Meister Frantz und der Hecht im Karpfenteich - Edith Parzefall - E-Book

Meister Frantz und der Hecht im Karpfenteich E-Book

Edith Parzefall

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Beschreibung

Freie Reichsstadt Nürnberg 1592: Gelangt ein Hecht in den Karpfenteich, wird man ihn nur mit Mühe wieder los. Dasselbe gilt für den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Die Nürnberger setzen alles daran, ihm seine Grenzen aufzuzeigen, sogar mithilfe moderner Vermessungstechniken. Derweil wird die Fürtherin Margarethe Fleischmännin der Hexerei bezichtigt. Rechtzeitig gewarnt sucht sie nach einem Ausweg, um nicht den Folterknechten des Markgrafen in die Hände zu fallen. Bleibt ihr nur der Freitod? Dafür will sie Meister Frantz um Giftpulver bitten. Oder ist eine Flucht nach Nürnberg möglich, wo sie und ihre Familie unter dem Schutz des Stadtrats stünden? Ein letzter Hoffnungsschimmer, doch die Schergen des Markgrafen stehen früher vor ihrer Tür als erwartet.

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Meister Frantz und der Hecht im Karpfenteich
Impressum
Handelnde Personen
Glossar
Kapitel 1: Die Kinder
Kapitel 2: Der Falschspieler
Kapitel 3: Margarethe Fleischmännin
Kapitel 4: Valentin Fleischmann
Kapitel 5: Ein außerordentlicher Auftrag
Kapitel 6: Die Zeugnisse der Toten
Kapitel 7: Balthasla Paumgartner
Kapitel 8: Das Fest der Auferstehung
Kapitel 9: Die Zeugnisse der Lebenden
Kapitel 10: Richttag
Kapitel 11: Der Marxbruder
Nachwort
Über die Autorin

 

 

 

 

 

 

Meister Frantz und der Hecht im Karpfenteich

 

Henker von Nürnberg, Band 13

 

von

Edith Parzefall

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright © 2022 Edith Parzefall

E-Mail: [email protected]

Ritter-von-Schuh-Platz 1

90459 Nürnberg, Deutschland

 

Lektorat: Marion Voigt, www.folio-lektorat.de

Umschlag und Karten: Kathrin Brückmann

Originalabbildung: Die großen Fische fressen die kleinen, Pieter Bruegel der Ältere, 1556

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Handelnde Personen

 

Historische Figuren sind kursiv gesetzt. Sie werden in diesem Roman fiktional verwendet, obwohl ich mich weitgehend an die überlieferten Fakten halte. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in. Die Anrede Frau und Herr für gewöhnliche Leute war noch nicht geläufig.

 

Meister Frantz Schmidt: der Nachrichter, also Henker von Nürnberg.

Maria Schmidtin: Ehefrau von Frantz, wird auch als Henkerin bezeichnet.

Frantz Stefan, Marie, Rosina und Jorgen Schmidt: Kinder von Frantz und Maria.

Apollonia Hofferin: Magd der Schmidts.

Augustin Ammon: der ehemalige Löwe, wie man den Henkersknecht in Nürnberg nannte.

Klaus Kohler: Nachwuchslöwe und Ehewirt von Bernadette Kohlerin.

Maximilian (Max) Leinfelder: Stadtknecht und Ehewirt von Katharina (Kathi), Vater von Ursula (Ursel).

Hieronymus Paumgartner: Erster Losunger und Hauptmann der Reichsstadt Nürnberg.

Andreas II. Imhoff: Ratsherr, Schöffe und zweiter Hauptmann sowie Losunger mit Suspens, das heißt, er muss vorläufig nur im Notfall dieser Aufgabe nachkommen und darf weiterhin seine Geschäfte führen.

Julius Geuder: nach dem Tod von Bartholomäus Pömer frisch ernannter dritter Hauptmann und Ratsherr.

Paul Pfinzing: Kaufmann, Ratsherr, Schöffe und Kartograf.

Magdalena Paumgartnerin: Frau des Kaufmanns Balthasar Paumgartner und Mutter von Balthasla.

Margarethe Fleischmännin: Fürtherin unter Hexereiverdacht, Ehewirtin von Valentin Fleischmann.

Laurenz Dürrenhofer: Lochschreiber.

Eugen Schaller unterstützt von seiner Frau Anna Schallerin: Lochhüter, liebevoll auch Lochwirt genannt; oberster Aufseher im Lochgefängnis.

Benedikt, Zacharias: Lochknechte, also Wächter im Lochgefängnis.

Hans Gessert: Weber und Falschspieler.

Hans Schneider: Dieb.

Stoffel Weber: Pflasterer und Marxbruder.

Christoph Scheurl: Bannrichter der Reichsstadt Nürnberg.

 

Glossar

 

Atzung: Geld, das Gefangene für ihre Kost bezahlen mussten.

Fechtschule: Veranstaltung der verschiedenen Fechtbrüderschaften, die vor allem aus Schaukämpfen bestand und für die Zuschauer Eintritt zahlen mussten.

Garaus: Torschluss.

Keuche: Gefängniszelle.

Knollfink: Beschimpfung für einen tölpelhaften oder dummen Menschen.

Loch(gefängnis): Verlies unter dem Rathaus, das als Untersuchungsgefängnis diente. Hier wurden auch Delinquenten festgehalten, die auf ihre Hinrichtung warteten.

Lochschöffe: Jeweils zwei der Ratsherren (und Schöffen) übernahmen für zwei Wochen den Dienst als Ermittlungsrichter.

Lochwirt: Lochhüter, oberster Gefängniswärter im Loch.

Losunger: Der erste Losunger war der mächtigste Mann der Stadt, zuständig für Finanzen und Verteidigung, da er gleichzeitig einer der drei obersten Hauptleute war. Unterstützt wurde er vom zweiten Losunger und von Mitarbeitern in der Losungsstube.

Löwe: Henkersknecht. Es gibt verschiedene Theorien dazu, wie der Henkersknecht zu seinem Spitznamen kam, den es so nur in Nürnberg gab, allerdings überzeugt keine so recht. In Bamberg hieß der Henkersknecht beispielsweise Peinlein.

Mark, Markgraf: Als Mark wird Grenzland eines Reichs bezeichnet, so zum Beispiel die Mark Brandenburg. Davon leitet sich der Adelstitel Markgraf ab, der über dem eines Grafen rangiert und dem eines Fürsten entspricht. Deshalb wird Markgraf Georg Friedrich sowohl als Fürst als auch Markgraf bezeichnet.

Marxbruder: Angehöriger der ältesten Fechtbruderschaft benannt nach dem heiligen Sankt Marx (Markus).

Nachrichter: So wurde der Scharfrichter in Nürnberg und in anderen Gebieten genannt, da er nach dem Richter seines Amts waltete.

Policey: Gesellschaftliche Ordnung, meist wurde das Wort in Zusammenhang mit guter Policey verwendet.

Prisaun: Gefängnis, meist zur kurzfristigen Verwahrung von Delinquenten. Im Närrischen Prisaun wurden Geisteskranke verwahrt, die für sich oder ihre Umwelt eine Gefahr darstellten.

Torquieren: foltern, martern, peinlich befragen.

Tummel: Alkoholrausch.

Urgicht: Geständnis.

Urfehde: Schwur, auf Rache und Anfeindungen zu verzichten. Delinquenten, die aus der Stadt ausgestrichen wurden, mussten diesen leisten.

 

Die Himmelsrichtungen wurden damals nach Sonnenstand bezeichnet, was sich bis heute in Begriffen wie Morgenland und Abendland erhalten hat:

Mitternacht: Norden.

Morgen: Osten.

Mittag: Süden.

Abend: Westen.

 

Kalender alten Stils: Julianischer Kalender, der in protestantischen Gebieten weiterhin verwendet wurde, nachdem Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 den neuen Kalender eingeführt hatte. Zur Zeit dieses Romans lag der julianische Kalender zehn Tage zurück, inzwischen sind es bereits dreizehn Tage.

 

Kapitel 1: Die Kinder

 

Nürnberg am Freitag, den 25. Februar 1592

 

Frantz Schmid erwachte vom Geschrei seines Jüngsten und stöhnte, während sich Maria schon aus dem Bett schälte und das Kindlein aus seiner Kiste holte, um es zu stillen.

»Was hast du da nur für einen Gierschlund zur Welt gebracht?«, murmelte er verschlafen. Durch die Ritzen im geschlossenen Fensterladen drang noch kaum fahles Licht.

»Auch nicht gieriger als der Vater«, antwortete sein Weib mit sanfter Stimme und legte sich das Büblein an die Brust.

Einmal mitten in der Nacht und einmal in den frühen Morgenstunden wollte Frantz Stefan trinken. War das bei den anderen wirklich auch so häufig gewesen? Vielleicht hatte er es nur nicht so genau mitbekommen? Er freute sich über noch ein Kind im Haus, doch es war anstrengend, und Maria war auch nicht mehr so jung. Er rollte sich herum, bettete seinen Kopf auf ihren Schenkel und betrachtete die beiden. »Was krieg ich denn heut zu essen?«

»Frechdachs, als Nächstes willst du wohl auch im Bett gefüttert werden.« Maria zog ihn an den Haaren.

»Aua«, protestierte er.

»Die sollte ich mal wieder stutzen, hängen dir schon bis über die Schultern, und den Bart auch. Sonst fürchtet sich Stefla vor dir.«

»Ich glaub, dem ist es einerlei, wie ich ausschaue, aber du hast recht. Ich will ja die Leute nicht mehr erschrecken als nötig.«

»Ach, heutzutage erschrickt kaum noch wer vor dir, obwohl du der Henker von Nürnberg bist. Wie ich dich geheiratet hab, war das noch ganz anders. Wenn ich dran denke, dass sich Kathi nicht mal ins Haus getraut hat, und jetzt ist sie ständig hier.«

Frantz lächelte. »Ich bin froh, dass mich die Leute inzwischen achten und gern als Heiler aufsuchen.« Da fiel ihm ein, was er heute vorhatte, und er setzte sich auf. »Vielleicht solltest du mir die Haare stutzen, bevor ich zu den Paumgartners gehe.«

»Ja.« Tränen glitzerten in Marias Augen. »Diesmal will beim kleinen Balthasla gar nichts helfen?«

Er drückte ihre freie Hand. »Abwarten. Der Bub ist zäh. Ihm ist es schon oft sehr schlecht gegangen, und dann hat er sich zur Verwunderung aller wieder erholt.«

»Du hast recht, aber die Paumgartnerin wirkte gestern ungemein besorgt, als sie mich bat, dich heute Vormittag vorbeizuschicken.«

Das gab auch Frantz zu denken. Die Kaufmannsfrau war sonst immer sehr gefasst. »Ich denke, ich geh lieber früher hin als später. Gleich nach der Morgensuppe.« Aus der angrenzenden Küche waren jetzt Geräusche zu hören. »Apollonia ist schon auf? Dann hat uns der kleine Schelm gar nicht so früh geweckt.« Er stand auf und öffnete einen Fensterladen zur Stadt hin. Frostige Luft schlug ihm entgegen. Über dem Fluss war es kälter als in den Stadthäusern, aber er bekam das Brennholz kostenlos von seinem Dienstherrn, und er liebte die Brückenwohnung. Die Dämmerung ließ sich schon ahnen. »Ich kann den Frühling kaum erwarten«, sagte er und schloss den Laden.

»Mir geht’s genauso. Ach, schau an, schon schläft Stefla wieder, aber bald sind die anderen wach.«

»Ich zieh mich ja schon an«, stöhnte er übertrieben und zog das Nachthemd über den Kopf.

Maria klatschte ihm auf den nackten Hintern. »Brav.«

»He, Vorsicht, sonst schlüpf ich noch mal zu dir ins Bett, und wer weiß, was dann alles passiert.«

»Womöglich noch so ein Würmchen.« Sie legte Stefla zurück in die Kiste und lächelte ihn an.

Bei der Vorstellung, dass Maria so bald noch ein Kind zur Welt bringen sollte, vergingen ihm die Flausen. Schnell stieg er in die Kniehose und zog die Strümpfe an.

Sein Weib streichelte ihm über den Rücken. »Jetzt hat dich wohl die Angst gepackt?«

»Es ist noch zu früh. Du musst weiter zu Kräften kommen. Außerdem sind das jedes Mal furchtbare Qualen.«

Maria lächelte. »Für dich, meinst du?«

»Auch!« Mitleid heischend schaute er sie von der Seite an. Dabei wusste er ganz genau, dass er sich schlimmer als die meisten werdenden Väter anstellte.

Maria lachte. »Was hab ich mir nur für einen Mann genommen? Quälst andere Menschen ohne Erbarmen, aber wenn ich unter Geburtsschmerzen schreie, zerfließt du.«

»Ist ja auch ganz was anderes. Du hast das nicht verdient, die Verdächtigen in der Folterkammer meist schon.«

»Und ich dachte, weil du mich lieb hast.«

Fertig angezogen küsste Frantz sie auf die Stirn. »Das auch, aber wehe, du begehst ein Verbrechen!« Damit flüchtete er aus dem Schlafgemach. Sechs Kinder hatte Maria schon zur Welt gebracht, mehr wollte er ihr wirklich nicht zumuten, auch wenn ihnen nur vier geblieben waren.

»Guten Morgen«, murmelte Apollonia, die noch recht verschlafen wirkende Magd, und rührte geschrotetes Korn in einen Topf mit heißem Schmalz.

»Dir auch einen guten Morgen. Wie spät ist es denn?«

»Ist einige Zeit her, dass der Türmer eine Stunde gen Tag geschlagen hat. Die Sonne müsste bald aufgehen.«

»Auf Stefla kann man sich wirklich verlassen.«

Sie gab klein geschnittene Möhren und Steckrüben mit in den Topf und goss Wasser aus dem Krug dazu. »Dauert noch etwas, bis die Morgensuppe fertig ist.«

Maria kam in die Küche. »Macht nichts, aber auf etwas Warmes im Bauch freu ich mich schon.«

Im angrenzenden Zimmer, einst sein Behandlungszimmer, schliefen die Kinder noch. Das war eine seltene Gelegenheit, als Erster den Abtritt zu erreichen. »Zeit aufzuwachen«, rief Frantz, während er in die gute Stube und hinaus in den Henkerturm stapfte, aus dem ein hölzerner Abort über die Pegnitz ragte. Doch als er die Tür öffnete, hockte da sein Knecht. »Hab’s gleich«, versprach Klaus.

Frantz schloss die Holztür wieder. »Lass dir Zeit.« Was konnten sie doch froh sein, nicht jeden Tag Eimer voller Unrat zu den Abortgruben bringen zu müssen.

Klaus kam heraus und hielt seine Hose mit einer Hand hoch. Der Bursche hatte sich nicht mal die Zeit genommen, sie richtig festzubinden. Offenbar fürchtete er sich immer noch ein wenig vor Frantz. Sein Vorgänger Augustin hätte sich bei so wichtigen Dingen nicht hetzen lassen. Frantz vermisste den alten Haudegen, aber er freute sich auch für ihn, weil Augustin jetzt mit seiner Jugendliebe den Ruhestand genießen durfte.

Frantz ließ sich mit blankem Hintern nieder. War das kalt! Bald wurde er von seinem Ältesten gestört. »Ich muss ganz dringend«, meinte Jorgen und hämmerte an die Tür.

»Hab’s gleich, aber zur Not gibt’s ja einen Nachttopf.«

»Den ich dann selber sauber machen muss.«

Frantz lachte und wischte sich mit getrocknetem Moos den Hintern ab. Sein Sohn war recht verwöhnt. Seine jüngste Tochter Marie brauchte sowieso noch den Nachttopf, weil sie durch das Loch im Abort passen würde. Was für eine Vorstellung, dass sie ins eisig kalte Wasser fallen könnte. Mit Kindern begannen die wahren Sorgen des Lebens. Er machte Jorgen Platz. Mit seinen bald acht Jahren wurde der immer eigenständiger. Manchmal bekamen sie ihn nach der Schule nur noch beim Mittagsmahl zu Gesicht. Und Frantz fragte sich natürlich, ob das Bürschlein irgendwelchen Unfug anstellte. Zum Glück kam das selten genug vor, jedenfalls soweit er wusste.

Bernadette, seine frühere Magd und nun Ehewirtin seines Knechts, kam aus der Brückenwohnung über dem südlichen Arm der Pegnitz. »Guten Morgen, Meister Frantz. Ist der Abort frei? Mir ist furchtbar übel.« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Das gerötete Gesicht glänzte von Schweiß.

»Jorgen ist drin. Ich fürchte, du brauchst einen Eimer, oder du erbrichst dich aus dem Fenster.«

Sie eilte zurück. Noch ein Kindlein war unterwegs, doch Bernadettes Schreie könnte er ertragen. Sie war jung und kräftig. Lächelnd betrat er die Stube, wo die Mädel schon am Tisch saßen und fordernd mit ihren Holzschüsseln klapperten. »Hunger!«, rief Marie.

Rosina stimmte sofort zu: »Ich auch!«

Frantz zuckte die Schultern. »Wir haben alle Hunger, aber wenn ihr hier rumschreit, wird die Suppe trotzdem nicht schneller fertig.« Er ging in die Küche und wusch sich die Hände. »Deine Töchter verhungern.«

»Pah, das versuchen sie auch nur bei dir, damit du sie bemitleidest«, erwiderte Maria. »Essen kommt gleich.«

Frantz nahm den Laib Brot, ein Messer und die Löffel mit hinüber. Erwartungsvoll schauten ihn drei hungrige Gesichter an. Rosina presste dabei die Lippen aufeinander, dass nur noch ein dünner Strich zu sehen war, damit er auch merkte, dass sie eigentlich nach Essen schreien wollte. Er verkniff sich ein Grinsen und lobte sie: »Gut so. Jeden Augenblick kommt die Suppe.«

Keine Minute später kam Apollonia mit dem Topf und wurde von Jubel begrüßt. Nur Jorgen schaute gelangweilt drein.

»Du hast keinen Hunger?«, fragte Frantz.

»Doch, aber ich mag nicht zur Schule gehen.«

Das verhagelte Frantz die Laune. »Sei froh, dass du lernen darfst!«

»Ich weiß«, murmelte der Bub. »Aber das ist oft furchtbar langweilig.«

»Wenn du keine anderen Probleme hast als Langeweile, kannst du dich glücklich schätzen.«

 

Bald nach dem Essen stutzte Maria ihm mit der großen Schere Haare und Bart, dann brach Frantz zum Haus der Paumgartners auf. Balthasla kannte er nun schon ein paar Jahre. Obwohl der Junge nie ganz die Würmer losgeworden war, die ihn plagten, hatte er sich immer wieder gut erholt. Hoffentlich auch dieses Mal. Sein Vater war als Kaufmann auf der Frühjahrsmesse oder unterwegs dorthin. Bestimmt rechnete er nicht mit einer schlimmen Entwicklung.

Frantz pochte an das Tor, das auch ein Fuhrwerk passieren konnte, jedoch dauerte es ziemlich lange, bis der Diener öffnete. »Guten Morgen. Ihr seid früh dran, Meister Frantz. Die Familie ist noch beim Frühstück. Der Großvater ist auch eigens nach Nürnberg gekommen.«

»Der Pfleger von Altdorf?«

»Richtig.«

Dann musste es schlimm stehen. »Soll ich draußen warten?«

»Nein, die Herrin will Euch bestimmt gleich zum Balthasla lassen.« Er winkte ihn hinein.

Im Erdgeschoss erkannte Frantz die Kutsche aus Altdorf. Die beiden Rösser fraßen gierig Hafer. Frantz stieg hinter dem Diener die Stufen hinauf und wartete, während dieser der Herrschaft Bescheid gab.

Magdalena Paumgartnerin wirkte erleichtert, ihn zu sehen. »Gut, dass Ihr so früh hier seid, auch wenn wir etwas unvorbereitet sind.« Sie eilte voran zum Zimmer ihres einzigen Kindes. »Meister Frantz ist da. Bestimmt geht es dir bald besser, mein Schatz.«

»Ja«, hauchte der Bub.

Frantz setzte sich aufs Bett und betastete den geblähten Bauch des Jungen. Sein Gesicht war aufgeschwemmt. Die sonst so dünnen Arme und Beine fühlten sich eher wie Wasserschläuche an denn wie Gliedmaßen. Nun plagte den Buben auch noch die Wassersucht, als hätte er nicht schon genug zu leiden. An den Seiten und am Gemächt trat besonders viel Flüssigkeit durch die Haut aus. Frantz dauerte der Siebenjährige, doch wusste er keinen Rat. Ob er noch einmal das Hummelsteiner Kräuterweib besuchen sollte? Vielleicht war ihr inzwischen etwas eingefallen, das ihm helfen konnte. Letzten Sommer hatten sie ein neues Pulver ausprobiert – anscheinend mit gutem Erfolg. Wenn die studierten Ärzte nicht noch eine besondere Kur kannten, dann war der kleine Balthasla verloren. Dabei trug er sein Los, ohne viel zu jammern, bewahrte Zuversicht, träumte immer noch von einem lebendigen Pferd statt des hölzernen Rosses, überzogen mit Kalbsleder, das neben seinem Bett stand, als wartete es nur darauf, mit ihm davonzupreschen.

Frantz legte eine Hand auf die verschwitzte Stirn. Etwas heißer als normal fühlte sie sich an, doch nicht sehr. »Du bist ein tapferer Junge. Nimm weiter brav deine Pulver, und vielleicht bekommst du bald eine andere Kur, die besser hilft.«

Balthasla zog die Stirn kraus und antwortete mit leicht krächzender Stimme: »Einlauf hilft auch nie lang, aber stellt Euch vor, über fünfhundert Würmer hat der Doktor vor drei Tagen gezählt, die alle aus mir rausgekommen sind!«

Frantz staunte, bekam Zweifel und blickte zur Mutter auf. Die nickte, ohne jeden Anflug von Belustigung wegen einer möglichen Übertreibung. Neben ihr stand jetzt ihr Schwiegervater, der Pfleger von Altdorf, mit dem Frantz schon häufig zu tun hatte.

Um tröstende Worte verlegen, erhob er sich. »Entschuldigt, dass ich schon so früh hier erschienen bin.«

»Wir sind froh«, antwortete Paumgartner mit belegter Stimme und wässrigen Augen. »Hoffentlich könnt Ihr etwas für ihn tun.«

Da hustete der Bub garstig. Überrascht legte Frantz sein Ohr auf die Brust und lauschte den rasselnden, aber auch gluckernden Atemzügen. Wasser in der Lunge? Das war neu. Er richtete sich auf. »Ich komm bald wieder mit Kräutern, die helfen sollen, die Lunge zu reinigen. Die musst du mit heißem Dampf inhalieren, dann geht es dir hoffentlich schnell besser.«

Mutter und Großvater begleiteten ihn in den Gang hinaus. Außer Hörweite des Buben fragte die Paumgartnerin: »Ist es so schlimm, wie es uns vorkommt?«

Frantz räusperte sich. »Schwer zu sagen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er noch lange durchhält. Wenn er über Jahre die Würmer nicht losgeworden ist, können die einigen Schaden angerichtet haben. Und jetzt noch die Wassersucht. Es klingt, als wär auch Flüssigkeit in die Lunge eingedrungen, die das Herz kühlen muss. Wenn aber nicht genug Luft hineingelangt, um Kühlung zu bewirken …« Frantz verstummte, atmete tief durch und zwang sich, nicht den Kopf zu schütteln. Die Mutter brauchte jetzt Kraft. »Was sagen die Ärzte?«, fragte er.

Die Paumgartnerin schniefte. »Alle sind mit ihrem Latein am Ende.« Tränen liefen der hageren Kaufmannsfrau übers Gesicht. Sie trug ein ungewöhnlich schlichtes Kleid aus ungefärbtem Hanf, das einige Flecken aufwies, was sicherlich der Krankenpflege geschuldet war. Der Schwiegervater legte einen Arm um ihren Rücken. »Du musst jetzt stark sein, Magdel. Ich wünschte nur, mein Sohn wär hier.«

»Ich auch.« Sie schluchzte auf. »Hoffentlich hält Balthasla noch so lange durch.«

Der Pfleger tätschelte ihren Rücken. »Vielleicht sollten wir ihm das nicht wünschen.«

Frantz schluckte schwer. Paumgartner hatte womöglich recht, auch wenn es hart klang. Er überlegte, was er neben einem Kräuteraufguss zum Inhalieren noch tun konnte, um die Beschwerden des Jungen zu lindern, doch ihm fielen nur starke Mittel ein, die er allenfalls Sterbenden verabreichte, und so schlimm stand es noch nicht um das Kind. Noch …

Die Paumgartnerin fasste sich, dankte ihm, reichte ihm einen Groschen und kehrte an das Krankenlager zurück.

Der Pfleger von Altdorf geleitete ihn zum Ausgang. Frantz fragte: »Wann wird Euer Sohn zurückerwartet?«

Der Mann wischte sich über beide Augen. »Ich fürchte, nicht rechtzeitig. Er ist jetzt in Frankfurt, konnte auf dem Weg aus Italien doch nicht mehr vorher in Nürnberg vorbeischauen, obwohl er es versuchen wollte. Erst nach der Frühjahrsmesse kommt er zurück. Es ist ein Jammer.«

»Und keiner der studierten Ärzte weiß Rat?«

»Die werden sich den Buben auch alle noch einmal anschauen, aber die scheinen so ratlos wie Ihr. Linderung könnt Ihr ihm verschaffen?«

»Hoffentlich. So einen Fall hatte ich auch noch nie.«

»Dann können wir nur für meinen Enkel beten und hoffen.« Paumgartners Stimme brach. »Eines Tages kann die Medizin vielleicht aus seinem Fall etwas … lernen. Die Ärzte schreiben vieles auf, was sie probieren, Magdel auch. Buchführung über die Krankheit.«

»Meine Familie und ich werden für ihn beten«, brachte Frantz mit Mühe heraus, nickte und verließ das herrschaftliche Haus. Unwillkürlich musste er an den Tod seiner beiden ältesten Kinder denken. Wenigstens hatte er bei ihnen sein können, als es zu Ende ging. Das würde dem Kaufmann womöglich verwehrt bleiben. Tief in Gedanken ging er durch den dreckigen Schneematsch in Richtung Rathaus.

»Meister Frantz?«

Überrascht rutschte er beinah auf dem Kopfsteinpflaster aus, fing sich jedoch rechtzeitig und sah sich um. Da stand der Mann, den er in diesem Moment am liebsten sprechen wollte. »Ah, Doktor Camerarius, gut, dass ich Euch treffe. Ich komm gerade vom kleinen Balthasla. Seht Ihr für den Buben ebenso schwarz wie ich?« Noch während er die Frage aussprach, sank seine Hoffnung. Der Medicus hatte sich offenbar von ihm gute Nachrichten erhofft.

Jetzt verdüsterte sich dessen Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. »Wir Ärzte und Heiler stoßen an unsere Grenzen, haben noch viel herauszufinden.« Er blickte in den trüben Himmel, blinzelte, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Im Mai wird das Collegium Medicum offiziell gegründet, mit mir als Vorsitzendem. Ich hoffe, der Erfahrungsaustausch wird uns alle weiterbringen.«

Uns? Sollte das bedeuten, Frantz durfte Teil dieses Collegiums sein? Aber nein, so weit würden die Herren Medici sicher nicht gehen, den Nachrichter von Nürnberg in ihre Reihen aufzunehmen.

Camerarius erklärte denn auch etwas gönnerhaft: »Vielleicht werden wir Euch gelegentlich einladen, wenn Ihr wieder einmal einen besonderen Fall habt wie das Überbein des Freiherrn.«

»Es wäre mir eine Ehre«, antwortete Frantz halbherzig. Er durfte die Ärzte an seinem anatomischen Wissen teilhaben lassen, aber er selbst sollte nichts lernen? Er schluckte sein Missfallen hinunter und verabschiedete sich freundlich. Undankbar durfte er wirklich nicht sein. Ihm wurde vermutlich mehr Respekt und Anerkennung entgegengebracht als jedem anderen Henker im Heiligen Römischen Reich.

So richteten sich seine Gedanken einmal mehr auf die Zukunft seiner Söhne, denen viel mehr Möglichkeiten offenstanden. Wie wundervoll es doch wäre, wenn Jorgen auf die Lateinschule gehen könnte. Frantz hatte gehört, dass die besten Jungen aus dem Findelhaus das durften. Warum dann also nicht auch sein Sohn? Ob der Bub allerdings klug und fleißig genug dafür war, musste sich noch zeigen. Heute morgen hatte sich Jorgens Begeisterung für die Schule jedenfalls sehr in Grenzen gehalten.

 

 

Kapitel 2: Der Falschspieler

 

Nürnberg am Sonntag, den 27. Februar 1592

 

Max zog das Wams enger, als er in die schattige Söldnergasse trat. Hier war es doch gleich wesentlich kälter. Zwei Kerle unterhielten sich aufgeregt, fuchtelten mit den Händen herum, bis sie ihn bemerkten und abrupt verstummten. Die rot-schwarze Pluderhose verriet ihnen natürlich sofort, dass er ein Stadtknecht war. Misstrauisch beäugten sie ihn, während er an ihnen vorbeischlenderte. Die beiden waren Max bisher noch nicht aufgefallen. Ihre schlichten Pluderhosen aus grünem Leinen und die Lederjoppen mit Pelzfutter wirkten gut gepflegt, ließen auf Handwerker in ihrem Sonntagsstaat schließen, doch die langen Haare, die bis über die Schulterblätter reichten, würden ihnen bei den meisten Berufen störend ins Gesicht fallen. Vielleicht kleine Händler oder Fuhrleute. Der mit den dunklen Haaren hatte eine auffällige Narbe unter dem rechten Auge wie von einem Schnitt mit dem Messer oder einer Schwertspitze.

An der nächsten Abzweigung blickte Max über die Schulter, konnte die beiden jedoch nicht mehr auf der Straße sehen.

---ENDE DER LESEPROBE---