Notärztin Andrea Bergen 1420 - Marina Anders - E-Book

Notärztin Andrea Bergen 1420 E-Book

Marina Anders

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Beschreibung

Aufgeregt lenkt die junge Nora ihren Rollstuhl durch den herbstlichen Rheinpark dem Elisabeth-Krankenhaus zu. Gleich hat sie den wichtigsten Termin ihres Lebens - eine Untersuchung, die über ihr ganzes Lebensglück entscheiden kann: Nach dreiundzwanzig Jahren im Rollstuhl wird sie endlich erfahren, ob eine Operation sie zum Laufen bringen kann!
Plötzlich hört Nora laute Stimmen und sieht eine Horde Jugendlicher auf Skateboards in hohem Tempo näher kommen! Sehen sie sie denn nicht? Sie halten in einer geschlossenen Reihe geradewegs auf sie zu!
Panisch versucht Nora, den Rollstuhl zur Seite zu bugsieren - und reißt zu heftig an den Rädern. Der Rollstuhl kippt, und Nora stürzt die Böschung hinab direkt in den Rhein! Ihren panischen Schrei verschluckt das kalte Wasser ...
Niemand beobachtet Noras dramatischen Unfall und ihren verzweifelten Kampf ums Überleben - nur einer: Golden Retriever Jamie, der Retter auf vier Pfoten ...


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Seitenzahl: 136

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Inhalt

Cover

Impressum

Vier Pfoten vor der Notaufnahme

Vorschau

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Monkey Business Images / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0699-5

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Vier Pfoten vor der Notaufnahme

Irgendwie kommt mir der Golden Retriever bekannt vor, der seit Tagen immer wieder vor den Außentüren der Notaufnahme wacht. Ist es Jamie, der Hund meiner verstorbenen Patientin Petra Tietze?

Ich weiß es nicht, denn wenn ich versuche, mich ihm zu nähern, läuft er weg. Doch als ich eben wieder nach ihm sah, hat er sich sehr seltsam benommen: Laut bellend ist er um mich herumgesprungen und dann ein paar Schritte vorausgerannt, so, als wollte er mir etwas zeigen. Zuletzt hat er sogar versucht, mich an den Schößen meines Kittels mit in den Rheinpark zu ziehen! Ich bin fast sicher, da ist etwas passiert!

Nachdem ich einen Kollegen gebeten habe, mich in der Notaufnahme zu vertreten, folge ich dem Retriever. Denn wenn es Jamie ist, ist allerhöchste Eile geboten! Er ist nämlich kein normaler Hund, sondern ein geschulter Assistenzhund, dessen größte Passion es ist, hilflose Menschen zu unterstützen und notfalls zu retten ...

Nora Rothbusch wünschte ihrer Kollegin ein schönes Wochenende und lenkte ihren Elektrorollstuhl zur Tür.

Der Fahrstuhl ließ nicht lange auf sich warten. Sie fuhr hinunter ins Erdgeschoss und verließ kurz darauf das Gebäude der Stadtverwaltung, wo sie in Teilzeit arbeitete.

Sie war froh, dass sie es vor ein paar Jahren durchgesetzt hatte, eine Ausbildung zur Verwaltungsassistentin zu machen. Es hatte sie einen ziemlichen Kampf mit ihrem Vater gekostet, der es für überflüssig gehalten hatte, dass sie einen Beruf erlernte. Sie hatte ihn, und sie hatte Ingrid. Was brauchte sie mehr?

Nach Ansicht ihres Vaters nichts. Doch Nora hatte das nicht genügt. Sie brauchte eine ganze Menge mehr. Auch eine gewisse Freiheit, die der Elektrorollstuhl ihr ermöglichte, war ihr wichtig. Doch ihr Vater und Ingrid, seine zweite Frau, würden sie am liebsten in Watte packen und ihr nur erlauben, mit ihrem Rollstuhl in der Nachbarschaft herumzufahren und kein Stück weiter.

Nora überquerte den Marktplatz, passierte die Rheinbrücke und hatte kurz darauf die Busstation erreicht, von der aus sie auf direktem Weg nach Hause gelangen konnte.

Es war zwar ein langer Weg, doch das machte ihr nichts aus. Bei schönem Wetter fuhr sie oft nur die halbe Strecke und legte den restlichen Weg mit ihrem Rollstuhl zurück. Dabei kam sie an hübschen Boutiquen, einladenden Bistros und kleinen Anlagen vorbei.

Ihr Vater schimpfte jedes Mal, wenn sie sich so viel Zeit ließ, doch mittlerweile prallte alles an ihr ab. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren brauchte Nora sich nichts mehr sagen zu lassen.

Ihr Vater dagegen war da anderer Meinung. Er glaubte, sie wegen ihrer Behinderung auch weiterhin wie ein kleines Kind behandeln zu müssen.

Nora blickte aus dem Busfenster. Eine fahle Wintersonne schob sich hinter den Wolken hervor. Sie fand es erstaunlich, welche Kraft sie schon hatte, vor allem hinter der Glasscheibe. Mit einem wohligen Gefühl schloss sie die Augen und genoss die Wärme auf ihrem Körper.

Eine Stimme im Lautsprecher kündete die nächste Haltestelle an. Spontan beschloss Nora auszusteigen. Sie wollte noch ein wenig in der Sonne sein, bevor die grauen Wolken, die sich von Westen her näherten, sie wieder verschluckten.

Nora genoss die restliche Fahrt im Elektrorollstuhl. Als sie in ihre Straße einbog, war die Sonne verschwunden. Sie ließ ihre Blicke über den grauen Himmel schweifen und krauste die Stirn. Gleich würde es regnen.

Dieser Meinung war auch Ingrid, die sie an der Haustür empfing. Sie war eine stille, zierliche Frau mit einem dunkelblonden Pagenkopf.

»Kind, wo warst du wieder so lange?« Vorwurfsvolle Blicke trafen Nora. »Gleich wird es regnen.«

»Deshalb wollte ich das schöne Wetter noch ausnutzen«, erklärte Nora fröhlich. »Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken.«

Ingrid seufzte, als sie Nora aus dem Elektrorollstuhl in den einfachen Rollstuhl half, den sie im Haus benutzte.

»Dein Vater hat vorhin angerufen, dass er heute später nach Hause kommt. Natürlich habe ich ihm sagen müssen, dass du noch nicht von der Arbeit heimgekommen bist. Er war ziemlich besorgt deswegen, um nicht zu sagen: verärgert.«

Nora verdrehte die Augen. »Wir wissen doch, wie er ist. Aber du bist nicht viel besser, auch wenn du es genauso gut meinst wie er. Warum könnt ihr mir nicht die Freiheit lassen, die ich brauche, statt jedes Mal zu meckern? Ehrlich, Ingrid, irgendwann werdet ihr mich noch vergraulen. Wollt ihr das?«

Ingrid seufzte wieder. »Natürlich nicht. Dein Vater würde dich auch niemals gehen lassen.«

Nora schüttelte frustriert den Kopf. »Eines Tages wird euch gar nichts anderes übrig bleiben. Ich habe fest vor, irgendwann mein eigenes Leben zu leben. Heutzutage ist es kein großes Problem mehr, eine rollstuhlgerechte Wohnung zu finden.«

»Ich verstehe dich ja, Nora. Es wird trotzdem schwieriger werden, als du dir das jetzt vorstellst. Hier zu Hause hast du alles, was du brauchst. Dein Vater und ich lieben dich, das weißt du. Dich zu verlieren würde ihm das Herz brechen. Er würde krank vor Sorge werden. Das kannst du doch nicht wollen.«

Nora holte tief Luft. Das waren nicht die Worte, die sie hören wollte. Doch was sie wirklich hören wollte, würden weder ihr Vater noch Ingrid jemals aussprechen. Nämlich, dass es ihr guttun würde, ein selbstständiges Leben zu führen, vielleicht sogar einen lieben Partner zu finden. Auf eine derartige Unterstützung brauchte sie aber nicht zu hoffen.

»Reden wir nicht mehr davon«, sagte sie resigniert. »Was gibt es zum Abendessen?«

»Hühnerfrikassee mit Spätzle und Salat«, antwortete Ingrid. »Wenn du Lust hast, kannst du mir bei der Zubereitung helfen.«

»Gern«, erwiderte Nora.

Wenigstens etwas, das man ihr zutraute!

***

»Ich möchte mitkommen«, bat Franzi, die zwölfjährige Adoptivtochter der Arztfamilie Bergen, als sie hörte, dass ihre Mutter mit Dolly am nächsten Tag zur Tierärztin fahren wollte.

»Da hast du doch Schule, Mäuschen«, wandte Hilde Bergen, ihre Oma, ein.

»Nein, der Termin ist auf den Spätnachmittag verschoben worden«, erklärte Andrea Bergen. Und an Franzi gewandt, fügte sie hinzu: »Du kannst gern mitkommen, Schatz. Ich habe morgen Frühdienst und werde gegen halb drei zu Hause sein.«

»Super«, freute sich Franzi. »Bei Dr. Kayser ist es immer so interessant mit den vielen Tieren, die sie zu verarzten hat. Stimmt's, Dolly?«

Diesmal schien die tollpatschige junge Hündin nicht einer Meinung mit ihrem kleinen Frauchen zu sein. Tiefe skeptische Falten erschienen auf ihrer Hundestirn.

Andrea lachte. »Sie denkt sicher gerade an den unfreundlichen Hund, dem wir letztes Mal in Dr. Kaysers Praxis begegnet sind. Dolly wollte mit ihm anbandeln, und er hätte ihr beinahe ein Ohr abgebissen.«

Franzi kicherte. »Oh ja, das war dramatisch! Wenn ich mitkomme, können wir sie zu zweit vor solchen miesen Hundetypen beschützen.«

»Abgemacht.« Andrea lauschte nach draußen, wo Motorengeräusch zu hören war. Im selben Moment bellte Dolly auf und rannte zur Haustür.

»Papa kommt!«, rief Franzi.

Wenig später erschien der Herr des Hauses im Wohnzimmer, gefolgt von Dolly. Dr. Werner Bergen war gerade von seinen Hausbesuchen zurückgekehrt. Er war Kinderarzt und betrieb im Anbau der Villa eine gut gehende Arztpraxis. Außerdem war er Belegarzt auf der Kinderstation des Elisabeth-Krankenhauses, wo seine Frau Andrea als Notärztin tätig war.

»Alles in Ordnung, Werner?«, fragte Hilde Bergen ihren Sohn.

»Alles in Ordnung«, bestätigte Werner. »Alle meine kleinen Sorgenkinder sind auf dem Weg zur Besserung.«

»Wie schön.« Andrea lächelte ihren Mann liebevoll an. Solche guten Nachrichten waren selten, denn meistens gab es ein spezielles Sorgenkind, das ihm Kummer machte.

Bei ihr war das nicht anders mit den Notfallpatienten, die sie den Tag über mit dem Rettungswagen einlieferte. Einem davon ging es meistens schlecht, und sie musste damit rechnen, dass er am nächsten Tag nicht mehr am Leben war, auch wenn sie bei der Erstversorgung alles für ihn getan hatte.

Man plauderte noch kurz, dann wurde Franzi daran erinnert, dass es Zeit fürs Bett war. Natürlich wollte sie wie immer noch ein wenig länger aufbleiben, doch in dieser Beziehung war ihre Familie streng. Am nächsten Morgen war Schule, und länger aufbleiben durfte sie nur am Wochenende.

Mit einem ergebenen Seufzer wünschte Franzi ihren Lieben eine gute Nacht.

»Komm, Dolly«, lockte sie. Die Hündin musste sich dazu nicht zweimal auffordern lassen. Erwartungsvoll flitzte sie hinter Franzi aus der Tür.

Wenig später wünschte auch Hilde eine gute Nacht. Sie wollte sich noch einen ihrer geliebten Krimis ansehen.

»Gute Nacht«, erwiderten Andrea und Werner wie aus einem Mund.

Werner ging zum Barschrank. »Da ist noch Wein übrig«, meinte er und schwenkte eine Weinflasche. »Der wird bestimmt schlecht bis morgen. Das wäre doch Verschwendung, oder?«

Sein jungenhaftes Grinsen brachte Andrea zum Lachen.

»Dann sollten wir ihn unbedingt noch trinken, bevor ihn ein solches Schicksal ereilt«, stimmte sie zu und holte zwei Gläser.

***

Nora hatte beschlossen, sich an diesem Wochenende die neue Ausstellung in der Volkshochschule anzusehen. Junge Künstler, die dort an Mal- und Zeichenkursen teilgenommen hatten, würden in den nächsten Wochen ihre Werke zeigen.

Sie interessierte sich sehr für Kunst. Nora zeichnete selbst und träumte davon, ihre Zeichnungen einmal ausstellen zu dürfen. Doch dazu musste sie noch besser werden.

Nun nahm sie ihre Tasche und fuhr mit ihrem Rollstuhl hinaus auf den Flur. Drüben im Wohnzimmer konnte sie ihren Vater und Ingrid plaudern hören. Martins sonore Stimme hallte laut durch den Bungalow, während Ingrids sanfte Worte kaum zu verstehen waren.

Nora musste lächeln. Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, in ihrem Wesen sowie in ihrem Äußeren.

Ihr Vater war ein wahrer Hüne, der sein weiches Herz hinter einer rauen Fassade verbarg. Ingrid, schüchtern und zierlich, reichte ihm gerade bis zur Schulter. Sie war ebenso überbesorgt wie er und wagte es nicht, ihm zu widersprechen.

Nora hatte das immer ein wenig gestört. Sie hätte sich gewünscht, dass Ingrid sie mehr unterstützt und sich gegen ihren Vater besser durchgesetzt hätte. Nora wusste, dass sie ihr gern mehr erlaubt hätte, jedoch zu große Angst vor dem Zorn ihres Mannes hatte.

Martin befahl, und Ingrid hatte ebenso zu gehorchen wie seine Tochter. Nora wusste aber auch, dass dies seiner ständigen Angst und Sorge entsprang, eine von ihnen – oder sogar beide – zu verlieren.

Ein trauriger Ausdruck zog über Noras hübsches Gesicht. Dass sie durch einen Geburtsfehler mit gelähmten Beinen zur Welt gekommen war, war nur einer der Schicksalsschläge gewesen, der ihre Familie getroffen hatte.

Neun Jahre später hatte das Schicksal ihr die Mutter genommen. Es hätte eine einfache Bandscheibenoperation werden sollen, die keinen allzu langen Krankenhausaufenthalt erforderte.

Nora und ihr Vater hatten sich darauf gefreut, dass sich ihre Mutter in Zukunft ohne Schmerzen würde bewegen können. Leider hatte sie diese Erfahrung nicht mehr machen dürfen. Sie war noch während des Eingriffes auf dem Operationstisch gestorben.

Nora kamen unwillkürlich die Tränen. Es war eine schlimme Zeit gewesen. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie einsam und verlassen sie sich gefühlt hatte.

Ihr Vater war in seinem Schmerz kaum ansprechbar gewesen. Die Großeltern hatten zwar versucht zu helfen, wo sie nur konnten, doch sie waren selbst beide berufstätig gewesen und konnten nicht viel Zeit opfern. Auch hatten sie ihre eigene Trauer über den Tod der einzigen Tochter bewältigen müssen.

So war es dann auch gekommen, dass ihr Vater bald wieder geheiratet hatte, damit Nora eine Mutter hatte.

Anfangs hatte sie sich wie eine Auster gegen die neue Frau im Haus verschlossen. Doch in ihrer unendlichen Geduld war es Ingrid gelungen, Noras Herz nach und nach für sich zu gewinnen.

Nora schreckte zusammen, als plötzlich die Wohnzimmertür vor ihrer Nase geöffnet wurde.

»Was treibst du da?«, verlangte ihr Vater zu wissen. Offenbar war er genauso erschrocken wie sie. »Uns belauschen?«

»Aber nein.« Nora wischte ihre Tränen weg und lächelte.

»Was denn – heulst du?« Stirnrunzelnd blickte ihr Vater sie an.

»Ich musste nur gerade an Mama denken«, murmelte Nora.

Er drückte ihr kurz die Schulter und räusperte sich. »Wo willst du jetzt schon wieder hin?«, fuhr er sie dann an, als er sah, dass sie ihre Tasche auf dem Schoß hatte.

»In die Stadt«, erwiderte Nora. Sie nahm ihrem Vater den Ton nicht übel. Damit wollte er nur seine eigenen Gefühlsregungen überspielen.

»Schon wieder?«, grollte er. »Das wird ein wenig viel in letzter Zeit, findest du nicht auch? Ich würde vorschlagen ...«

»Papa, ich sagte dir doch, dass ich mir die Ausstellung in der Volkshochschule ansehen möchte«, unterbrach Nora ihn mit fester Stimme. »Würdest du mir bitte in meinen Elektrorollstuhl helfen?«

Ärger zog über das Gesicht ihres Vaters. Mit seinen welligen dunklen Haaren, in denen sich erst seit Kurzem die ersten silbernen Fäden zeigten, sah er noch immer gut aus.

»Die Karre hätte ich längst wieder verschwinden lassen sollen«, knurrte er. »War ein Fehler, dir das Ding zu erlauben. Habe nur Stress, wenn du damit unterwegs bist.«

Selbst schuld, wenn du dir ständig grundlos Sorgen machst, wollte Nora zurückgeben, doch in diesem Augenblick kam Ingrid aus dem Wohnzimmer.

»Ingrid, hilf mir bitte in meinen Elektrorollstuhl«, bat sie. »Ich fahre jetzt zur Kunstausstellung.«

»Richtig.« Während Martin sich grummelnd entfernte, half Ingrid ihrer Stieftochter erst in die gefütterte Jacke und dann in den Rollstuhl.

»Danke.« Nora schenkte ihr ein Lächeln. »Bis später.«

»Viel Spaß, Nora. Und pass auf dich auf, ja?«

»Keine Sorge. Ich passe immer auf mich auf.« Nora winkte kurz und fuhr dann durch die Haustür, die Ingrid ihr aufhielt, hinaus auf die Rampe.

***

Geschickt fuhr sie ihren Elektrorollstuhl aus dem Bus und lenkte ihn in Richtung des großen modernen Gebäudes, in dem die Volkshochschule mit ihren verschiedenen Galerien und Schulungsräumen untergebracht war. In der Eingangshalle informierte sie sich über die verschiedenen Ausstellungen, die zurzeit stattfanden und begann dann mit ihrem Rundgang.

Als Erstes sah sie sich die neue Ausstellung junger Künstler an. Die unterschiedlichsten Maltechniken waren dort zu sehen, aber auch Zeichnungen, Collagen und digitale Kunst.

Ein Porträt von Marilyn Monroe zog ihre Aufmerksamkeit an. Daneben hing das Bild einer orangefarbenen Straßenbahn zwischen bunten, schmalen Häusern.

Nora fuhr mit ihrem Rollstuhl näher heran. Die Bilder gefielen ihr alle ausnehmend gut, auch die Oldtimer im Pop-Art-Stil.

Nostalgie der Fünfzigerjahre, war der Titel der Serie. Der Künstler hieß Mario Becker, und die Preise für seine Arbeiten waren durchaus angemessen.

Langsam fuhr Nora von Bild zu Bild. Sehr gelungen fand sie auch eine attraktive Frau auf einem Motorrad. Sie hatte kurz geschorene weißblonde Haare, einen leuchtend rot geschminkten Mund und trug eine hautenge schwarze Lederkluft.

Hinter sich vernahm Nora Stimmen. Als sie sich umdrehte, wurden ihre Augen groß. Ein paar Schritte entfernt stand genau jene Frau, die sie gerade auf dem Motorrad bewundert hatte. Sie trug sogar die schwarze Lederkleidung.

»Oh«, entfuhr es Nora.

Neben der Frau stand ein junger Mann mit schulterlangen braunen Locken und einem Kinnbart. Er lächelte Nora so nett an, dass ihr ganz warm ums Herz wurde.

»Sind Sie der Künstler?«, fragte sie ihn.

Er neigte kurz den Kopf. »Der bin ich. Mario Becker in Persona. Gefallen Ihnen meine Bilder?«

Nora erwiderte sein Lächeln. »Sehr sogar.« Ihr Blick wanderte von der Frau auf dem Motorrad zu der Frau an seiner Seite. Im Original sah sie nicht ganz so attraktiv aus, was an dem gelangweilten, leicht missmutigen Ausdruck auf ihrem Gesicht liegen mochte.

Jetzt zog sie ihren Begleiter am Arm. »Komm, Mario, wir wollten doch einen Kaffee trinken gehen«, sagte sie ungeduldig.

»Ja, okay«, stimmte er zu und ließ sich von ihr weiterziehen, jedoch nicht ohne Nora noch kurz zuzuwinken.

Auch Nora hob die Hand. Doch das sah er schon nicht mehr. Er drehte sich auch nicht mehr nach ihr um, sondern verschwand mit seiner Begleiterin um die Ecke.

Schade, dachte Nora bei sich. Sie hätte sich gern mit ihm über seine Bilder unterhalten.

Sie ließ sich Zeit und sah sich seine restlichen Arbeiten an. Auch seine Graphitzeichnungen gefielen ihr ausnehmend gut.

Verstohlen sah sich Nora um, ob er nicht doch noch einmal auftauchte. Sie musste zugeben, dass dieser Mario Becker Eindruck auf sie gemacht hatte. Nicht nur mit seiner Persönlichkeit und seinem Lächeln, natürlich auch mit seiner Kunst. Seine Bilder drückten viel über seinen Charakter aus.

Er schien Tiere zu lieben, vor allem Katzen. Unter seinen Graphitzeichnungen befanden sich etliche Katzenbilder, die sehr professionell und lebendig wirkten. Eine der Katzen erinnerte Nora an ihre eigene, die vor zwei Jahren gestorben war.