auf und statteten es mit einem kilometerweiten Netz von Messstationen aus.

Kaum eine Region hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten so stark erwärmt wie die Arktis. Ziel der Expedition war es daher, ihren Einfluss auf das weltweite Klima besser zu verstehen. Das bedeutete: Wind, Wasser und Eis zu untersuchen, mit Hilfe von Eisbohrern, Tauchrobotern und Forschungsballons Proben zu nehmen und auszuwerten.

Die Mission unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts war verbunden mit nie da gewesenen Herausforderungen. Eine internationale Flotte von Eisbrechern, Hubschraubern und Flugzeugen versorgte das Team auf dieser extremen Route. Nur mit vereinten Kräften konnte die Expedition gelingen, selbstverständlich mit Hürden und Stolpersteinen.

Für einige Minuten war Gus gefangen in den Bildern und Erzählungen des Forschers. Auch kam er sich bisweilen wie ein Niemand vor.

Seine Firma trug zwar entscheidend für die emissionsarme Schifffahrt bei, doch eine Forschung im Eis unter erschwerten Bedingungen war eine andere Nummer.

Nach einer Runde Sport im Fitnessbereich fand er sich am frühen Abend erneut im Buffetrestaurant wieder. Derselbe Platz, der gleiche Kellner.

Er aß Schwertfisch, zum ersten Mal in seinem Leben, dazu Pasta mit der leckersten Bolognese, die ihm je auf der Zunge gelandet war.

Nebenbei suchte er den Raum nach dem blonden, jungen Mann ab, der ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.

Erst beim Dessert bemerkte er ihn. Konzentriert tischte er neue Speisen hinter der Anrichte auf.

Sofort hob Gus die Hand und keine zehn Sekunden später stand ein Kellner neben seinem Tisch.

„Excuse me, could I please speak to the blond waiter who just disappeared into the kitchen?“

Oh, das war gewagt, aber wollte er die Vorzüge des Schiffes nicht bis ins Detail austesten? Dazu gehörte auch die freie Wahl der Bedienung, oder?

„I’m sorry, he’s working behind the scenes today“, erklärte der asiatische Kellner. Chung war sein Name, wie der Schriftzug auf dem kleinen Schild seines weißen Hemdes präsentierte. Er hatte ihn schon am vergangenen Tag und am Morgen betreut. Meine Güte, wie lange ging denn dessen Arbeitszeit? „I am at your service“, bekundete er seine Dienste, die Gus abnickte. Trotzdem blieb er beharrlich. „I still want to speak to him“, erklärte er seinen Wunsch, mit dem blonden Kellner sprechen zu wollen. Um die Dringlichkeit seiner Bitte eine angemessene Note zu verleihen, zückte er sein Portemonnaie und schob einen Zwanzig-Euro-Schein über den Tisch. Diese Geste zeigte Wirkung.

Chung verbeugte sich kurz und knapp, nahm das Geld an sich und verschwand hinter der Schwingtür, die zur Küche gehörte.

Es verging höchstens eine Minute, bis er wieder herauskam. Mit einem Lächeln nickte er Gus zu und widmete sich anderen Gästen.

In den nächsten Atemzügen geschah nichts, außer dass Gus an seinem Weinglas nippte und die Schwingtür eisern beobachtete.

Kellner strömten hinein und kamen mit Speisen und Getränken wieder heraus. Schließlich erschien der Blondschopf auf der Bildfläche. Gus atmete genügsam aus.

Eigentlich stand er nicht auf Männer, die jünger waren als er. Und schon gar nicht auf blonde Löckchen. Aber der Boy, der die Aufmerksamkeit in ihm weckte, hatte unverkennbar krauses Haar. Das konnte auch die Gelfrisur mit Scheitel nicht kaschieren.

Irritiert sah sich der auserwählte Kellner zu den Seiten um, wischte sich die Hände an der Schürze, die er trug, ab und machte einen Schritt vor. Die Gäste drängelten am Buffet und ließen ihn kaum Beinfreiheit. Zwischen den Anrichten, die das Dessert und das geschnittene Brot präsentierten, blieb er stehen. Nochmals sah er sich um, bis er in Gus‘ Richtung schaute. Ihre Blicke trafen sich und Gus konnte sich ein Schmunzeln mit anschließendem Kopfnicken nicht verkneifen.

Der blonde Kellner wartete den Ansturm auf die Törtchen und Cremespeisen im Gang ab und bahnte sich einen Weg zu ihm.

Als er am Tisch stand, sah Gus mit Interesse auf. Der junge Mann war größer als von Weitem angenommen.

Er hatte fein geschwungene Lippen, einen schmalen Mund, der sein effeminiertes Aussehen unterstrich. Er besaß eine hohe Wangenpartie, mandelförmige Augen, wie die der Inuit, nur waren sie blau. Er war vermutlich ein Schwede, Däne oder Finne. Mit Sicherheit ein Nordländer.

„Excuse me, Mister“, sagte er. „You have asked for me?“

Seine Stimme war klar, nicht sonderlich dunkel. In gewisser Weise schwang noch ein Quäntchen Jugend in ihr.

„Yes“, erwiderte Gus. Er war bereits gefangen zwischen Faszination und Bewunderung für diesen reizvollen jungen Mann. Unbedingt wollte er ihn näher kennenlernen oder zumindest seine Gegenwart genießen.

„I was wondering: How come a white waiter to work among all the Asians. That’s unusual.“

„Oh, yes, I’m studying to be a restaurant manager.“

Gus runzelte die Stirn. „And that includes kitchen work?“

„Yes, Sir.“

„No Sir, please. Call me Gustaf.“ Gus spähte auf das Namensschild des Kellners und las: „Joey? Is that your name? It doesn’t suit you at all.“

„Oh. That is my bord name“

„Bord name?“, wiederholte Gus. So etwas Bescheuertes hatte er noch nie gehört. „So, your real name is different?“

Der junge Mann vor ihm senkte den Kopf, schien sichtbar zu überlegen. Würde er seinen wahren Namen preisgeben? Zu einer Antwort kam er nicht. Eine Frau, anhand ihrer Kleidung von höherem Rang im Bereich Service, kam an den Tisch, lächelte aufgesetzt und zog Joey sanft zur Seite. „Entschuldigen Sie, Herr von Rathenau, Chung ist für Sie zuständig.“

„Von Andres-Rathenau, wenn schon“, korrigierte Gus. Mit Wehmut sah er, dass Joey in der Küche verschwand. „Chung macht seine Arbeit gut“, lobte er, „aber ich würde gern den Service von Joey in Anspruch nehmen.“

Die Frau wiegte den Kopf hin und her. „Also eigentlich sind unsere Mitarbeiter den Gästen fest zugeteilt und ...“

„Ich zahle dafür extra“, unterbrach Gus sie. Den Blick hatte er von der Schwingtür abgewandt, nun fixierte er das Fräulein Wichtig haargenau. Wenn auch nur mit einem Auge. Sie sah kurz auf seine Augenklappe. Ob sie sich fragte, wie er zu der Behinderung gekommen war? Schließlich nickte sie mit einem Lächeln. „Ich werde sehen, ob es sich einrichten lässt.“

*

Nach dem Abendessen zog Gus einsame Kreise über die Decks und betrachtete den Sonnenuntergang.

Im Poolbereich steuerte er die Bar an, aber er bestellte sich nichts. Vielmehr waren es die Aschenbecher, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er war ein Genießer, nicht nur beim Essen und Trinken, sondern auch beim Rauchen.

Den Zigarillo danach gönnte er sich nur in erlesenen Momenten. Seit seiner Abreise hatte er nicht mehr geraucht; vornehmlich, weil auf dem Schiff Rauchverbot herrschte. Nur in den gekennzeichneten Bereichen durfte man qualmen – oder auf dem Balkon.

Er verspürte ein schlechtes Gewissen, kaum steckte der Glimmstängel zwischen seinen Lippen. Es war ungesund, der Rauch störend, der Geruch hing danach in der Kleidung und an den Fingern. War das erstrebenswert? Wollte er das?

Er zog ein paarmal an dem Zigarillo und drückte ihn früher als sonst aus. War er nicht in diesen Urlaub aufgebrochen, um etwas für sich zu tun? Drei Wochen – die sollten wie eine Kur auf ihn wirken. Nicht arbeiten, nicht denken, sich erholen, sich bewirten lassen ... Etwas für sich und die Gesundheit tun.

Er schwor sich, den Rest der Reise nicht mehr zu rauchen. In der Kabine steckte er die Schachtel samt Feuerzeug in den Koffer.

Stattdessen nahm er routiniert seine Abendmedikamente ein. Sie beugten dem Phantomschmerz vor, denn unglücklicherweise zählte er zu dem geringen Anteil von Menschen, der auf eine Enukleation – der Entfernung des Augapfels – mit Kopfschmerzen reagierte.

Er nahm die Tabletten mit einem Schluck Wein ein. Absolut kontraproduktiv, das wusste er, aber an diesem Abend waren ihm die möglichen Folgen egal.

Im Theater war der Kapitän geladen worden. Gern hätte Gus gehört, was Jan zu sagen hatte, doch er ging nicht hin.

Die Faszination für den Mann, den er einst für seine große Liebe gehalten hatte, wollte er nicht aufkeimen lassen. Das hätte nur Unruhe gebracht und alte Wunden aufgerissen, nicht nur, weil Jan inzwischen verheiratet war.

Gus betrachtete die letzten roten Strahlen, die am Horizont verschwanden, und ging früh zu Bett.

Invergordon (Schottland)

Ein leichtes Pochen herrschte in seinem Kopf, vornehmlich an der linken Schläfe. Doch das war ihm nicht fremd. Das hatte er, wenn er zu viel trank. Nur der Gedanke an den jungen Mann von gestern, der war ihm neu.

Voller Erwartung betrat er das Restaurant. Er freute sich auf das Frühstück, denn das war einmalig. Die Auswahl an Speisen und Getränken eine Augenweide.

Doch ebenso stellte sich Unzufriedenheit ein, da erneut Chung an seinem Tisch erschien und nicht Joey, wie verlangt.

Gus verkniff sich einen Kommentar. Er war ein wenig in Eile, denn der erste Landausflug stand ihm bevor.

*

Das Meer vor Schottland empfing sie mit zahlreichen Bohrinseln. Aus angemessener Entfernung sahen diese wie Inseln aus. Einige von ihnen sollten in jüngster Zeit abmontiert werden.

Invergordon – ein Ort, so trist wie Gus‘ derzeitiges Seelenleben. Grau, vergessen, trostlos. Profitierte die Stadt in den 70er Jahren vom Ölboom, mutierte sie nach der Ölkrise zu einer hunting town.

Übrig geblieben waren leerstehende Geschäfte und die Street Art, bestehend aus angemalten Häusern, die den Flair der einsamen Straßen aufpeppen sollten.

Wie er erfuhr, kam 2002 eine Gruppe Freiwilliger zusammen, um gegen die soziale und wirtschaftliche Not der Stadt vorzugehen. Eines ihrer Projekte war die Schaffung einer Kunstgalerie im Freien, in der die Geschichte und Kultur der Region durch große Wandgemälde dargestellt wurde. Der Wandwanderweg Invergordon off the wall bestand aus 17 Malereien.

Gus fragte sich allerdings, ob die Aktion mit Bildern von Pinguinen und einem real nachgestellten Häuserbrand geglückt war.

Mit dem Bus ging es über wenig befahrene, enge Fahrbahnen geprägt von einer fruchtbaren grünen Landschaft.

Nach einer Stunde Fahrt kamen sie am Ziel an.

Loch Ness. Das hatte er sich anders vorgestellt: geheimnisvoller, mysteriöser und dunkler. Der zweitgrößte und beliebteste See Schottlands empfing ihn bei Sonnenschein in idyllischer Natur. Touristenströme pilgerten zu den Ruinen des nahegelegten Urquhart Castle. Keine Sichtung von Nessie. Nicht einmal im Souvenirshop fand er eine nachgebildete Figur des Ungeheuers.

Stattdessen Shortbread und Whisky. Ja, die Schotten schrieben das Getränk ohne e, alles andere dauerte zu lange, wie er inzwischen mit einem Augenzwinkern erfahren hatte.

In der Burgruine waren sowohl das Gefängnis als auch die Latrine noch gut erhalten. Gus wusste nicht, ob er es belächeln oder mit Bestürzung aufnehmen sollte.

Wie mochte es sich anfühlen, in einem Verlies ohne Schutz sein Dasein zu fristen oder die Notdurft durch eine Öffnung in der Steinwand zu verrichten?

Er war froh, nicht in einer dieser Situation von einst zu leben. An sein Luxusleben hatte er sich gewöhnt. Ebenso genoss er die Freiheit, während des Ausflugs auf eigene Faust herumzuwandern. Voller Unternehmungslust machte er die ersten Fotos vom See und der Umgebung.

Am Ufer des Lochs war es steinig. Mit kleinen Wellen trieb das Wasser gegen das Land, als würde er am Meer stehen. Idyllisch, träumerisch. Vielleicht etwas zu heiter und unbekümmert.

Es war ungewöhnlich warm – in ganz Europa wie er seiner Wetter App entnehmen konnte. Keine Rede von einem tristen englischen Regen. In Inverness, der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Highland, war es fast zu heiß zum Flanieren, dennoch marschierte er in den Stadtkern, entlang am River Ness, der die Stadt teilte und mit zwei Hängebrücken überspannte. Mit der Sicht auf das Burgschloss auf dem Hügel, wo einst die Burg von Macbeth gestanden hatte, genoss er die britische Atmosphäre. Richtig wohl fühlte er sich allerdings nicht, sodass er zeitig an den Treffpunkt der Gruppe zurückkehrte und dort in der Kathedrale Zuflucht fand. Ihr Mauerwerk bestand aus rötlichen und cremefarbenen Natursteinen. Der Haupteingang war von zwei stumpfen, quadratischen Türmen geprägt.

Normalerweise war er kein gläubiger Mensch, aber auch kein Geizknochen. Doch als die ältere Dame am Eingang des Gotteshauses bekannt gab, dass der Eintritt 1 Pfund kostet, musste er passen: Er hatte gar kein englisches Geld bei sich.

Die Frau winkte ihn dennoch herein und er bedankte sich. In der Kirche war es kühl. Es dominierten die braunen Bänke und Verzierungen an Decke und Säulen aus gleichwertigem Holz.

Gus drehte nur eine kleine Runde, danach begab er sich wieder ins Freie und ließ sich von der Sonne bescheinen. Auf der Rasenfläche, die um die Kathedrale angelegt war, stand eine hölzerne Bank, darauf ein Spruch der Korinther geschrieben:

Let everything you do be done in love – Lass alles, was du tust, in Liebe geschehen.

*

Gus machte sich den Satz zu eigen und trat nach der Rückkehr auf dem Schiff nicht mit purer Unzufriedenheit auf. Mit gepflegter Höflichkeit erkundigte er sich bei der Rezeption, warum seine Bitte, den jungen Joey als Kellner zu bekommen, bislang keine Früchte getragen hatte.

Diese Unpässlichkeit klärte sich schnell auf. Joey hatte am Vormittag seine frei zur Verfügung stehenden Stunden genommen. Gus wurde versichert, dass eine Änderung im Servicebereich vorgenommen wurde.

Na also, dachte er sich, geht doch!

Am Abend machte er sich voller Erwartung auf zum Restaurant. Mit einer lässigen Routine nahm er seinen Platz ein und siehe da: Joey hatte Dienst und visierte auch sofort den Tisch an, kaum hatte sich Gus gesetzt.

„Good evening, Mister von Andres-Rathenau.“ Er verbeugte sich leicht. „White wine or red wine?“

Gus nickte anerkennend. „Finally someone who really knows my name.“ Er lächelte Joey an und wählte den Rotwein. Der junge Mann schenkte ihm ein.

„You still owe me an answer“, erinnerte Gus ihn, denn am Tag zuvor war ihr Gespräch unterbrochen worden. Die Diskussion über Joeys echten Namen war noch nicht beendet.

„Your bord name is Joey – and your real name?“ Wissbegierig blickte er in die blauen Augen des Kellners. An diesem Abend unterbrach sie niemand.

„Marvin“, erklang als Antwort.

„Marvin?“, wiederholte Gus. „Beautiful. Where does the name come from?“

„It’s a welsh name“, erwiderte Marvin.

„Oh, are you welsh?“, fragte Gus sofort.

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „No, I’m german.“

„German?“ Gus stieß ein Lachen aus. „Warum unterhalten wir uns dann auf Englisch?“

Marvins Wangen färbten sich rot. „Tut mir leid, der Herr, ich wusste nicht ...“

„Oh, bitte!“ Gus hob die Hände an. „Du musst dich nicht entschuldigen und lass das Herr weg. Das ist übertrieben.“

„Okay ...“ Marvin blinzelte. War er nervös? Gus betrachtete ihn weiterhin. „Darf ich Ihnen etwas vom Buffet bringen?“

„Das wäre sehr zuvorkommend, danke.“

„Gern geschehen.“ Marvin lächelte und wandte sich dem Essen zu, während Gus sich zurücklehnte, und es genoss, von dem jungen Kellner bedient zu werden.

Nachdem ein gut gefüllter Teller vor ihm stand und sein Weinglas aufgefüllt war, ließ er Marvin allerdings nicht ziehen.

„Auch schon zu Abend gegessen?“, hakte Gus nach.

„Noch nicht ...“, gestand Marvin. Galant hatte er die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug ein weißes T-Shirt, weiße Hosen und eine schwarze Schürze, die eng um seine schmalen Hüften geschnürt war.

„Dann nimm dir auch etwas und setz dich zu mir“, schlug Gus vor.

„Das geht nicht, Mister, äh, Herr von Andres-Rathenau. Ich bin im Dienst, muss mich noch um andere Gäste kümmern und in der Küche helfen.“

Gus nahm einen Bissen und nickte. „Knochenjob?“

„Es geht“, antwortete Marvin. „Es bringt Spaß.“

„Na, dann lass dich nicht aufhalten.“

„Guten Appetit, weiterhin.“

Gus bedankte sich. Marvin drehte sich um und kam anderen Gästen zu Hilfe. Er flitzte nach rechts und links, zum Buffet und zurück, verschwand in der Küche und trug Geschirr herum. Das sah wie harte Arbeit aus und Gus unterließ es, später um das Dessert zu bitten. Das suchte er sich allein aus und es blieb am Ende des Tages bei einem dankbaren Lächeln.

2. Seetag

~ Reisen bedeutet, herauszufinden, dass alle unrecht haben mit dem, was sie über andere Länder denken. ~

A. Huxley

Den Frisörtermin hatte er schon im Vorfeld gebucht. Bevor er zu dieser Reise aufgebrochen war, hatte seine Friseurin daheim ausgerechnet Urlaub gehabt. Warum also nicht den Haarschneidedienst an Bord nutzen?

Zu seinem Termin war es leer in dem Salon, der mit Panoramascheiben eine Sicht auf das Meer bot. Das Schiff fuhr so gemächlich, dass er fast vergaß, auf hoher See zu sein.

„Einfach nur überall kürzer“, sagte er zu der jungen Friseurin, die nickte und ihn dann doch fragend ansah, wie alle Dienstleister dieser Art, die er in den letzten Jahren aufgesucht hatte. Wie erwartet kam die übliche Frage: „Können Sie die Augenklappe abnehmen?“

„Nein“, sagte er mit gewohnter Konsequenz. Das brachte eine unterschwellige Spannung in den Salonbesuch, der eigentlich der Erholung dienen sollte.

Aber Gus verkrampfte sich. Den ganzen Service über drückte er die gewölbte Schale gegen sein Lid, damit ihm der Schutz nicht aus dem Gesicht rutschte, denn das Halteband am Hinterkopf musste natürlich gelockert werden, um die Haare dort schneiden zu können.

Am Ende der Prozedur gab er dennoch reichlich Trinkgeld, da sein Haarschnitt perfekt geworden war. Zudem wollte er nicht riskieren, dass man negativ über ihn sprach.

Gustaf von Andres-Rathenau – ein versnobter Schnösel, der sich anstellte? Niemals! Der Einklang mit seiner Außenwelt war ihm stets wichtig. So ließ er sich seine Bedrücktheit nicht anmerken und verabschiedete sich nahezu überschwänglich von der Frisöse, nicht ohne ihr mehrfach sein Lob für ihre Arbeit auszusprechen.

Im Fotoshop kaufte er Postkarten, obgleich der Versand überteuert schien und die Karten vermutlich erst ankamen, wenn er schon zu Hause war.

Aber irgendwie musste er von seiner Reise berichten. Warum nicht mit ein paar Zeilen an den Rest der Familie?

Er hörte sich Vorträge an: über den nächsten Hafen und die Bedeutung der Polarregion als Hotspot des Klimawandels, nicht ohne ein ungutes Gefühl zu verspüren.

Die Arktis ist Schlüsselregion des globalen Klimas. Die Lufttemperatur steigt dort doppelt so schnell wie im weltweiten Durchschnitt. Das Meereis nimmt ab, die Permafrostböden tauen. Aktuelle Forschungen ergaben, dass die Arktis in den nächsten 50 Jahren in den Sommermonaten eisfrei sein wird.

Diese Erwärmung zog nicht nur Folgen für das Ökosystem und die dort lebenden Bewohner und Lebewesen, sondern auch für das weltweite Wetter mit sich.

Ein beunruhigender Gedanke.

Um diesem zu entkommen, fand Gus sich am Nachmittag im Café ein. Kuchen und ein Cappuccino waren genau das Richtige, um die drohende Umweltkatastrophe für einen Moment zu vergessen.

Seinen Job in Zukunft noch gewissenhafter und nachhaltiger zu machen, wurde ein fetter Punkt auf seiner Liste.

„Sie wünschen, Herr von Andres-Rathenau?“

Diese sanft klingende Stimme holte ihn aus den Gedanken und er sah von seinem Notizbuch auf. Vor ihm stand Marvin – im passenden Moment.

Er war in weiße Hosen und ein gleichfarbiges Hemd gekleidet. Seine Locken kringelten sich auf der Stirn. An den Seiten trug er das Haar kürzer, im Nacken bis auf wenige Millimeter ausrasiert. Sein Anblick entlockte Gus ein Lächeln.

„Wie schön, dich zu sehen“, erwiderte er gefolgt von einem zufriedenen Nicken. „Und wundervoll, dass mein Tisch zu deinem Service-Bereich zählt.“

„Tut er nicht“, antwortete Marvin. Mit beiden Händen drückte er das leere Tablett gegen seinen Bauch. Eine abwartende Geste, die symbolisierte, dass er es nicht eilig hatte. „Aber ich bin für Ihr Wohl verantwortlich.“

„Wow.“ Gus hob die Augenbrauen an. „Heißt das, man benachrichtigt dich, wenn ich mich im Schiff irgendwohin setze?“

„Sie haben doch um meinen Service gebeten, oder nicht?“ Marvin neigte den Kopf zur Seite. Teils mit Skepsis, teils mit Unverständnis?

Gus kam indes aus dem Staunen nicht heraus. Seine Bitte war umgesetzt worden. In Zukunft würde er wohl öfter in den Genuss kommen, dem jungen Kellner in die blauen Augen blicken zu dürfen. Eine erfreuliche Vorstellung, die seine Stimmung mit einem Schlag hob.

„Ich nehme dann ein Stück Sachertorte und einen großen Cappuccino.“

„Sehr wohl, der Herr.“ Marvin machte auf dem Absatz kehrt. Gus sah ihm zufrieden hinterher, verlor ihn nur kurz aus den Augen und quittierte das erneute Erscheinen mit einem breiten Grinsen.

Marvin servierte den Kuchen und den Kaffee galant und mit Geschick. Ohne zittrige Finger, ohne Patzer, so dicht, dass Gus sein Deo riechen konnte. Oder war es Aftershave? Er war glatt rasiert, was seinem Äußeren das jugendliche Flair einverleibte.

Gus ertappte sich, wie sein Blick an den glänzenden Lippen hängen blieb.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Ja, setz dich zu mir“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

Marvin ließ die Hand samt Tablett baumeln. „Ich bin im Dienst.“

„Ja, für mich.“ Gus zwinkerte ihm zu. „Oder nicht?“

Marvin zögerte. Sein Blick war gen Boden geneigt, doch schließlich legte er das Tablett auf den Tisch und setzte sich auf den freien Stuhl.

„Wie lange arbeitest du heute?“, erkundigte sich Gus. Nebenbei schob er sich ein Stück der Torte zwischen die Zähne, spülte den klebrigen Kuchen mit Kaffee hinunter. Eine delikate Mischung.

„Von 17 bis 18 Uhr ist Pause, danach habe ich die Abendschicht im Buffet-Restaurant.“

Gus nickte. „Ein langer Tag.“

Marvin hob die Schultern an. Er lächelte nicht, schielte unentwegt zu seinen Kollegen, die andere Gäste bedienten. Gus hatte augenblicklich das Gefühl, dass er den jungen Mann zu etwas zwang, er sich ihm aufdrängte und ihn nur aufhielt. Das war nicht seine Art.

„Es gefällt dir wohl nicht, dass ich um deinen speziellen Service gebeten habe?“

Marvin sah nur ansatzweise auf. Seine Hände waren in den Schoß gebettet. „Es ist nicht alltäglich“, meinte er.

„Dieses Schiff wirbt mit dem Slogan: Nichts sollte unmöglich sein.“

„Ja.“ Marvin lächelte, aber nur kurz.

„Also?“ Gus ließ nicht locker. Während er den Kuchen aß, visierte er seinen Gesprächspartner gründlich.

„Sie zahlen dafür extra“, meinte Marvin. Nun sah er auf. Es war sogar leichtes Bestürzen in sein Gesicht geschrieben. „Ehrlich gesagt ist es mir etwas peinlich vor den Kollegen.“

Gus hob die Schultern an. „Ist es mir wert.“ Er leckte sich die Lippen.

Marvin schüttelte den Kopf. „Aber Sie haben das Schiff gebaut. Sie müssen doch bei der Reise damit nicht draufzahlen ...“

„Oh!“ Gus hob die Hände an und lachte. „Ich habe es nicht gebaut. Meine Firma hat lediglich dazu beigetragen, dass es den Blauen Engel bekommt.“

Nebenbei dachte er ans LNG, das emissionsarme Flüssigerdgas, mit dem das Schiff betrieben wurde und den grünen Landstrom, der in den Häfen genutzt wurde, an die riesigen Batteriespeichersysteme an Bord. Es gab keine Tickets oder Rechnungen auf Papier, stattdessen lief alles digital. Es gab keinen Plastikmüll – sprich: weder Plastikdeckel bei Getränken noch Strohhalme, Plastikbesteck, Mülltüten oder Folien. Auf Einweg wurde verzichtet oder durch Mehrweg ersetzt. Aus Meerwasser produzierte das Schiff das eigene Trinkwasser, aus dem sogar Bier gebraut werden konnte. Es wurde nachhaltig gekocht und das mit Bio- und Fairtrade Produkten.

In vielen Bereichen wurde über die internationalen Umweltstandards hinausgegangen. Und natürlich gelangten keine unbehandelten Abwässer ins Meer. Es gab biologische Membrankläranlagen an Bord, die einen Abwasserreinheitsgrad erreichten, der nicht einmal von Klär- und Reinigungsanlagen an Land erzielt wurde.

Alles zum Ziel einer klimaneutralen Kreuzfahrt.

Zu lange hatte diese Branche mit einem zweifelhaften Ruf zu kämpfen gehabt. Mittlerweile trug sie zu einer wichtigen Wirtschaftlichkeit bei. Viele Flotten engagierten sich zudem für soziale Projekte.

Es verpasste ihm stets ein Stich im Herzen, sprach man schlecht über die Luxusliner, denn Kreuzfahrtschiffe machten lediglich 0,5 Prozent der weltweiten Schifffahrt aus und waren – verglichen mit der gesamten Schifffahrtsbranche – Vorreiter in Sachen Umweltschutz.

„Sie engagieren sich viel für die Umwelt, ja?“, unterbrach Marvin seine stillen Überlegungen.

Gus nickte und ihm gefiel es, dass der junge Mann Interesse zeigte. Es war nicht gespielt, so schien es. „Wenn neben der Arbeit Zeit ist, versuche ich, auch privat ökonomisch zu leben.“

„Das ist toll“, erwiderte Marvin. Das Gespräch stockte. Kurz sahen sie sich stillschweigend an.

Gus dachte an den Vortrag, an den Klimawandel und dass es so viel zu bedenken gab, nicht nur in Hinsicht auf den guten Ruf der Kreuzfahrtbranche. Ein Fiasko der Erdatmosphäre konnte nur verhindert werden, wenn jeder mitmachte. Am besten schon gestern. Seine Liebe zum Meer war tief in ihm verankert. Der Antrieb seiner Firma war das Ziel des Schutzes des marinen Ökosystems. Dazu gehörte der sparsame Umgang mit Ressourcen und die Arbeit an emissionsneutralen Antriebstechnologien.

Die Zukunft lag in jedermanns Händen. Nicht nur in seinen, auch in Marvins, die etwas nervös an der Tischserviette kneteten.

Der Platz war für zwei gedeckt. Aber nur vor Gus stand das Geschirr.

„Warum holst du dir nicht auch einen Kuchen?“, fragte er demzufolge.

„Ich bin doch im Dienst“, meinte Marvin und ließ die Serviette los.

„Ach ...“ Gus winkte ab. „Wenn ich möchte, dass du mit mir Kaffee trinkst ...“

Nun hatte er es geschafft. Marvins linker Mundwinkel schob sich leicht nach oben.

„Sie sind akkurat und zuvorkommend“, meinte er.

Gus kam ihm entgegen und erwiderte das Lächeln. „Schlimm?“

„Nein“, antwortete Marvin. „Aber typisch deutsch. – Sie erinnern mich an …“

Gus reagierte sofort „Sag bitte nicht an Stauffenberg, den Vergleich habe ich schon zu oft gehört.“

Marvin lächelte mutiger. „Na ja, Ihre Frisur und die Augenklappe ...“

Gus hob seine Hände an. „Aber ich habe noch alle Finger und keine Erfahrung mit Sprengstoff.“

Sie lachten lauter.

Das Eis schien gebrochen.

Gus stützte sich auf die Ellenbogen, faltete die Hände vor sich und sprach ganz vertraut.

„Ich möchte, dass du mich zu den Landausflügen begleitest.“

„Zu welchen?“, fragte Marvin gespannt.

Gus überlegte nicht lange. „Zu allen.“

Seyðisfjörður (Island)

Die Neugier auf das Land der Elfen trieb ihn frühzeitig an Deck. Vermutlich auch die dortige Einlaufaktion: Isländische Heferolle, Kaffee und Schokolade mit den Offizieren.

Wer konnte da schon Nein sagen?

Nach dem ersten Schluck des heißen Getränks und einem Bissen der klebrigen Zimtschnecke bereute er es nicht, früh aufgestanden zu sein.

Der Morgen begann mit Nebelfeldern, die auf den Berggipfeln hingen wie weiße Hauben. Doch schon nach kurzer Zeit lichtete sich die Sicht und die Bergformationen wurden mit einem Regenbogen untermalt – ein klischeehafter Vorbote?

Wie skizziert erschien die Kulisse des blauen Himmels, gefüllt mit Schäfchenwolken über den grün-grauen Bergrücken. Das bunte Farbspiel darüber wirkte fast unecht.

Gus machte ein Selfie, obwohl sein Antlitz geprägt war von Müdigkeit und das frisch geschnittene Haar nicht gestylt war wie gewohnt.

Es war ihm egal. Er lächelte in die Kamera des Handys, um diesen Moment festzuhalten.

Zwischen den Offizieren erkannte er Marvin, der fleißig Kaffee ausschenkte. Gus seufzte. Wie konnte er annehmen, dass der junge Mann ihn wirklich an Land begleiten würde ...

*

Seyðisfjörður, auf deutsch Feuerstelle, lag rund 680 km von Reykjavik entfernt am Ende des gleichnamigen, langgezogenen Fjords. Der idyllische Ort tief in den Bergen zählte 700 Einwohner und war geprägt von bunten Häusern, kleinen Cafés und ortsansässigen Künstlern, die ihre kreativen Werke anboten. An jeder Ecke gab es etwas zu entdecken.

Schon vom Schiff aus erblickte Gus die „Blaue Kirche“ wie ein Eyecatcher; inmitten des überschaubaren Ortes, von hohen Bergen umsäumt, eine der imposantesten Gotteshäuser Islands.

Einladend davor, die Norðurgata, die Regenbogenstraße. Laut dem Lektor des Schiffes niemals ohne zugehörige Menschenansammlung.

Gus hatte Glück. Er musste nur wenige Minuten warten, bis die Sicht auf die Kirche ungestört war und er Fotos schießen konnte – frei von störenden Touristen oder ungewollten Fotobombern.

Regenbogenfarben inmitten eines Ortes, der nicht nur einladend, sondern auch aufgeschlossen wirkte.

Der bunte Pfad – ein Zeichen der Toleranz – wahrlich ein schöner Anblick und er dachte seit Langem an seine Gesinnung, an die schuldvollen und schamhaften Gefühle, die ihn viele Jahre seines Lebens begleitet hatten.

In der Tat waren sie mit dem Tod seiner Mutter verschwunden. Erst danach konnte er durchatmen und sich gestatten, ein wenig anders zu sein, als dass es von ihm erwartet wurde.

Familie und Enkel, das konnte er seiner Mutter nie schenken und sie hatte ihn bis zuletzt dafür verurteilt.

Nun war Schluss damit, sagte er sich. Er schob die dunklen Gedankenfetzen beiseite und genoss den Blick in den Himmel.

Regenwolken kündigten sich an, doch er ließ sich davon nicht abhalten.

Strammen Schrittes marschierte er durch den Ort, am Hafen und der Fischfabrik vorbei hinauf in die isländische Idylle.

Auf unebenem Weg gelangte er auf seinem 20-minütigen Marsch zu einem Wasserfall, der ihm zusätzlich das Gefühl gab, endlich frei zu sein.

Die Klangfigur Tvísöngur bildete den grauen Kontrast zwischen grünem Gras.

Sie war von dem deutschen Bildhauer Lukas Kühne in Anlehnung an den isländischen Zwiegesang – dem eine Fünfton-Harmonie zugrunde lag – erbaut, und bestand aus fünf unterschiedlichen Klangdomen. Nur vereinzelt trauten sich Touristen, den Sound der Betonkuppeln auszutesten.

Gus setzte sich auf einen Felsbrocken und genoss die Aussicht auf den Fjord. Nein, verstecken wollte er sich nicht mehr.

*

Zurück auf dem Schiff klopfte es am Nachmittag an seiner Tür. Für einen winzigen Augenblick hatte Gus die Hoffnung, dass möglicherweise Jan ...

Nein, er hatte sich getäuscht. Im Flur stand Marvin – allerdings in der blauen Kluft der Schiffsguides.

Gus reagierte irritiert. „Ja, bitte?“

„Ich sollte Sie doch begleiten“, erwiderte Marvin mit einem schüchternen Lächeln. „Der Ausflug, den Sie gebucht haben, beginnt in zehn Minuten.“

„Ja, das stimmt.“ Gus spähte in den Flur. Niemand sonst war da, nur der junge Mann, der aussah wie bestellt und nicht abgeholt. „Ich dachte nur eher privat, also ...“

„Ich bin im Dienst“, erinnerte Marvin ihn abermals.

„Na schön, bin gleich fertig.“ Gus schloss die Tür und eilte ins Bad, wo er seine Frisur kontrollierte, den Sitz der Augenklappe und vorsorglich das WC benutzte. Bei den Landgängen konnte man nie wissen, wann und wo sich ein stilles Örtchen auftat.

Er merkte, dass sein Herz schneller schlug. Der Eile zu verschulden oder vor Aufregung?

Natürlich freute er sich, dass Marvin ihn tatsächlich begleitete. Doch in der Ausgehkluft des Schiffes, die sofort erkennen ließ, dass er ein Mitarbeiter war, konnte sich wohl kein vertrautes Gefühl einstellen, oder?

*

Sie nahmen an einer geführten Wanderung teil, die sie und eine kleine Gruppe durch die malerische Landschaft leitete. Über schmale Pfade gelangten sie von einem Wasserfall zum nächsten, jeder auf seine Art und Weise beeindruckend.

Frei laufende Schafe begleiteten ihren Weg, in der Ferne ein paar Pferde, die laut Guide zwar keine wilden Islandponys waren, aber auch ohne Zaun nicht wegliefen und ihre festen Besitzer hatten.

Die Umgebung war geprägt von saftigem Grün und braunen Erdhügel, kleinen Seen und Bachläufen. Bei dem Anblick kamen Gus Werbesequenzen von Kerrygold in den Sinn – nur waren sie nicht in Irland und es fehlten die Galloway-Rinder.

Zum Schluss die Geschichte der Elfen, die noch immer in den Bergen und Hügeln Islands lebten. Der Guide erzählte von einem Mann namens Magnus, der sich einst der Landschaft zu eigen gemacht hatte. Er baute Mauern und siedelte Schafe an, breitete sein Grundstück aus, ohne die Warnungen der Elfen ernst zu nehmen und die Natur zu achten.

Ihren Drohungen über ein Unheil, das Magnus ereilen würde, zöge er sich und seine Mauern nicht zurück, folgten keine Taten. Bis der Krieg kam und ein Erdrutsch, der die Bevölkerung – samt Magnus - in die Bucht vertrieb, wo sie bis heute geblieben war.

Von da an hatten die Elfen ihre Ruhe. Sie gestatten den Menschen, ihre Heimat zu besuchen und auf ihren Pfaden zu wandern, doch ansiedeln sollte sich niemand mehr auf den Hügeln und grünen Feldern.

Die Geschichte gefiel ihm. Sie passte zu dem Ort, der mystisch, verlassen und trotzdem einladend wirkte. Auch war es schön, dass Marvin an seiner Seite weilte.

Doch sie sprachen nicht viel während der Wanderung; vielmehr spazierten sie gedankenversunken hintereinander her. Es war, als tat der junge Mann das nur, weil es ihm aufgetragen wurde.

Das missfiel Gus. Trotzdem lächelte er Marvin in jeder möglichen Minute freundlich an. Sie fotografierten sich gegenseitig und als der Weg steiler und etwas steiniger wurde, passten sie aufeinander auf.

Auf der Busfahrt zurück saßen sie schweigend nebeneinander. Gus quälte der Gedanke, dass er sich unpassend verhielt. Kurz bevor sie den Hafen erreichten, zückte er demzufolge seine Geldbörse, entnahm ihr ein paar Scheine und steckte sie seinem Begleiter zu.

„Für die Unannehmlichkeiten“, sagte er leise.

„Oh, nein!“ Marvin bog sich im Sitz und nahm das Geld nicht an. „Sie müssen das nicht extra bezahlen, das haben Sie doch schon.“

Gus nickte. In der Tat hatte er für den Extraservice bezahlt, aber nicht, weil es von ihm verlangt wurde, sondern weil er sich großzügig geben wollte. Zu der Reise, die für ihn kostenlos verlief, war er eingeladen worden. Warum sich nun nicht anderweitig erkenntlich zeigen?

Ebenso wurde ihm bewusst, dass diese Tat aus Verzweiflung herrührte, denn er war allein auf dem Schiff und Jan hatte sich seit der Abreise rar gemacht.

Musste er sich die Gesellschaft des jungen Kellners wirklich erkaufen? Wenn ja, war das tatsächlich peinlich, sogar traurig.

„Tu mir den Gefallen und nimm es“, sprach Gus gedämpft. „Als Trinkgeld, bitte, und entschuldige, dass ich dich in diese Lage gebracht habe.“

„Aber ...“ Marvin nahm das Geld an. Seine Finger zitterten leicht. Vor Kälte oder vor Aufregung? Sie waren schlank und feingliedrig. Er hatte sauber gefeilte Fingernägel. Überhaupt war alles gepflegt an ihm, so, wie man es von einem Mitarbeiter im Service erwartete.

Gus blickte in seine blauen Augen, die sich erschrocken geweitet hatten. Sein Starren war unpässlich, genauso wie sein Verhalten. Was war bloß in ihn gefahren? „Es tut mir leid.“ Er sah hinaus. Regenwolken türmten sich am Horizont. Im Hafen lagen zwei Robben auf einem Felsen. Auf der Straße tauchte eine andere Ausflugsgruppe auf, die die Stadt auf dem Fahrrad erkundet hatte.

„Es muss Ihnen nicht leidtun“, hörte er Marvin sagen. „Es hat mir gefallen.“

Gus drehte seinen Kopf zurück. „Wirklich?“

Sein Begleiter nickte und das reichte aus, um die kläglichen Zweifel für eine Weile zu verscheuchen.

*

Hirschragout mit Kartoffelgratin, dazu Ei mit Kaviar bestückt, ein paar Happen Pasta und ein wenig Gemüse. Gus genoss das Allerlei auf dem Teller – ob es zusammenpasste, war nebensächlich. Hauptsache, es schmeckte. Wieder Wein. Er machte sich gar nicht mehr die Mühe, nur nach einem einzelnen Glas zu fragen. Die Karaffe blieb so oder so auf dem Tisch stehen. Demzufolge bediente er sich reichlich daran, wurde ihm nicht nachgeschenkt.

Das Motto des Abends war Skandinavien. Aus diesem Grund standen hier und da kleine Trollfiguren am Buffet. Zum Nachtisch gönnte er sich ein Stück Blaubeerkuchen.

Marvin sah gestresst aus, sodass Gus es vermied, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sie hatten diesen schönen Ausflug zusammen verbracht, mehr konnte er von dem jungen Mann nicht verlangen.

Er protestierte auch nicht, als es ausnahmsweise Chung war, der ihm das Wasserglas füllte.

„Much work today“, meinte der. „Much work.“

Gus bedankte sich, nippte am Glas und ließ die Blicke weiterhin schweifen. Im Restaurant war es tatsächlich voller als sonst. Die Gäste waren des reichhaltigen Essens nicht müde geworden – im Gegenteil. Wie ausgehungert stürmten sie die Anrichten. Die Servicekräfte kamen kaum hinterher, um aufzufüllen. Fehlte irgendwo der Nachschlag, gab es lange Gesichter und meckernde Kommentare.

Aber ja, die Reisenden waren hungrig vom Tag, gesättigt nur von dem Erlebten – am Abend hieß es essen und trinken, bis sich die Hose spannte.

Das war beschämend, wie Gus fand, denn er wusste, dass die meisten Angestellten auf dem Schiff ihr Geld für die Familie daheim verdienten. Dort, wo der Wohlstand nicht groß geschrieben wurde, wo man wenig erwirtschaftete und vielleicht am Limit lebte.

Gus tat gut daran, seinen Prinzipien treu zu bleiben: Alles kosten, doch in Maßen. Nicht nörgeln oder ungeduldig sein.

Plötzlich hielt er inne, traute seinen Augen kaum: Jan betrat das Restaurant mit zwei Schiffsmitgliedern. Sie trugen ihre Uniformen. Die Begleiter hatten drei Streifen auf ihrer Schulterklappe, wie Gus erkannte. Demzufolge gehörten sie ebenfalls einem höheren Rang an. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz einen Hopser machte und nachfolgend aufgeregt schlug. Just in diesem Moment blickte Jan in seine Richtung. Sie sahen sich an. Der Kapitän entschuldigte sich bei seinen Kameraden und kam zu Gus an den Tisch.

„Guten Abend, der Herr, darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Gus lächelte und deutete auf den freien Stuhl. „Dem Schiffsführer kann ich wohl keinen Korb geben, oder?“ Er zwinkerte Jan zu. Der setzte sich und bediente sich sofort an der Karaffe mit Wasser. „Wie geht es dir? Hast du dich eingelebt?“

„Ja, denke schon“, erwiderte Gus. Im Stillen zählte er nach. Es waren vier Tage vergangen, seitdem er seinen Ex gesehen hatte. Es kam ihm länger vor.

„Kollegen?“, fragte er und deutete zum anderen Tisch, an dem sich Jans Begleiter gesetzt hatten.

„Zwei der Sicherheitsoffiziere“, erklärte Jan.

„Ich dachte, ihr esst immer separat?“

„Tun wir, aber gelegentlich gilt es, Präsenz zu zeigen.“ Jan schmunzelte und nahm einen Schluck Wasser. „Auch lockt uns ab und zu das Buffet hierher.“

Sie lachten gemeinsam, fast unbeschwert, als wäre nie etwas Schlimmes zwischen ihnen geschehen. Das war surreal und Gus konnte über ihr Miteinander nur staunen.

„Darf ich Ihnen auch einen Teller zusammenstellen?“ Marvin stand neben dem Tisch, wie von Geisterhand erschienen. Fragend blickte er Jan an, der sogleich abwinkte.

„Danke, ich bediene mich selbst.“ Er zwinkerte Gus zu und erhob sich.

„Und bei Ihnen, auch noch alles in Ordnung?“

„Ja, ich ...“ Gus schluckte bewegt. Für einen kleinen Moment wusste er nicht, wohin er seine Blicke lenken sollte: zum Kapitän, der mit Teller bewaffnet das Buffet stürmte oder zu dem jungen Kellner, dessen Locken an diesem Abend lässig über der Stirn hingen.

„Alles bestens, danke.“

Marvin verneigte sich und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Er hatte nicht gelächelt. Ob es an dem Stress lag, der hörbar in der Luft hing? Immer wieder kam Gus eine Welle von Stimmen entgegen; von palavernden Passagieren und Mitarbeitern, die sich lauthals austauschten.

Im Verlauf des Essens unterbrach ein Scheppern ihr angeregtes Gespräch. Gus lugte an Jan vorbei und sah, wie Marvin in die Küche eilte. An einem benachbarten Tisch war ein Glas in viele kleine Stücke zerbrochen. Hatte er es fallen lassen?

Fräulein Wichtig erschien auf der Stelle, entschuldigte sich bei den Gästen, während Marvin mit hochrotem Kopf samt Handfeger und Schaufel zurückkam und das Scherbenmeer vor den starrenden Leuten auffegte.

Jan hatte dem Spektakel nur kurz Aufmerksamkeit geschenkt. Genüsslich löffelte er das Sorbet aus dem Gläschen.

„Und was hast du für morgen geplant?“, fragte er nebenbei.

„Einen Ausritt“, erklärte Gus. Er zwang sich, wegzuschauen, Marvin nicht beim Putzen zuzusehen, sondern das Augenmerk auf sein Gegenüber zu lenken.

„Ist das nicht ...“ Jan stoppte. Seine Lider zuckten irritiert. „Kannst du ...“

„Ich bin nicht blind und reiten kann ich, wie du weißt.“ Gus antwortete mit Nachdruck und ließ den Kommentar sogar zweideutig klingen.

Jan lächelte. „Ja, klar, sorry.“

Sie schwiegen und kamen erneut an den Punkt, der ihr Zusammensein unbequem werden ließ. Es war eben nicht mehr wie früher. Warum machte es den Anschein, als würden sie die Vergangenheit ausblenden wollen?

Auf der anderen Seite mochte Gus ihr Miteinander nicht mit trüben Gedanken quälen und die Reise dadurch schmälern.

In Erinnerungen schwelgen oder der Zukunft Einzug gewähren, das war die entscheidende Frage. Gus blickte auf den Ehering seines Verflossenen. Er sah edel aus, glänzte gepflegt. Missgunst keimte auf, denn er selbst hatte bislang nicht den Richtigen gefunden. Einst hatte er gedacht, dass er mit Jan steinalt werden würde. Ein Trugschluss.

Nach den Hintergründen der Eheschließung fragte er nicht. Noch nicht! Stattdessen ...

„Bist du so weit?“ Die zwei Sicherheitsoffiziere standen neben dem Tisch und machten die verkrampfte Atmosphäre endgültig zunichte. Jan legte den Löffel ab, nahm einen letzten Schluck des Wassers und nickte.

---ENDE DER LESEPROBE---