Neues von Gestern - Georg Markus - E-Book

Neues von Gestern E-Book

Georg Markus

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Beschreibung

Informativ, spannend und amüsant verrät Georg Markus in 70 historischen Kurzgeschichten "Neues von Gestern": -Wer war das "süße Wiener Mädel"? -Mörder und Genie: Der Schöpfer der weltberühmten "Saliera" -Neues über eine berühmte Tante: Gisela Jolesch, die Frau des Generaldirektors -Der Streit um das Auto, in dem Franz Ferdinand ermordet wurde -Die Geheimnisse des "Schnorrerkönigs" -Warum ein Mondkrater "Hörbiger" heißt -Prominente, die mehr als hundert Jahre alt wurden -Ein seltsamer Flirt der Kaiserin Elisabeth -Menschen, die ihr Leben lang im Hotel wohnten -Wie Beethoven mit seiner Taubheit zurechtkam -Als Böhmen noch bei Österreich war -Theaterskandale, die Geschichte machten Das und vieles mehr von Forschern und Lebenskünstlern, von Typen und Originalen - aus dem Kaiserhaus, der Kriminalgeschichte, dem Reich der Liebe und der Musik erzählt der Bestsellerautor in diesem faszinierenden Buch.

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Georg Markus

Neues von Gestern

GEORGMARKUS

Neues von Gestern

GESCHICHTEN MIT GESCHICHTE

Besuchen Sie uns im Internet unter:www.amalthea.at

© 2004 by Amalthea Signum Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel, MünchenUmschlagillustrationen: Stephan Boroviczeny (Foto von Georg Markus)und Imagno/Austrian Archives (Café Central in Budapest, 1910)Herstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger& Karl Schaumann GmbH, HeimstettenGesetzt aus der 12,5/17 Punkt GoudyDruck und Binden: Bercker, KevelaerPrinted in GermanyISBN 3-85002-519-5eISBN 978-3-902998-54-5

Meiner Frau Danielain Liebe

INHALT

GESTERN IST HEUTE

Vorwort

Neues vom süßen Wiener Mädel

DAS SÜSSE MÄDEL …

… und was aus ihm wurde

Neues von alten Autos

DER »GRÄF UND STIFT« VON SARAJEWO

Streit um ein weltberühmtes Auto

DER LETZTE WAGEN DES LETZTEN KAISERS

Kaiser Karl verleiht sein Auto

Neues von Forschern, Pionierenund Lebenskünstlern

EIN FORSCHER NAMENS HÖRBIGER

Der Vater von Paul und Attila

»RÜCKEN SIE IHRE GLÄSER ZURECHT«

Die Geschichte der Brille

»IN DER FINSTERNIS ZU FRÜH ERWACHT«

Die Erfindungen des Leonardo da Vinci

DAS DOPPELLEBEN DES CHARLES A. LINDBERGH

Ein Nationalheld wird enttarnt

Neues aus der Kriminalgeschichte

RÄUBER, MÖRDER UND GENIE

Benvenuto Cellini, der Schöpfer der »Saliera«

DER RAUB DER »MONA LISA«

Vom größten Kunstdiebstahl aller Zeiten

DIE DIVA UND DER MÖRDER

Therese Krones und Severin von Jaroszynski

WER WAR »JACK THE RIPPER«?

Ein Mann versetzt London in Angst und Schrecken

Neues von berühmten Dauergästen

EIN DRUCKKNOPF FÜR DIE LIEBE

Menschen im Hotel

Neue Typen und alte Originale

ALLES IS’ HIN?

Hat es den »Lieben Augustin« wirklich gegeben?

»KYSELAK WAR HIER«

oder Wie man berühmt werden kann

EINE OHRFEIGE VON DER REICHSGRÄFIN

Die seltsamen Auftritte der Beatrice Triangi

KLEINE ANLEITUNG FÜR GROSSE SCHNORRER

Die Memoiren des Poldi Waraschitz

Neues von prominentenHundertjährigen

DER LETZTE STUMMFILMSTAR

Liane Haid (1895–2000)

»THERE’S NO BUSINESS LIKE SHOWBUSINESS«

Irving Berlin (1888–1989)

»MAN IST JA KEINE HUNDERT MEHR«

Rosa Albach-Retty (1874–1980)

EINE ROYAL IM PUB

»Queen Mum« (1900–2001)

»VIELLEICHT WURDE MIR ZU VIEL GESCHENKT«

Rose Kennedy (1890–1994)

MIT ACHTZIG BEGANN DIE WELTKARRIERE

George Burns (1896–1996)

MEIN ONKEL, DER HOLLYWOODSTAR

Francis Lederer (1899–2000)

»JOPIES« HUNDERTSTER GEBURTSTAG

Johannes Heesters (* 1903)

Neue Musik aus alten Zeiten

EIN FALL FÜR DEN »DRITTEN MANN«

Wer komponierte das Harry-Lime-Thema?

GOTT SEI DANK EIN SCHLECHTER SCHÜLER

Ungewöhnliches von Richard Strauss

»SPRECHT LAUTER, DENN ICH BIN TAUB«

Beethoven verliert sein Gehör

Neue Porträts aus alten Zeiten

DIE WUNDERKUREN DES DR. MALFATTI

Der Arzt Beethovens und des Kaiserhauses

»NÄCHSTES JAHR IN JERUSALEM«

Der Traum des Theodor Herzl

»ICH SEHE MIT MEINER SEELE«

Die taubblinde Schriftstellerin Helen Keller

KLEINER MANN MIT GROSSER STIMME

Die Tragödie des Joseph Schmidt

DIE GESCHICHTE EINES TAGEBUCHS

Das kurze Leben der Anne Frank

Neues aus der alten Donaumonarchie

FREUD, PORSCHE UND BÖHMISCHE GROSSMÜTTER

Als Böhmen noch bei Österreich war

DER KAISER IN KRAKAU

Als Polen noch bei Österreich war

MIT DER STRASSENBAHN NACH PRESSBURG

Als die Slowakei noch bei Österreich war

WARUM DIE MAGYAREN »SISI« LIEBEN

Als Ungarn noch bei Österreich war

LIPIZZANER UND SÄNGERKNABEN

Als Slowenien noch bei Österreich war

Neues & Kurioses aus alten Zeiten

MEIN KONTAKT MIT GOETHE

oder So kurz sind 180 Jahre

AERARISCHES ESSEN IST OFT UNGENIESSBAR

AEIOU gibt Rätsel auf

FRANZ ANTEL ENTDECKT FRED ASTAIRE

Ein österreichisches Schicksal

»WARUM MIT OHRRINGEN?«

Wie ein Kokoschka-Porträt entstand

DER MANN MIT DEN 14 BERUFEN

Peter Ustinov, eine Begegnung

WER WAR DIE TANTE JOLESCH?

Eine Spurensuche

Neues Altes aus dem Hause Habsburg

HERR PACHER UND DIE KAISERIN

»Sisis« Flirt im Musikverein

DIE NACHT VOR MAYERLING

Kronprinz Rudolf und Mizzy Caspar

Neues aus alten Zeiten

WER BEIM KONGRESS TANZTE

Bälle, Amouren und ein bisserl Politik

WENN KRIEGE ZERSTÖREN

Kulturschätze, die für immer verloren gingen

WIE WILD WAREN DIE ZWANZIGER JAHRE?

Die kurze Freude zwischen den Weltkriegen

DER »SCHWARZE FREITAG«

New York, am 25. Oktober 1929

WENN ES IN DALLAS GEREGNET HÄTTE

Wetter macht Weltgeschichte

Neue Theatergeschichtenvon Gestern

NIE WIEDER EINE BÜHNE BETRETEN

Theaterskandale

DIE GESCHÄFTE DES HERRN CASTIGLIONI

Max Reinhardts Financier

WIE MAN DOYEN WIRD

Skurriles aus dem Burgtheater

AUCH DER KAISER GING INS KINO

Als der Film noch stumm war

Neues aus dem Reich der Liebe

BERUF: MÄTRESSE

Pompadour und Dubarry

AMOR IN DER HOFBURG

Seitensprünge im Kaiserhaus

ZWEI HOCHZEITEN, KEIN BRÄUTIGAM

Warum Napoleon und Schuschniggaus der Ferne »Ja« sagten

DIE GESCHICHTE EINER GROSSEN LIEBE

Karl Farkas und Valerie von Martens

DER GRAF UND DAS WÄSCHERMÄDEL

Vom Entstehen einer pikanten Legende

Neues von Päpsten und Kardinälen

UNSER MANN IM VATIKAN

Österreichische Päpste

ÜBERFALL AUF DEN KARDINAL

Der Sturm des Erzbischöflichen Palais

»ES IST GANZ PRAKTISCH, EIN BISCHOF ZU SEIN«

Begegnungen mit Kardinal König

DIE AHNEN DES ERZBISCHOFS

Die 700 Jahre alte Familie Schönborn

Neues aus letzten Stunden

»MEHR LICHT!«

Letzte (und vorletzte) Worte

»SO WERDE ICH ES MACHEN …«

Große der Weltgeschichte begehen Selbstmord

SCHEINTOT

Von der Angst, lebendig begraben zu werden

TOD DURCH ABERGLAUBEN

Der letzte Tag im Leben des Arnold Schönberg

DER TOD DES SCHAUSPIELERS

Wie Josef Kainz vom nahenden Ende erfuhr

DEM SOHN IN DEN TOD GEFOLGT

Hofmannsthals letzte Stunde

Eine neue Begegnung, die nicht stattfand

FREUD KANN HITLER NICHT HEILEN

Eine Therapie, die die Welt hätte verändern können

Quellenverzeichnis

GESTERN IST HEUTE

Vorwort

Was kann denn neu sein, wenn man von Gestern schreibt?

Erstaunlich vieles. Denn die Geschichte bleibt nicht stehen an jenem Tag, an dem sich etwas Außergewöhnliches, auch spätere Generationen Bewegendes ereignet. Neue Erkenntnisse kommen hinzu, aktuelle Begebenheiten rücken historische Stunden ins Heute. Wenn, um ein Beispiel zu nennen, neunzig Jahre nach Sarajewo die Rückgabe jenes Autos bei Gericht eingeklagt wird, in dem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie erschossen wurden – dann wird ein Stück Geschichte lebendig.

Noch dazu, wenn sich zu den damaligen Geschehnissen neue, bisher unbekannte Dokumente finden – wie im vorliegenden Fall die Aufzeichnungen des Grafen Harrach, der nicht nur der rechtmäßige Besitzer des Fahrzeugs, sondern auch Kronzeuge des Attentats war. Stand er doch auf dem Trittbrett des Wagens, nur wenige Zentimeter von den beiden Mordopfern entfernt, als die Schüsse fielen, die das 20. Jahrhundert verändern und ins Chaos stürzen sollten.

Neues findet sich auch, wenn in Wiens Kunsthistorischem Museum bei Nacht und Nebel die weltberühmte Saliera gestohlen wird, man aus diesem Grund dem Lebensweg ihres Schöpfers nachgeht – und dabei herausfindet, dass der geniale Künstler ein mehrfacher Mörder war.

In einem anderen Kapitel berichte ich von acht prominenten Personen, die eines gemeinsam haben: Sie alle wurden mehr als einhundert Jahre alt. In den Lebenswegen von Rose Kennedy, »Queen Mum«, Irving Berlin, George Burns, Liane Haid, Francis Lederer, Rosa Albach-Retty und Johannes Heesters findet sich manche Gemeinsamkeit, die vielleicht die eine oder andere Erklärung für das Erreichen ihres Methusalem-Alters liefern mag.

Ziemlich lebendig erschien mir die Geschichte auch, als ich auf Informationen stieß, die besagen, dass eine der berühmtesten Filmmelodien aller Zeiten – das Harry-Lime-Thema aus dem Dritten Mann – angeblich nicht vom Wiener Heurigenmusiker Anton Karas stammt, sondern von einem Musikalienhändler auf der Alser Straße. Ich ging dem »Fall« ebenso nach wie einem anderen aus der Musikgeschichte: Aus der Korrespondenz zwischen Richard Strauss und einem Gymnasialdirektor geht hervor, dass der Komponist nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Oper komponiert hat – damit sein Enkelsohn in die nächsthöhere Klasse aufsteigen kann.

Neues zeigt die Geschichte im Fall des amerikanischen Nationalhelden Charles A. Lindbergh, aus dessen Leben jetzt erst Details auftauchten, die alle bisher geschriebenen Biografien auf den Kopf stellen.

Oder wenn man in Sachen Mayerling recherchiert und dabei ausnahmsweise einmal nicht auf die Baronesse Mary Vetsera stößt, sondern auf Mizzy Caspar, die tatsächliche letzte Geliebte des Kronprinzen Rudolf, deren freizügiges Privatleben von Detektiven der Polizeidirektion Wien minuziös durchleuchtet wurde.

In anderen Kapiteln zeigt sich die Geschichte auch von ihrer originellen Seite. So machte ich es mir zur Aufgabe, Österreichs wohl berühmtester Tante auf die Spur zu kommen: der Tante Jolesch. Friedrich Torberg hat ihr ein hinreißendes literarisches Denkmal gesetzt, doch galt es nun ein wenig von der Identität jener Tante zu lüften, die längst zum Synonym für den jüdischen Humor der Zwischenkriegszeit geworden ist.

Ich wusste zwar, um ein weiteres, eher erheiterndes Beispiel zu nennen, dass sich Poldi Waraschitz den Ehrentitel eines »Schnorrerkönigs« redlich und hart erarbeitet hat, doch wurde mir erst dreißig Jahre nach seinem Tod ein Manuskript zugespielt, in dem er die Geheimnisse seines einst vielbeachteten Schnorrerdaseins kundtat.

Zu guter Letzt hat es das Schicksal zugelassen, dass ich drei Monate vor seinem Tod Gelegenheit hatte, mit Österreichs großem Kirchenfürsten, Franz Kardinal König, ein ausführliches, sehr persönliches Gespräch zu führen. Der langjährige Erzbischof von Wien erinnert sich an sein 98 Jahre währendes Leben, er kommt in dem Kapitel aber auch auf die geheimnisvolle Welt des Vatikans, auf sein hohes Alter und auf das Abschiednehmen zu sprechen. Schließlich verrät er noch manch interessantes Detail aus dem Konklave, an dem er bei drei Papstwahlen teilgenommen hat.

Neben den bisher beschriebenen Kapiteln findet sich auch Neues/Altes aus der Welt des Theaters und der Liebe, aus dem Kaiserhaus, der Kriminalgeschichte, von Forschern, Pionieren und Lebenskünstlern, von Typen und Originalen. Ein Bericht befasst sich schließlich mit jenen Ländern, die bis 1918 Teil der Donaumonarchie waren und seit kurzem – durch ihren Beitritt zur Europäischen Union – wieder in enger Verbindung mit Österreich stehen.

Zwei tragische Abschnitte sind Anne Frank und ihrem Tagebuch sowie dem Leben und Sterben des großen Tenors Joseph Schmidt gewidmet.

Deren Schicksale hätten ganz anders verlaufen können, wäre es tatsächlich zu dem fiktiven Treffen gekommen, das im letzten Kapitel beschrieben wird: Adolf Hitler begibt sich in Sigmund Freuds Ordination in die Wiener Berggasse.

Dieses Buch will aufzeigen, dass es in der Geschichte nicht um trockene Daten aus fernen Zeiten geht, sondern um die Lebenswege vieler einzelner Menschen. Und damit um unsere eigene Vergangenheit, um das Geschehen, das ins Heute führt.

Gestern ist heute.

GEORG MARKUSWien, im Juli 2004

NEUES VOM SÜSSENWIENER MÄDEL

DAS SÜSSE MÄDEL …

… und was aus ihm wurde

Wir schreiben das Jahr 1887. Die Christlichsoziale Partei wird gegründet, Katharina Schratt erhält aus den Händen des Kaisers das Dekret für den Titel »Hofschauspielerin«, und auf der Ringstraße wird das Maria-Theresia-Denkmal fertig gestellt. In den ersten Septembertagen dieses Jahres spaziert Arthur Schnitzler an eben diesem Denkmal vorbei, über die noch in Bau befindliche Prachtstraße im Zentrum der Haupt- und Residenzstadt. Da kommt ihm eine bildhübsche junge Frau entgegen, deren erotische Ausstrahlung ihn fesselt. Er spricht sie an – und hat damit, ohne es vorhersehen zu können, das »süße Wiener Mädel« geschaffen.

Die junge Dame heißt Jeanette Heeger und sollte zum Prototyp eines völlig neuen Frauentyps werden, der eine ganze Epoche prägen wird.

Jeanette jedenfalls geht sofort freudig auf den Flirtversuch des 25-jährigen Dichters ein, sie zeigt jene spontane, natürliche Herzlichkeit, die ihn dazu verleitet, sie näher und intim kennen lernen zu wollen.

Jeanette wohnt mit ihren vier Geschwistern in äußerst bescheidenen Verhältnissen in der Vorstadt, von der aus sie jeden Tag ins Zentrum kommt, um hier Stickereiarbeiten im Auftrag eleganter Modegeschäfte auszuführen. Zwischen ihr und Schnitzler entwickelt sich nun eine leidenschaftliche Affäre, die zwei Jahre anhalten wird. Natürlich bleibt sie, wie es sich für ein süßes Mädel gehört, nicht die einzige Geliebte des Dichters. In einer Tagebucheintragung teilt Schnitzler jede seiner gerade aktuellen Freundinnen als »Symbol für was anderes« ein: Olga (Waissnix) steht in seinem Liebesleben für die »Grande Passion«, Fifi ist »die Behaglichkeit«, Jenny und Mimi »die Leichtlebigkeit«, Fännchen »die Jugendliebe – also gewiss nicht die Liebe«, »Dilly« (Adele Sandrock) ist für ihn »die Sensation, eine Berühmte zu besitzen« und Mizzi »die wahre Liebe«.

Für Jeanette Heeger bleibt nur ein Wort: »Sinnlichkeit«.

Fast jedes erotische Abenteuer, das Schnitzler durchlebt, wird in die Literaturgeschichte eingehen, so auch die Affäre mit Jeanette. So wie Adele Sandrock für die Männer verzehrende Schauspielerin im Reigen Pate stand und die Wiener Nobeldirne Mizzi Veith für seine Komtesse Mizzi, so wurde die Heeger zum Vorbild für das »süße Mädel«, wobei er den Ausdruck zum ersten Mal in seinem Einakter-Zyklus Anatol verwendet.

»Nach einer Nacht mit Jeanette«, erinnert sich Schnitzler später, »war es, dass ich dieses Schmeichelwort vom süßen Mädel erstmals in mein Tagebuch schrieb, ohne zu ahnen, dass es bestimmt war, einmal gewissermaßen literarisch zu werden.«

Geburtsort und -stunde des wienerischen Pendants zur Pariser Grisette waren kein Zufall. Die Vorstädte der Haupt- und Residenzstadt verschmolzen in jenen Tagen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit den inneren Bezirken, nachdem der Kaiser den Linienwall hatte niederreißen lassen. Der Wegfall der Stadtmauer, der Bau der Ringstraße und das gleichzeitige Einsetzen des industriellen Zeitalters gaben den unterschiedlichen Klassen die Möglichkeit, einander nahe zu kommen. Sicher, Affären zwischen Grafen und Stubenmädeln hat es auch im Biedermeier schon gegeben, jetzt aber fand das romantische Treiben über die Grenzen der ungleich Geborenen hinaus auf breitester Basis statt.

Die süßen Mädeln kommen also neuerdings, ohne die unüberwindlich scheinende Stadtmauer passieren zu müssen, in die City und sehen dort zum ersten Mal seit Menschengedenken die Möglichkeit, am Wohlstand teilhaben zu können.

Umgekehrt erkennen die jungen Leutnants, Assistenzärzte und Rechtsanwaltsanwärter – teils adliger, teils bürgerlicher Herkunft –, dass diese entzückenden Wesen in ihrer ganzen Anmut und Freizügigkeit viel eher ihren erotischen Vorstellungen entsprechen als die verzopften Damen aus »gutem Hause«, deren sexuelle Aktivitäten tunlichst erst nach Eheschließung erfolgen sollen.

Die meist ziemlich laszive Bühnendarstellung des süßen Mädels tat dann ihr Übriges, um den Reiz zu fördern, ein solches Wesen »besitzen« zu dürfen. Zwei fremde Kulturen, Groß- und Kleinbürgertum, stießen aufeinander, das Neue, Verbotene entpuppte sich für beide Seiten als anziehend, machte das süße Mädel zum Mythos.

Die ersten Begegnungen zwischen den Vorstadtschönen und den Galans aus dem Zentrum fanden da wie dort statt, es gab keinen Heimvorteil. Innerhalb oder außerhalb der Ringstraße, vor einem eleganten Geschäft, in der Hauptallee, beim Heurigen, in der Freudenau. Es ist nicht schwer, miteinander ins Gespräch zu kommen, »Hallo, Fräulein, was machst du in der Stadt? Wie heißt du? Ah, Gusti. Und, hast schon was vor heut’ Abend?«

Die reflexartige Abwehr, »Aber Herr Leutnant, warum denn gleich so stürmisch?«, entpuppt sich meist – wie der erfolgsgewohnte Dandy weiß – als nicht wirklich ernst gemeint. Das ist ja das Angenehme bei den süßen Mädeln: Sie müssen auf keine Konventionen achten, sich nicht zieren. Ganz im Gegenteil, sie genießen es, von jungen, attraktiven und angeblich feinen Herren umworben zu sein und mit deren Hilfe dem Geruch ihrer armseligen Kindheit zu entfliehen.

Von der »gnädigen Frau« nach der Beschaffenheit seiner neuesten Eroberung befragt, definiert Schnitzlers Anatol das süße Mädel so: »Es ist nicht faszinierend schön, es ist nicht besonders elegant – und es ist durchaus nicht geistreich. Aber es hat die weiche Anmut eines Frühlingsabends und die Grazie einer verzauberten Prinzessin und den Geist eines Mädchens, das zu lieben weiß.«

Ja, ein Mädchen, das zu lieben weiß, das ist das Um und Auf – wobei sich der Ort des Tête-à-têtes als zweitrangig erweist. Bei Schnitzler erfahren wir, dass die süßen Mädeln ihre Verehrer nicht nur in deren elterlichen Stadtpalais oder im Chambre separée trafen, sondern dass diese auch zu ihnen in die Vorstadt kamen. Anatol beschreibt die Behausung einer in ihren eigenen vier Wänden beglückten jungen Dame: »Ein kleines dämmriges Zimmer – so klein – mit gemalten Wänden – und noch dazu etwas zu licht – ein paar alte schlechte Kupferstiche mit verblichenen Aufschriften hängen da, und dort – eine Hängelampe mit einem Schirm. Vom Fenster aus, wenn es Abend wird, die Aussicht auf die im Dunkeln versinkenden Dächer und Rauchfänge! Und – wenn der Frühling kommt, dann wird der Garten gegenüber blühen und duften.«

So also liest sich die poetische Verfälschung des Wortes Bassenawohnung.

Derlei Kleinigkeiten stellten aber kein Problem dar für einen schnauzbärtigen Verführer, denn das vermeintliche Glück sollte ja ohnehin nur von kurzer Dauer sein. Bald, allzu bald, wurde die kaum noch erblühte Knospe wieder »abgelegt«, es gab ja so viele, die süß und aus Wien und vor allem Mädeln waren.

Vom Ende eines solchen Abenteuers erfährt man zwar bei Schnitzler, selten jedoch aus dem wahren Leben. Einmal fallen gelassen, geschwängert vielleicht, war so eine Frau kein Mädel mehr und schon gar kein süßes, sondern nur noch aus Wien. Besser gesagt, jetzt doch wieder aus der Vorstadt, mit der man ja sowieso nie etwas zu tun haben wollte.

Ein paar Jahre nach der Trennung von Jeanette wird Schnitzler hinterbracht, dass sie in die Demimonde abgesunken, also eine bessere Prostituierte geworden sei. Er sieht sie zufällig auf der Straße und hält die Begegnung im Tagebuch fest: »Geh an ihr, die vor mir ist, vorbei. Sie rief mir nach: ›Arthur! – Du! – Du!‹ Ich ging weiter, ohne mich umzuwenden.«

Ach, wären die Wiener Mädeln doch nicht ganz so süß gewesen, ihr Leben wäre vielleicht glücklicher verlaufen.

NEUES VON ALTEN AUTOS

DER »GRÄF UND STIFT«VON SARAJEWO

Streit um ein weltberühmtes Auto

In keinem anderen Auto wurde die Weltgeschichte so nachhaltig verändert wie in diesem. Das amtliche Kennzeichen »A 111 118« ist heute noch montiert – und das, obwohl der Motor des Gräf & Stift-Wagens seit dem 28. Juni 1914 nicht mehr angelassen wurde. Seit jenem Tag also, an dem der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie in der offenen Limousine durch Sarajewo fuhren. Neunzig Jahre nach den Schüssen, die den Ersten Weltkrieg auslösten, wurde die Geschichte dieses Autos wieder lebendig. Ein spektakuläres Gerichtsverfahren ließ das Fahrzeug in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten.

Die alte Dame empfängt mich auf ihrem Gut im oberösterreichischen Aschach. Alice Dreihann-Holenia ist die Tochter des Grafen Franz Harrach, dem das Auto von Sarajewo gehörte. Er hatte den Wagen an jenem schicksalhaften Tag dem Thronfolger zur Verfügung gestellt und stand selbst auf dem Trittbrett, nur wenige Zentimeter von den beiden Opfern entfernt, als die Todesschüsse fielen.

Graf Harrach hatte Glück, er überlebte das Attentat des Studenten Gavrilo Princip unverletzt. Und doch konnte er mit seinem Schicksal nicht fertig werden. Der Schock, neben dem sterbenden Thronfolger zu stehen, ohne ihn schützen zu können, hatte sich tief in seine Seele gebrannt. Franz Harrach hat das Erlebte aufgeschrieben, doch blieben die Aufzeichnungen des Tatzeugen bisher unveröffentlicht. Seine Tochter ließ mich erstmals Einblick nehmen.

»Bin unverletzt. Franz.« Das waren die erlösenden Worte, auf die seine Familie sehnsuchtsvoll gewartet hatte. Das erste Telegramm nach dem Attentat traf noch am Abend des 28. Juni 1914 in Karlsbad ein, wo seine Frau gerade auf Kur weilte. »Man muss sich vorstellen, wie groß die Sorge in meiner Familie war, als die Schreckensmeldung aus Sarajewo kam«, erklärte mir Graf Harrachs bald neunzigjährige Tochter. »Das ahnte mein Vater natürlich, und deshalb hat er meiner Mutter auch sofort in die böhmische Sommerfrische telegrafiert.«

Ihr Vater war ein enger Freund des Thronfolgers, setzte die Baronin Alice Dreihann-Holenia ihre Erzählung fort, »und das war auch der Grund, warum er ihm das Auto zur Verfügung stellte, als dieser durch Sarajewo fuhr«. Harrachs Name ist in jeder Franz-Ferdinand-Biografie erwähnt, weil er das Leben des Thronfolgers schützen wollte, indem er ihn mit seinem eigenen Körper abzudecken versuchte. Da der Graf auf dem linken Trittbrett unmittelbar vor Franz Ferdinand stand, die Kugeln des Mörders jedoch von rechts kamen, schlug sein heldenhaftes Verhalten fehl.

Franz Harrach war ein wohlhabender Mann. Er besaß mehrere Schlösser in Mähren, ein Stadtpalais in Wien und das Gut in Aschach. Sein berühmtester Besitz ist aber der Gräf & Stift-Wagen, in dem sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf dramatische Weise verändern sollte.

Rund neun Jahrzehnte nach dem Attentat ist um das historische Gefährt ein heftiger Rechtsstreit entbrannt. Während seine Tochter die Rückgabe des Wagens fordert, weigert sich die Republik Österreich, diesen dem Heeresgeschichtlichen Museum zu entziehen.

Der 32 PS starke, durch mehrere Einschusslöcher beschädigte Vierzylinder, Jahrgang 1910, wurde wenige Wochen nach dem Mordanschlag in das Wiener Heeresmuseum gebracht, als dessen Prunkstück er seither zu besichtigen ist. Auf einer vor dem Auto aufgestellten Tafel ist bis heute nachzulesen, dass der Wagen dem Thronfolger auf seiner Fahrt durch Sarajewo vom Grafen Harrach »zur Verfügung gestellt« worden war.

Demnach ist unbestritten, dass Harrach zum Zeitpunkt des Attentats der rechtmäßige Eigentümer des Fahrzeugs war. Unterschiedlich sind nur die Ansichten darüber, was danach geschah. Während die Republik Österreich davon ausgeht, dass Harrach das Auto dem Kaiser schenkte, wird dies von Franz Harrachs Tochter bestritten: »Mein Vater hat das Auto, nachdem die Spurensicherung abgeschlossen war, leihweise dem Kaiser Franz Joseph überlassen, der es für Ausstellungszwecke an das Heeresmuseum weiterreichte.«

Tatsächlich gibt es keinen Beleg dafür, dass Harrach das Fahrzeug je verschenkt oder verkauft hätte. Das Museum konnte dem Gericht lediglich einen Brief des Feldzeugmeisters Oskar Potiorek vorlegen, dem zu entnehmen ist, dass der Gräf & Stift »vom Besitzer Franz Graf Harrach Seiner Majestät zur Verfügung gestellt« und vom Kaiser »dem k. u. k. Heeresmuseum einverleibt wurde«.

»Von einer Schenkung kann keine Rede sein«, erklären Ludwig Draxler und Partner, die Rechtsanwälte der Klägerin. »Herr Potiorek (er war Landeschef von Bosnien-Herzegowina, Anm.) konnte nicht über ein Auto verfügen, das ihm gar nicht gehörte.«

Die in ihren Augen unkorrekte Beweisführung ist der Grund dafür, dass sich die Anwälte, nachdem das Verfahren sämtliche österreichische Instanzen durchlaufen hatte, an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg wandten, wo das Verfahren zurzeit anhängig ist*.

Die Frage liegt nahe, ob der Fall – neunzig Jahre nach Sarajewo – nicht längst verjährt ist.

»Nein«, erklären die Anwälte, »Eigentum kann nicht verjähren. Die Klägerin bzw. ihr Vater haben nie auf das Fahrzeug verzichtet, es war dem Kaiser 1914 auf unbestimmte Zeit überlassen und von diesem dem Museum übergeben worden, weshalb es bisher auch nie einen Grund für eine Klage gegeben hat. Dies geschah erst, als sich das Museum weigerte, der Baronin Dreihann-Holenia den Wagen auf deren Anfrage rückzuerstatten.«

Sie hatte vorerst einen Brief an das Verteidigungsmuseum gerichtet, »in dem es uns nicht darum ging, den Besitz des Autos einzufordern«, erklärt Nikolaus Dreihann-Holenia, der Sohn der Klägerin. »Wir wollten nur die Eigentumsverhältnisse klarstellen und hätten es auch weiterhin als Ausstellungsstück zur Verfügung gestellt. Erst als Ministerium und Museum uneinsichtig reagierten, gingen wir zu Gericht.«

Dass auf dem Wagen heute noch die amtlichen Kennzeichen »A 111 118« montiert sind, werten die Anwälte als weiteres Indiz dafür, dass Franz Harrach, so lange er lebte, der rechtmäßige Eigentümer der Limousine war, »sonst wären ihm die Nummerntafeln entzogen worden«.

Für Manfried Rauchensteiner, den Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums, das den Wagen seit Jahrzehnten beherbergt, handelt es sich »um das bei weitem bedeutendste Fahrzeug der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Schließlich hat der Tod des Thronfolgers in diesem Wagen indirekt zwei Weltkriege ausgelöst«. Aus seiner Sicht ist »völlig klar, dass dieses Auto Eigentum der Republik Österreich ist und nirgendwo anders hingehört als in das Heeresgeschichtliche Museum«.

Letztlich führte mich der Prozess um das Auto zu den bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen des Kronzeugen Franz Harrach, der sich – als ihm nach dem Attentat die Tragweite des Erlebten fassbar zu werden begann – in einem vier Seiten langen Brief an seine Frau die seelische Belastung von der Seele schrieb. Es ist ein berührendes Dokument, zumal niemand sonst dem tragischen Geschehen so nahe war wie der Aristokrat, dessen Erinnerungen in den zahlreichen einander widersprechenden Zeugenaussagen besonderes Gewicht haben:

»Liebster Schatz«, schreibt er, »unter dem Drucke des Entsetzlichsten, was Menschenphantasie sich bilden kann, schreibe ich dir, gedrückt von dem Gedanken, selbst unberührt geblieben zu sein. Wo man hinsah, krachte etwas, Kapsel, Bombe … es war ein gesperrtes Jagen, es gab kein Entrinnen mehr, die Würfel waren gefallen. Sie waren Helden als Fürsten und als Menschen. Sie starben in Ausübung ihres Berufes, ihrer Pflicht, und als sich vor den zwei Särgen die Fahrer neigten, wenn das Volk, das arme, aufschrie in einem einzigen großen Schrei, der sich mit Elementargewalt zum Himmel erhob, da dachte ich im Herzen: Ihr großen Helden seid nicht ganz umsonst als Opfer eures Vaterlandes geschlachtet worden, nein!«

Nach diesen einleitenden Worten schildert Franz Harrach den Tathergang: »Sie (die Frau des Thronfolgers, Anm.) sagte zu ihm, als sie beide die Schüsse trafen: ›Um Gotteswillen, was ist dir geschehen?‹, sank auf ihre Knie, mit dem Gesicht auf seinen Knien, und es war vorbei. Aus seinem Munde spritzte sofort ein dünner Blutstrahl auf meine Backe, er wurde steif mit aufgerissenen Augen und sagte, die Hände auf ihren Schultern: ›Sopherl, stirb mir nicht, bleib mir für die Kinder.‹ Ich hielt ihn am Kragen und sagte: ›Kaiserhoheit müssen furchtbar leiden.‹

Er sagte: ›Oh nein, es ist nichts.‹ Dann murmelte er weiter, schwieg, worauf Blutröcheln begann, das mit einem Blutsturz endete. Erst nach ca. zehn Minuten starb er. Ihre Kugel hatte die Karosserie durchbohrt, riss ein Stücklein Rosshaar mit in die Seitenwände, die Kugel traf die Bauchschlagader bis etwa zur Halsschlagader.«

Im nächsten Absatz schildert Harrach die Chronologie der Ereignisse: »Beim ersten Attentat* sauste mir die Bombenkapsel um die Ohren. Der Effekt der Bombe, die von unserem zusammengelegten Dache hinabfiel, dank Loykas* verblüffender Geistesgegenwart, der sofort Vollgas gab, war verheerend. Im 2. Stocke waren die Fensterkreuze eingedrückt …«

Für Franz Harrach war »alles wie ein böser Traum. Heute** erwachte ich und frag: Ist es möglich? Kann es wahr sein? Wenn man das erlebt hat und Freund und Patriot ist, so ist einem da drinnen etwas gebrochen, was nimmer zu picken ist, wenn man Hass und Neid betrachtet …, als dann wird man sich fragen: Wozu lebe ich noch? Wozu sind die Großen gestorben, wenn auf dem mit ihrem Blute getränkten Acker Zwietracht und Hass gesät wird. Es umarmt dich«, endet der Brief, »dein vernichteter Gatte.«

Franz Harrach sollte den Weltkrieg, den die beiden, auf seinen Wagen gezielten Schüsse auslösten, in seiner vollen Tragweite miterleben. Er starb im Mai 1937. Womit ihm wenigstens der zweite, letztlich ebenfalls durch die Folgen des Attentats ausgelöste Krieg, erspart blieb.

Sein Erbe ging an dessen Tochter Alice Dreihann-Holenia über.

* Stand bei Manuskriptschluss dieses Buches im Juli 2004

* Tatsächlich wurde unmittelbar vor dem Schussattentat ein Bombenanschlag auf die Wagenkolonne verübt, den Franz Ferdinand und Sophie noch unverletzt überlebt hatten.

* Leopold Loyka war Franz Harrachs Chauffeur, der dem Thronfolgerpaar auf der Fahrt durch Sarajewo zur Verfügung stand.

** am 3. Juli 1914

DER LETZTE WAGEN DES LETZTEN KAISERS

Kaiser Karl verleiht sein Auto

So weit mir bekannt ist, liegt keine Schätzung über den wahren Wert des Gräf & Stift-Wagens vor, in dem der Thronfolger und seine Frau starben. Wie viel bei dem Gerichtsstreit aber auf dem Spiel steht, zeigt der Vergleich mit einem anderen Automobil von historischer Bedeutung: Der in den letzten Jahren der Monarchie im Besitz von Kaiser Karl befindliche Wagen, ebenfalls ein Gräf & Stift, ist auf rund vier Millionen Euro versichert. Es ist anzunehmen, dass das Auto, in dem Franz Ferdinand und Sophie ermordet wurden – schon wegen seines dramatischen Anteils an der Weltgeschichte –, einen noch viel höheren Preis erzielen würde, doch erscheint mir eine kleine Geschichte des Hofwagens von Kaiser Karl nicht minder erwähnenswert.

Anton Kuh forderte in der noch jungen Ersten Republik, dass das letzte Hofauto des letzten Kaisers in einem Museum mit dem Titel »Altösterreich« nebst anderen Kuriosa und Denkwürdigkeiten der k. u. k. Monarchie ausgestellt werden sollte. Zumal der Kaiserwagen ein Sinnbild »für die liebenswürdige Form des österreichischen Zusammenbruchs« sei.

Die Geschichte ereignete sich in den letzten Tagen der Donaumonarchie, Anfang November 1918. Victor Adler, der Führer der österreichischen Sozialdemokratie, litt an Herzschwäche, Asthma und Wassersucht, seine angeschwollenen Beine mussten mehrmals täglich bandagiert werden. Obwohl der einstige Armenarzt ganz offensichtlich am letzten Wegstück seines Lebens angelangt war, erlaubte es ihm die Staatskrise nicht, sich zurückzuziehen. Hier eine Besprechung mit dem k. u. k. Außenminister, da vermittelnde Worte mit revolutionären Gruppierungen, in Schönbrunn fast täglich eine Unterredung mit dem Kaiser.

Der Monarch, der in den Gesprächen mit Victor Adler die letzte Chance zur Rettung seines sechshundert Jahre alten Reichs sah, bemühte sich, dem todkranken Mann die Koordination seiner vielen Termine zu erleichtern.

»Ich lasse Sie heute Nachmittag mit dem Wagen aus der Stadt holen«, bot Kaiser Karl dem Führer der Sozialdemokraten an, »und später wird Sie der Chauffeur wieder nach Hause bringen.«

Victor Adler schüttelte seinen Kopf und blieb verlegen vor dem Monarchen stehen. »Das wird nicht gehen«, erklärte er.

»Ja, warum denn nicht?«, fragte Karl.

»Majestät, heute kommt mein Bub aus der Strafanstalt Stein zurück …, ich wollte ihn von der Bahn abholen.«

»Der Bub«, das war Friedrich Adler, Victor Adlers Sohn, der vier Jahre zuvor den k. u. k. Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh im Hotel Meißl und Schadn erschossen hatte. Kaiser Karl hatte den zu lebenslanger Haft Verurteilten wenige Tage davor begnadigt.

»Aber das macht doch nichts«, erklärte der Monarch. »Holen Sie ihn mit dem Auto von der Bahn ab und dann kommen Sie zu mir!«

Und so war’s dann auch: Victor Adler holte seinen Sohn, den Mörder des Ministerpräsidenten, mit dem »hofgrün« lackierten Wagen des Kaisers von der Bahn ab. Sie fuhren gemeinsam nach Schönbrunn. Und während sein Vater mit Karl I. sprach, wartete der Bub draußen vor dem Schloss im Hofauto.

Eine Woche später wurden sowohl Victor Adler als auch die österreichisch-ungarische Monarchie zu Grabe getragen.

Die Forderung von Anton Kuh, das Auto in ein Museum zu stellen, hat sich freilich erfüllt. Auch wenn das Museum nicht den Titel »Altösterreich« trägt – das Hofauto kann heute in der Wagenburg von Schönbrunn besichtigt werden.

NEUES VON FORSCHERN,PIONIEREN UNDLEBENSKÜNSTLERN

EIN FORSCHER NAMENS HÖRBIGER

Der Vater von Paul und Attila

Der Name hätte auch dann einen guten Klang, wenn seine Söhne keine bedeutenden Schauspieler geworden wären. Natürlich kann er’s mit der Berühmtheit von Paul und Attila nicht aufnehmen, aber das Leben des Hanns Hörbiger ist so interessant, dass man ihn nicht nur als Vater in Erinnerung behalten sollte. Hanns Hörbiger wurde durch zahlreiche Patente und Erfindungen bekannt, vor allem aber durch die von ihm entwickelte »Welteislehre«.

So wie es seine beiden berühmten Söhne einem Zufall verdanken, in Budapest zur Welt gekommen zu sein, so wurde auch Hanns Hörbiger 1860 eher zufällig in Wien geboren. Seine Vorfahren stammten allesamt aus Tirol, genau genommen aus der Wildschönau, in der es heute noch die dreihundert Jahre alte Jausenstation Hörbig gibt – deren Name sich vom Wort Herberge ableitet.

Hanns kam als lediges Kind zur Welt und musste als junger Mann mit ansehen, wie schwer es seine Mutter Amalia Hörbiger hatte, allein für den gemeinsamen Lebensunterhalt zu sorgen. Von seinem Vater wusste er nur so viel, dass er Leeb hieß. Und dieser Umstand führt uns auch schon zu einer Geschichte, die ein Schlaglicht auf Hanns Hörbigers Persönlichkeit wirft.

Besagter Herr Leeb hatte sich als Orgelschnitzer in der Kirche von Alt-Lerchenfeld in die Tochter des Orgelbauers Alois Hörbiger verliebt. Diese erwartete bald einen Sohn, den sie Hanns nannte. Freilich war Herr Leeb bei dessen Geburt schon über alle Berge.

Und deshalb entschloss sich Hanns Hörbiger, als er mit 18 Jahren die Maschinenbauschule absolviert hatte, seinem Vater auf die Spur zu kommen. Er fand heraus, dass dieser mittlerweile in Frankreich lebte und machte sich, völlig mittellos, wie er nun einmal war, von Wien aus auf den Weg nach Paris.

Und zwar zu Fuß!

Nach wochenlangem Marsch endlich in der Metropole an der Seine angekommen, fragte sich Hanns Hörbiger so lange durch, bis er herausgefunden hatte, in welchem Café ein Orgelschnitzer namens Leeb sein Frühstück einzunehmen pflegte. Er betrat das Lokal, erkundete beim Kellner, wer die bewusste Person sei, ging auf den Tisch zu und sagte zu seinem leiblichen Vater: »Pardon, Monsieur, ist an Ihrem Tisch noch ein Platz frei?«

Papa Leeb antwortete: »Oui, Monsieur«, und sein Sohn setzte sich. Dann las Leeb in seiner Zeitung weiter. Hanns beobachtete seinen Vater, nahm unterdessen eine Tasse Kaffee zu sich und verabschiedete sich nach einer Viertelstunde. Dann ging’s zurück nach Wien.

Wieder zu Fuß!

Abgesehen von der Frage nach der freien Sitzgelegenheit hat Hanns Hörbiger sein Leben lang kein Wort mit seinem Vater gewechselt, er hat ihn auch nie wieder gesehen. Und Herr Leeb hat nie erfahren, dass er einmal mit seinem Sohn an einem Tisch gesessen ist.

Nach Wien zurückgekehrt, inskribierte der junge Mann an der Technischen Hochschule. Als aber ein wohlhabender Onkel, der ihm das Studium finanzieren wollte, über Nacht am Spieltisch sein Geld verlor und Hörbiger ihn im Armenhaus Zum Blauen Herrgott wieder fand, musste der Maturant frühzeitig ins Berufsleben treten.

Und er nahm einen außergewöhnlichen Weg. Vorerst technischer Zeichner bei einem Dampfmaschinenhersteller, wurde bald seine besondere Begabung erkannt, so dass man ihn als Konstrukteur in die Erste Brünner Maschinenfabrik holte. Er setzte völlig neue Maßstäbe, die 1894 zur bahnbrechenden Erfindung des ersten reibungsfrei geführten Plattenventils für Pumpen und Kompressoren führte. Hanns Hörbiger war aber auch maßgeblich an der Konstruktion der Budapester U-Bahn beteiligt, wobei der Aufenthalt der Familie während der Planungsarbeiten auch der Grund dafür war, dass seine Söhne Paul und Attila in Budapest zur Welt kamen.

Die weltweiten Patentrechte des Hörbiger-Ventils machten Hanns Hörbiger wohlhabend, bekannt wurde er freilich durch die von ihm entwickelte Welteislehre.

Hanns hatte schon als dreizehnjähriger Realschüler sein Bett in den Garten geschoben, um dort mit großer Begeisterung »Himmelsbeobachtungen« anzustellen. Später gelangte er durch Forschungen zu der Auffassung, dass eine riesige Eisschicht der Ursprung unserer Erde gewesen sei. Eine Kollision von Heiß und Kalt hätte demnach eine Explosion hervorgerufen, die die Bildung der Sonne und anderer Planeten zur Folge hatte. Alles irdische Leben, schloss Hanns Hörbiger in seiner Welteislehre, stammte aus dem All.

Ich selbst verdanke der Welteislehre die Veröffentlichung meines ersten Buches, nämlich der 1979 erschienenen Memoiren seines Sohnes Paul. Die Vorgeschichte war folgende: Der deutsche Filmregisseur Hans Jürgen Syberberg hatte Hanns Hörbiger in einem Club 2 des ORF zum Thema »Hitlers Wurzeln« ins Spiel gebracht. Paul Hörbiger, damals 84 Jahre alt, regte sich über die Unterstellung furchtbar auf und bat mich am Tag danach, die Integrität seines Vaters in einem Zeitungsartikel klarzustellen.

Ich musste nicht lange recherchieren, um Herrn Syberbergs These entkräften zu können. War doch Hanns Hörbiger am 12. Oktober 1931 – also eineinhalb Jahre vor Hitlers Machtergreifung – verstorben. Dass es auch bis dahin keinerlei Berührungspunkte mit den gerade aufkommenden Nazis gegeben hatte, war einem Urteil des Landesgerichts Wien aus dem Jahre 1967 zu entnehmen, in dem ein Schweizer Autor die Behauptung zurücknehmen musste, »Herr Ing. Hanns Hörbiger sei mit nationalsozialistischem Gedankengut in Verbindung zu bringen«.

Richtig ist allerdings, dass sich die Nazis der Hörbigerschen Lehren bedienten und der »Reichsführer-SS«, Heinrich Himmler, dessen Erkenntnisse verfälschte und für seine rassistische Theorie vom »Ahnenerbe« schamlos missbrauchte.

Nach Erscheinen meines Artikels über Hanns Hörbiger hatte sein Sohn Paul Vertrauen zu mir gefasst, weshalb er mich einlud, seine Lebenserinnerungen zu schreiben.

Hanns Hörbigers Theorie, schon zu dessen Lebzeiten ebenso populär wie umstritten, wurde freilich nicht nur von den Nationalsozialisten propagiert. So brachte Egon Friedell die Welteislehre in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit in einen »unterirdischen Einklang mit der Relativitätstheorie«, und nach dem Krieg sollte sich Wernher von Braun – bereits in den USA – als Hörbigers prominentester Fürsprecher erweisen. Immerhin hatte der Vater der bemannten Raumfahrt mit den Kameras der Orbiter-Sonden »Flussläufe festgestellt, die darauf hinzuweisen scheinen, dass sich in einer Tiefe von 10 bis 20 Metern unter der Mondoberfläche ewiges Eis befinde«. Aufgrund dieser Annahme, die Hörbigers Thesen bestätigte, wurde dem Wiener Forscher zu Ehren ein Mondkrater mit dem Namen »Hörbiger« versehen.

Spätere Mondexpeditionen und Satellitenbeobachtungen haben Wernher von Brauns ursprüngliche Vermutung widerlegt, so dass die Welteislehre heute von der Wissenschaft keinerlei Anerkennung findet. Was nichts daran ändert, dass der Mondkrater nach wie vor Hörbiger heißt.

Unbestritten bleibt die andere »Hinterlassenschaft« des Forschers, nämlich dessen vier Söhne. Während Paul und Attila Film- und Theatergeschichte schrieben, gründeten die beiden älteren Söhne Johann und Alfred die Hörbiger-Ventilwerke in Wien – heute ein international erfolgreicher Konzern. Alfreds mysteriöser Tod stürzte freilich die gesamte Familie in einen jahrzehntelangen Streit.

Es war im Mai 1945, als Alfred Hörbigers Leichnam in der Nähe von Innsbruck aufgefunden wurde. Bei der Obduktion stellte man eine Vergiftung fest. Würde heutzutage in einem solchen Fall selbstverständlich die Kriminalpolizei ermitteln, fand sich in den ersten Friedenstagen niemand, der die genaueren Todesumstände untersucht hätte. Zu viel Elend war nach Krieg und Nazidiktatur aufzuarbeiten, um jeden einzelnen Fall klären zu können.

Während Paul Hörbiger überzeugt war, dass Alfred ermordet wurde, konnte sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Attila diesem Verdacht nichts abgewinnen. Paul ließ nicht locker und beantragte eine zweite Obduktion, deren Ergebnis den Mordverdacht weder bestätigen noch widerlegen konnte.

Dennoch erstattete Paul Hörbiger Anzeige »gegen Unbekannt«. Der Volksschauspieler verdächtigte ein Mitglied der Familie (das, da es nie zu einem Schuldspruch kam, namentlich nicht genannt werden kann – es war aber kein »prominenter Hörbiger«). Ein Prozess folgte dem anderen und verschlang das Vermögen, das Paul Hörbiger sich in Jahrzehnten als Filmstar erarbeitet hatte.

Nach mehr als zehnjähriger Prozessdauer wurde das Verfahren mangels an Beweisen eingestellt. Die genauen Umstände des mysteriösen Todes von Alfred Hörbiger werden wohl für alle Zeiten ein Rätsel bleiben.