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In vier längeren Kurzgeschichten erzähle ich, wie es weitergeht für meine Helden aus »Stollenblut«, »Meisterdiebe«, »Faustpfand« und »Dämonenhatz«. Der Wiederaufbau der Minenkolonie scheint vor allem Vorrang für Arev zu haben, was Enris gar nicht gefällt. Wie geht es für die Meisterdiebe Sian und Yoreq weiter, da Sian versucht, sich der Herrschsucht der Königsmutter zu entziehen? Was kann Jolian mitten in einem Putsch ausrichten, um Aenyns Schwester zu retten? Und wie weise ist es von Bajas, seinen Auftrag vor Davil geheim halten zu wollen? Der Magie verfallen – das ist eine Gay-Fantasy-Reihe um Krieger und Magier, Priester und Diebe. Jeder Roman erzählt die Romanze zweier gegensätzlicher junger Männer – zwischen Gefahren, Abenteuern und großen Gefühlen.
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Der Magie verfallen X
Magiefunken 2
Papier, Bücher voller Listen, in Mappen gestopfte Abrechnungen, in Kisten leise modernde Briefe. Enris sah sich einer unbezwingbaren Flut von Wörtern, Zahlen und Zeichnungen gegenüber. Lange nicht alles stammte aus der Zeit des letzten Minenfürsten, aber der hatte ebenso viel Zeugnis seiner Arbeit angehäuft wie seine Vorgänger.
Enris hatte seinen Geruchssinn zur Unterscheidung der verschiedenen Fürsten und ihrer Aufzeichnungen entdeckt. Je stärker der Mief nach Mäuseharn, desto älter war das Blatt. Leider durfte er sich nicht darauf verlassen, sondern musste nach Daten Ausschau halten. Auch Handschriften waren kein verlässliches Kriterium zum Sortieren, denn einige der Minenfürsten hatten mehrere Schreiber beschäftigt. Enris stieß einen Seufzer aus, der sein Leid bezeugte. Schlimm genug, was er alles aus Bücherschränken gezerrt hatte, aber dann hatten Arbeiter beim Aufräumen drei schwere Holztruhen voll weiterer Listen entdeckt, die jemand dort hineingestopft und in dunkle Kellerwinkel verbannt hatte.
Deswegen nagte der Verdacht an Enris, dass die Unmengen an Aufzeichnungen Summen verschleierten, die an der Kasse des Palastes vorbeigeschleust worden waren. Da Deye und General Falon diesen Verdacht teilten, stand Enris den Papieren nicht alleine gegenüber. Wenigstens war er sich sicher, dass Deye und ihr Großvater ihm nicht misstrauten, sondern ihm wirklich helfen wollten. Denn auch aus dem Palast hatte Enris Listen mitgebracht – die offiziellen Abrechnungen. All das zusammen hätte eine nicht zu bewältigende Aufgabe für einen kleinen Schreiber wie ihn bedeutet. Trotzdem war er nicht ganz glücklich über die Unterstützung, denn Mavma, die Buchhalterin, war alt, streng und mit dem schärfsten Blick des Reiches gesegnet. Und er damit verflucht.
Ganz so hatte er sich den Beginn eines gemeinsamen Lebens mit Arev in der Minenkolonie nicht vorgestellt. Etwas naiv, wie er sich sagte, hatte er erwartet, ein wenig Buchhaltung zu erledigen und vor allem immer in Arevs Nähe zu weilen, der den Wiederaufbau von Mühle, Siederei und allen anderen im Großbrand verlorenen Gebäuden voller Schwung in Angriff nahm. Notwendigkeit, die Enris ja auch vollkommen einsah. Immerhin war Arev der neue Minenfürst und musste sich vor König – naja, vor dessen General – und der Koloniemannschaft beweisen. Außerdem war diese Mine wichtig.
Wenigstens in den Nächten gehörte Arev ihm ganz alleine. Wenngleich der Große, der natürlich auch überall mit anfassen musste, oft viel zu müde war. Eine dekorative Wärmflasche. Sehr dekorativ. Und sehr müde.
Mit einem weiteren Seufzen, das von Herzen kam, beugte Enris sich wieder über die Listen. Rechnungen für Rohstoffe und Baumaterialien. Er rechnete Zahlen zusammen und bemerkte, dass seine Gedanken abschweiften: Wenigstens die Schmiede war schon wieder in Betrieb. In den Wäldern rund um die Kolonie brannten Köhlermeiler, um genug Brennstoff für Eisenbearbeitung und vor allem den aus Bruchresten der Siederei errichteten Ziegelofen zu liefern.
Unterkünfte und natürlich das festungsartige Haus des Minenfürsten hatten den Brand unbeschadet überstanden. In Letztem wohnte Enris nun, und der durchdringende Rauchgeruch in allen Räumen mochte vom Feuer herrühren oder vom Stollenblut, das durch die Explosion in der Siederei das gesamte Gelände der Kolonie beregnet hatte.
Er kaute am hölzernen Federstiel, während er die Zahlen noch einmal addierte und zu dem Schluss kam, dass viel zu viel berechnet worden war, indem Posten aufgeteilt und mehrfach aufgeführt worden waren. Enris fertigte eine Notiz mit dieser Erkenntnis, heftete sie mit einer Stecknadel an die Rechnung und legte diese auf den Stapel der von ihm beanstandeten Abrechnungen. Ein erschreckend hoher Stapel war das jetzt schon, und ringsum türmten sich noch mehr Papiere, die auf eine Überprüfung warteten.
Enris schoss einen Blick zu Mavma, die schier unermüdlich am zweiten Schreibtisch rechnete und nur durch missbilligend gekräuselte Lippen verriet, dass das ihr vorliegende Blatt entweder weitere Betrügereien enthielt oder lange Jahre als Mäuseklo verwendet worden war.
Tapfer zog Enris sich die nächste Abrechnung auf seine Schreibmappe. Das Blatt war gelb und stank erbärmlich. Die Ecken waren dekorativ von Mäusezähnen gelocht worden, die Tinte stellenweise verschmiert, was ein Nachrechnen noch schwieriger gestalten würde als ohnehin. Die Fürsten hatten allesamt sehr findige Buchhalter und Schreiber beschäftigt.
Enris atmete trotz des muffigen Mäusemiefs tief durch. Es reichte jetzt einfach! Verflixt, irgendeinen Vorteil musste es doch mit sich bringen, wenn er mit dem aktuellen Minenfürsten ins Bett ging – auch wenn der dann immer zu müde war. Energisch stand Enris auf und verkündete: »Ich mache eine Pause.«
»Zieh dich warm an und wickel dir einen Schal um den Hals«, war Mavmas einzige Reaktion, während sie weiterhin ungerührt Zahlen auf Pergament übertrug.
»Das weiß ich selbst«, antwortete Enris undankbar.
»Deye schärfte mir ein, dass du leicht frierst.«
Es war empörend, dass Deye solche … solche Unwahrheiten ausplauderte.
Mavma hob den Kopf und lächelte bar jeden Humors. »Pluster dich nicht auf wie ein empörter Sperling.«
Da! Neuerlicher Beweis, dass Deye tatsächlich tratschte! Denn Sperling hatte sie als Spitznamen für Enris aufgebracht. Arev nannte ihn Schmetterling, was nicht viel besser war, aber von Herzen kam.
»Ich wäre dankbar, wenn du in der Messe Bescheid sagst, dass der Tee alle ist. Und falls jemand dort daran gedacht hat, Kuchen oder Plätzchen zu backen, will ich einen riesigen Teller voll davon. Das haben wir uns bei diesen ganzen betrügerischen Abrechnungen wirklich verdient.«
Das besänftigte Enris wieder ein wenig. Die Aussicht auf Früchtebrot oder knusprige Honigplätzchen gefiel ihm. So hoheitsvoll, wie ein als Sperling titulierter kleiner Schreiber es nur vermochte, nickte er also. »Gute Idee.« Er spähte zum Bollerofen in der Zimmerecke. »Und Holz.«
Mavma nickte und vertiefte sich wieder in die schurkenhafte Zahlenkolonne vor sich. Die Audienz war beendet, und Enris eilte aus dem Zimmer. Ja, er zog einen dick gefütterten Umhang an. Und zähneknirschend wickelte er sich tatsächlich einen Schal um Hals und Kopf, zog das Strickwerk bis zu seiner Nasenspitze hoch und versenkte die Hände in Fäustlingen.
Jetzt ging er, um Arev zu suchen. Die Idee gefiel ihm noch besser als nur die Aussicht, eine Weile den stinkenden Papieren zu entkommen.
Frostige Frische und ein eisiger Wind, der die Berghänge hinabsauste und dabei an Schwung gewann, empfingen Enris ebenso wie emsige Betriebsamkeit, als er vorsichtig die vereisten Stufen hinabstieg.
Stollenblut und die durch Einkochen daraus gewonnenen Blutsteine stellten eine Verteidigung des Reiches dar, wusste er. Magier konnten damit ihre Gabe um ein Vielfaches mehren und die Grenzen verteidigen. Da unter dem vorherigen Minenfürsten und seinen dreckigen Geschäftspartnern die Blutsteine gepanscht worden waren, um neue Verteidigungsmauern mit gestohlener magischer Kraft zu versorgen– was den Tod einiger Magier billigend in Kauf genommen hatte –, war es so wichtig, dass der Bergbau und die Verarbeitung hier wieder aufgenommen wurden. Leider hatte die Kolonie ja ein wenig Schaden genommen, als Arev, Deye und Enris die Schuldigen ermittelt hatten. Nun, genau genommen war hier alles eingeebnet worden, als die Siederei in die Luft geflogen und so ziemlich alles andere in Brand geraten war.
Enris raffte den Mantel fest um sich und stapfte los. Arev war bestimmt da zu finden, wo am meisten los war. Bis vor Kurzem war er ja selbst noch ein Minenarbeiter gewesen, der die voll beladenen Loren aus dem Bergwerk geschoben hatte. Hochgewachsen, breitschultrig und stark wie er war, hatte er nicht in den niedrigeren Stollen arbeiten können. Enris sah zu den schwarz gähnenden Eingängen in den Berg. Schienenstränge führten hinaus und endeten in leerer Luft, wo sie vor der Brandnacht bis zur Mühle gereicht hatten. Von der standen nur noch die Grundmauern, auf denen sich vor dem Brand ein hölzerner Bau erhoben hatte. Dessen Nachfolgebauwerk befand sich mitten in der Entstehung. Das innere Ständerwerk und Teile des Dachstuhls waren schon errichtet worden. Schreiner und andere Arbeiter wuselten dort umher.
Überall wurde gearbeitet. Alte Ziegel wurden in Schubkarren gesammelt, grob gereinigt und als Baumaterial für einen Ofen verwendet, in dem neue Ziegel entstehen sollten. Männer und Frauen gruben halb gefrorenen Lehm aus, um daraus Rohlinge zu formen. Enris beneidete sie nicht um diese harte und eisige Arbeit. Er fror ja schon beim bloßen Gedanken daran.
Langsam suchte Enris sich einen Weg durch all die Geschäftigkeit, wich Ponygespannen mit Holzladungen auf dem Karren aus, tauschte fröstelnd Grüße mit Arbeitern, hörte die hell klingenden Hammerschläge aus der neuen Schmiede, das Zischen von heißem Eisen in Wasser. Über allem lag Rauch aus Koch- und Werkfeuern, und noch stärker als all das hing der eigentümliche Geruch nach Qualm, den das Stollenblut ausdünstete, in der Luft. Denn hier – rings um den Standort der alten Siederei – war der Schnee leuchtend rot gefroren. Die Kessel waren im Brand explodiert und hatten die zum Teil bereits eingekochte Suppe in einem weiten Umkreis verteilt.
Männer und Frauen mit Spitzhacken und Schaufeln arbeiteten daran, das gefrorene Stollenblut vom Erdboden zu lösen. Sobald die Kolonie wieder über eine Siederei verfügte, würde dieses rote Eis als erstes gereinigt und dann zu Kristallen gesiedet, dass wusste Enris. Arev hatte ihm auch erzählt, dass einige Arbeiter schon begonnen hatten, kleine Mengen über Kochfeuern einzudampfen. Denn die Magier benötigten die Blutsteine so schnell wie möglich, und die Fertigstellung der Siederei würde noch etliche Wochen dauern.
Im Stillen war Enris froh, dass es Deyes Idee gewesen war, das Feuer zu legen. Sie hatte damit auch sein und Arevs Leben gerettet, aber so ging die Zerstörung alleine auf ihre Kappe.
Vorsichtig trat er vom mit Sand abgestreuten Eis auf eine Fläche, die bereits vom gefrorenen Rot befreit war, sodass Enris nun auf nacktem Erdboden gehen konnte. Immer noch keine Spur von Arev.
Enris sah sich suchend um. Arev war üblicherweise gar nicht zu übersehen. Er überragte alle anderen Männer in der Kolonie und erweckte bei Enris den Eindruck eines Felsens im Meer. Oder eines Leuchtturms … Da! Am vormaligen Gästehaus, das jetzt eine normale Arbeiterunterkunft geworden war, weil viele andere Gebäude den Flammen zum Opfer gefallen waren, stand eine fremde Kutsche. Und neben dieser sichtete Enris nun endlich Arev.
Sonnenschein hüllte die hochgewachsene Gestalt schmeichelnd ein und ließ das kurze Haar wie Altgold schimmern. Immer noch führte Arev einen Stock mit sich, da das linke Knie ihm gerne Schmerzen bereitete, wenn er es überanstrengte – was er ständig tat, weil er überall gleichzeitig zu sein versuchte und tatkräftig mit anpackte. Jetzt aber stand er ganz lässig da, und der kräftige Stab wirkte eher wie ein Zeichen seiner Macht als Minenfürst.
Der Kutscher saß noch auf dem Bock und hielt die Leinen, und zwei Arbeiter luden Gepäck ab. Enris war fast heran, als der Kutschschlag aufklappte und eine schlanke Gestalt in bestickter Robe und mit einem dicken Mantel über dieser unverkennbaren Kleidung dem Wagen entstieg und sich vor Arev aufbaute. Auch hier ein Stab, der rot wie das Stollenblut schimmerte. Noch deutlicher ging es nicht: Der erste ungeduldige Magier war in der Kolonie eingetroffen.
Tief seufzte Enris. Das vormalige Gästehaus war bis zum Dach mit Arbeitern gefüllt. Küche, Messe und Bäder konnten kaum die Masse an Menschen fassen, weil ja – anders als zu Betriebszeiten der Kolonie – auch sehr viele Handwerker zur Zeit hier lebten, während üblicherweise nur ein oder zwei Dutzend von ihnen in der Siedlung angestellt waren. Und jetzt wollte dieser Magier bestimmt standesgemäß untergebracht werden. Blieb ja nur das Haus des Fürsten. Großartig, denn dort wohnten außer Arev, Mavma und Enris auch die königlichen Soldaten, die Deye ihnen aufgedrängt hatte, weil sie den alten Wachen nicht traute.
Als er näher kam, konnte er zumindest eine Sache klar erkennen: Der Magier war eine Magierin. Der hohe, schlanke Wuchs und der wallende Mantel hatten Enris in die Irre geführt. Nun war er auch dicht genug heran, um erste Fetzen der Unterhaltung aufzuschnappen.
»… verstehe die Besorgnis«, sagte Arev gerade. Ja, gerade er verstand das wirklich. Er war in die Mine gekommen, weil sein Geliebter Katal – Magier und vom gepanschten Stollenblut vergiftet – gestorben war. Ob er das aussprechen würde? Enris glaubte es nicht. Arev hatte lange gebraucht, bis er es Enris anvertraut hatte. Und dann eigentlich auch nur, weil er sich mit dem Rücken zur Wand befunden hatte.
»Dann hast du ja wohl gegen meine Anwesenheit nichts einzuwenden. Wir Magier brauchen Blutsteine – und zwar dringend. General Falon hat die Erzmagier benachrichtigt, warum so viele von uns krank wurden und starben. Der Kreis der Erzmagier …«
Arev hob die Hand. »Ich weiß. Ich verstehe wirklich. Wie du aber siehst, ist die Kolonie in einem betrüblichen Zustand. Wir haben weder Mühle noch Siederei. Beides ist noch im Aufbau. Tatsächlich habe ich aber Anweisung gegeben, in Suppentöpfen Stollenblut einzukochen. Es ist nicht viel, was wir so während der Aufbauarbeiten liefern können, aber ich glaube, im Augenblick zählt jedes Splitterchen.«
Die Magierin nickte lebhaft. »Wirklich jedes Krümelchen! Ich bin ermächtigt, auf der Rückreise alles mitzunehmen, was du mir bieten kannst.« Sie kramte einen Pergamentbogen aus ihrer Gürteltasche.
Doch Arev hatte offenbar Enris’ Schritte vernommen, denn er wandte sich halb um und lächelte zur Begrüßung. Er sah so schrecklich müde aus! Fast wollte Enris hoffen, dass ihn Erschöpfung und ein gemeiner Schnupfen dahinraffen würden, damit sie ein wenig gemeinsame Zeit bekamen, in der er den Großen umsorgen durfte. Allerdings besaß Arev die unverwüstliche Natur eines jungen Bullen! Auch sein Knie war viel schneller abgeheilt, als der Medikus des Königs gedacht hatte, nachdem Arev es so brachial an einer Lore angestoßen hatte.
»Du kommst genau zur rechten Zeit, Enris.«
Trotz des Lächelns, das ihn willkommen hieß, wusste Enris genau, worauf das hier hinauslief. Natürlich, die Magierin musste irgendwo untergebracht werden. Ebenso der Kutscher und mögliche andere Begleiter. Um die Pferde kümmerten sich glücklicherweise die Knechte. Hoffentlich fanden die in ihrer Unterkunft noch Platz für die Männer, die die Magierin in die überfüllte Kolonie mitgebracht hatte. Aber die Minensiedlung kam für Arev an erster Stelle, das hatte Enris in den letzten Tagen ja begriffen. Königlicher Auftrag, Minenfürst und die Bedürfnisse der Magier und somit des ganzen Reiches im Blick, schon klar.
Er gab sich redlich Mühe, sich diese Gedanken nicht anmerken zu lassen, nickte und sagte zur Magierin: »Du siehst ja, dass wir zur Zeit alle ein wenig zusammenrücken müssen. Wir finden einen Schlafplatz für dich im Haus der Verwaltung, denke ich.«
»Du bist der königliche Schreiber, von dem Falon mir erzählte? Enris?«
Er nickte wieder ergeben und ließ sich dann das Pergament in die Hände drücken. Von General Falon unterzeichnet – kein Wunder, war er doch der oberste Berater des kleinen Königs, der zwar lebhaft Anteil an seinem Reich nahm und voller Mitgefühl für alle Untertanen war, aber trotzdem lieber mit seinem gehäkelten Drachen und Bauklötzen spielte.
»Danke, dass du dich um alles so wundervoll kümmerst«, sagte Arev unvermittelt. Seine große, warme Hand fand ihren Weg auf Enris’ Schulter, und dann beugte er sich vor und küsste ihn zärtlich, wenngleich auch viel zu kurz.
Ein Schwarm alberner Sperlinge flatterte in Enris’ Brust auf, und diese kleine, öffentliche Liebkosung richtete sein angeknicktes Selbstbewusstsein deutlich auf. Arev küsste ihn so selbstverständlich, beinahe beiläufig, als wäre alles in bester Ordnung. Vielleicht war es das ja auch! Möglicherweise grübelte Enris einfach viel zu viel.
Er fühlte selbst, dass sein Lächeln etwas verschwommen ausfiel, als Arev sich von ihm löste, ihm über die Haare streichelte und sich dann sichtlich wieder anderen Dingen zuwandte. Namentlich der Magierin. »Geh mit Enris. Er hat einen deutlich besseren Überblick über die Unterkünfte als ich. Ich schufte nur, um die Kolonie wieder zur Herstellung der Blutsteine zu bringen, aber Enris hat alles unter Kontrolle.«
»Ich wusste nicht, dass der Brand so verheerende Schäden angerichtet hatte. Aber ich sehe, dass Falons Vertrauen in euch angebracht ist.« Sie nahm eine kleine Tasche an sich und war dann offenkundig bereit, sich von Enris zu ihrer Unterkunft führen zu lassen.
Arev wusste, dass er nicht wirklich gut mit Menschen umgehen konnte. Außer mit Enris, aber das lag vor allem am sonnigen Gemüt des Geliebten, fand Arev. Und so war er heilfroh, die Magierin an den kleinen Schmetterling abschieben zu dürfen. Enris’ Freundlichkeit würde die junge Frau vollends besänftigen und überzeugen, dass alle hier mit aller Kraft an der Wiederherstellung der Siederei und mehr schufteten.
Verdammt, er wusste doch, wie wichtig das ganze Unterfangen hier war. Gerade er! Und dieses Mal würde es keine Panschereien geben. Katal war deswegen gestorben, und Arev würde niemals zulassen, dass sich eine solche Schweinerei wiederholte. Den geliebten Magier brachte es nicht zurück, doch hatte Arev den am Grab geleisteten Schwur gehalten, die Schuldigen zu finden und der Gerechtigkeit zu übergeben.
Er drängte die dunklen Erinnerungen zurück. Vielleicht würde er Zeit seines Lebens um Katal trauern, aber jetzt war er der Minenfürst, trug die Verantwortung für die Kolonie – und er hatte Enris gefunden. Er ertappte sich bei einem Lächeln, das bestimmt trottelig und verliebt aussah. Gleichgültig, denn es galt einem wundervollen Mann, auf den Arev sich blind verlassen konnte.
Arev stützte sich auf seinen Spazierstock und stapfte über das zum Teil vom gefrorenen Stollenblut befreite Areal. Eigentlich brauchte er den Stock kaum noch, aber auf dem unebenen Untergrund erschien es ihm doch sicherer. Im Geiste ging er eine Liste der Arbeiten durch. Ziegel wurden gebrannt, die Schmiede arbeitete schon wieder, Köhlermeiler rauchten am Waldrand, und eifrige Männer und Frauen tauten das zurückeroberte Stollenblut auf, um es dann durch Stoffnetze zu filtern und die rote Suppe in Tontöpfen über Holzfeuern einzukochen. Jeder Splitter zählte, ganz wie diese Magierin – Er hatte vergessen, nach ihrem Namen zu fragen, ach, das holte Enris nach! – gesagt hatte.
Damit verbannte Arev die Magierin vorerst aus seinem Kopf. Es gab so viel zu tun, dass er diese Ablenkung von seinen Pflichten nicht gebrauchen konnte. Nachdem er sich klargemacht hatte, welche der laufenden Arbeiten er heute schon besichtigt und tatkräftig unterstützt hatte, marschierte Arev nun zu den Männern und Frauen, die den durch Geröll zum Teil verschütteten Mühlbach säuberten. Eine Gruppe Schreiner mühte sich, das gewaltige Mühlrad wieder an seinen Platz zu wuchten. Da konnte Arev mit anpacken, die Stimmung in der Kolonie weiter erkunden und allen ein wenig Mut machen, beschloss er.
Vor dem Brand hatte das große Wasserrad die Mühlsteine und Hämmer ebenso bewegt wie den kurzen Zahnradantrieb, der die Loren nach Entleerung ihrer kostbaren Fracht in die Mühle wieder zurück in den Berg beförderte, bevor die kleinen Metallkisten dank eines Gefälles alleine bis zum Bahnhof weiterrollten. Arev hatte größere Pläne mit dem neuen Wasserrad. Es sollte nach seinem Willen zusätzlich Blasebälge in der Schmiede und der neuen Siederei antreiben. Wasser gab es hier genug! Ein stetiger Sturzbach direkt aus dem Berg speiste das Fleet, das ausreichend Strömung aufwies, um auch das neue, größere Rad mühelos drehen zu können. So die Arbeiter das verdammte Ding endlich auszurichten vermochten.
Arev kam genau rechtzeitig an, um ein leichtes Schwanken des großen Holzrunds zu bemerken. Prompt ließ er den Spazierstock fallen und sprang hinzu, bekam kaltes Holz zu packen und konzentrierte sich darauf, ein möglichst schwerer Ankerpunkt zu sein. Zu viel wagte er noch nicht, dem Kniegelenk zuzumuten, aber sein Einsatz kam zur richtigen Zeit und half, das Wasserrad zu stabilisieren.
»Fürst!«, grüßte einer der Arbeiter – durchnässt bis zu den halben Oberschenkeln hinauf und mit einem langen Hebel bewaffnet.
Andere nahmen die Begrüßung auf, und Arev brachte ein wenig atemlos hervor: »Genug der Höflichkeiten. Schnell, bevor das Ding es sich anders überlegt und wegrollt!«
Erleichtertes Gelächter kam ebenso zur Antwort wie neuerlicher Einsatz der langen Hebel, und mit einem deutlichen Rumpeln kam das Rad in seine Achslager.
Allgemeines Aufatmen. Arev stemmte eine Hand in den Rücken. »Wasser marsch!«, befahl er grinsend.
Derzeit rauschte der Mühlbach durch ein zweites Fleet, wo es harmlos wenige Schritt vom Holzrad entfernt vorbeifloss und weiter unten in einem kleinen Fluss endete.
Auf Arevs Befehl hin wurde dichter am Berg ein Wehr geöffnet, ein zweites geschlossen. Wild und weiß rauschte das Wasser heran, prallte Gischt spritzend gegen das Mühlrad. Jubel brach aus, als dieses sich majestätisch zu drehen begann. Zwei Frauen verteilten noch mehr Fett auf den Achsen, und das Rad drehte sich schneller.
Über dem Rauschen des Wassers, dem Knarren des Holzes und den wild durcheinander fliegenden Worten der Arbeiter vernahm Arev noch ein Geräusch. Einen Schrei. Heiser und trotzdem durchdringend.
Hastig hob er eine Hand, und die Arbeiter verstummten nach und nach, blickten ihn verwirrt an.
Jemand schrie wie am Spieß.
Eine Gänsehaut überlief Arev. Das klang verloren, verzweifelt und am Ende aller Kräfte. Der Schrei hielt an, klagend und merkwürdig verzerrt. Verwirrenderweise wurde er mit einem Mal leiser und nahm auch einen normaleren, menschlicheren Klang an. Arev konnte einzelne Worte ausmachen: »Hilfe! – Sie fressen mich!«
Arev blickte sich suchend um, woher dieser Ruf kommen könnte. Sein erster Gedanke war gewesen, dass bei den Ziegelöfen etwas schief gegangen war. Oder in der Schmiede. Doch dann sah er die Bewegung am Rande seines Gesichtsfelds. Aus dem Stollen stolperte jemand, stürzte, rappelte sich wieder auf und schrie weiterhin unzusammenhängend um Hilfe.
»Was, bei allen Göttlichen?«, murmelte Arev eher zu sich selbst und setzte sich dann zügig – und ohne den Stock, verdammt – in Bewegung die aus Geröll bestehende Rampe hinauf dem Schreihals entgegen.
Der einzig klare Gedanke: Es hatte im Augenblick niemand etwas in den Minen zu schaffen. Bevor nicht das überall gefrorene Stollenblut vom Erdboden gekratzt und auch nur etwas Ähnliches wie eine Siederei und Mühle errichtet waren, blieben alle Arbeiter zum Wiederaufbau verdammt. Auch wenn das den Minenarbeitern nicht recht schmeckte. Wer also war der Schreihals? Und welche Ausreden würde er Arev präsentieren? Wichtiger als all das: Was war geschehen?
Zwei der Schreiner zogen an Arev vorbei, und ihnen rannte die schreiende Gestalt genau in die Arme. Halb hielten sie den Mann fest, halb stützten sie ihn, während er nahezu schmerzhaft nach Atem rang und immer noch etwas von fressen hervorwürgte.
Arev kannte den Mann nicht. Die Kleidung stammte nicht aus den Beständen der Kolonie, wo stabiles Leder zu gefütterten Hosen, Hemden, Stiefeln und Mänteln verarbeitet wurde, um die Arbeiter warm zu halten und zu schützen. Der Kerl, der immer noch nach Luft japste und schmutzige Finger in die Mäntel der Schreiner krallte, trug zerschlissene Leinenhosen und ein dickes Wollhemd. Alles troff rot, aber die rauchigen Ausdünstungen sagten Arev ziemlich sicher, dass das nur Stollenblut sein mochte. Nur, weil an dem Kerl ein Eimervoll der kostbaren Flüssigkeit haftete.
»Ich bin der Minenfürst«, stellte er sich barsch vor, fühlte ringsum seine Arbeiter, Männer und Frauen, die nur dank ihrer Kraft und Ausdauer die harte Arbeit in den Stollen und der Kolonie überstanden, Plackerei, die Arev selbst ein halbes Jahr lang gemeistert hatte. Die hagere Gestalt in leuchtendem Rot wirkte nahezu zerbrechlich in diesem Kreis.
»In der Mine …«, stammelte der Mann wieder los.
»Bist du verletzt?«, unterbrach Arev ihn.
Ein Kopfschütteln.
»Also hat dich niemand gefressen. Gruselmärchen über die Mine höre ich nicht zum ersten Mal. Bislang habe ich nichts gesehen, was auf deren Wahrheit hinweist. Was wir jetzt aber ganz sicher entdeckt haben, ist ein Stollendieb. Die Minen und alles darin sind königliches Eigentum. Nun, du kannst dich glücklich schätzen: Ich beschütze dich vor den Gruselgeschichten. Du landest jetzt im Knast, Freundchen, und dann werden wir uns unterhalten.«
Der Mann richtete einen Blick von klarer, dunkelblauer Intensität auf Arev. Verzweiflung und Angst in den Augen, die Arev unangenehm an die von Enris erinnerten – wie der ganze Mann. Nicht eben hochgewachsen, die Haare durch Stollenblut verklebt und wild in alle Richtungen abstehend. Jetzt musste Arev die dünne Grenzlinie zwischen Strenge und Mitgefühl finden, und dieses großäugige Starren machte es schwer, weil Enris ganz genau so blicken konnte.
»Abführen«, sagte Arev betont ruhig. »Er kriegt eine Waschgelegenheit, trockene Kleidung, Tee und Brot. In einer Stunde knöpfe ich ihn mir vor.«
Jemand reichte Arev den Spazierstock, den er nach dem Lauf die Geröllrampe hinauf auch bitter nötig hatte.
Er nickte der Frau dankbar zu. »Lauf bitte vor und sage Enris Bescheid. Und wir haben eine Magierin zu Gast. Je weniger die mitbekommt, solange wir im Dunkeln tappen, desto besser. Wir klären hier, was wir können, und dann darf ein Gericht am Königshof sich um den Rest kümmern.«
»Aber … in der Mine … meine Freunde!«, stieß der Mann hervor.
Noch mehr Stollendiebe im Berg. Großartig.
Arev gab den beiden Schreinern einen knappen Wink, den Schreihals zum Verwaltungsgebäude zu schaffen. Dann blickte er in die Runde und sah in entschlossene Gesichter. Frauen und Männer, die seit Wochen am Wiederaufbau arbeiteten, obwohl sie in die Stollen gehörten und Ziegelsteinbrennen und anderes als ihrer nicht würdig erachteten. Er wählte sorgfältig die vier aus, die er als zäh, stark und absolut loyal kannte. »Wir bleiben nicht lange weg«, sagte er zum Abschied. »Sagt Enris Bescheid. Nach drei Stunden dürft ihr einen Suchtrupp losschicken. Ich hinterlasse zur Sicherheit Zeichen.«
Derweil hatte Enris die Magierin – ihr Name war Retai, wie er herausgefunden hatte, und sie war zwei Jahre jünger als er und von den Schäden in der Kolonie sehr beeindruckt – in ein Zimmer unter dem Dach unterbringen können. Zwei der königlichen Soldaten halfen, ein Bett und eine Truhe hineinzuschleppen. Unter diesen Vorzeichen zog Enris sich zurück und gratulierte sich im Stillen, die junge Frau erst einmal los zu sein.
An dieser Hochstimmung konnte er sich leider nicht lange erfreuen, denn als er die Schreibstube angemessen durchfroren wieder betreten wollte, war Mavma offenbar der Meinung, das nach Mäuseurin stinkende Zimmer rasch verlassen zu müssen.
Das Türblatt prallte gegen Enris’ kalte Zehen, dann wieder zurück und nahm Kontakt mit Mavmas Füßen auf, woraufhin die alte Buchhalterin etwas ausstieß, was verdächtig nach einem Fluch klang. Offenkundig erbost spähte sie um die Seite der Tür herum und sah Enris streng an. »Tee? Kekse? Du warst lange genug fort, um mich mit einer halben Wagenladung Gebäck zu erfreuen.«
Warum nur fühlte er sich wie ein kleiner Junge, der eine Schandtat gestehen musste. »Nein«, antwortete Enris und setzte hastig hinzu: »Eine Magierin ist angekommen, und ich musste mich um ihre Unterbringung kümmern.«
»Hast du ihr Tee angeboten?«
Enris hätte sich gerne ein Mauseloch gesucht. Er schüttelte verzweifelt den Kopf.
Mavma stieß einen Seufzer aus und drückte die Tür behutsam auf. »Dann lauf und hole das nach. Ich brauche frische Luft und sage in der Messe Bescheid. Ich habe eine Rechnung gefunden, die alle anderen in den Schatten stellt. Die sehen wir uns gemeinsam an, damit mir alleine keine Fehler unterlaufen. Das geht gestärkt mit Keksen am besten.«
Ergeben stimmte Enris zu, obwohl er auf die Wunderwirkung von Gebäck angesichts scheußlicher, betrügerischer Rechnungen kaum hoffen mochte. Außerdem hatte er noch das Begleitschreiben von Retai in der Tasche. Das musste er abschreiben, beglaubigen und in einer Mappe ablegen. Die er noch anlegen und beschriften musste. Nein, so hatte er sich das Zusammenleben mit Arev ganz und gar nicht vorgestellt.
Mavma hüllte sich in einen Mantel und marschierte energisch los. Enris beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. Vorne in der Eingangshalle, in der sich die offene Treppe nach oben schraubte, würde er sich dann von ihr trennen, um nach oben zur Unterkunft der Magierin zu steigen.
Doch noch bevor Mavma die Eingangstür erreichte, schwang diese auf, und zwei bullige Männer zerrten einen dritten über die Schwelle. Enris schnappte erschrocken nach Luft, als er all das Rot sah, das dem dritten aus Haaren und Kleidung troff, aber er atmete dabei den vertrauten Dunst des Stollenbluts ein und konnte sich sagen, dass da kein Schwerverletzter vor ihm stand.
»Ein Stollendieb. Der Fürst hat Anweisung gegeben, ihn erst einmal einzubuchten«, sagte einer der Bewacher, den Enris als Schreiner erkannte. Der Mann hatte neue Regale im Kontor aufgebaut, während Kiste um Kiste voller Mäusepergamente eingetroffen war.
»Er ist ganz nass.«
»Wird eine Blase aufgehackt haben, der Schwachkopf.«
»In der Mine sind … Ungeheuer«, stammelte der Stollendieb, der vielleicht meinte, in Enris eine mitleidige Seele zu erblicken. Oder ein leichtgläubiges Opfer.
Zumindest mit Letzterem lag der Kerl richtig, denn Enris fühlte eine prickelnde Gänsehaut über seinen Rücken streicheln. Alle Schauergeschichten, mit denen die Arbeiter ihn bei seinem ersten Besuch in der Kolonie ausgiebig gefüttert hatten, hoben ihre zottigen Köpfe und machten unheimliche Geräusche. Arev hatte das alles wohltuend als Unsinn abgetan, und in dessen Fußstapfen mühte Enris sich nun zu treten. Rat Fennlen, der Enris hierher mitgenommen hatte, hatte es bösartig auf den Punkt gebracht: Enris’ liebenswürdige Unschuldsmiene machte ihn zu einem perfekten Spitzel und zum willkommenen Publikum von Klatsch und Tratsch. In jenen ersten zwei Tagen, die er damals im Gefolge von Rat Fennlen in der Kolonie verbracht hatte, war ihm alles Mögliche zugetragen worden. Nun fielen die Worte des Stollendiebs auf fruchtbaren Boden, und Enris kämpfte gegen einen Schauder.
»Das kannst du nachher alles dem Fürsten erklären«, schnauzte ein Schreiner den Gefangenen an. »Wir haben Anweisung, ihn den königlichen Soldaten zu übergeben. Er soll Waschwasser und trockene Kleidung erhalten.«
»Und Tee?«, fragte Mavma.
»Tee und Brot, sagte der Fürst. Ich kümmere mich gleich darum.«
»Spar dir die Mühe. Ich bin auf dem Weg zur Messe, darum kümmere ich mich also. Enris, du wolltest Retai fragen, ob sie auch Tee will.« Sie runzelte die Stirn. »Wo steckt Arev?«
»Da sollen noch mehr Diebe in der Mine sein. Er kümmert sich darum.«
»Da sind Ungeheuer«, wimmerte der rote Mann prompt wieder.
»Schatten von Laternen und schlechtes Gewissen, möchte ich wetten.« Mit diesen Worten rauschte Mavma nach draußen und schloss die Tür geräuschvoll hinter sich.
Enris hätte wohl noch einen Augenblick länger unschlüssig herumgestanden, aber die Schreiner schleppten den Gefangenen nun die Treppe hinab, und so gab es keinen Grund mehr, noch herumzustehen. Er stieg die Treppe empor, spürte einen leichten Luftzug, der dann schlagartig aufhörte. Fast glaubte Enris, über sich eine Tür klappen gehört zu haben.
Er straffte sich. Die Eingangshalle des Verwaltungsgebäudes war wahrscheinlich ein dummer Ort für lange Besprechungen. Das ganze Haus war bis zum Dach belegt, und neugierige Ohren lauerten überall. Gleichgültig, die Verhaftung eines Stollendiebs war etwas, was Arev gewiss nicht geheim halten wollte.
Wie angewurzelt blieb Enris stehen, als aus der Flut der Gruselgeschichten eine nach oben trieb: Bergkoller! Ja, natürlich, das war es. Eine Erklärung für alles. In den Minen drehten Leute mitunter durch und mussten dann gebunden in eine Zelle, bis sie wieder klar bei Verstand waren. Es lag nicht am Stollenblut, denn in der Mühle oder der Siederei geschah dergleichen nicht. Doch war der Koller die harmlose Begründung für das Gerede von Monstern. Das beruhigte Enris sehr, denn immerhin rannte Arev jetzt in den Stollen herum.
Er klopfte an Retais Tür und trat zur Sicherheit einen Schritt zurück. Noch einmal wollte er keinen Schlag gegen die Zehen riskieren. Doch die Magierin öffnete die Pforte behutsam und lugte um das Türblatt herum.
»Mavma – unsere Buchhalterin – holt Tee und Gebäck«, sagte Enris artig. »Möchtest du auch? Nach der langen Reise wäre das doch bestimmt angenehm.«
»Sehr gerne. Ich leiste euch Gesellschaft.«
»Oh, wir sind in einem Kontor voller alter Papiere, von denen die meisten stinken.«
»Das macht mir gar nichts. Kann nicht schlimmer als das Studierzimmer meines Lehrmeisters sein. Ich würde mich auch sehr über eine Führung durch die Kolonie freuen.« Sie trat bei diesen Worten bereits auf den Flur.
Die rote Tropfenspur, die der Stollendieb auf seiner Flucht hinterlassen hatte, war glücklicherweise gar nicht zu übersehen. Arev wusste, dass der Berg wie ein Fuchsbau über unzählige Stollen, aufgelassene Schächte und vor allem viele Eingänge verfügte. Etliche waren natürlichen Ursprungs, weil die unterirdischen Bäche und Flüsse sich ihren Weg nach draußen freigespült hatte. Viele Zugänge waren bereits verschlossen worden, aber anscheinend kannte niemand alle von ihnen, und außerdem entstanden immer wieder neue – auch dank der fleißigen Bemühungen von Stollendieben.
Die hatte es – genau wie Schmuggler – schon immer gegeben, um alle Magier, auch jene, die nicht an den Außengrenzen des Reiches dieses verteidigten, mit Blutsteinen oder zumindest kleinen Splittern davon zu versorgen.
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ISBN: 978-3-7394-4490-1