Sandra - Johann Widmer - E-Book

Sandra E-Book

Johann Widmer

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Beschreibung

Misserfolge gehören auch zu unserem Leben, das erfährt man schon in jungen Jahren. Da genügen ein paar Bauklötze, die den Gesetzen der Statik nicht trotzen können. Ich kann nun die Bauklötze voller Wut in die Ecke schmeissen, aber ich kann auch geduldig mein Bauwerk nochmals aufbauen, diesmal die Gesetze der Schwerkraft beachtend und gelange zu einem Erfolgserlebnis. Es kommt sehr darauf an, wie ich mit Erfolg, Misserfolg, Tiefschlägen, Lob und Tadel oder Schicksalsschlag umgehe. Ich kann kapitulieren, den Kopf in den Sand stecken und im Sumpf des Selbstmitleids ertrinken, aber ich kann auch wieder aufstehen, kann mich wehren, kann dem Schicksal trotzen. Dabei riskiere ich vielleicht alles, aber ich habe auch die Chance, alles zu gewinnen. Wir haben die Wahl: Spieler oder Spielball zu sein. Und wenn das Leben seine eigenen Wege geht kann man immer noch träumen. In der Erinnerung liegen Traum und Wirklichkeit oft sehr nahe. Bitte, lesen (träumen) Sie weiter …

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Sandra

SandraVORWORTIdaOttoPaulRosaJoeSandraDie Dreierbande

Sandra

Johann Widmer

SANDRA

LEBENSGESCHICHTEN

Band 4

Stiftung Augustine und Johann Widmer, Hrsg.

© Stiftung Augustine und Johann Widmer

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Bildungszentrums reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.johann-widmer.ch

ISBN: siehe Umschlag

1. Auflage 2019, Band 4

VORWORT

VORWORT

Zum vierten Band

Misserfolge gehören auch zu unserem Leben, das erfährt man schon in jungen Jahren. Da genügen ein paar Bauklötze, die den Gesetzen der Statik nicht trotzen können.

Ich kann nun die Bauklötze voller Wut in die Ecke schmeissen, aber ich kann auch geduldig mein Bauwerk nochmals aufbauen, diesmal die Gesetze der Schwerkraft beachtend und gelange zu einem Erfolgserlebnis.

Es kommt sehr darauf an, wie ich mit Erfolg, Misserfolg, Tiefschlägen, Lob und Tadel oder Schicksalsschlag umgehe. Ich kann kapitulieren, den Kopf in den Sand stecken und im Sumpf des Selbstmitleids ertrinken, aber ich kann auch wieder aufstehen, kann mich wehren, kann dem Schicksal trotzen. Dabei riskiere ich vielleicht alles, aber ich habe auch die Chance, alles zu gewinnen.

Wir haben die Wahl: Spieler oder Spielball zu sein.

Und wenn das Leben seine eigenen Wege geht kann man immer noch träumen.

In der Erinnerung liegen Traum und Wirklichkeit oft sehr nahe.

Ida

Meine Erinnerungen an meine früheste Kindheit sind meist von einem leichten weissen Schleier bedeckt oder sie liegen irgendwie im Schatten, wo die Farben dunkler und die Umrisse unklar und undeutlich sind. Erinnerungssplitter mit leeren Zwischenräumen.

Wertungen kamen erst später hinzu und die Bewertung jener Zeit ist immer ein Akt der Gegenwart.

Ich war ein Einzelkind, meine Umgebung war eine enge Wohnung mit vielen dunkeln Ecken und da war meine Mutter, eine dicke, schwer schnaufende Frau, ein leeres Gesicht mit zwei funkelnden Augen, die alles sahen und alles wussten und alles regierten.

Und da war Vater, diese leicht gekrümmte Figur mit krausem Haar und zu weiten Kleidern. Er „schlotterte“ in seinen Kleidern, sass vornübergebeugt am Tisch und löffelte schlürfend seine Suppe. Man sah nur seinen wirren Haarschopf und den glänzenden Löffel, der regelmässig wie eine Maschine in der Suppe untertauchte, dann wieder hervorkam, tropfend und manchmal mit Gemüsefetzen behangen hochstieg, dann dieses einsaugende schlürfende Geräusch verursachte um dann wieder in der Brühe unterzutauchen.

Wenn ich einmal zu schlürfen versuchte, schlug mich Mutters Löffel schmerzhaft auf meine Finger.

„Iss anständig“ oder „man schlürft nicht beim Essen“ oder gar „nur Schweine schlürfen“ war die Begleitmusik dazu, aber es wäre mir nie eingefallen den Faden weiterzuspinnen oder gar Schlüsse aus den Ermahnungen zu ziehen.

Dass das Essen karg und eintönig war, ist mir erst viel später bewusst geworden. Es gab eigentlich immer Kartoffeln auf die eine oder andere Art, denn Kartoffeln bekam man ohne Lebensmittelmarken und Kartoffeln waren billig. Mutter verstand es unser Essen abwechslungsreich zu machen, mal gab es Pellkartoffeln (die Schalen mussten mitgegessen werden), mal Bratkartoffeln, mal Kartoffelsuppe, mal Salzkartoffeln, mal Kartoffelsalat (meine Leibspeise), mal Kartoffelstock und meistens gab es „Rösti“ das Nationalgericht in der deutschem Schweiz. Sogar im Brot waren Kartoffeln mit drin.

In der Rösti wurde oft ein Stück Speckschwarte mit-gebraten und das machte die Speise so fein und lecker.

Beim Mittagessen war meistens noch Gemüse dabei. Je nachdem was unser Garten hergab, aber Vater ass nur gekochtes Grünzeug und so verschwand der Kopfsalat wie der Weisskohl und die Karotten in der Suppe. Fleisch war höchstens einmal an einem Sonntag auf dem Teller, meist als Wurst oder Siedefleisch, alles andere war zu teuer.

Mutter tauschte die Fleischmarken mit einer Nachbarin gegen Milchmarken, damit ich regelmässig meine Tasse Milch kriegte.

Dass in den Nachbarhäusern ganz andere Lebensumstände herrschten, erfuhr ich erst viel später. Meine Welt beschränkte sich vor allem auf unser Wohnzimmer und die Aussenwelt bestand vor allem aus den Bildern, die mich durch die Fenster erreichten.

Unsere Wohnung lag im ersten Stock, direkt über der Schreinerei, wo mein Vater arbeitete. Eine steile Holztreppe führte auf der Nordseite des Hauses an der Wand hoch zu einem Laubengang, von dem aus man unsere Wohnung betreten konnte. Eine weitere Türe etwas weiter hinten führte ins Holzlager und am Ende der Laube befand sich das „Häuschen“, dessen Türe mit einem ausgesägten Herz verziert war. Ein eindeutiger Geruch verriet den Zweck dieser Anlage.

Der „Gang aufs Häuschen“ war im Winter, vor allem nachts, ein Abenteuer und eine Mutprobe. Auf der Laube herrschte Dunkelheit und eisige Kälte, manchmal fegte sogar ein Schneesturm ums Haus. Am Boden lag Schnee, manchmal so hoch, dass man die Türe nicht aufmachen konnte und Hilfe holen musste.

Schlimm war auch das steife und harte Klopapier mit dem man sich am Hintern verletzen konnte. Immerhin hatte es auch seine guten Seiten: Man konnte auf dem Klo Zeitung lesen weil das Papier aus der Zeitung geschnitten wurde. Dadurch wurden die Texte verstümmelt und es machte mir Spass, das Fehlende „hinzu zu denken“.

Vom Wohnzimmer aus konnte man auf drei Seiten hinausschauen. Gegen Norden sah man den grossen Baumgarten des Nachbarn und dahinter einen, ebenfalls mit Obstbäumen bewachsenen Hügel, im Fenster der Ostseite sah man eine kleine Wiese mit einem Birnbaum mittendrin und dahinter das Nachbarhaus. Es war eine kahle Fensterfront und unten eine Türe, die direkt in die Küche führte.

Manchmal war diese Türe geöffnet und ein kleines Mädchen, Ida, sass auf der Schwelle.

Sie gehörte einfach in dieses Bild und wenn sie nicht da war fehlte mir etwas.

Manchmal winkte ich ihr zu durch die geschlossenen Fenster, aber sie sah mich nie, sie war in ihr eigenes Spiel vertieft, das ich aber nicht nachvollziehen konnte. Manchmal spielte sie mit einer Holzkelle, manchmal war es ein grosser Schöpflöffel einmal war es sogar eine junge Katze.

Ich hatte anderes Spielzeug. Ich hatte eine Riesenkiste voll bunter, hölzerner Bauklötze, die mir mein Vater gemacht hatte. Ich konnte damit Türme bauen, die grösser waren als ich selber. Und dann liess ich sie mit Getöse und gleichzeitig wundem Herzen, wieder einstürzen.

Zwischen Ida und mir lag aber die Treppe, diese unendlich lange, steile und hohe Treppe, vor der ich mich fürchtete. Wenn ich hinuntersah wurde mir schwindlig.

Manchmal nahm mich die Mutter mit, wenn sie im Dorf einkaufen ging. Dann hielt sie mich an der einen Hand fest und mit der andern konnte ich den Handlauf an der Wand knapp erreichen und dann ging es Stufe um Stufe in die Tiefe, dabei hielt ich meine Augen krampfhaft verschlossen bis wir unten waren.

An einem Tag war das Ostfenster versehentlich offen. Eine herrlich frische Luft drang herein und verdrängte den Geruch von Holzstaub, Sägemehl und Tischlerleim der in unserer Wohnung immer gegenwärtig war.

Als ich durch die Fensteröffnung schaute, sah ich Ida auf der Türschwelle sitzen.

Ich winkte ihr verstohlen zu.

Keine Reaktion.

Ein zweiter Versuch war ebenso erfolglos.

Dann begann ich zu miauen wie eine Katze.

Jetzt schaute sie hoch und winkte mir zu und rief: „Komm herunter.“

Ich zuckte die Achsel und miaute wieder.

„So komm doch endlich,“ lockte sie weiter, dann zeigte sie mir ihr Butterbrot und rief, ob ich auch eins möchte.

Das half. Ich lief zur Treppe und kroch auf dem Bauch liegend, Beine voran Stufe um Stufe hinunter.

Als ich bei Ida war, wurde ich plötzlich verlegen, aber sie bot mir gleich ihr Butterbrot an und sagte sie hätte keinen Hunger.

Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder etwas so Köstliches gegessen, wie damals dieses Stück Brot, würzig duftendes Bauernbrot mit richtiger Butter bestrichen und mit einem hellgelben Schimmer von Honig überzogen. Das schmeckte so gut und weckte eine animalische Fresslust in mir, dass ich das Brot so gierig und schnell verschlang, dass ich dabei fast erstickt wäre.

Ida amüsierte sich köstlich über mein sonderbares Verhalten und sagte mir dann im Vertrauen, wenn sie so gierig „fressen“ täte am Tisch, so kriegte sie eins hinter die Ohren vom Vater.

Ich erinnere mich nicht mehr, was so kleine Knirpse sich zu sagen und zu erzählen haben, ich weiss nur noch, dass mir plötzlich übel wurde und ich nach Hause wollte.

Ich höre nur noch wie sie mir im Weglaufen fragend zurief, weshalb ich so dünne Beine hätte.

„Tschüss Spatzenbein, Spatzenbein,“ lachte sie hinter mir her.

Bevor ich unsere Treppe verkotzte, schwor ich, dass ich diese blöde „Babe“ nie, nie, nie wieder besuchen werde.

Die Strafpredigt meiner Mutter hatte etwa den Inhalt, dass ich nun gesehen hätte, dass so fette und süsse Nahrung schädlich sei und dass ich von niemanden etwas zu essen annehmen sollte, die meinten sonst noch wir seien Hungerleider.

Von diesem Tag an war die Haustüre immer verschlossen, wenn Mutter weg war und ich blieb in der Wohnung eingeschlossen mit meinen Bauklötzen, allein.

Abwechslung bot aber auch der Blick aus der breiten Fensterfront nach Süden.

Unter mir lag der grosse Hofplatz mit seinen Bretterstapeln, Balken und den Silos für die Hobelspäne und dem Sägemehl. Auf diesem Platz war immer etwas los.

Spannend war zum Beispiel, wenn im Raum neben unserer Wohnung neues Holz eingelagert wurde. Die Bretter oder Balken wurden dann mit einem Flaschenzug heraufgezogen und dann lehnte sich ein Arbeiter aus der Luke und packte die Holzbeige und zog sie in den Lagerraum.

Bei der ganzen Prozedur faszinierte mich vor allem der Flaschenzug mit seinen Rollen und mit dem Seil das durch die Rollen lief. Ich versuchte das Prinzip auf einem Stück Papier aufzuzeichnen und scheinbar war es mir gelungen, denn als mein Vater am Abend die Zeichnung betrachtete strich er mir mit seiner rauen Hand über meine Haare und lobte mich. Ich muss damals etwa vier Jahre alt gewesen sein, aber die Szene hat sich in meine Seele eingeprägt.

Mein Vater war keine imposante oder eindrückliche Erscheinung und meine Erinnerung an ihn sieht ihn nur als kleinen unbedeutenden Schatten, der weder Gesicht noch Stimme hatte. Meine einzige Erinnerung war der dichte Schnauzbart, der über die Mundwinkel hing.

Gestalt und Stimme hatte nur meine Mutter. Sie war eine liebe Frau und fürsorglich aber sie brauchte Härte und eiserne Durchsetzungskraft um ihren Mann vor grösseren Schäden zu beschützen, denn er war sehr willensschwach wenn es um Alkohol ging. Das war sein grosses Problem, das ihn auch vor Jahren erledigt hatte. Die Schreinerei war einst in seinem Besitz gewesen und er war damals ein allseitig geachteter Mann, wohlhabend und auch fachlich kompetent.

Aber zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ging es mit der Firma abwärts. Es kamen nur noch wenige Aufträge herein, die Kunden bezahlten ihn nicht mehr und schliesslich musste er seine Arbeiter entlassen und Konkurs anmelden.

Sein Bruder, ein kaufmännischer Angestellter in der Suppenfabrik kaufte die Schreinerei für ein „Butterbrot“, stellte wieder Leute ein, auch meinen Vater als Schreinermeister und Leiter des Betriebes und übernahm Grossaufträge ( meistens sogenannte „Spekulationsaufträge“), lebte selber auf grossem Fuss und mit grossen Bankkrediten. Aber die Rechnung ging auf.

Im Geldeintreiben bei Kunden war er knallhart und daher auch erfolgreich, beim Bezahlen der Löhne war er ein Schuft. Stets war er im Verzug, mal ein paar Wochen manchmal sogar zwei drei Monate. Kam eine Reklamation eines Kunden, bestrafte er die Arbeiter mit Lohnabzügen, die er als „Konventionalstrafe“ bezeichnete und bei Krankheit stellte er die Zahlungen ganz ein, obschon die Krankenversicherung ihm einen Teil des Lohnes vergütete.

In der Werkstatt war mein Vater ein ruhiger, besonnener Mensch und geachteter Meister. Er kannte sein Metier und die Kunden waren mit den Arbeiten die er ausführte sehr zufrieden.

Manchmal, leider nur zu oft, machte er Arbeit „ausser Haus“ bei Kunden, er nannte es „Störarbeit“. Und dann hatte er die schlechte Angewohnheit auf dem Heimweg noch rasch im „Rössli“ oder in der „Linde“, der zweiten Kneipe im Dorf einzukehren um mit einem kleinen Bierchen den „Holzstaub wegzuwaschen“.

Aus dem kleinen Bier wurde immer ein grosses, vielleicht kam sogar noch eine Flasche Wein dazu aber immer wurde die Halswäsche mit ein paar Schnäpsen beendigt. Hatte er zu wenig Geld bei sich, so konnte er problemlos „anschreiben“ und später bezahlen.

Schwankend und torkelnd schob er sein Fahrrad neben sich her und wenn er endlich unten an der Treppe war, verliessen ihn die Kräfte und er setzte sich singend oder grölend auf die untersten Stufen und wartete bis Mutter ihn heraufholte. Ich habe diese Szenen nur selten mitbekommen, weil sie sich immer nach Mitternacht abgespielt haben, aber ich bin häufig erwacht, wenn im Zimmer nebenan meine Mutter ihn heulend bat, doch endlich diese verdammte Sauferei aufzugeben. Meistens heulte er mit und versprach dann feierlich, dass es das letzte Mal gewesen sei. Aber wenn er am folgenden Tag wieder auf „Stör“ musste hatte er schon wieder alle Schwüre und Beteuerungen vergessen.

Aber da ist noch eine andere Erinnerung an meinen Vater, die ich immer gerne verdränge.

Im Winter zog eine fahrbare Schnapsbrennerei von Hof zu Hof und jeder Bauer liess sich dann seinen Schnaps brennen aus dem Obsttrester oder auch aus einer Pflaumen– oder Zwetschgenmaische. Das hatte immer etwas Geheimnisvolles an sich. Unter einem grossen Leinendach stand eine Art von Dampfmaschine mit rauchendem Kamin und dampfenden Kupferkesseln und irgendwo am Ende der Maschine tröpfelte der glasklare Schnaps aus einem Kupferröhrchen in einen grossen Kupferkessel.

Hinter der Destille türmte sich ein dampfender Haufen ausgekochter Maische.

Wenn die „Schnapserei“ irgendwo im Dorf vor einem Bauernhof stand, zog sie immer eine Gruppe von Schaulustigen an, die gerne immer wieder ein Pröbchen des edlen Wässerchens verkosteten um dann fachmännisch über Alkoholgehalt, Geschmack und Geruch zu diskutieren.

Wir Kinder durften nur aus der Ferne die Höllenmaschine bestaunen. Ich stand, mit Ida an der Hand an einer fernen Hausecke und wir bewunderten diese Fabrik auf Rädern als ich meinen Vater sah, der, sein Fahrrad vor sich her schiebend, wahrscheinlich aus der Kneipe kam, denn er schien angetrunken zu sein.

Die Männer, die da vor der Brennerei herumstanden riefen ihn nun zu sich heran.

Mit einem kleinen Glas gaben sie ihm Proben von den verschiedenen Destillationsvorgängen des Tages, das Glas immer schön voll. Sie schienen angeregt zu diskutieren und mir fiel dabei auf, dass sich die anderen immer wieder mit den Ellenbogen anstiessen, wenn sie meinem Vater ein neues Gläslein vor die Nase hielten, aber selber tranken sie nicht. Mir war sofort klar, was da gespielt wurde und ich überlegte mir, ob ich hingehen und meinen Vater warnen sollte. Aber ich wagte mich nicht. Auch als Ida mich anstiess und mir sagte, ich solle meinen Vater holen, schüttelte ich nur den Kopf. Daraufhin sagte das Mädchen zu mir ein Wort, das sich mir in die Seele gebrannt hatte, sie sagte „Feigling“ zu mir und rannte dann nach Hause.

Ich aber stand an der Hausecke und starrte gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange zur Brennerei hinüber und musste nun mit ansehen, wie mein Vater plötzlich sein Gleichgewicht verlor und rücklings in die heisse Maische stürzte. Einer der Männer, ich kannte ihn gut, er war ein reicher Bauernsohn, reichte ihm hilfreich die Hand und zog ihn auf und liess ihn aber im letzten Moment los und mein Vater stürzte unter grossem Gelächter der Anwesenden ein zweites Mal in diese zerkochte, widerlich aussehende Masse.

Beim nächsten Versuch auf die Beine zu kommen stiess ihn der junge Sonnenhöfler kopfvoran in den warmen Brei und die anderen begannen seine Manteltaschen und Hosensäcke mit Maische zu füllen.

Schliesslich zogen sie ihn heraus, bewarfen ihn mit dem Dreckszeug und gaben ihm das Fahrrad, das vorher auch noch mit Unrat „getauft“ worden war, wie sie es nannten, in die Hand und schickten ihn nach Hause

Ich schlich weg, machte einen grossen Umweg durch die Baumgärten, völlig verzweifelt und angeekelt von mir selber, weil ich nicht den Mut gehabt hatte im rechten Moment einzugreifen.

Immer noch hörte ich das Wort „Feigling“ als ich schon bei unserm Haus angelangt war.

Und dann kam diese grosse dunkle Wolke mit den kreischenden blauschwarzen Raben und nachher war alles anders. Wenn ich die Zeit nachrechne war ich noch nicht fünf Jahre alt als das Unglück hereinbrach.

Eines Nachts erwachte ich, geweckt durch einen Schrei, den kein menschliches Wesen ausstossen kann.

Ein grauenhafter Schmerz hatte sich in Geschrei und Gestöhne verwandelt. Ich sah im matten Lampenlicht wie Gestalten vorbeihuschten, dann kam der Viehdoktor, der zwei Häuser weiter weg wohnte, die Treppe hochgepoltert, dann kam ein Arzt, dann wieder dieser Schrei, der aber plötzlich verstummte und einem langgezogenen Stöhnen Platz machte.

Ich hatte mich in meine Bettdecke gewickelt und beobachtete stumm und erschreckt das Geschehen.

Irgendwann fuhr dann eine Militärambulanz an den Fuss unserer Treppe und zwei Soldaten trugen ein längliches Paket die Treppe hinunter, verstauten es im Krankenwagen und fuhren dann los.

Es war das letzte Bild das ich von Vater habe.

Man brachte ihn nach Winterthur ins Kantonsspital.

Man hatte den Krankenwagen des Militärs benutzt, das in jenen Kriegsjahren im Dorf stationiert war, denn für Privatfahrzeuge war damals kein Benzin da.

Als Vater weggebracht worden war, begann meine Mutter plötzlich zu schreien und zu toben, kreischte und heulte, dass ich mich vor Angst in einem Kasten versteckte und mir die Ohren zuhielt.

Der Militärarzt der bei ihr war, versuchte sie zu beruhigen, aber sie begann nun zu toben und Sachen zu zerstören. Wieder aus dem Kasten befreit sah ich, wie ihr der Arzt eine Spritze machte. Daraufhin schlief sie friedlich ein.

Am nächsten Tag kamen die schwarzen Krähen.

Alle möglichen Tanten und andere weibliche, mir unbekannte Verwandte füllten unsre Stube. Ein widerlicher Geruch von Fisch und Mottenkugeln breitete sich aus.

Mutter sass heulend am Tisch von den Raben umlagert.

Als sie mich erblickten stürzten sich alle auf mich, umarmten, küssten mich und machten mich nass mit ihren Tränen. Es war ekelhaft.

Alle waren schwarz gekleidet, trugen schwarze Hütchen mit einem schwarzen Schleier über dem Gesicht und jede drückte mich an ihre Brüste, meist so dicke schwammige Ungetüme, die mich zu ersticken drohten. Aber das Schlimmste waren die verschiedenen Gerüche der verschiedenen Tantenbrüste. Olga stank nach Mottenkugeln und die machten mich niesen, Berta roch nach muffigem Keller, wenn die Kartoffeln faulen, Marta roch nach Käse, Inge nach Fisch und Bea nach altem Schweiss und Rosa nach kaltem Tabaksrauch. Man nannte mich „armen Jungen“ und „arme Waise“ und schliesslich liessen mich die bösen Vögel plötzlich los und flatterten zum Stubentisch, wohl um sich nun gegenseitig die Augen auszuhacken.

In einem günstigen Augenblick huschte ich durch die Türe hinaus und eilte hinunter zu Ida.

Sie sass auf der Treppe wie immer und hielt mir ein wunderbar duftendes Butterbrot entgegen und da erinnerte ich mich, dass ich schon längere Zeit nichts mehr zu essen gekriegt hatte.

Aber bevor ich ins Brot biss, roch ich noch an Idas Brust.

Sie roch nach frischer Seife.

An diese eigenartige Geste hatte auch sie sich noch viele Jahre später erinnert und dazu gelacht, aber, sie meinte dann, es hätte sie damals nicht besonders erstaunt, denn ich sei von Anfang an ein verrückter Kerl gewesen.

Dass mein Vater nun tot sei, berührte mich überhaupt nicht. Er war nicht mehr da, aber er fehlte mir nicht.

Was mich aber sehr interessierte war das seltsame Wort „Starrkrampf“.

Das soll die Todesursache gewesen sein.

Am folgenden Morgen wurde ich sonntäglich gekleidet, erhielt ein schwarzes Band an den linken Ärmel meines Mäntelchens geheftet und fuhr mit der Tante „Mottenkugel“ nach Wiesendangen zu meinen Grosseltern.

Ich freute mich mächtig auf die Reise und vor allem auf „Wiesendangen“, denn das Wort erschien mir so friedlich, so verheissungsvoll. Es war ein schönes Wort und es roch nach Wiese und man sah die Schmetterlinge und man spürte einen angenehmen Windhauch.

An die Grosseltern hatte ich keine Erinnerung aber auch dieses Wort hörte sich vielversprechend an.

Am Bahnhof erwartete uns ein älterer Herr in einer eigenartigen Kleidung. Schwarze Hosen, die gegen unten sich erweiterten, eine farbige Weste mit goldener Uhrkette und zuoberst ein imposanter Hut.

Ich hoffte gleich, dass dies mein Opa sein würde, und er war es auch.

Er begrüsste mich mit einem kräftigen Händedruck und ich drückte zurück, so kräftig ich nur konnte.

Die Tante Mottenkugel fuhr mit dem nächsten Zug zurück und wir wanderten nach Wiesendangen, ja wir machten einen langen Fussmarsch bis ins Dorf, das weitab vom Bahnhof lag.

Oma war eine grosse, stattliche Frau mit grauen Haaren und feinen Falten im Gesicht und zwei Augen, die so warm blicken konnten. Sie gefiel mir auf den ersten Blick.

Am Abend dann, allein in einem fremden Bett, an einem fremden Ort, in einem Haus das ganz andere Geräusche hatte als das Unsrige, wurde mir dann doch etwas bange und ich begann leise vor mich hin zu weinen. Aber dann spürte ich plötzlich Omas warme Hand, hörte ihre tiefe Stimme, die mir eine Geschichte zu erzählen begann.

Am folgenden Tag fand ich Opa am Stubentisch in seine Zeitung vertieft und fragte mich, was er da sehen mochte in diesen schwarzen Linien. Dann fragte er mich unversehens, scherzhaft, ob ich auch lesen möchte.

Ja, das hätte ich ja noch so gerne getan, aber wie das von sich gehen mochte, das war mir unklar.

Er zeigte mir die Titelseite und sagte, dass die grossgedruckten Wörter, den Namen der Zeitung verrieten, nämlich „Der Landbote“ aber da musste ich ihn gleich korrigieren, denn diese Zeitung war „Delampott“

Dann zeigte er mir den Buchstaben „o“. Ja der schien mir den rechten Namen zu haben, aber da war noch ein kaputtes „O“ ganz hinten. Das sei eben ein „e“ wurde ich belehrt. Ich akzeptierte, denn Grossvater musste es ja wissen, aber ich hätte das „e“ lieber andersherum gehabt. Ich suchte nun ein ganzes Zeitungsblatt ab um noch mehr von diesen o und e zu finden, dabei fand ich ein Wort, es war auf einer Todesanzeige, das hinten und vorne ein O hatte.

Das sei der „OTTO“ wurde ich belehrt, das war einleuchtend, aber die zwei Stangen dazwischen. Das seien zwei T, gleich deren zwei, weil der Otto ein so starker Kerl sei.

Auf diese Weise ungefähr wurde ich in den Zauber der Schrift eingeführt und weil ich eine sehr gute Auffassungsgabe habe, konnte ich nach den zwei Wochen Urlaub bei den Grosseltern schon alles Mögliche entziffern.

Ich war die folgende Zeit völlig versessen auf geschriebene Wörter und sie waren überall.

Da war die „BÄCKEREI TRUNINGER“, etwas schwieriger war das „GASTHAUS ZUM STORCHEN“ aber es wies auf das Storchennest auf dem Kirchturm hin (leider ohne Störche) oder in der Küche war Salz und Zucker, Mehl und Mais angeschrieben. Die Welt hatte für mich eine neue Faszination bereitgestellt.

Beim Abschied am Bahnhof konnte ich dem Opa sogar zeigen, dass da WIESENDANGEN angeschrieben sei, leider nicht ganz richtig. Da sei ein völlig unnötiges „E“, und gleich zwei überflüssige „N“, denn man sage doch WISEDANGE.

Ich habe immer noch das Lachen meines Opas in den Ohren als er sagte: „Na ja, du Besserwisser, du weisst halt noch nicht alles.“

Nach zwei eindrücklichen und glücklichen Wochen musste ich wieder zu meiner Mutter zurückkehren.

Als sie mich am Bahnhof abholte, glaubte ich im ersten Augenblick, es sei die Oma, denn Mutter trug das gleiche schwarze Kopftuch wie Oma. Auch im Gesicht war sie ähnlich, sie war nicht mehr so schwammig wie vorher, ihr Gesicht war hart und scharf gezeichnet und ihr Blick war klar und sicher geworden.

Auch ihre Stimme schien mir verändert.

Dass der Vater nicht mehr hier war merkte ich kaum, ich vermisste ihn nicht.

Aber ich brannte darauf, am folgenden Morgen „meine“ Ida wiederzusehen, denn sie sollte die erste sein, die von meinen Lesekünsten erfuhr.

Sie vernahm die Neuigkeit ohne irgend eine Reaktion zu zeigen. Es interessierte sie nicht.

Ich erklärte ihr, dass ich wisse, dass in jener Büchse auf dem Küchentisch Zucker sei, weil es so angeschrieben sei.

Na ja, das hatte sie auch gewusst, auch ohne lesen zu können.

Sie zeigte auf eine andere Büchse und wollte wissen, was da drin sei.

Ich las ihr so richtig wichtigtuerisch vor: M und das ist ein A und das ein I und zuletzt ein S, also hat es Mais drin.

Da begann sie mich auszulachen und nannte mich einen „Blagöri“, einen Angeber, weil sich nämlich Griess in der Büchse befinde. Sie fand das so lustig und lachte weiter und neckte mich, wegen meiner Leserei, die eh nichts tauge, wenn man Mais von Griess nicht unterscheiden könne.

Ich war so richtig sauer und fühlte mich schwer beleidigt von dieser blöden „Babe“ und schwor mir im Inneren, nie wieder ein Wort an dieses einfältige Ding zu verschwenden. Diese Demütigung erniedrigte mich derart, dass ich etwa eine Woche lang auf mein Honigbrot verzichtete.

Am Samstagabend erschien der Onkel, der eigentliche Besitzer der Schreinerei bei uns und eröffnete uns, dass er mein Vormund sei, also so quasi mein Ersatzvater. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, ich hatte nichts dagegen, denn mein neuer „Vater“ war reich und das konnte zur Abwechslung auch nicht schlecht sein. Meine Mutter hatte vorerst Einwände, aber als er ihr versicherte, sich nicht in meine Erziehung einmischen zu wollen, es sei denn es käme nicht gut, dann könnte sie auf seine Hilfe zählen.

Und in meine Richtung sagte er, dass ich es gut haben werde, wenn ich pariere aber wenn ich Mist bauen täte, dann würde ich in ein Erziehungsheim gesteckt. Aber ich werde schon noch merken, was meine Aufgabe sei, nämlich unsere Schreinerei einst zu übernehmen und das willst du doch?

Ich zuckte nur die Achseln, denn das war wirklich nicht mein Problem.

Da sagte er mit strenger Stimme, dass ich ihm gefälligst antworten solle mit „Ja, oder Nein, Onkel Otto.“

Da war es wieder dieses magische Wort OTTO und ich sagte dem Onkel, dass ich seinen Namen schreiben könne, nahm einen Fetzen Papier vom Tisch und krakelte den Namen OTTO drauf.

Dann erklärte ich ihm, was es auf sich habe mit den zwei T, die nämlich zeigten, dass er ein starker Mann sei.

Der Onkel war sichtlich geschmeichelt und gerührt, aber dann fragte er etwas unwirsch meine Mutter, ob sie mir dieses „Lölizeug“ beibringe. Sie konnte ja nichts wissen und schüttelte verärgert den Kopf.

Aber da hatte ich schon wieder die Initiative ergriffen und fragte meinen Onkel, was das Wort „hört“ bedeute, denn an der Wagenremise unserm Haus gegenüber hing ein graubraunes Plakat mit einem grossen Ohr drauf und quer darüber war geschrieben „Achtung! Feind hört mit!“

Er erklärte mir dann, dass wir anders reden als wir schreiben, wir sagen in unserer Sprache „lose“ aber richtig Deutsch heisse es „hören“. Das war mir etwas zu hoch, aber ich liess es gelten.

Onkel Otto sprach noch eine Weile mit Mutter und, wie ich dem Gespräch hatte entnehmen können, wollte er den Lehrer fragen, ob man mir meine Flausen austreiben solle oder ob man mich fördern müsse.

Die beiden hatten noch einiges zu besprechen als meine Mutter plötzlich auffuhr und schrie: „Der kommt mir gerade Recht, dieser Lindenwirt, dieser verdammte Halunke bekommt jetzt aber etwas von mir zu hören!“

Onkel Otto versuchte sie zu beruhigen aber ohne Erfolg. Schliesslich ging er und sagte beim Abschied, sie solle keinen Blödsinn anstellen.

Am nächsten Morgen zog Mutter ihre „schönen Kleider“ an und auch ich musste mich sauber anziehen. Als die Kirchenglocken zu läuten begannen nahm sie mich bei der Hand und wir gingen mit den andern Kirchgängern Richtung Kirche. Ich war erstaunt, ja sogar fast erschrocken, denn weder sie noch mein Vater haben je die Kirche besucht. Mir ahnte Schlimmes.

Vor der grossen Kirchentreppe machte sie Halt und wartete bis sie im Gedränge den dicken Lindenwirt ausgemacht hatte. Sie steuerte, mit mir an der Hand, direkt auf ihn zu, verstellte ihm dann den Weg und fragte ihn mit überlauter Stimme: „So Lindenwirt, jetzt sagst du mir vor allen Leuten wieviel ich dir schuldig bin.“

Der Dicke stotterte verlegen, das sei doch nicht der Moment … aber meine Mutter blieb hartnäckig vor ihm stehen und wollte, dass er ihr vor all den Leuten Auskunft gebe, denn sie wollte, dass es alle hörten.

Mittlerweile hatte der Wirt sich gefasst und wollte sie beiseiteschieben aber sie wich keinen Schritt zur Seite. Er musste etwas sagen, denn diese Furie war zu allem fähig und so sagte er beschwichtigend: „Na ja, du bist mir eigentlich nichts schuldig „

Hier unterbrach ihn meine Mutter und sagte zu den vielen Leuten die dastanden, sie hätten es alle gehört, dass sie ihm nichts schulde. Aber da fuhr der Lindenwirt weiter und sagte, dass dafür ihr Mann einen mächtigen Schuldenberg zurückgelassen hätte.

Sie erwiderte gereizt lachend, dass er das bitte selber mit ihrem Mann ausrichte, er wisse ja, wo der liege.

Als dann der Lindenwirt zu klagen begann, dass sich die „Leute“ bei ihm besaufen und dann nicht bezahlen wollen, schrie sie ihm ins Gesicht:

„Und du weisst ganz genau wie das geschieht, du lässt sie saufen, ermunterst sie sogar noch mit dem Spruch, dass er anschreiben könne, und dabei weisst du ganz genau, dass sie dann mehr saufen als sie bezahlen können, du verdammter Halunke. Aber der da oben wird dir dann einmal einen Prügel zwischen die Beine knallen. Und jetzt geh da in die Kirche rein, du hast es am nötigsten von uns allen.“

Dann zog sie mich mit sich und wir traten den Heimweg an.

Ich hatte den Vorgang nicht ganz verstanden, aber mir war eines klar geworden, dass meine Mutter eine starke und mutige Frau war und ich war mächtig stolz auf sie.

Dass an jenem Sonntag kein Mensch die Kneipe des Lindenwirts betreten hatte, auch die notorischen Jasser nicht und dass in der folgenden Nacht die „Nachtbuben“, das heisst ein paar junge Leute des Dorfes alle Fenster der Kneipe eingeworfen hatten, vernahm ich erst später von einem, der dabei gewesen war und dabei, als einziger übrigens, ein Schrotkorn in den Oberarm erwischt hatte, weil der Wirt auf die jungen Leute geschossen hatte.

Der „Rössliwirt“ hatte ihr übrigens per Einschreibebrief mitgeteilt, dass er keinerlei Forderungen an sie stellen werde, selbst wenn ihr Mann bei ihm Schulden gehabt hätte, würde er nie der Witwe eines lieben verstorbenen Freundes dafür eine Rechnung stellen, hochachtungsvoll unterzeichnet …

Als sie den Brief gelesen hatte lächelte sie vor sich hin und sagte die geheimnisvollen Worte „Schau, schau.“

Als ich Ida das nächste Mal sah, hatte sie eine speziell grosse Butterstulle auf ihren Knien und man sah, dass auch mit Honig nicht gespart worden war. Agnes, die Magd hatte sogar noch eine Semmel beigelegt „zum Mitnehmen“

Ida hatte auch noch eine Zeitung bei sich und bat mich ihr daraus vorzulesen, aber mit vollem Mund redet man nicht und zudem hatte ich alle Mühe mit dem herabtropfenden Honig fertig zu werden.

Und nach dem Honigbrot hatte ich einfach keine Lust mehr zu lesen (soll sie es doch selber lernen).

Meine Mutter war nun fast jeden Tag weg, aber sie schloss mich nicht mehr im Haus ein, sie liess die Türe geöffnet und ich konnte ein und ausgehen wie ich wollte, aber sie hatte mir auch jeden Tag eine kleine Arbeit übertragen. Ich machte den Abwasch, wischte die Wohnung, durfte hinter dem Haus die Teppiche klopfen und sogar die Treppe fegen, eine wichtige Arbeit, denn „die saubere Treppe ist die Visitenkarte des Hauses“.

Auch in Idas Haus ging ich bald ein und aus wie ein Familienmitglied und wenn Ida eine Arbeit zugewiesen bekam, durfte ich ihr dabei helfen. Schliesslich fragte mich Idas Vater, ob ich mithelfen wolle auf dem Bauernhof. Da ging mir ein Traum in Erfüllung. Ich durfte arbeiten, ich konnte mich nützlich machen.

In den folgenden Jahren lernte ich Kartoffeln sortieren, Obst auflesen, den Kühen Futter in die Krippe geben, Hühnereier waschen für den Verkauf, sogar beim Ausmisten durfte ich mithelfen sobald ich stark genug war. Ich arbeitete viele Jahre an der Seite von Ida oder einem ihrer Brüder und durfte jeden Abend mit der Familie am Abendessen teilnehmen.

Ich hatte ein zweites Zuhause gefunden, eine neue Familie und Ida war mir eine Schwester geworden, mit der ich alle Freuden und Leiden teilen konnte.

In der Schule war ich immer der Klassenbeste und wenn ich dem Otto das Zeugnis zum Unterschreiben brachte, gab er mir jedes Mal einen prächtigen, nagelneuen Fünfliber als Belohnung.

Aber die Schule war auch mein grosses Leiden, weil ich mich irgendwie nicht integrieren konnte. Ich war immer ein Aussenseiter, ich war der Prügelknabe, mir wurden immer die übelsten Streiche gespielt, bei jeder Untat war ich der erste Verdächtige, wenn irgendwo einer im Zimmer laut furzte schlug der Lehrer mich, sei es weil er den Schuldigen nicht finden konnte, sei es der Schuldige war der Sohn eines reichen Bauern. Obschon ich der beste Schüler war mochte der Lehrer mich nicht leiden und er war immer sehr ungerecht mit mir und nie, gar nie kam ein Wort des Lobes oder der Anerkennung für meine Leistungen über seine Lippen.

Gut, meine Mutter hatte deswegen einen Dauerkrach mit ihm, denn wenn sie Ungerechtigkeiten oder Unrecht witterte wurde sie unangenehm. Obschon ich mich hütete mich über den Lehrer zu beklagen, sie vernahm alles irgendwie von irgendwoher und dann war sie nicht mehr zu bremsen. Nicht nur wenn ihrem „Söhnchen“ Unrecht geschah griff sie ein, sondern auch bei anderen Kindern.

Und immer mit der gleichen Methode in aller Öffentlichkeit.

Ihre Wertschätzung im Dorf beruhte vor allem auf der Angst einmal ihr in die Quere zu kommen. Sie fürchtete niemanden und kein Titel oder Reichtum machte ihr Eindruck.

Sie war im Dorf akzeptiert obschon sie eine „Fremde“ war, ihre Eltern stammten aus dem Wallis und dort lebt ein furchtloses und eigenwilliges Völklein, das sich von nichts und niemandem unterkriegen lässt.

Meine Oma sagte mir einmal, dass sie, die Oberwalliser, mit dem Herrgott auf du und du ständen und nur ihn als „Herrn“ anerkennen würden.

Meine innige Beziehung zu Ida war auch ein Grund, der mir viele Prügel und Spöttereien einbrachten, vor allem von zwei Mitschülern, die ihr immer den Hof zu machen versuchten, der „Sonnenhöfler“ und ein Sohn des Bauern vom Eichhof, den wir „Eicheliunder“ (das ist eine Spielkarte im Jass) nannten.

Letzteren hätte sie übrigens später beinahe geheiratet.

Während meiner Schulzeit sorgte ich immer wieder, unbeabsichtigt, für Skandal und Aufregung in unserer bigotten Gesellschaft.

Einmal ging ich mit Ida, nach einem strengen Tag während der Heuernte, auf dem Nachhauseweg in einem Baggersee baden. Wie wir es uns gewohnt waren, zogen wir uns aus und sprangen nackt ins Wasser. Dabei muss uns jemand beobachtet haben, denn am nächsten Tag war schon das ganze Dorf unterrichtet über unser schändliches Tun. Der erste, der uns zur Rede stellte, war der Lehrer. Er wollte genau Bescheid wissen, was wir genau getan hätten. Nun, wir erzählten ihm, dass wir gebadet hätten. Aber er wollte noch mehr wissen.

Aber da war nicht „mehr“ und das Nacktbaden hatte uns nicht gestört, denn wie oft hatte uns Idas Mutter zusammen in die Badewanne gesteckt, wenn wir dreckig waren wie Schweinchen.

Weil er mit uns zwei verstockten Verbrechern nicht weiter kam, verbot er uns unter Androhungen der fürchterlichsten Strafen, je wieder miteinander nackt zu baden.

Wir waren damals sieben Jahre alt.

Als ich, in allem Ernst dem Lehrer sagte, dass man mit den Schuhen an den Füssen gar nicht schwimmen könne, fasste ich eine saftige Ohrfeige mit dem Hinweis, ich hätte ihn ganz gut verstanden.

Ich hatte die Welt nicht verstanden, aber ich hatte schon vorher begriffen, dass man Schläge kriegt, wenn dem Lehrer die Argumente ausgehen.

Zum Abschied hörte ich dann auch noch den altbekannten Refrain: „Wart nur Bürschchen, du landest demnächst im Erziehungsheim.“ Ich kannte den Spruch und machte mir nichts daraus.

In der Folge achteten wir darauf, dass uns niemand beim Baden beobachtete weil wir unsichtbare Badekleider trugen.

Dass ich von den Mitschülern verspottet und verlacht wurde machte mir nichts aus, ich war mich daran gewöhnt, aber wenn sich der Spott gegen Ida richtete, dann schwor ich Rache.

Ich hatte damals viele Racheschwüre aufs Eis legen müssen, denn meine Muskeln beeindruckten niemand, ich war neben den vierschrötigen Bauernjungen ein „spatzenbeiniger Brezelbub“, den niemand ernst nahm.

Aber ich begann damals mit gemeinen und hinterhältigen Racheakten, die mir niemand nachweisen konnte und ich wurde darin mit der Zeit sehr geschickt. Ich konnte Zwietracht säen, Ärger bereiten, Leute blossstellen, sogar den Lehrer ohne dass man merkte, wer der eigentliche Urheber des Übels gewesen war.

Es war das einzige Stratagem, das mir half alle Demütigung und alle Verfolgung der anderen zu ertragen, ich konnte mich wehren, auf meine Art.

In der sechsten Klasse fand ein Schulpfleger, dass ein so helles Köpfchen wie ich es sei, eigentlich ans Gymnasium gehöre, aber da wehrten sich der Lehrer und mein Onkel/Vormund dagegen.

Der Lehrer fand, dass ich wegen meines Herkommens keine Chance hätte an einer höheren Schule und mein Onkel fand es eine ausgemachte Sache, dass ich eine Schreinerlehre mache um seinen Betrieb zu führen, der ja auch der Meinige sei, denn da er kinderlos war, würde ich dann sein Geschäft erben.

Meine Zukunft war gesichert und das zählt schliesslich allein.

In der Sekundarschule wurde ich von Ida getrennt, denn sie hatte die Aufnahmeprüfung nicht bestanden und musste deshalb noch ein Zwischenjahr an der Oberschule absitzen.

Mein Onkel, ich nannte ihn scherzweise „Otto der Starke“, hatte mir befohlen an der Schule den Religionsunterricht zu besuchen, damit ich konfirmiert werden könne und alle meine Ausflüchte und Weigerungen waren wirkungslos. Das gehöre sich nun einmal und es sei schon schlimm genug gewesen, dass mein Vater kein kirchliches Begräbnis bekommen habe und meine Mutter sei auch noch nie in der Kirche gesehen worden, womöglich sei sie sogar eine versteckte Katholikin und so weiter.

Den Hauptgrund, dass er nämlich in den Kirchenrat gewählt werden wollte, erwähnte er freilich nie.

Ich fand es beschissen aber ich gehorchte. Die Geschichte kannte ich schon ein wenig, denn ich hatte mit etwa acht Jahren die Bibel zum zweiten Mal gelesen, aus Mangel an anderer Literatur und war vor allem beeindruckt von der altmodischen aber feierlichen Sprache Zwinglis.

Otto der Starke hätte den Religionslehrern und den Pfarrherren viel Ärger erspart, wenn er nicht darauf bestanden hätte, dass ich bei ihnen ein guter Christ und edler Mensch werde.

Der Herrgott der Juden imponierte mir, das war ein ganzer Kerl mit dem man sich raufen und herumbalgen konnte, aber das ganze Christentheater war mir zuwider. Angefangen von Weihnachten, dem Umsatzhoch des Kleinhandels und dem Fest der kitschigen Lieder, dann dieser arbeitsscheue Typ, dieser Wundermann und billige Jakob der da predigend im Land herumzog und schliesslich war da sein schmählicher Tod mit dem er alle unsere Sünden auf sich genommen habe, bis zu seiner Auferstehung die uns falsche Hoffnung machen soll. Wenn sich dann der Herr Pfarrer ereiferte musste ich oft lächeln, wenn ich mir jetzt meinen Vater vorstellte wie er da oben auf einer Wolke hockt mit einer Flasche Bier um den Hals zu entstauben …

Ich war kein beliebter Gast im Religionsunterricht aber ich ging ziemlich regelmässig hin um den frommen Mann zu ärgern. Das machte mir Spass, denn er verkörperte für mich die heuchlerische Gesellschaft der Braven und der hinterhältigen Schleimscheisser mit ihrer kranken Morallehre und hier hatte ich endlich eine Arena in der ich mich wehren konnte, auch ohne starke Arme und harte Fäuste. Ich war gemein und brutal bei meiner Abrechnung.

Im Konfirmandenunterricht, den auch Ida besuchte, war schon die Rede, dass man mich nicht konfirmieren werde, vor allem, weil ich mich weigerte, öffentlich ein Glaubensbekenntnis abzulegen. Ich glaubte weder an diese Kirche noch an die Auferstehung und die Kirche hätte mich so nicht in ihrem Schoss aufnehmen dürfen, aber sie war grosszügig und fand ein Hintertürchen. Statt einzeln das Glaubensbekenntnis abzulegen, wurde es vom Pfarrer vorgelesen und wir mussten im Chor „Ja“ sagen, ein einzelnes „Nein“ würde niemand hören. Das war mir eigentlich alles egal, wichtig war ja lediglich, dass Onkel Otto in den Kirchenrat gewählt wurde. Und siehe da, also geschah es auch.

Das einzig Schöne am Konfirmandenunterricht war, dass Ida auch dabei war und wir nach der Stunde, gemeinsam nach Hause gingen. Es machte mir Freude neben Ida, diesem hübschen Mädchen zu gehen, die so etwas wie meine Schwester gewesen war und nun plötzlich ein fremdes, geheimnisvolles Wesen geworden war. Wenn sich beim Nebeneinandergehen unsere Hände zufällig berührten, stieg eine angenehme Wärme in mir auf und führte dazu, dass sich die Zufälle mehrten und schliesslich kam der Abend, an dem sie meine Hand fasste und nicht mehr los liess bis wir vor ihrem Haus standen.

Ich war im siebten Himmel, ich war von Glück und einer seltsamen Freude durchdrungen, die mir neu war.

Umso schlimmer war dann für mich die Enttäuschung und der Absturz in die Höllengründe meiner Seele, als sie am nächsten Unterrichtsabend unter den Regenschirm des „Eicheliunder“ schlüpfte, ihn lachend am Arm nahm und sich von ihm nach Hause begleiten liess.

Nun es mochte ja nichts Ernsthaftes sein zwischen den Beiden, sie besuchten die gleiche Schule, gleiche Klasse und dass es ausgerechnet an diesem Abend regnen musste und ich keinen Schirm bei mir hatte, konnte ich von ihr nicht verlangen, dass sie an meiner Seite im strömenden Regen sich durchnässen liess.

Ich spazierte langsam nach Hause voller trüber Gedanken, die ich nicht einordnen konnte.. Ich fühlte mich krank und elend, mit wachsendem Selbstbedauern als ich spürte wie das Wasser durch mein Hemd drang und an meinem Körper herunterrieselte.

Dass ich die beiden beobachten musste, etwa drei Tage später, wie sie auf ihren Velos von der Schule kamen, eifrig diskutierend und lachend, das erfüllte mich mit Wut und Trauer. Ich glaubte, noch Stunden später ihr fröhliches und glückliches Lachen zu hören.

Schon in den ersten Tagen in der Sekundarschule fiel mir ein Schüler auf, der mir wohl den Platz als Klassenbester streitig machen würde. Er war ein ruhiger, keineswegs arroganter Typ, der sich bewusst zu sein schien, dass er nichts dafür konnte, dass er so gescheit war. Bei mir hatte sich in der letzten Zeit eine Tendenz bemerkbar gemacht, vor allem gegen das Ende der Primarschulzeit, dem Lehrer zu beweisen, dass er nicht allwissend war. Wehe er machte einen Fehler auf der Wandtafel oder einen Versprecher. Dann wurde er gleich von mir korrigiert und zwar auf eine Art, die ihn ins Lächerliche zog. Und die Mitschüler, eine Bande von Halbwilden und Holzköpfen spielte mit, indem alle lauthals zu lachen begannen und so den Lehrer richtig zur Sau machten. Ich genoss diese Augenblicke der Rache. Rache, wofür denn eigentlich?

Dass er mich nicht ans Gymnasium lassen wollte? Eigentlich störte mich das wenig. Dass er mich die ganze Schulzeit ungerecht, oft sadistisch und bösartig behandelt hatte? Ich weiss es nicht.

Mindestens drei Mal brachte ich den alten Mann zum Heulen, man sah die Tränen glänzen unter seiner grossen Brille, seine Stimme wurde leiser, rauer und schliesslich begann er zu husten und sich zu räuspern.

Meist verliess er an dieser Stelle das Zimmer fluchtartig unter dem Gebrüll der Wilden oder er haute mir eine runter, dass es klatschte. Auch diese Entgleisung war ein Triumph für mich und ich sonnte mich in der Woge der Bewunderung der Mitschüler.

Aber mir war nicht wohl dabei. Innerlich heulte ich vor Verzweiflung und ich schämte mich in Wirklichkeit in Grund und Boden. Was war ich denn für ein elender Mistkerl wie ich mit dem alten Mann (er war 65) umging.

Aber sobald er mir wieder Gelegenheit bot, machte ich ihn aufs Neue fertig. Er möge mir verzeihen, aber ihn damals um Verzeihung zu bitten wäre mir niemals eingefallen.

Damit ich ein bisschen unter die Leute komme (statt immer nur zu lesen) empfahl mir mein Onkel einer Jugendorganisation beizutreten, zum Beispiel bei den Pfadfindern.

Ich fand das toll und fragte gleich bei der „Pfadi“ an. So probehalber durfte ich dann dort mitmachen und ich fand vieles sehr spannend, vor allem das echt Pfadfinderische. Ich gab mir grosse Mühe mich einzupassen aber irgendwie war mir das Militärische, das in jenen Nachkriegsjahren noch im Zentrum stand richtig zuwider, diese Hierarchien, die was weiss ich wie begründet waren, dieser Kasernenhofton und diese Art von Freundschaft, die da gepflegt wurde, passten mir nicht. Zudem merkte ich, dass auch hier ein Klassendenken, ein Klassenvorurteil herrschte, der mich meiner Herkunft wegen ausschloss. Ich war grossmütig geduldet aber man liess mich merken, dass ich eigentlich nicht zu ihnen gehörte.

Der Turnverein hatte kein grosses Interesse an mir, zum Glück, denn gewisse Turngeräte, wie zum Beispiel der „Bock“ und der „Barren“ bereiten mir heute noch Angst und Unbehagen.

Bei den Jungschützen war ich mit Vaters Armeekarabiner nicht unbedingt eine Medaillenhoffnung, da ich immer beim Abdrücken die Augen schliesse, das hängt bei mir irgendwie zusammen ist aber der Treffsicherheit im Wege.

Da war noch die „Junge Kirche“ bei der Ida mitmachte. Sie versuchte mich immer wieder für diesen Verein anzuwerben, aber da war mein Vorurteil stärker. Ich hasste schon im Konfirmandenunterricht diese endlosen und sinnlosen Diskussionen über irgend eine Bibelstelle und da war es mir unvorstellbar dieses zweifelhafte Vergnügen zu meiner Freizeitbeschäftigung zu machen.

Als ich einmal mit Paul, meinem neuen Freund über dieses Problem sprach, meinte er, dass er das Richtige für mich wüsste, nämlich die Gruppe der „roten Pioniere“.

Ich musste gestehen, dass ich von der Existenz dieser politischen Gruppe noch nie etwas gehört hatte, aber es interessierte mich.

Von Politik war zuhause eigentlich nie die Rede. Meine Mutter vertrat die Armen, die Unterprivilegierten und die einfachen Arbeiter und sie hasste und verachtete die reichen Bauern, die Fabrikherren und die Unternehmer vom Typ des Onkels. Aber da die Frauen damals in der Schweiz kein Mitspracherecht hatten interessierte sie sich nicht für den Politkram.

Onkel Otto war einer der Unternehmer, der sich nur für den Profit interessierte. Die Arbeiter hatten gute Arbeit zu leisten, das Maul zu halten und mit dem Lohn zufrieden zu sein. Wer anderer Meinung war, wurde gefeuert. Da er sehr schlechte Löhne bezahlte, hatte er auch entsprechend schlechte Arbeiter, das heisst, dass ausser dem Vorarbeiter niemand vom Fach war. Um die Rendite möglichst gross zu halten, waren seine Forderungen an die Kunden meist übertrieben hoch. Er nannte das stolz: „Meine liberale Haltung.“

Dass so eine Firma keine grosse Überlebenschance hat, war sogar mir klar, aber mein Onkel schwamm immer obenauf (mit seinem Leibesumfang erklärbar).

Er bekam vor allem die Aufträge der öffentlichen Hand, also von Kirche, Gemeinde und Schule, da er politisch am rechten Ort war, bei der „Bauern und Gewerbepartei“, die in der Gemeinde das Sagen hatte. Von „Liberalismus“ war da wohl kaum die Rede.

Er sass im Gemeinderat, im Kirchenrat und in der Schulpflege und hatte zudem überall auch noch seine Spezialfreunde, die er mit guten Worten, mit Geschenken und vor allem mit Erpressung auf seine Seite zu bringen wusste, wenn es nötig war.

Er war gewissermassen einer der ganz Grossen im Dorf neben den grossen Bauernfürsten. Er beeinflusste die politische Wetterlage im Dorf, die Lehrerwahl, das Armenwesen, die Beamtenlöhne, das Steueramt und kontrollierte auf seine Art die Gemeindekasse.

Seine Frau war sein Aushängeschild, eine stattliche (dicke) Frau, gut (teuer) gekleidet und immer mit irgendetwas Glitzerigem behängt (Perlenkette, goldener Armreif, goldene Ohrringe mit Diamanten, schwere, plumpe Fingerringe, die ihre dicken Wurstfinger so richtig zur Geltung brachten.

Ich nannte sie damals „Onkel Ottos glitzernder Weihnachtsbaum“, was sie mir sehr übel nahm, weil ich es im Dorf in Umlauf gebracht hatte und sie nun, hinter ihrem Rücken „Ottos Weihnachtsbaum“ genannt wurde. Sie machte auch sonst auf „Vornehm“. In ihrer Wohnung stapelte sie glitzernden Kitsch in rauen Mengen, als ob sie eine Elster wäre.

Ihrem Stand entsprechend begann sie sich auch einer gepflegten Redeweise zu befleissigen, gespickt mit Fremdwörtern die sie sehr fremdartig verwenden konnte. Zu ihrem Glück war sie so dumm und einfältig, dass sie nicht merkte, dass sich alle über sie lustig machten.

Wie man wohl merkt, war sie nicht meine Freundin, die Antipathie war gegenseitig.

Als der Onkel erfahren hatte, dass ich mit den „Roten“ verkehre, wohl gar schon einer der ihren sei, zitierte er mich in seine Wohnung wo ich eine Lektion in Staats – und Bürgerkunde erhielt, die sich gewaschen hatte.

Er begann gleich einmal mit Drohungen, sprach vom mich enterben (er hatte keine Kinder mit dem Christbaum), mich in den Knast zu bringen, mich aus der Gemeinde ausweisen zu lassen samt meiner Mutter, die mich zum roten Halunken gemacht habe. Dann kam eine detaillierte Aufzählung der Gräueltaten der Roten von Julius Cäsar, über Blum und Liebknecht (der seiner Meinung nach den deutschen Reichstag abgefackelt hatte) bis zu einem amtierenden sozialdemokratischen Bundesrat und Stalin. Alle dieselben Schweine und Mörder und Landesverräter.

Als ich ihn hier unterbrach und ihm empfahl einmal mit Hilfe eines Geschichtsbuches seine Irrtümer zu korrigieren, wollte er auf mich losgehen, besann sich aber einen Augenblick lang und schmetterte dann voller Wut eine Porzellanfigur zu Boden.