Mittwintermorde - Tanja Rast - E-Book

Mittwintermorde E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Grausam dahingerafft von einem Giftanschlag erwacht der alte Haudegen und Kinderfeind Derron ausgerechnet im Körper eines Mädchens. Immerhin kann er sich mit der kleinen Beriz verständigen, wenngleich er keinerlei Kontrolle über sie hat.
Bald stellt sich heraus, dass er nicht das einzige Opfer zu Mittwinter war. Derron sinnt auf die Aufklärung der Fälle - und auf Rache. Doch dazu muss er herausfinden, wer ihn um die Ecke gebracht hat. Und die einzige Verbündete, die er hat, ist Beriz. Denn für den Rest der Welt ist er tot.
Neuauflage meines Romans "Ein Ritter für Beriz"

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Mittwintermorde

 

 

 

 

Tanja Rast

 

 

 

 

 

 

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

Inhaltsverzeichnis
1 Ritter Derron
2 Gelächter der Götter
3 Tote im Winter
4 Mittwinterfeuer
5 Ritter Folan
6 Hauptmann Beriz
7 Ein Brief an den König
8 Feuergift

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danksagung

1.

Ritter Derron

 

Ein eisiger Wind von der Ebene trieb beinharte Eisflocken gegen die Fensterläden. Frostböen fegten um Hausecken und heulten durch verlassen liegende Straßen, wo sie Schnee etliche Ellen hoch auftürmten und Eis auf Pflastersteinen polierten. Holz knarrte unheilvoll unter Belastung und Kälte, und jeder Windstoß fand neue undichte Stellen an Fensterläden vorbei und unter Türen hindurch.

Derron kauerte fröstelnd am Herdfeuer und lauschte dem kalten Prasseln, dem Pfeifen der Böen und hoffte, dass in dieser Nacht jeder Mensch genug Verstand besaß, nicht im Freien herumzurennen. Dort häuften sich weiße Verwehungen auf und reichten mitunter bis an die Fenster des ersten Stockwerks jener Gebäude, die Derron auf dem Weg von der Wachstube am Haupttor bis zu seinem eigenen Haus gesehen hatte.

Ihm taten die Männer leid, die ihn und seine Wachmannschaft abgelöst hatten. Sie würden leiden, wie er es auf der Wehr getan hatte. Die Kälte kroch in jeden Muskel und schien selbst die Knochen mit Eis füllen zu wollen. Hände und Gesicht verwandelten sich unter dem Ansturm des Windes in etwas Fremdes. Wie ein gefrorener Steinklotz, obwohl Derron sich fest in seinen Mantel gehüllt und eine Falte desselben auch vor sein Gesicht gezogen hatte.

Langsam tauten seine schmerzenden Finger wieder auf. Er war so durchgefroren, dass an Schlaf noch nicht zu denken war. Zu lange würde Derron unter Decken und Fellen zittern, bis der Schmerz der Frostnacht nachließ. Besser, mit einem Becher gewärmten Weins vor dem Herd zu sitzen und zu warten, bis das Gefühl in Hände und Füße zurückkehrte.

Doch über dem Brausen des Windes vernahm Derron den Klang des Warnhorns, fluchte leise und mit einer Virtuosität, die von einem Leben ohne weiblichen Anhang herrührte, stellte den Becher hastig ab und warf die Decken von sich.

Rasch stieß er noch einige Holzscheite in den Herd, damit das Zimmer sich nicht in ebenso eisige Ödnis wie draußen verwandeln konnte, während Derron sich um den Alarm kümmerte.

Er zerrte sich den Lederpanzer über den Kopf, schloss in fliegender Hast und mit schmerzenden Fingergelenken die Riemen, legte den Waffengurt mit Schwert und Dolch in ledernen Gehenken um und fluchte, da das Warnhorn noch einmal erklang. Er war doch kein Zauberer, der sich innerhalb eines Wimpernschlags rüsten konnte, verdammt! Er warf sich zwei Mäntel über die Schultern und zog die Kapuze mit dem Fellbesatz tief ins Gesicht. Nur noch die Laterne, dann stürmte Derron aus der Haustür, unterdrückte einen zornigen Schmerzschrei, da Eishagel ihn wie aberhunderte Hammerschläge traf.

Wenn möglich hatte sich das Wetter noch weiter verschlechtert. Tintenschwarz, kein Mond, keine Sterne. Nur wirbelndes Weiß im gelben Lampenschein, der kaum ausreichte, die Konturen der Häuser rechts und links der verschneiten Straße auszumachen.

Schneewehen türmten sich hoch auf, doch an einigen Stellen hatte der brausende Wind das Kopfsteinpflaster bloßgelegt, das mit einer tückischen Eisschicht bedeckt im Laternenlicht glitzerte.

Der Fußmarsch durch die tosende Kälte, die den Mantel weiß bestäubte, schien endlos zu dauern. Derron fragte sich auf vermutlich halber Strecke, ob er möglicherweise im Kreis rannte und die Orientierung verloren hatte. Alles wirkte fremd, die Häuser unter ihrem glitzernden Panzer kaum unterscheidbar. Das Gefühl großer Einsamkeit inmitten der eigentlich vertrauten Stadt machte Derron beklommen.

Er erreichte das Wachhaus im Schatten des großen Torbaus ohne Stürze, aber so durchgefroren, dass er sich besorgt fragte, wie er diese Nacht überleben sollte, falls er sich tatsächlich einer Räuberhorde stellen musste.

Er zerrte die Tür am Fuß des Turms auf, huschte in windstille Kälte und zog die Pforte ins Schloss. Jeder Atemzug tat weh, doch wenigstens war Derron für das Erste Wind und Hagel entkommen und hastete mühsam die Wendeltreppe nach oben zur Wehr. Auch die Stufen im Turm waren schneeverkrustet von zu vielen Stiefeln.

Auf der Mauerkrone fand sich jeder den Böen vollkommen hilflos ausgeliefert, wie er wusste. Diese Erfahrung hatte er vor einigen Stunden selbst durchlebt und sich innig gewünscht, der Sturm würde bis zu seiner nächsten Wache an Wucht verlieren.

Ein weißer Schatten kam Derron auf halbem Weg entgegen. Schwere Mäntel mit Eis verkrustet. Eine Stimme, die Derron im ersten Augenblick kaum erkannte, so kratzig erklang sie von der Kälte. »Verdammt, Ritter Derron, hat dich der Alarm hierher geholt?«

»Allerdings. Ich bleibe wohl kaum am Feuer sitzen, wenn wir womöglich angegriffen werden.« Nun endlich konnte Derron den Sprecher einordnen. Alleine die Melodie der Frage machte ihm dies möglich. Hauptmann Folan, sein Stellvertreter im Wachdienst und auch sonst am ehesten als rechte Hand des Ritters zu bezeichnen.

»Es sind Flüchtlinge. Und es war ein verdammt übereifriger Rekrut auf der Wehr, der den Alarm gab.«

»Bei dem Wetter kann es zu Verwechslungen kommen«, entgegnete Derron sanft. »Auch du und ich waren einmal jung und übereifrig.«

»Jung – ja, bestimmt! Aber nicht dumm.«

»Ist er einer von deinen Bastarden, Folan? Mit denen bist du immer am strengsten.«

Der Hauptmann lachte und schüttelte den Kopf. »Das werde ich dir ganz bestimmt nicht sagen, welcher der Jungen meinen Lenden entsprungen ist.«

»Ich wollte auch nicht fragen. Die Flüchtlinge erscheinen mir jetzt wichtiger«, entgegnete Derron. »Sie zumindest werden dankbar sein, dass ihretwegen Alarm ausgelöst wurde, sodass sie auf den letzten Schritten Hilfe erhalten.« Er wandte sich um, die Treppe wieder hinabzuhasten. Hinter ihm brummelte Folan noch weiteres Unerfreuliches, und Derron hätte sich der Litanei gerne angeschlossen, denn das Anrücken eines Flüchtlingstrosses bedeutete, dass das Tor geöffnet werden musste und Soldaten – der Ritter natürlich an ihrer Spitze – den Leuten entgegenzueilen hatten. Außerhalb der schützenden Einfriedung würde der Wind sehr viel mehr Gewalt besitzen. Derron sehnte sich schmerzlich zurück an sein Herdfeuer. Doch tapfer rief er sich seinen Eid ins Gedächtnis, während er die Turmpforte gegen den heulenden Wind aufstemmte und prompt von einem neuerlichen Hagelschauer begrüßt wurde.

Dem König treu dienen, die Einhaltung seiner Gesetze durchsetzen, die Stadt und alle ihre Bewohner beschützen.

Hatte irgendjemand beim Verfassen der Eidformel an ein Wetter wie dieses gedacht, verdammt? An eine Gruppe Flüchtlinge, die Sturm und Eis trotzte, um sich, ihre Besitztümer und ihr Vieh zum Stadttor zu schleppen? Wie furchtbar musste es im Weiler dieser Leute aussehen, wenn sie den Marsch zur Stadt einem weiteren Aufenthalt in den eigenen Häusern vorziehen mussten?

Derron stapfte durch Schneewehen, von denen jede einzelne offenkundig plante, ihn zu verschlingen, bis er im Windschatten der Mauer ankam, die ihn vor der schlimmsten Wucht des Unwetters schützte.

Hier konnte er einen Augenblick lang durchatmen, obwohl jeder Luftzug schmerzte und ihn innerlich einzufrieren drohte.

»Tor öffnen«, befahl er keuchend und ärgerte sich, wie schwach er klang.

Hastig schloss Folan zu Derron auf und duckte sich neben diesen in den kleinen Wetterschutz der Stadtmauer. Vom roten Bart konnte Derron unter Mantel und Halstuch kaum etwas erkennen, doch selbst Folans rostfarbene Augenbrauen waren vom Frost schneeweiß überstrichen worden. Die Flüchtlinge erweckten prompt erhöhtes Mitleid in Derrons Brust. Wie lange mochten die Leute schon unterwegs sein, verdammt?

»Nur die kräftigsten Jungen, Folan. Es nützt nichts, wenn wir auf dem Weg zu den Flüchtlingen noch ein paar unserer Leute verlieren.«

»Darf ich dir den Rekruten mitgeben, der Alarm gab?«

»Du bist so rachsüchtig.« Derron lachte trotz Eishagels und neuerlichen Schnees. »Wenn der Bengel stark genug ist, mit mir Schritt zu halten, darfst du ihn mir mitgeben.«

»Dem mache ich Beine!«

Das Tor schwang hinter ihnen auf, und Derron hatte das ungute Gefühl, dass der hereinrasende Sturm ihn vorwärts drückte, um ihn in einer Schneewehe zu ersticken. Es kostete ihn Überwindung, sich umzudrehen und diesem unmenschlichen Gegner entgegen zu wanken.

Wimpern und Augenbrauen gefroren sofort, die Haut wurde erst eisig und nur einen Herzschlag später beinahe taub, fühlte sich an wie aus Eis gemeißelt, gegen das frischer Hagel prasselte. Es tat verdammt noch einmal trotzdem weh.

Aber da draußen schleppten sich Menschen durch Schnee und Tosen und brauchten Hilfe. Das wog erheblich schwerer als ein dummer Eid und Pflichtgefühl.

Derron hastete durch den Schnee, bekam wegen der Kälte kaum Luft und bedauerte jene, die auf ihn zueilten, von Herzen. Welche Strecke mochten sie bei diesem Wetter schon bewältigt haben?

Konturen schälten sich aus dem wirbelnden Weiß, und zuerst glaubte Derron, dass sowohl der übereifrige Rekrut als auch Folan sich geirrt haben mussten. Keine Flüchtlinge, sondern ein Rudel Wölfe, die der Hunger aus den Wäldern trieb. Dann konnte er klarer sehen, erkannte hinter den eisverkrusteten, zottigen Gestalten einen Schlitten und beinahe unsichtbar eine Handvoll Männer, deren Kleidung weiß bestäubt sich kaum vom wirbelnden Schnee abhob.

Derron passierte die Hunde, die müde mit gesenkten Köpfen weitertrotteten und gar nicht zu bemerken schienen, dass sich nun mehr Menschen in ihrer Nähe befanden.

Im Vorbeihasten warf er einen Blick auf den Schlitten, erkannte nur verschneite Felle, bevor er einen der Männer erreichte, die das hundegezogene Fahrzeug begleiteten. Und der vor Erschöpfung taumelte.

Hastig hakte Derron den Mann unter und versuchte, sich über das Brüllen des Eissturms verständlich zu machen. »Was ist geschehen?«

»Eine Schwangere. Sie kam vor dem Sturm ins Dorf.« Der Mann keuchte atemlos und stützte sich schwer auf Derron, der Mühe hatte, im hohen Schnee weiter zu gehen und gleichzeitig den Mann zu führen.

»Eine Schwangere?«, brüllte er zur Sicherheit an Eis und Pelzen vorbei in die grobe Richtung des Ohres dieses Erschöpften.

»Wir haben keine Hebamme. Nur Gellin, den Schweinehirten. Er hat zu helfen versucht. Irgendetwas ging schief. Sie stirbt.« Gestammelte Worte, die mit eisigen Krallen in Derrons Bewusstsein schnitten.

Er winkte einen Soldaten herbei, der dem Mann helfen sollte. Auch die anderen Dorfbewohner erhielten bereits Unterstützung. »Von wo kommt ihr?«, fragte er nach.

»Alswins Weiler.«

Zwei Meilen. Ein gemütlicher Spaziergang bei gutem Wetter. Bei diesem Eissturm … Unvorstellbar, dass die Schwangere auf dem Schlitten überlebt hatte. Ein Wunder, dass die Männer noch gehen konnten. Dass die Hunde noch atmeten.

Erleichtert übergab Derron seine Bürde an den Soldaten, um sich selbst eine schwerere aufzuladen. Er eilte zum Leithund, packte dessen Geschirr und zog das Tier mit sich auf die Stadtmauer zu. Unsinnig, die Frau – falls sie denn überhaupt noch lebte – jetzt aus dem Schlitten zu zerren und zum Tor zu tragen. Derzeit war sie halbwegs warm verpackt. Die Hunde mühten sich gehorsam durch den Schnee. Harte, ausdauernde Läufer und Jagdhunde, die an einem klaren Tag die kurze Wegstrecke vom Weiler zur Stadt sogar vergnügt hinter sich gebracht hätten. Und schnell.

Einmal rutschte Derron aus und versank bis über die Knie in Weiß, doch die Laternen auf der Wehr und im Torbau selbst wiesen ihm den Weg, sodass er keuchend und unter der gefrierenden Kleidung und Lederpanzerung triefendnass vor Schweiß in den Windschutz des Torhauses gelangte. Er hustete qualvoll und spähte in den Schnee zu seinen Füßen, ob sich dort rote Sprenkel zeigten. Zumindest fühlte seine Lunge sich so an, als ob im Weiß Stücke gefrorenen Fleischs landen müssten.

Zwei der Hunde legten sich einfach hin, kaum dass sie aus dem schrecklichen Wind heraus waren. Zu erschlagen von dem Gewaltmarsch durch den Sturm, um auch nur eine Pfote vor die andere zu setzen.

»Folan. Die Dorfbewohner. Die Hunde. Kümmere dich um sie. Tee, Suppe, ein warmer Platz für alle. Ich bringe die Frau zum Heiler.« Derron blickte prüfend auf die Männer im Windschutz und wies auf drei von ihnen, bevor er die Fahrleine der Hunde vom Schlitten löste.

Zu viert schoben sie das Gefährt durch die tiefverschneite Stadt. Mehr als ein Soldat rutschte auf eisverkrustetem Kopfsteinpflaster aus und stürzte schmerzhaft auf die Knie. Dankbarkeit erfüllte Derron, dass ihm dieses Schicksal erspart blieb. Zumindest hoffte er es, denn bis zum Haus des Heilers verblieben noch etliche Schritte Weg.

Mittlerweile fühlte er sich zu erschöpft, um diese Strecke noch bewältigen zu könne. Seine eigene Wachschicht, die Kälte, der unerwartete Einsatz zur Rettung der Schlittenmannschaft … Vielleicht sollte er doch einfach nachsehen, ob die Schwangere noch lebte. Dann könnte er sich den restlichen Weg bis zum Heiler ersparen, den Schlitten zum Tempel schieben und nach der Übergabe der Toten in die Hände des Priesters in das eigene Haus zurückkehren. Und wenn sie doch noch lebte? Dann brachte er sie womöglich um, wenn er die Decken und Felle von ihr zog und mit kältetauben Fingern nach ihrem Herzschlag suchte. Abgesehen davon, dass er wohl ohnehin nichts spüren könnte. Seine Fingerkuppen fühlten sich halb erfroren an.

Zähneknirschend zog Derron also weiter das sperrige Fahrzeug durch hohen Schnee und über eispoliertes Pflaster, bis er ebenfalls ausglitt, sich die Knie bei der schmerzhaften Landung blau schlug und für einen Augenblick in den Genuss der felsenfesten Überzeugung kam, nicht wieder aufstehen zu können.

Die Kälte raubte ihm die wenigen letzten Kraftreserven, der Schmerz aus den vielleicht auch blutig geschlagenen Knien ballte sich als Eisklotz in seiner Magengrube zusammen, und so brauchte er viel zu lange, um wieder auf die Füße zu finden und durch sein Beispiel die Soldaten anzufeuern. Er sah ihre verfrorenen Gesichter – das wenige, was über Halstüchern zu erkennen war – und die müden Augen. Keiner von den Jungen konnte weitergehen. Doch falls die Schwangere noch lebte, gab es keine Alternative. Die Dorfbewohner aus Alswins Weiler hatten eine Wildfremde durch zwei Meilen Kälte und Schneesturm geschafft, da sollten ein Ritter und drei kräftige Burschen es doch vollbringen, die Frau beim Heiler abzuliefern, verdammt!

»Lauf vor«, befahl Derron einem der Soldaten, der bei dieser Aufforderung beinahe in sich zusammenzusinken schien. Als wäre ihm ein Gang zum Henker offeriert worden. Aber er ließ vom Schlitten ab und stolperte hastig durch Schneewehen an diesem vorbei, um dann in einem Flockenwirbel zu verschwinden.

Das ersehnte Zeichen, dass sich das Haus des Heilers in unmittelbarer Reichweite befand, eine Hausfassade voll Zierrat, der wie ein blattloser Wald wirkte, hatte Derron schon gesehen. Er beschloss, sich am Ofen aufzuwärmen und offiziell die Nachricht vom Leben oder Tod der Schwangeren abzuwarten. Befand sie sich wider Erwarten noch unter den Lebenden, würde er als Ritter der Stadt sogar noch so lange am Feuer verweilen, bis des Heilers Nachricht erfolgte, ob das Kind die Frostnacht ebenfalls überstanden hatte.

Vor ihnen öffnete sich ein leuchtend gelbes Viereck im Schneetreiben. Derron atmete auf. Der vorgestolperte Soldat hatte das Haus schon erreicht, der Heiler war noch wach. Ovin war wirklich gut. Viele Soldaten liefen noch auf zwei Beinen, weil dieser Mann einfach alles tat, um jedes Körperteil zu retten, statt der Einfachheit halber zur Säge zu greifen und eine langwierige Heilung radikal abzukürzen – im selben Umfang wie die Gliedmaße. Zweimal schon hatte Derron auf einem von Ovin betreuten Krankenlager gelegen, gefiebert und sich wahrscheinlich wie der letzte Jammerlappen benommen. Es nagte an ihm, dass Schmerzen derart die Oberhand über ihn gewonnen hatten, dass er tatsächlich geweint hatte. Ein zweites Mal dann vor Erleichterung, dass Ovin davon Abstand nahm, einen ritterlichen Arm abzusägen. Lustig war es nicht gewesen, als der Heiler immer wieder die Wunde auskratzte, um auch den letzten Rest der Entzündung zu besiegen, aber immerhin besaß Derron noch beide Hände. Und wusste, wem er das zu verdanken hatte.

Falls die Schwangere noch am Leben war, konnte sie sich glücklich schätzen, vertrauensvoll in Ovins Obhut gegeben zu werden.

Die Schlittenkufen schabten über Eis, und endlich kam der Zeitpunkt der Gewissheit. Vorsichtig, um nicht erneut auszugleiten, trat Derron an die Seite des Gefährts und zog die Pelze und Decken beiseite, die vielleicht oder vielleicht auch nicht über Leben und Tod entschieden hatten.

Er nahm ein bleiches Gesicht wahr, halbgeöffnete, viel zu blasse Lippen. Den Geruch nach Schweiß und Blut, und als Derron sich über die Frau beugte, roch er auch ihren Atem, der schwach über sein Gesicht flog. Sauer mit einem bitteren Unterton, den Derron allzu gut kannte. Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Er beugte sich vor, schob die Arme unter den schlanken Körper mit dem gewaltigen Bauch.

Zähneklappern neben ihm, warmes Licht, das auf die Schwangere fiel. Derron wandte leicht den Kopf. An seiner Seite stand Ovin, eine Lampe in der Hand, in einen dicken Mantel gehüllt und trotzdem fürchterlich frierend. Bestimmt hatte der Soldat den Heiler aus dem Bett geklopft. Schnee umtanzte die gedrungene Gestalt.

»Ich hoffe, deine Frau ist ebenfalls wach«, sagte Derron schlicht und hob die Schwangere an. Ihr Körper war weich, alle Muskeln entspannt, als wäre sie ohnmächtig oder dem Tod noch näher, als Derron befürchtet hatte. Schwer sank der Kopf gegen seine Schulter, als er sich mit seiner Bürde aufrichtete. Eine schmale, weiße Hand krallte sich in die Falten seines Mantels, und Derron lächelte unwillkürlich. Doch noch nicht ganz so weit fort, wie er gedacht hatte.

»Egene bereitet alles vor. Wer ist das, Ritter?«

Mit dem zusätzlichen Gewicht der Schwangeren im Arm fiel es Derron schwer, sich auf dem unsicheren Boden umzuwenden, um auf das Haus zuzusteuern. Er biss die Zähne zusammen, fühlte den Schmerz in seinen malträtierten Knien und warf zuerst den Soldaten einen Befehl zu. »Stellt den Schlitten im Schuppen unter. Dann zurück zur Wehr mit euch. Gebt aufeinander acht.« Erst dann sammelte er sich, um die letzten drei Schritte bis zur Haustür des Heilers zu bewältigen und Ovins Frage zu beantworten. »Niemand scheint das zu wissen. Sie erschien in Alswins Weiler, und als die Leute dort merkten, dass sie nicht helfen konnten, brachten sie sie hierher.«

»Bei dem Wetter?« Ovin eilte schlotternd voraus, umklammerte die Tür und drückte sie hastig zu, kaum dass Derron die Schwelle überschritten hatte.

»Wohin?«, fragte Derron, und der Heiler wies auf eine Nebentür, hinter der Derron nicht nur ein sauberes Bett, sondern auch Egene, des Heilers Ehefrau und beste Hebamme der Stadt, vorfand.

Auf ein Zeichen der Hebamme bettete Derron die Schwangere auf den leinenbedeckten Strohsack und löste dann behutsam die weißen Finger aus seinem schneebestäubten Umhang.

Ein schmales Antlitz, auf dessen Stirn und Wangen Schweiß perlte. Zarte Augenbrauen wie mit einem Pinselstrich gezogen, eine gerade Nase, die scharf wie ein Messer wirkte. Derron hatte genügend Gesichter wie dieses gesehen, wie er auch schon zu oft den bitteren Hauch im Atem gerochen hatte. Er glaubte nicht, dass die Frau die Nacht überleben würde. Das tat ihm leid. Niemand kannte ihren Namen, sie schien aus dem Nichts erschienen, und doch hatte ihre Not ausgereicht, die stärksten Männer aus Alswins Weiler in die Frostnacht zu treiben. Vor dem Schlitten die wertvollsten Hunde.

Er tätschelte die kühlen Finger und richtete sich dann auf, die eigene Geldbörse vom Gürtel zu lösen, während Egene sich schon über ihre Patientin beugte.

Große, dunkle Augen – in ihrer perfekten Form erinnerten sie Derron an die eines Rehs – öffneten sich. Doch der Blick wirkte leer, flog über Ovin und Derron hinweg und blieb auf dem Gesicht der Hebamme liegen.

»Alles ist gut, meine Liebe«, flüsterte Egene.

Derron spürte die Lüge in jeder Muskelfaser. Barmherzig und freundlich, aber dennoch eine schreiende Unwahrheit. Er zog vier Münzen aus der Börse und drückte sie Ovin in die widerstandslose Hand. »Für eure Mühe. Ich wäre dankbar, mich einen Moment am Ofen aufwärmen zu können, bevor ich nach Hause zurückgehe. Es ist eine widerliche Nacht.«

»Natürlich.« Ovin nickte, und sie verließen nacheinander die Kammer. Im Wohnzimmer blieb Ovin stehen und sah flehentlich zu Derron auf, der ahnte, welcher Schlag ihn treffen würde.

»Was?«

»Herr, wir brauchen den Priester. Ich denke nicht, dass die Frau den Morgen erleben wird.«

»Kann Egene das Kind retten?«

»Ich weiß es nicht. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, aber es sieht nicht gut aus.«

Derron seufzte. Kein Aufwärmen am Feuer, denn er hatte die drei Soldaten und somit mögliche Boten zurück zur Wehr geschickt. Verdammt. Blieb ja wirklich nur er selbst übrig. »Der Tempel liegt auf meinem Weg zurück zu meinem Haus. Leih mir eine Laterne, Heiler. Warum sollte ich als Einziger zu dieser Zeit noch auf der Straße sein – und bei diesem Wetter? Ich werfe den Priester aus seinem Bett und schicke ihn zu dir.«

»Danke, Herr.« Ovin schaffte ein Lächeln, das verdammt echt aussah. Immerhin entkam er nun einem Marsch durch den Sturm.

 

Bewaffnet mit einer Laterne und fest in seine Mäntel gehüllt trat Derron vor die Tür und bereute seine Großzügigkeit sofort. Wie mit abertausenden von winzigen Klingen fuhr ihm die Kälte ins Fleisch, durchdrang mühelos – und ihm war, als würde er den Frost gehässig kichern hören – die Kleidungsschichten und selbst das stabile Leder von Panzer und Hose.

Der Lichthof der Lampe bildete nur tobendes Weiß ab, das das gelbe Leuchten offenkundig fraß, denn weit reichte es nicht. Doch genügte es Derron, seinen Weg zwischen schlafenden Häusern zu finden. Die Stadt schien im Frost erstarrt, als ob Derron die letzte lebende Seele innerhalb der schützenden Mauer wäre.

Er wollte sein Bett, und er wollte es genau jetzt. Genügte es den Göttern nicht, ihn nachts vom Herdfeuer fortzureißen und vor die Stadtmauer zu schicken, um eine Frau zum Heiler zu bringen, die diese Nacht wohl ohnehin nicht überleben würde? Für deren Behandlung Derron aus der eigenen Börse bezahlt hatte, weil es sonst niemand tun würde und es ihm ungerecht erschien, Ovin und Egene nicht für Stunden der Mühsal zu entlohnen?

Kurz flogen seine Gedanken zu den Dorfbewohnern, die ihre kostbaren Hunde vor den Schlitten gespannt und den Marsch durch den Sturm gewagt hatten. Ihr Verhalten imponierte ihm, doch störte es im Augenblick das Selbstmitleid, in dem zu baden Derron egoistisch beschloss. Wenn er schon fror, konnte er sich dabei auch redlich bedauern. Das tat ja sonst niemand. Manchmal erwies es sich eben doch als Nachteil, alleine zu leben, einer Heirat freudig entsagt zu haben und der vollkommen eigene Herr zu sein. Ohne Eheweib, das mit ihm nörgelte und zankte und sich über Blutflecken in seinen Hemden beschwerte. Nein, Danke! Außerdem bedeutete eine Ehefrau auch unweigerlich Nachwuchs, und diesem Schicksal entronnen zu sein, konnte Derron nur bejubeln.

Er stemmte sich gegen den Wind, der ihn daran hindern wollte, aus der Gasse mit den schneebepackten Häusern auf den großen Platz rund um den Tempel zu treten. Hier fühlte es sich erneut an wie auf der Ebene vor der Stadtmauer. Mit der freien Hand umkrallte Derron die Falten des Mantels, damit der tobende Sturm ihm nicht die Kapuze vom Kopf reißen konnte. Die Böen und die Kälte nahmen ihm den Atem, schienen die Lunge der Gründlichkeit halber erneut gefrieren zu wollen. Tränenflüssigkeit gefror in den Wimpern, sodass Derron sich beinahe blind im Schein der kümmerlichen Laterne auf den Tempelbau zuarbeitete.

Wie erstarrte Meereswogen hatten Wind und Schneefall Verwehungen auf dem Platz aufgetürmt. Dazwischen tiefe Täler, bis auf das blanke Eis auf dem Pflaster hinab geschliffen. Wie auch immer das Unwetter es bewerkstelligte, schien nun der Wind von allen Seiten gleichzeitig zu kommen. Schmerzhaft fuhr eine Böe unter die Mäntel und brachte etliche Handvoll Schnee zur Verstärkung mit, die die schützende Luftschicht zwischen Panzer und Mantel ausfüllten und Kälte in jeden zitternden Muskel sandten.

Als eine gemeine Herausforderung stellten sich die fünf flachen Stufen dar. Unter dem Schnee nicht sichtbar, schafften sie es trotzdem, Derron stolpern und in Tiefschnee stürzen zu lassen. Wobei eine Kniescheibe schmerzhaft Bekanntschaft mit der vorderen Kante einer Trittfläche machte. Die Laterne landete ebenfalls im Weiß, das daraufhin wie von vielen Hunden benässt gelb leuchtete.

Derron biss die Zähne zusammen, glitt beim ersten Versuch, wieder auf die Beine zu finden, auf einer eisbezogenen Stufe erneut aus, fühlte seine Hände nicht mehr und fluchte herzhaft: »Verdammter Mist. So ein beschissener Dreck!«

Anders als sonst verschaffte ihm dies keine Linderung seiner Gemütsverstimmung, und so packte er immer noch fluchend die Lampe und kroch die verdammten Stufen bis zum Tempelportal hinauf. Und wenn der verdammte Priester oder seine hirnlosen Helfer jetzt wegen des Sturms die verdammte Tür verriegelt hatten, würde Derron sie samt und sonders nach draußen zerren und im verdammten Schnee ersticken.

Doch das Portal öffnete sich leicht nach innen, und mit jeder Menge Schnee, noch einem herzhaften Fluch und begleitet von einer Sturmböe, die Eiskristalle bis zum Altar trug, gelangte Derron in das Heiligtum.

Die Tür wieder zu schließen, stellte sich als schwieriger heraus. Wenigstens hatte er wieder aufstehen können, und nach einem ersten, vorsichtigen Versuch festgestellt, dass das angeschlagene Knie ihn tragen würde. Es tat trotzdem scheußlich weh.

Der Schnee tastete sich bereits mit weißen Fingern in das Tempelinnere vor, als Derron endlich die Pforte ins Schloss drücken konnte und einen Augenblick keuchend gegen sie gelehnt stehen blieb.

»Mein Sohn! Was bringt dich in dieser unwirtlichen Nacht und zu so später Stunde hierher?« Eine Stimme wie Balsam. Vor allem nach der Wanderung durch Schnee und Frost. Irgendwie erinnerte Lilwans tiefe Stimme Derron immer an heißen Tee mit Honig.

---ENDE DER LESEPROBE---