Maremma - Johann Widmer - E-Book

Maremma E-Book

Johann Widmer

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Beschreibung

Maremma bezeichnet die Gegend am Tyrrhenischen Meer zwischen Pisa und Grosseto. Vor der Drainage war es ein unwirtliches Sumpfgebiet, wo die "schlechte Luft" (Malaria) den Menschen das Leben schwer oder gar unmöglich machte. Ein Volkslied "Maremma amara" verflucht sogar diesen Landstrich, der heute als fruchtbare Gegend und beliebtes Touristenziel bekannt ist. Für mich ist es keine "maledetta Maremma" wie im Lied, sondern eine "benedetta Maremma" in der ich schon lange lebe und arbeite. In dieser, fast möchte ich sagen "paradiesischen" Gegend sind auch die folgenden Geschichten angesiedelt und hier agieren auch meine Personen. Menschen wie ich und du, mit all ihren menschlichen Stärken und Schwächen.

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Maremma

Titel SeiteVorwortLA VEGLIAFUNGHILA SAGRA DEL CINGHIALELA PENSIONEMUCCA PAZZAROMEO UND JULIETTAAMORER.I.P. (requiescat in pace)FAI DA TESCHÄFERIDYLLEMARIOANNAGIOVANNIITALO UND VERGILIUSBELLADIE FROMME HELENEWASSILIFAUSTOAMERIGOCRONACA NERATWIGGYIL TRATTOREWörterbuch

Titel Seite

Maremma

Kaminfeuergeschichten

aus der Toscana

Stiftung Augustine und Johann Widmer, Hrsg.

© Stiftung Augustine und Johann Widmer

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Bildungszentrums reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.johann-widmer.ch

ISBN: siehe Umschlag

1. Auflage 2019

Vorwort

MAREMMA bezeichnet die Gegend am Tyrrhenischen Meer zwischen Pisa und Grosseto.

Vor der Drainage war es ein unwirtliches Sumpfgebiet, wo die «schlechte Luft» (Malaria) den Menschen das Leben schwer oder gar unmöglich machte.

Ein Volkslied «Maremma amara» verflucht sogar diesen Landstrich, der heute als fruchtbare Gegend und beliebtes Touristenziel bekannt ist.

Für mich ist es keine «maledetta Maremma» wie im Lied, sondern eine «benedetta Maremma» in der ich schon lange lebe und arbeite.

In dieser, fast möchte ich sagen «paradiesischen» Gegend sind auch die folgenden Geschichten angesiedelt und hier agieren auch meine Personen.

Menschen wie ich und du, mit all ihren menschlichen Stärken und Schwächen.

Monterotondo marittimo

(im Juli 1999 und im September 2019)

LA VEGLIA

Mit «la veglia» bezeichnete man hier in der ländlichen Toscana ein abendliches, geselliges Beisammensein, vor allem an den langen Winterabenden. Ziemlich spontan lud einer der Bauern seine Nachbarn zu einer Veglia ein. Meist scharte man sich dann ums Kaminfeuer, vielleicht wurde dabei noch Mais abgekernt, die Frauen im Hintergrund häkelten an ihren kunstvollen Decken, sicher aber hatte man sein Glas Rotwein neben sich, Kastanien brieten über dem Feuer und verbreiteten ihren typischen Heisse – Marroni – Duft. Man diskutierte aktuelle Probleme der Landwirtschaft, man besprach Tagesereignisse oder man sass einfach da und blickte schweigend in die Flammen. Es herrschte eine ruhige, gemütliche und zufriedene Stimmung.

Und irgendwann mal wurde einer aufgefordert, eine Geschichte zu erzählen. Was er erzählen wollte, blieb ihm überlassen. Es konnte sich um Erlebtes handeln, um Gehörtes, um längst Vergangenes oder auch um frei Erfundenes.

Was da alles zum Vorschein kam, war unglaublich. Manch einer, dem man normalerweise jedes Wort einzeln aus dem Mund ziehen musste, entpuppte sich hier als begnadeter Erzähler, der sehr wortreich und in epischer Breite die banalste Begebenheit zum literarischen Epos machen konnte, während ein anderer, den man für einen humorlosen Typen gehalten hatte, den restlichen Abend lang die ganze Gesellschaft zum Lachen brachte. Während man dem einen lange zureden musste, bis er endlich seinen Mund auftat, mussten andere in ihrer Redelust irgendwann gebremst werden, da morgen wieder ein arbeitsreicher Tag auf uns alle wartete.

Die erzählte Geschichte bildete jedesmal den Höhepunkt des Abends, auch wenn man sie vielleicht schon zum zweiten Mal gehört hatte.

Mündliche Überlieferung aber geht irgendwann mal verloren, wenn sie nicht aufgezeichnet wird und mit dem Schreiben taten sich damals die allermeisten Bauern hier sehr schwer, falls sie es überhaupt beherrschten.

Dieses alte Brauchtum hatte in den Jahren um 1882 den Schriftsteller Renato Fucini zu einem, leider etwas in Vergessenheit geratenen Geschichtenband angeregt, den «Veglie di Neri».

Die nachfolgenden Kaminfeuergeschichten sollen als «hommage» an meinen Vorgänger verstanden sein, der 1843 in «unserm“ Dorf geboren wurde.

Mit der Ankunft des Fernsehens in den siebziger Jahren wurde diese Idylle aber jäh zerstört, denn die neue Unterhaltung war spannender, unterhaltsamer und brachte die weite Welt in die engen Stuben. Da kamen neue Geschichten, sogar noch von bewegten Bildern begleitet, schöne Musik, viel nackte Frauenhaut und viel seichte Unterhaltung, dass man gut und gern auf die «Vegliageschichten» verzichten konnte.

Natürlich war der Fernseher nicht der einzige «Schuldige» am Untergang dieser alten Tradition, er war nur ein Glied in der langen Kette verschiedenster Ursachen, wie: die Landflucht, also die rasche Abwanderung der überalterten, kleinbäuerlichen Bevölkerung, das Auto, das mobil und unstet macht, die junge Generation, die anderen Vergnügungen den Vorzug gab und vieles mehr.

Es soll an dieser Stelle auch kein Klagelied auf die gute alte Zeit angestimmt werden, im Gegenteil sollen diese Kaminfeuergeschichten einen Hauch jener Atmosphäre vermitteln und ein frohes Andenken an all die schönen Veglia-Abende sein, die wir hier noch erleben durften, mehr als 150 Jahre nach Renato Fucini.

Aber nun zu den Geschichten:

FUNGHI

Altweibersommer. Altmännersommer hätte man sagen mögen, wenn man die alten Männer auf dem Mäuerchen am unteren Ende der Piazza Garibaldi sitzen sah. Müde, mauserige Vögel, die sich von der milden Herbstsonne aufwärmen liessen. Tagtäglich hockten sie da, krumm und müde, stumm und in sich gekehrt, aufs nächste Essen wartend, mit der matten Hoffnung, dass vielleicht mal etwas geschehe während man da war, oder vielleicht nicht einmal mehr dies. Man sass da, um nicht allein zu sein, man brauchte compagnia, sie war gut gegen düstere Gedanken.

Gesprochen wurde nicht mehr viel, man hatte der Redelust Genüge getan, damals, als noch jemand zuhörte oder zuhören musste, damals, als noch ihre Zeit war. Dann mussten sie abtreten, so nach und nach den Jüngeren Platz machen, bekamen ihre Rente und durften von nun an tagelang auf dem Mäuerchen sitzen. Und dort erstarben dann die Gespräche allmählich. Kaum ein Ereignis war noch der Rede wert, weder ihre unzähligen Gebresten und Krankheiten, die ihnen fest im Nacken sassen, noch der Dorfklatsch oder gar die neuste Regierungskrise.

Wirklich nicht der Rede wert.

Vielleicht, wenn eine der Dorfschönen vorbeistelzte und mit ihrem Hinterteil in den viel zu engen Jeans verführerisch wackelte, mochte ein träumerischer Glanz über die trüben Augen huschen, leckte sich da einer die dürren Lippen und ein anderer seufzte auf. Einen kleinen Augenblick lang mochten ihre Herzen etwas schneller schlagen, aber dann war es vorbei. Man musste sein Herz schonen.

Damals, früher, ja da waren wir doch Teufelskerle, tja, aber jetzt ist alles überstanden, sogar die vertraute Vergangenheit hatte sich vom vielen Erzählen der ewig gleichen Geschichten allmählich abgewetzt und war verblichen und vermodert.

Man schwieg, träumte sich in graue Nebel hinein, wartete, wartete auf nichts, erwartete nichts mehr.

Alberto, der arbeitslose Bergmann kam die Strasse herunter mit einem Korb am Arm. Die Alten hoben ihre Köpfe und beäugten den jungen Mann kritisch.

«Warst in den Kastanien?» fragte der alte Boni neugierig.

«Bah, Kastanien, da lohnt sich das Bücken nicht, « grinste der Gefragte.

Nonno Rossi schnupperte in der Luft und fuhr plötzlich hoch: «Funghi hat er, ragazzi, das riecht doch verdammt nach Pilzen, stimmt's?»

Elektrisiert fuhren alle auf und schrien : «Pilze! Zeig mal her!»

Was weder Politik noch Mädchenbeine vermocht hatten, schaffte dieses magische Wort und traf sie im Innersten. Voll jugendlicher Lebenskraft und schneller als ihre Arthrose es ihnen zugebilligt hätte, schossen sie auf und scharten sich neugierig um den jungen Mann, das heisst, um seinen Pilzkorb und schnupperten mit zittrigen Nüstern den herben Pilzgeruch, der sich auf der ganzen Piazza auszubreiten schien.

Wirklich und wahrhaftig Pilze. Zarte schöne Pilzchen lagen unter dem Tuch, ein ganzer Korb voll Pilze!

Der alte Sandro nahm mit spitzen Fingern einen heraus beroch ihn und musterte ihn mit Kennerblick: «Ich würde sagen, das sei ein grüner Ritterling, ein an und für sich wertloser Pilz, nicht giftig, aber völlig wertlos und zäh wie Leder.»

«Sag das nicht,» widersprach ihm Dino, «ich erinnere mich zwar nicht mehr an den Namen, aber ich weiss bestens wie er schmeckt, nämlich ausgezeichnet, deliziööös, sag ich euch.»

«Quatsch,» unterbrach ihn der alte Bianchi, « ich kenn den Pilz genau, das ist der graue Täubling, da bin ich hundertprozentig sicher. Der ist absolut ungeniessbar, das ist ein wahrer Kotzpilz, das garantier ich euch, ein Kotzpilz erster Güte, der lässt dich deine deliziööösen Gedärme aus dem Hals kotzen, du wirst dein Innerstes deiner allerinnersten Innereien zu Gesicht bekommen. Mein Schwiegersohn hatte letztes Jahr so einen in einem Pilzgericht, nur einen allereinzigen, und ich sag euch, die haben ja was gekotzt, die ganze Familie wär beinah daran gestorben. Und übel war denen noch wochenlang!»

«Na, die müssen sich nur gegenseitig angeschaut haben, dann glaub ich wohl, dass denen übel wurde,» giftete Dino zurück, «und wenn der die Pilze kennt wie du, so wird er bald mal an einer Pilzvergiftung jämmerlich krepieren, das sag ich dir.»

Um die brenzlige Lage zu entschärfen und Streit zu verhindern forderte nun der ehemalige Bürgermeister gebieterisch: «Zeigt mal her!»

Nach kurzer kritischer Prüfung entschied er, dass es sich hier um den weissen Ellerling handle. Zweifelnde Laute erstickte er mit seinem scharfen Autoritätsblick, den er einst, Kraft seines Amtes, meisterhaft beherrscht hatte und der schon damals jeden aufmüpfigen Gemeinderat sofort zum Schweigen gebracht hatte.

Damals. Tempi passati, vergangene Zeiten.

Aber jetzt wagte sogar Tommasino, der ehemalige Tagelöhner aufzumucken: «Mag er heissen wie er will, aber einen grünlichen Pilz würde ich nie essen, nie, denn grün schmeckt nun mal nicht gut.»

Der Exbürgermeister überhörte diesen reichlich naiven Einwand, da er von einem Vertreter der untersten Volksschicht kam, und mit denen hatte er sich nie gemein gemacht, auch als roter Sindaco nicht.

Zu Alberto gewandt erklärte er: «Ich sag dir, lieber Alberto, mit diesem Pilz steht dir ein kulinarischer Genuss erster Güte bevor. Dieser Pilz, richtig zubereitet, an einer Rahmsosse, ist so ziemlich das Höchste, was es an irdischen Tafelfreuden gibt. Das zarte Fleisch wird dir auf der Zunge zerfliessen, feiner und geschmackvoller noch als neugeborenes Lamm. Ein Gläschen weissen Malvasia dazu, ich garantier dir, dass da selbst die alten Römer neidisch auf dich herunterblicken werden.»

Nun mischte sich Filippi, ein alter und erfahrener Pilzsammler ins Gespräch ein und knurrte: «Hat man schon sowas gehört, Weisswein zu Pilz. Alkohol mit gewissen Pilzen zusammen genossen, kann tödlich sein, aber bei diesem Pilz spielt es eh keine Rolle, denn nach meiner Meinung ist das der tödlichste Pilz, den es überhaupt gibt, das ist der grüne Knollenblätterpilz.»

Entsetzt traten alle einen Schritt zurück.

Aber die abgedankte Obrigkeit blieb bei ihrem Urteil. Ellerling, Filippi hin oder her, und überdies sei Pilz ohne Wein wie ein Leben ohne Liebe.

«Und das solle ein Amanita phalloides sein? Lächerlich!“

Aufgeregt krächzte Filippi: «Latein hin oder her, wenn du diesen Pilz verzehrst, wirst du sofort tot vom Stuhl fallen.»

Das liess man aber allgemein nicht gelten, denn soviel wusste jeder, dass der Tod erst nach Stunden eintritt, erst dann, wenn man nichts mehr gegen das Gift tun konnte.

«An genau diesem Pilz sind vorige Woche in Bologna zwölf Personen gestorben,» rundete Filippi seine Warnung ab.

«Bolognesen,» meinte der alte Sindaco geringschätzig, «ha, Bolognesen, was verstehen die schon von Pilzen, die grasen einfach die Wälder ab und essen alles, was aussieht wie ein Pilz. Ist doch typisch, gleich zwölf aufs Mal, sowas kann ja nur denen passieren.»

«Wird auch dir passieren,» sagte Filippi zum verdutzten Alberto.

«Nur keine Panikmache,» beschwichtigte das alte Dorfoberhaupt,» dieser Pilz ist essbar, da fress ich einen Besen!»

«Friss lieber diese Pilze,» hetzte der andere wütend und kehrte der Gesellschaft den Rücken.

Inzwischen hatten die alten Schwätzer Alberto verunsichert und er wollte nun wissen, ob das garantiert ein essbarer Pilz sei.

«Garantieren, lieber Alberto, das kann dir niemand was auf Erden,» lächelte der Altpolitiker weise, «man kann lediglich etwas feststellen nach bestem Wissen und Gewissen, man kann eine Behauptung aufstellen, die es natürlich zu beweisen gilt. Die Mykologie ist eine grosse Wissenschaft, von der wir Laien nur wenig wissen können. Ich weiss zum Beispiel, dass man diesen Pilz essen kann und ihn auch isst, ohne davon zu sterben. In Frankreich, dem Land einer fast ebenso feinen Küche, wie der unsrigen, gilt eben dieser Pilz als erlesene Leckerei, die gleich nach der Trüffel kommt, und das will doch etwas heissen. Eine Verwechslung mit dem Knollenblätterpilz ist nach menschlichem Ermessen wohl kaum möglich, nur ist zu bedenken, dass, wie die alten Römer sagten – errare humanum est – , und dass zudem in Betracht gezogen werden muss, dass Pilze, je nach Standort, Bodenbeschaffenheit oder Klimabedingungen ihr Aussehen verändern können.»

Grinsend sagte einer der Tattergreise: «Richtig, richtig. Das ist wie der Farbwechsel gewisser Mitbürger und Genossen, die auch, je nach Standort und Windrichtung der momentanen Politik ihre Farbe wechseln. Ich könnte euch von Farbveränderung erzählen, die von Schwarz über Gelb und giftiges Grün bis zum schönsten und leuchtendsten Rot gingen und dabei erst noch Bürgermeister wurden.»

«Wen meinst du damit?» fragte der Angesprochene mit hochrotem Kopf.

«Ach, wir sprechen doch von Giftpilzen,» grinste der zahnlose Alte.

Wortloser Abgang Seiner Gewesenen Majestät.

Die Meinungen über die Essbarkeit Albertos Pilze gingen immer weiter auseinander, wie das bei Spezialistenkonferenzen halt so üblich ist. Aber die Gruppe löste sich rasch auf, weil jeder nach Hause hastete, sich einen Korb holte und in den Kastanienwald eilte, so gut und so schnell es Beine, Herz und Lunge noch zuliessen.

Obschon Alberto diesen Pilz jedes Jahr gesammelt und gegessen hatte, war er durch das Intermezzo auf der Piazza verunsichert und daher fragte er noch seinen Nachbarn Giacomo, einen versierten Pilzkenner um seine Meinung. Sicher ist sicher.

Echter Ritterling, entschied der Kennerblick und lachte verächtlich über das dumme Geschwätz der Alten auf der Piazza.

Um aber seiner Sache ganz sicher zu sein, lud Alberto seinen Nachbarn samt dessen Gemahlin zum Pilzessen ein, was dieser erfreut annahm.

Während die beiden Frauen die allerneusten Kochrezepte austauschten, rüsteten die Männer die Pilze und brachten schliesslich ein Pilzgericht auf den Tisch, das ausgezeichnet schmeckte.

Nur Albertos Bruder, der im gleichen Haushalt lebte, langte nicht besonders herzhaft zu, denn bei Pilzen hatte er immer ein seltsames Gefühl von russischem Roulette. Als man dann noch, wie es beim Pilzessen so üblich ist, von den alljährlich die Zeitungen füllenden Tragödien schrecklicher Pilzvergiftungen zu sprechen begann, die ganze Sippen brutal ausgelöscht oder zu Blindheit oder zu vollkommener Demenz geführt hatten, bereute der arme Carlo jeden Bissen, den er von diesem tückischen Teufelszeug bereits geschluckt hatte.

Nein, er hätte heute überhaupt keinen Appetit, er hätte ohnehin bereits eine leichte Magenverstimmung.

Da sei doch Pilz genau das Richtige, meinte der Nachbar grinsend und schöpfte dem ängstlichen Carlo nochmals den Teller voll, der mit wahrlich heroischer Todesverachtung verzweifelt Bissen um Bissen hinunterwürgte.

«Nur keine Angst vor Giftpilzen,» erklärte der Gast, «das von den Giftpilzen ist nämlich ein Märchen, es gibt überhaupt keine giftigen Pilze. Alle Pilze sind essbar, wenn man sie richtig zubereitet. Sogar der Fliegenpilz, übrigens in der Ukraine eine Delikatesse, und auch der so sehr zu Unrecht verteufelte Knollenblätterpilz, sind übrigens alle beide essbar.»

«Auch der Knollenblätterpilz?» zweifelte Antonio.

«Auch der ist absolut essbar,» dozierte Giacomo, «wenn du ihn richtig behandelst. Erstens darfst du ihn unter gar keinen Umständen waschen, sonst verändert sich das Pilzeiweiss zu einer absolut tödlichen Substanz, eben die allgemein bekannte. Dann, und das ist sehr wichtig, will er in einem guten trockenen Weisswein gekocht werden, niemals im Wasser, auf kleinstem Feuer geköchelt und dann gut abgetropft ins Rahmsösselchen, bis er richtig durch ist. Und ja kein Salz! Beim Essen muss man genügend Wein dazu trinken, denn der Wein neutralisiert eventuelle Giftteilchen. Vielleicht ist sogar in unserm Essen einer mit dabei. Also, Prosit und Gesundheit für uns alle, lasst uns nochmals anstossen.»

Carlo sagte ganz verstört: «Mach doch keine solch üblen Scherze, da geht der Spass zu weit.»

«Ich, üble Scherze machen?» sagte Giacomo beleidigt, «kennt ihr mich als einen, der über seriöse Dinge spottet? Bin ich ein Lügner, ein Angeber oder ein Kasperle? Nein, mein lieber Carlo, dieses Thema ist wirklich zu ernst, als dass man darüber Witze machen könnte; aber was ich euch über die Zubereitung der Pilze, aller Pilze übrigens, gesagt habe, das ist nun mal eine Tatsache, von mir selber erprobt.» Und in vertraulichem Ton fuhr er weiter: «Euch kann ich es ja ruhig sagen, dass ich die Pilze überhaupt nicht kenne, überhaupt nicht, denn es ist ja nach meiner Theorie auch unwichtig, weil die Giftigkeit der Pilze einzig und allein von der Zubereitung des Pilzgerichtes abhängig ist und wenn man da noch ein paar Tricklein kennt, so verwandelt sich der Knollenblätterpilz in eine wahre Gaumenfreude.»

Und mit geschlossenen Augen führte er sich eine Portion dieser Gaumenfreude zu Gemüte.

«Zudem,» fuhr er nach einer langen Kunstpause fort, «zudem ist statistisch einwandfrei bewiesen, dass die allermeisten Pilztoten nicht an Giftpilzen sterben, sondern an ganz einfachem Herzversagen, das heisst, sie sterben vor lauter Angst, sie hätten einen giftigen Pilz gegessen. Man nennt das in der Wissenschaft den psychosomatopathologischen Fungizid, also Tod durch pure Einbildung man hätte einen Giftpilz verschluckt. Interessant daran ist, dass die qualvollen Vergiftungserscheinungen absolut denen ähnlich sind, die bei echtem Nervengift auftreten, also etwa so, wie nach einem Glas Strychnin.»

Carlo, der bei all diesen Ausführungen käsebleich geworden war, wollte nun endlich Gewissheit haben über sein Schicksal und beschwor den Nachbarn, bei allen Heiligen und allem was ihm lieb und teuer sei, ehrlich zu sagen, ob er die Pilze kenne oder nicht.

Statt einer Antwort blickte dieser mit kindlicher Unschuldsmiene zur Decke, seufzte und hob dabei wie fragend die Schultern.

Als seine Frau merkte, dass die Stimmung auf einen absoluten Tiefpunkt gefallen war, begann sie zu lachen: «Ach Leute, ihr solltet den guten Giacomo doch allmählich kennen, der hat›'s doch faustdick hinter den Ohren. Der und keine Pilze kennen! Wir haben die halbe Stube voll Pilzbücher in denen er nächtelang schmökert, und was er alles weiss über Pilze, da könnte man gleich zwei professori draus machen.»

Befreiendes Lachen.

Giacomo wehrte sich vergebens, man war erleichtert, und als er noch sagte, sie sollten ja das Weintrinken nicht vergessen, falls sich mehr als ein Grüner in das Essen geschlichen hätte, da atmeten alle befreit auf.

Seine detaillierte Schilderung des Verlaufs einer Pilzvergiftung kam in den vom Wein schon etwas verwirrten Hirnen kaum mehr richtig an. Die Stimmung wurde immer heiterer, dass sogar Carlo seine anfängliche Furcht vor Pilzen zu verlieren schien.

Schliesslich fand man andere Gesprächsthemen und um Mitternacht verabschiedete man sich voneinander nach diesem gelungenen und fröhlichen Abend.

Der Alkoholgehalt im Blut der Männer hätte bei jedem problemlos für einen lebenslangen Führerscheinentzug gereicht, aber glücklicherweise konnte man die wenigen Meter bis zum heimischen Bett zu Fuss zurücklegen. Und sie standen eigentlich noch alle erstaunlich gut auf ihren Beinen, dank der hilfreichen Unterstützung der Ehefrauen.

Gegen zwei Uhr erwachte Carlo.

Es war ihm speiübel, sein Kopf schmerzte und er fühlte sich hundeelend.

Der Brechreiz wurde immer stärker.

Mühsam schleppte er sich zur Toilette.

Diese verdammte Sauferei . . . er ertrug einfach nichts . . . oder . . .

Schlagartig war er hellwach.

Pilzvergiftung!

Er spürte eine Beklemmung ums Herz.

Auf der Toilette übergab er sich. Pilze, Pilze! Grünlich leuchtende Pilze!

Es wurde ihm noch elender.

Oder war das alles nur Einbildung ?

Also nun mal schön langsam.

Diese Symptome, die waren wirklich abnormal, die konnten nur von einer Pilzvergiftung herrühren.

Würgen im Hals, rasendes Herzklopfen, eiskalte Stirn, kaum spürbarer Puls, sogenanntes Herzflattern, permanente Schwindelanfälle, schweres Krankheitsgefühl, Atemnot, Nierenstechen und verkrampfte Waden.

Alles genau so, wie Giacomo an Abend eine schwere Pilzvergiftung beschrieben hatte.

Kalte Schauer jagten durch seinen Körper, dann wurde ihm heiss, wieder dieses Würgen im Hals und wenn er sich bücken wollte, spürte er seine Sinne schwinden.

Auf allen Vieren kroch er den Korridor entlang zum Schlafzimmer seines Bruders.

Er horchte.

Gottseidank, die lebten noch.

Er überlegte, ob er sich das alles nur einbilde, ob er vielleicht zuviel getrunken habe.

Würgen im Hals, starke Schwindelgefühle, Wadenkrämpfe . . .

Da hörte er seinen Bruder stöhnen. Jetzt war alles klar.

Jetzt ging es um Minuten.

Er schlug Alarm.

Bruder samt Frau erschienen in der Tür, erschreckt, totenbleich, verstört.

Schliesslich brummte die Schwägerin etwas von vergogna, von der Schande, mehr zu saufen, als man vertragen könne. Aber Carlo röchelte: «Pilze … giftig ...giftig...Wadenkrämpfe habe ich schon und mein Herz rattert wie verrückt...ach, mir ist so übel, ich sterbe. Spürt ihr denn nichts? Wir müssen sofort ins Krankenhaus, Magen auspumpen, sonst sind wir morgen tot, ach Mamma mia, ich, ich muss sterben.»

Alberto war weiss wie ein Leichentuch und als er sich zu seinem Bruder niederbeugen wollte, spürte er es auch, dieses Würgen im Hals, diesen Brechreiz, den Schwindelanfall und die schwachen Knie.

Er tastete sich zur Toilette und übergab sich.

Carlo heulte los, wie ein kleines Kind, als er bemerkte, dass auch sein Bruder Todeskandidat war.

Albertos Frau wurde nun auch allmählich unsicher, und wenn sie ehrlich sein wollte, dann spürte auch sie diesen Druck auf dem Magen, eine Art Drehschwindel im Kopf, genau, wie es Giacomo beschrieben hatte. Und plötzlich kam die Panik auch über sie.

Nichts wie los ins Krankenhaus!

Sie rasten um ihr Leben, Alberto am Steuer, versteht sich, trotz schwindender Sehkraft und zittriger Glieder. Aber um diese Zeit sind glücklicherweise nur wenige Leute unterwegs, und so kamen sie unversehrt im Krankenhaus an.

Dem Notfallarzt war die Situation gleich klar, diese Menschenleben hingen nur noch an einem dünnen Fädelchen. Carlo fiel von einer Ohnmacht in die andere, Alberto fand das Magenauspumpen eklig und sehr unangenehm und benahm sich dabei sehr wehleidig.

Seine Frau verzichtete seltsamerweise auf diese Prozedur, weil sie, wie sie behauptete, sich eigentlich wieder ganz wohl fühle und Lust hätte, nach Haus zu gehen. Sie musste lebensmüde geworden sein. Solche Dinge offenbarten sich scheinbar erst in Grenzsituationen.

Zur weiteren Überwachung wurden sie in Spitalbetten gelegt.

Die Nachtschwester prüfte Puls, Herzfrequenz, Temperatur und Blutdruck.

Die beiden Brüder fühlten ihr letztes Stündlein nahen und bemitleideten sich gegenseitig sehr wort- und tränenreich. Carlo, der sich bisher als Atheist und grosser Pfaffenfresser gefühlt hatte, dachte nun plötzlich daran, einen Priester anzufordern, denn, na ja, man konnte schliesslich nicht wissen...

Endlich kam der Spezialarzt.

An dieser Stelle erinnerte sich Alberto seines Nachbarn.

Giacomo! Der muss auch her, sofort, los, der krepiert sonst in seinem Bett, ohne dass er es merkt!

Am Telefon antwortete niemand.

Povero Giacomo! Der musste bereits tot sein. Oder im Koma liegen.

Man alarmierte die Carabinieri.

Die Polizisten läuteten Sturm an der Haustüre.

Nichts. Niemand regte sich.

Als sie dran gingen die Türe aufzubrechen, erschien endlich das verschlafene Gesicht Giacomos.

Man versuchte ihm die Sachlage zu erklären.

«Unsinn!» war sein Kommentar, «die Pilze waren OK, die Herrschaften haben zuviel gesoffen, das ist alles, ich übrigens auch, und nun gute Nacht.»

Sprach›'s und kehrte ins warme Bett zurück.

Und die Titelstory der Zeitungen berichteten am folgenden Morgen nichts von einem schrecklichen Massaker, das die Pilze wieder einmal angerichtet hatten.

Gar nichts.

LA SAGRA DEL CINGHIALE

Die grosse Wildschweinhatz ist der alljährliche Höhepunkt der Jagdsaison und das ganze Dorf nimmt daran regen Anteil. Aktiv oder passiv. Aktiv als Jäger, Treiber oder Sponsor, passiv als Nörgeler, Stänkerer, Besserwisser oder gar als Tierschützer.

Jagen, das ist die grosse Passion der echten Männer hierzulande, das ist das Fest urmännlicher Triebe und für manche bedeutet es das halbe Leben; von der Jagd erzählen und flunkern ist die andere Hälfte.

Erfolgreicher Abschuss von kleinen Singvögeln und von speziell ausgesetzten, ziemlich zutraulichen Fasanen und Hasen, das gilt als Geschicklichkeitsprobe, erfolgreiche Wildschweinjagd aber ist Heldentum. Dank der vielen furchterregenden Gräuelgeschichten, seit dem klassischen Altertum im Umlauf, gilt die Wildschweinhatz als äusserst gefährlich und daher als besonders männlich.

Ängstliche Hubertusjünger, und solche gibt es hier recht viele, die aber mit dem Doppelläufer ihren Mut und ihre Männlichkeit zu beweisen haben, bewahren ihr Leben und ihre teure Jägerkleidung vor Schaden, indem sie auf alles schiessen, was sich bewegt. Hinterher sehen sie dann nach, was oder wen sie getroffen haben. Mit ihrer wilden Ballerei versuchen sie wohl ihren Beitrag zu leisten gegen die drohende Überbevölkerung unseres Planeten.

Die Jagd, oder genauer gesagt der Jagdunfall soll häufig dazu dienen, unausgeglichene Konten von Familien- oder Nachbarschaftsfehden in Ordnung zu bringen, aber das sind natürlich unbeweisbare Behauptungen hinterhältiger Jagdgegner, die den edlen Sport in Verruf bringen wollen.

Je näher der Eröffnungstag der Wildschweinjagd rückt, desto emsiger werden die notwendigen Vorbereitungen getroffen. Geschäftige Nervosität befällt alle Familien, denn es müssen neue Jagdanzüge massgeschneidert werden, weil niemand gerne brutta figura machen will. Neue Flinten werden angeschafft oder die alten zum Büchsenmacher zur Revision gebracht, denn Fehlschüsse machen einen Jäger bald einmal zum Dorfgespött.