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Lass Dich auf eine Reise durch ein phantastisches Jahr entführen, in dem Drachen, eine Burg, ein altgedienter Paladin und der Winterfürst ihre Geschichten erzählen. Frühlingsbrut: Unter Kirschblüten und Kriegsbannern beginnt die Geschichte der Drachenbrut. Im letzten Augenblick kann das Mädchen Liwe sie aus der umkämpften Stadt retten und sich auf die Suche nach Hilfe machen. Sommerburg: Unterstützung unerwarteter Art findet die junge Adelige Nida, nachdem ein verschmähter Freier sie hinter die Mauern der geheimnisvollen Sommerburg verschleppt hat. Herbstfeuer: Ein alter Paladin bietet dem Erzfeind seines toten Königs die Stirn, um die wahre Thronerbin zu schützen. Dabei benötigt Gevee seinen Schutz eigentlich gar nicht mehr. Winterfürst: Zum Jahresende tobt ein tödlicher Schneesturm, in dessen Herz die alte Magierin Virra den Winterfürsten um Hilfe anfleht ...
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Magische Jahreszeiten
Tanja Rast
Liwe melkte die Ziegen, als der Alarm erklang. Die Geiß trat erschrocken zur Seite und stellte einen Fuß in den Milcheimer. Weiß spritzte, der Eimer kippte um, und die Ziege suchte ihr Heil in der Flucht in die schützende Dunkelheit des Stalls.
Fluchend goss Liwe den Rest der verschmutzen Milch in eine Abwasserrinne, wischte sich die Hände an der Schürze ab und eilte aus dem kleinen Viehhof auf den Festungsplatz. Bestimmt fand sich dort jemand, der ihr sagen konnte, was den Alarm ausgelöst hatte.
Wie immer flog ihr Blick den Drachenturm hinauf. Doch dieses Mal ohne ein Lächeln, denn alle Warnglocken auf der Stadtmauer läuteten Sturm.
Aus der großen Flugöffnung auf der Turmspitze reckte Gira den hornbewehrten Kopf. Sonnenlicht spiegelte sich auf den smaragdfarbenen Schuppen des Drachen.
Wie immer, wenn Liwe Gira sah und gleichzeitig den Alarm vernahm, sandte sie ein kurzes, aber sehr inniges Gebet an jeden Gott, der ihr einfiel. Sie mochte Gira, die so wundervolle Geschichten erzählen konnte, dass Liwe oft vergaß, es mit einem Drachen zu tun zu haben, der im Ernstfall ein feindliches Heer kremieren würde, um die Stadt und den Drachenturm zu verteidigen.
»Sei vorsichtig«, flüsterte Liwe, obwohl der Drache sie auf diese Entfernung nicht hören konnte.
»Mach Platz, Magd!«, brüllte nur einen Wimpernschlag nach diesem innigen Gruß eine helle Stimme, und Liwe erhielt schon im gleichen Augenblick einen Stoß, der sie gegen die Stallwand taumeln ließ.
Sie kannte die Stimme der Autorität. Aber dass sie ausgerechnet aus dem Mund eines Jungen kommen musste, der höchstens ein Jahr älter war als Liwe und noch nicht einmal von der hellen Kinderstimme zum tieferen Tonfall eines Mannes gewechselt hatte, machte sie ärgerlich. Nicht dass es etwas daran geändert hätte: Sie musste gehorchen.
Einer der Rittersöhne, prächtig anzusehen in seiner Knappenuniform und ganz eindeutig vor Wichtigkeit nahezu platzend. Liwe kannte den Blondschopf über blassen grünen Augen und entsann sich einiger Gelegenheiten mehr, da der Junge sich allzu bedeutsam benommen hatte.
»Was ist denn los?«, fragte sie trotzdem.
»Nichts, was dich kümmern muss. Die Ritter und der Drache werden diesen Angriff im Handumdrehen niederschlagen.«
Einer der Ritter, denen Liwe hatte Platz machen müssen, blieb stehen und sah den Jungen einen Moment lang streng an. Dann wandte er sich an Liwe. »Ein Angriff, richtig. Wir wissen noch nicht, wie groß das feindliche Heer ist. Halte dich an die dir zugewiesenen Aufgaben, Mädchen. Und wenn du einen Moment Zeit erübrigen kannst, bete zu den Göttern für uns und unseren Drachen.«
Sie nickte.
Der Ritter sah den Jungen noch einmal düster an. »Willst du noch weiter trödeln, Teran? Oder noch ein wenig unhöflicher sein? Auch Knappen sollten wissen, wie man sich benimmt.«
Teran lief feuerrot an, warf Liwe einen zornigen, schamerfüllten Blick zu und rannte, um zu dem Ritter aufzuholen.
»Sie haben keinen Drachen bei sich. Einerseits gut, weil so der Himmel unserem gehört. Andererseits schade, weil Gira mit dem anderen hätte sprechen können. Vielleicht hätte sie den Angriff so abgewehrt«, setzte der Ritter noch hinzu. Dann nickte er Liwe zu. »Lauf, Mädchen. Du musst bestimmt Pfeilköcher oder Steine schleppen.«
Genau das tat Liwe die nächsten zwei Stunden lang. Körbe mit Steinen, Krüge mit Öl, Köcher mit Pfeilen. Treppen hinauf auf die Wehr, dann wieder hinab, stets in einer wahren Woge von anderen Mägden und Knechten.
Zwischendurch blickte sie immer wieder zum Drachenturm, wo Gira inzwischen auf das Sims vor dem Flugloch getreten war. Der Drache musterte die heranrückende Armee und suchte nach Schwachpunkten, dessen war Liwe sich sicher. Schon zwei Mal hatte sie einen Angriff auf die Stadt erlebt, den vor allem Gira zurückgeschlagen hatte. Nicht umsonst wurde der Drache von allen Bewohnern freundlich und bewundernd umsorgt. Doch nur wenige ließ Gira derzeit in die große Kammer auf der Spitze des Turmes.
Liwe schulterte die nächsten drei Köcher und lächelte. Sie wusste, warum Gira derzeit so geheimnisvoll tat. Und bestimmt nicht gerne in die Schlacht flog.
Noch während Liwe über den gepflasterten Hof eilte, hörte sie das trockene Rauschen der gewaltigen Schwingen. Sie warf den Kopf in den Nacken und beobachtete Giras würdevollen Flug über die Stadt hinweg. Wie ein Banner wehte der lange Schwanz hinter dem massigen, schwer geschuppten Leib. Träge beinahe schlugen die ledrigen Schwingen.
Untermalt wurde dieses Gleiten von einem Geräusch wie leisem Donner, als Gira ihre Luftkammern mit brennbaren Gasen füllte. Wie der Hufschlag von Pferden in vollem Galopp auf trockenem Grund.
»Sei vorsichtig, Gira«, flüsterte Liwe wieder und rannte, um die Köcher zur Wehr zu tragen. Wenn Gira abflog, obwohl alles sie in ihrem Hort zurückhalten wollte, dann stand der Angriff kurz bevor. Wahrscheinlich wollte sie noch vor dem ersten Ansturm Unordnung in die feindlichen Linien bringen. Und so wie es in den Luftkammern brodelte, würde der Drache bestimmt so viele Kriegsmaschinen wie möglich einäschern wollen. Bei einem der vorangegangenen Angriffe hatte das schon ausgereicht, den Feind zum Rückzug zu zwingen.
Auf der Wehr stieß Liwe mit Teran zusammen, der ebenfalls Köcher schleppte und diese hastig abstellte, da Gira über dem Ackerland vor der Stadt in der Luft verharrte, nur langsam mit den gewaltigen Schwingen schlug, um sich in der Luft zu halten.
Die letzte Warnung, wie Liwe genau wusste.
»Sie ist wunderschön«, sagte Teran leise neben ihr, doch meinte Liwe, dass diese Worte nicht an sie gerichtet waren, sondern einfach vor lauter Bewunderung dem Jungen entschlüpften. Sie stand so viele Meilen unter ihm, dass er normalerweise bestimmt nicht auf die Idee verfallen könnte, sich mit ihr zu unterhalten.
Begleitet von einem nahezu lässigen Pendeln des Schwanzes senkte Gira den Kopf und spuckte einen grünen Feuerball in Richtung der Feinde. Dann schoss sie vorwärts – unter den Hochrufen der Festungsbesatzung.
»Du! Steh nicht rum und gaffe! Du hast bestimmt noch Arbeit zu erledigen!«, fauchte Teran Liwe an.
Sie hätte ihm am liebsten vor das Schienbein getreten, aber sie rannte schon wieder los.
Atemlos, die nackten Füße lautlos auf den Steinstufen der Wendeltreppe. Über den Hof zurück zur Waffenkammer, wo ein alter Soldat einen Überblick zu behalten versuchte, was sich bereits wo auf der Wehr befand.
Der Jubel von dort verstummte schlagartig. Ein gewaltiges Brüllen zog über die Mauer hinweg und erreichte jedes Haus in der Stadt. Fensterscheiben zitterten. Liwe musste sich an der Wand abstützen. Der Boden schien leicht zu beben und kitzelte ihre Fußsohlen.
Der alte Soldat grinste. »Jetzt macht sie ihnen Feuer unter dem Hintern.«
Liwe nickte. Sie roch Rauch und Hitze, obwohl der Drache in sicherer Entfernung von der Stadtmauer fliegen musste. Gira würde niemals riskieren, dass die unter ihrem Schutz stehende Stadt Schaden durch ihre Flammen nehmen könnte.
Der Alte lächelte versonnen, was sein Gesicht weicher erscheinen ließ. »Sie ist ganz wundervoll, nicht wahr? He, bist du nicht die Kleine, die manchmal zu ihr geht?«
Liwe sah hastig um sich, ob sich jemand in der Nähe aufhielt, der Anstoß daran nehmen konnte, dass sie Gira regelmäßig besuchte. Sie nickte erst, als sie sicher war, dass kein Ritter oder Knappe in Sichtweite war.
»Muss einsam für Gira sein, da oben alleine in ihrem Turm. Aber ich bin dankbar, dass sie bei uns bleibt, obwohl es da draußen bestimmt den einen oder anderen Drachen gibt, der ihr gefallen könnte. Sie ist eine treue Seele. Und es ist fein, dass du ihr manchmal Gesellschaft leistest. Hatte in letzter Zeit öfter das Gefühl, dass sie sich zu weit zurückzieht. Sonst hat sie immer gerne an Festen teilgenommen, aber das macht sie nicht mehr. Es geht ihr doch gut, oder?«
»Es geht ihr sehr gut. Mach dir keine Sorgen um Gira«, antwortete Liwe und fühlte das gleiche, verträumte Lächeln auf ihren Lippen, wie der Soldat es trug.
Der Mann nickte und wies auf zwei mit Steinen gefüllte Körbe. »Klingt zwar so, als wäre es gar nicht mehr nötig. Aber wir wollen sichergehen. Vielleicht sind es Schwachköpfe, die denken, dass ein Drachenfeuer ihnen nichts anhaben kann. Besser gerüstet sein, als das Nachsehen zu haben.«
Liwe nickte ergeben und packte einen Korb. Zwei konnte sie auf gar keinen Fall bewältigen. Mühsam schleppte sie ihre Bürde über den Hof, verschnaufte am Fuß der Treppe und atmete tief den Geruch von Rauch und Feuer ein. Immer noch hallte das Donnern des Feuerstoßes über die Mauern in die Stadt. Der alte Soldat schien recht zu behalten, dass die Angreifer nicht gleich davonrannten, kaum dass Gira sie mit Flammen beharkte.
Von der Wehr brandeten immer wieder Jubel und anfeuernde Rufe herab. Liwe schnappte angestrengt nach Luft und machte sich mit dem schweren Korb an den Aufstieg. Im Turm klangen ihre Atemzüge wie Fauchen, fand sie. Schweiß rann an ihr hinab, bis der Kittel an ihr klebte.
Sie hatte den Durchgang zur Wehr beinahe erreicht, als das bisherige Geschrei schlagartig verstummte, um dann von einem tiefen Klagelaut abgelöst zu werden. Liwes Herzschlag beschleunigte sich schmerzhaft.
Fahrig stellte sie den Korb ab und rannte die letzten Stufen nach oben, nur um oben auf der Wehr gegen einen Ritter zu prallen, zur Seite zu stolpern, umzuknicken und schmerzhaft auf dem Hintern zu landen.
Der Ritter beachtete sie gar nicht. Sein Gesicht schimmerte kalkweiß unter Kettenbrünne und Helm, der Mund stand ihm ein wenig offen.
Liwe rappelte sich auf, drängelte an dem Mann vorbei, was ihr üblicherweise eine Tracht Prügel einbringen würde. Mit ängstlich klopfendem Herzen spähte sie durch eine der Schießscharten und sah Rauch, Feuer und ein Heer, das aus beidem geboren zu werden schien.
Waffen blitzten im Sonnenlicht, reflektierten das rote und grüne Gold der Drachenflammen, das auf Helmen und Schilden blitzte wie etwas Lebendiges.
Doch keine Gira, die sich schützend zwischen Stadtmauer und feindlichem Heer in der Luft positionierte, Sonnenlicht wie Lack auf den gewaltigen Schwingen. Kein frisches Feuer, kein Donnern aus gewaltigen Lungen.
»Nein. Nein. Nein«, flüsterte jemand direkt neben Liwe, und sie musste den Blick beinahe mit Gewalt von der heranrückenden Armee lösen, um neben sich Teran zu entdecken, in dessen grünen Augen Tränen funkelten.
»Wo ist Gira?«, fragte Liwe und hörte das Zittern in ihrer Stimme, das nur noch Haaresbreite von Weinen entfernt lag.
»Sie … sie haben ein Katapult … Der Drache …«, stammelte Teran.
Liwe atmete tief ein, fühlte unter den Fingern statt rauen Steins Schuppen, die warm und hart waren. Wie ein Schwert, das der Schmied gerade abgekühlt hatte, sodass er sein Werk prüfen konnte. Hitze lauerte stets unter der smaragdgrünen Panzerung. Ein Atemzug genügte, und Gira konnte Feuer speien, das ebenso grün wie ihre Schuppen leuchtete.
Liwe hörte die sanfte Stimme des Drachen, der Geschichten erzählte, hin und wieder leise lachte. Gira besaß Humor und konnte über dumme Figuren in den eigenen Geschichten bis zum Schluckauf lachen. Drachenschluckauf. Jeder ein kleiner Gongschlag, jeder begleitet von einer winzigen, blauen Stichflamme aus den großen Nüstern.
Giras gewaltige Vorderpranken, die so zärtlich Blütenblätter in der Mitte des großen Raums im Drachenturm drapierten, liebevoll über Liwes Haar streichelten, obwohl die Klauenhand Liwes Kopf binnen eines Wimpernschlages zu Mus hätte drücken können.
Schlaflieder, leise gesungen von einer tiefen, volltönenden Stimme.
Das sollte vorbei sein?
Liwes Sicht verschwamm, warme Nässe rann ihr über die Wangen, sammelte sich am Unterkiefer und tropfte in den Ausschnitt des Kittels. Doch noch immer spürte sie die warmen, glasharten Schuppen unter den Fingern.
»Wenn mir etwas geschieht, Liwe, gibst du dann acht?«
Seite an Seite stand Liwe mit Teran da und starrte über das Ackerland, wo Gira gegen das feindliche Heer gekämpft hatte.
Wie als ferne Ahnung aus grauen Nebeln nahm Liwe Stimmen hinter sich wahr, die etwas von Tod und Gefahr redeten. Glasklar erreichte die Stimme des Herzogs Liwes tränendurchweichten Verstand. »Besteht die Gefahr, dass sie unsere Mauern überwinden?«
Liwe wirbelte herum, spürte neben sich Teran, der das Gleiche tat.
»Jede Mauer kann geschlagen werden. Was ich bislang vom feindlichen Heer sehe, ist groß und gut ausgerüstet. Ich schlage vor, dass Frauen, Kinder, Alte und Schwache sich in die Wälder zurückziehen zur alten Felsenfestung. Sicher ist es dort auch nicht, aber die Menschen wären aus der ersten Kampflinie geschafft«, antwortete der Ritter, der vorhin auf dem Hof Teran für seine Unhöflichkeit getadelt hatte.
Kriegsgeschrei hinderte den Herzog an einer Antwort. Gewaltige Maschinen tauchten hinter dem heranziehenden Heer auf. Gira hatte nicht alles vernichtet in ihrem ersten Flug – bis sie selbst das größte Opfer für die Stadt gebracht hatte, in der ihr Turm stand.
Der Herzog trat vor an die Mauer. So nah kam er Liwe dabei, dass sie die Wolle seines Umhangs, das Öl auf seiner Rüstung riechen konnte. Er war ein alter Mann. Zu alt, um auf der Wehr noch hilfreich zu sein, aber Liwe sah an seinem kantigen Gesicht, das gar nicht mehr weich und faltig wirkte, die Entschlossenheit. Der Drache gefallen, und so würde notfalls auch der Herzog sein Leben in der Verteidigung seiner Festung geben. Zu gerne hätte Liwe etwas zu ihm gesagt. Etwas Tröstendes, das ihm Mut machte und dazu brachte, mit den Frauen und Kindern zu gehen. Doch wusste sie angesichts seiner Miene, dass er das niemals tun würde.
Ihr Blick flackerte zum Drachenturm, der sich weithin sichtbar in der Mitte der Stadt erhob.
»Wenn mir etwas geschieht, Liwe, gibst du dann acht?«
Sie duckte sich und rannte zurück zum Treppenturm, hetzte die Wendelung hinab und weinte lautlos um Gira. Ich liebe dich, Gira. Du fehlst mir jetzt schon. Und ich gebe acht.
Um Liwe herum tobte ein Mahlstrom, doch sie beachtete nichts. Suchte sich nur ihren Weg zum Drachenturm, wich Ochsen und Knechten aus, schlug einen Haken um eine Gruppe Frauen, die ängstlich wie Schafe beisammenstanden. Selbst die Stimme des Herzogs blieb nur ein sinnloses Säuseln des Winds in Liwes Ohren, als sie schwer atmend die Basis des Drachenturmes erreichte.
Dort verharrte sie einen Augenblick und versuchte, einen einzigen klaren Gedanken im wilden Toben zu erhaschen. Konnte es in der Felsenfestung sicherer sein als hier? Was benötigte Liwe, da sie nicht wusste, ob eine Rückkehr hierher jemals wieder möglich sein würde? Sie stieß sich von der Mauer ab und rannte zu den Stallungen, wo sich ihre kleine Kammer befand. Auf dem Weg die drei Stufen hinauf packte Liwe einen Tragekorb, den sie sonst verwandte, um den Ziegen frisch gepflückten Klee zu bringen. In dieses Behältnis raffte Liwe die Decke von ihrem Bett, einen Mantel und die Kleinigkeiten, die sie als ihren ganzen Besitz ansah. Die drei Stufen wieder hinab, zwei Wasserflaschen aus dem Schrank, in dem die Hirten ihre Sachen aufbewahrten. Ein Kanten Brot, Ziegenkäse. Das war alles, was sie mitnehmen konnte.
Schwer atmend rannte Liwe zurück zum Drachenturm, stieß die kleine Pforte auf und hetzte die Wendeltreppe hinauf. Wie ein Korkenzieher schraubte diese sich in die Höhe, eine Wendelung nach der nächsten, winzige Fenster im Mauerwerk, die Sonnenlicht wie Speerspitzen hereinließen.
Der Duft der Blütenblätter wehte Liwe entgegen, als sie endlich keuchend, schwitzend und mit schmerzenden Seitenstichen gestraft in den großen Raum auf der Turmspitze stolperte, in tiefen Zügen nach Atem rang und sich fast am ersten Luftholen verschluckte, weil Teran mitten im Raum am Boden kauerte und Liwe mit allen Anzeichen der Überraschung und Verwirrung anstarrte.
»Was tust du hier?«, schnappte Liwe immer noch völlig außer Atem, während Zorn heiß in ihr aufstieg. Gira hatte in den letzten Wochen niemanden mehr im Turm geduldet. Nur noch Liwe. Der Grund dafür lag auf einem pudrigen Bett aus Abertausenden Blütenblättern, schimmerte gelblich und stellte Giras allergrößten Schatz dar. Und jetzt hockte Teran – von allen möglichen Menschen in dieser Stadt ausgerechnet er – neben dem Ei.
»Ich … ich wusste nicht … ich wollte eine Schuppe von ihr. Als Andenken. Sie hat sie doch oft verloren, und ich dachte …« Er stand auf und kämpfte offenbar um eine aufrechte Haltung. »Ein Ei?«
»Giras Ei«, bestätigte Liwe knapp.
»Ob sie uns deswegen angreifen? Sie haben ja keinen eigenen Drachen«, meinte Teran und klang so ganz anders als im Hof und auf der Wehr.
Liwe stapfte näher und stellte den Korb neben dem Nest ab. Jeden Augenblick erwartete sie, dass Teran wieder zurück in seine Rolle als erhabener Knappe fiel. Aber Gira hatte sie gebeten, sich um das Ei zu kümmern. Und wenn die Stadtmauer überrannt wurde, würde das Ei in die Hände der Feinde fallen.
Teran stand aber immer noch still und sah Liwe wortlos zu, wie diese mit der Decke den Korb ausschlug und dann ganz behutsam das Ei anhob. Es war schwer und fühlte sich warm an. Die Oberfläche wirkte wie mit winzigen Hubbeln und Dellen überzogen. Etwas regte sich im Inneren. Liwes Herzschlag beschleunigte sich. Gira hatte gesagt, dass es nicht mehr lange dauernd würde, aber diese Bewegung unter der harten Schale stellte trotzdem etwas ganz Besonderes da.
Teran stopfte die grüne Schuppe, die er wie peinlich berührt zwischen den Fingern gedreht hatte, in seine Gürteltasche, eilte durch daunenartige Blütenblätter zwei Schritte herbei und legte die Hände ebenfalls auf das Ei. »Vorsichtig«, sagte er vollkommen überflüssigerweise und klang dabei wie der eingebildete Kerl, als den Liwe ihn kannte. Der meinte bestimmt, er wäre zum Befehlen geboren. Gemeinsam hoben sie Giras Schatz an und setzten ihn behutsam in den Korb.
»Das ist schwer. Das kannst du nicht tragen.«
»Ich bin harte Arbeit gewohnt.« Liwe funkelte Teran an und deckte das Ei mit dem Mantel zu.
»Ich geleite dich zur Felsenfestung.«
»Ich glaube nicht …«
»Auf jeden Fall weg von den Angreifern. Das ist der erste Schritt. Militärische Erfolge werden durch sorgfältige Planung ermöglicht. Ich beschaffe Vorräte.«
»Dafür habe ich schon lange gesorgt«, schnappte Liwe erbost.
»Ich besorge bessere Vorräte. Du hast ja nur Ziegenkäse.«
»Und Brot und Wasser.«
»Ich besorge mehr!« Teran sah aus, als ob er trotzig aufstampfen wollte. Aber er unterließ es und streichelte stattdessen über den Mantel, unter dessen wärmendem Schutz nun das Ei lag.
Liwe wollte ihn nur loswerden. »Ich schaffe das schon. Gira hat mich darum gebeten.«
»Ich kann dich verteidigen. Ich habe ein Schwert!« Er wies stolz auf das Messer im Gürtel hin, das ein ausgewachsener Ritter wohl nur zum Reinigen seiner Fingernägel verwandt hätte.
Aufdringlich wie ein junges Zicklein. Und genauso unbedarft und ganz bestimmt ebenso zerstörerisch und störrisch. Sie wuchtete sich den Korb rasch auf die Schultern. Einfach um Teran zu zeigen, dass sie wirklich prächtig ohne ihn auskam.
»Ich besorge Vorräte!« Er rannte wie ein junger Hund die Treppe hinab.
Liwe folgte ihm erzwungenermaßen langsamer. Ihr Herz fühlte sich ganz schwer und kalt an, als sie sich auf der ersten Stufe noch einmal umdrehte, das verwaiste Nest aus Blütenblättern betrachtete, die Schleifspuren am Boden von Giras langem Schwanz. Die gemütliche Ecke, in der Liwe so oft gesessen und Gira beim Geschichtenerzählen zugesehen hatte. Mit dem ganzen Körper, vielen Gesten und Grimassen, lange nicht nur mit der tiefen Stimme.
Gira wäre eine wundervolle Mutter für das jetzt noch ungeschlüpfte Kind gewesen.
Liwe zog die Nase hoch, wischte Tränen von den Wangen und machte sich an den Abstieg.
Die schwache Hoffnung, Teran abhängen zu können – es war mehr als eine Hoffnung, fand Liwe, sie war nämlich felsenfest überzeugt, dass der Junge die Gelegenheit nutzen würde, sich aus dem Staub zu machen – erlosch, als er Liwe schnaufend am hinteren Tor einholte.
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Texte © Copyright by Tanja Rast, Haßmoorer Weg 1, 24796 Bredenbek www.tanja-rast.de
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ISBN: 978-3-7394-3877-1