Nur das Universum zwischen uns - Jona Dreyer - E-Book

Nur das Universum zwischen uns E-Book

Jona Dreyer

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Beschreibung

»Du ziehst mich an wie die Gravitation das Licht.« Das Leben des siebzehnjährigen Elliot Keeney ist kein Zuckerschlecken: Von seinen Mitschülern und seinem jähzornigen Stiefvater unterdrückt und gemobbt, muss er sich auch noch um seine schwer depressive Mutter kümmern.Sein einziger Trost sind die Sterne und ferne Galaxien, denn die Astrophysik ist seine eine, große Leidenschaft – bis der liebevolle Polizist Sean in sein Leben tritt und eine Freundschaft zu ihm aufbaut, aus der sich tiefe Gefühle entwickeln. Doch Sean ist mit einer Frau verheiratet, Familienvater und zwanzig Jahre älter als Elliot. Ihre Beziehung scheint unter keinem guten Stern zu stehen.Hat ihre ungewöhnliche Liebe trotz aller Widrigkeiten eine Chance? Oder wird der Meteoritenhagel, den sie nach sich zieht, sie zerstören?

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Nur das Universum zwischen uns

Gay Romance

© Urheberrecht 2020 Jona Dreyer

 

Impressum:

Tschök & Tschök GbR

Alexander-Lincke-Straße 2c

08412 Werdau

 

Text: Jona Dreyer

Coverdesign: Jona Dreyer

Coverbild: depositphotos.com

Lektorat/Korrektorat:   Kelly Krause, Kristina Arnold, Sandra Schmitt & Shannon O’Neall

 

Kurzbeschreibung:

Das Leben des jungen Elliot Keeney ist kein Zuckerschlecken: Von seinen Mitschülern und seinem jähzornigen Stiefvater unterdrückt und gemobbt, muss er sich auch noch um seine schwer depressive Mutter kümmern.

Sein einziger Trost sind die Sterne und ferne Galaxien, denn die Astrophysik ist seine eine, große Leidenschaft – bis der liebevolle Polizist Sean in sein Leben tritt und eine Freundschaft zu ihm aufbaut, aus der sich tiefe Gefühle entwickeln. Doch Sean ist mit einer Frau verheiratet, Familienvater und zwanzig Jahre älter als Elliot. Ihre Beziehung scheint unter keinem guten Stern zu stehen.

Hat ihre ungewöhnliche Liebe trotz aller Widrigkeiten eine Chance? Oder wird der Meteoritenhagel, den sie nach sich zieht, sie zerstören?

Über die Autorin

»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«

Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.

Vorwort

Schon lange wollte ich mich einem kontroversen Paar widmen – große Altersunterschiede sind in meinen Geschichten ja per se nichts Neues, hier jedoch habe ich den Schritt gewagt, in dem tatsächlich eine Art Gefälle besteht – oder bestehen könnte –, weil einer der beiden noch sehr jung ist. Kann man sich in dieser Konstellation trotzdem auf Augenhöhe begegnen? Das ist eine zentrale Frage dieses Romans und die Antwort ist für mich persönlich klarer und vor allem deutlich weniger mit negativen Vorurteilen behaftet, als man sie allgemein so hört.

Apropos jung: Ein Siebzehnjähriger, auch wenn er in vielen Aspekten seines Lebens schon früh erwachsen werden musste, darf und sollte sich dann und wann tatsächlich wie ein normaler Teenager benehmen. Seht es ihm nach, denn alles andere wäre äußerst ungesund. Oft lese ich bei sehr jungen Romanfiguren die Kritik, dass diese sich »kindisch« benähmen, und denke dann oft daran, dass wohl keiner von uns in diesem Alter ein weiser Zen-Meister war und man einen Menschen um die zwanzig nicht durch die Brille eines oder einer Vierzigjährigen betrachten sollte.

Natürlich habe ich auch wieder tief in die Klischeekiste gegriffen - wer mich kennt, weiß inzwischen, wie gern ich das tue. Entweder, um Dinge absichtlich zu überzeichnen, oder aber, um genau diese Klischees ad absurdum zu führen und über Bord zu werfen.

Und auch hier gilt wieder: Zu Ende ist es erst mit Ende des Epilogs. Also zieht nicht voreilig falsche Schlüsse.

Lasst euch auf diese ungewöhnliche Liebesgeschichte ein. Ich wünsche euch viel Spaß bei der Lektüre!

Kapitel 1

Pembroke Pines, Florida, September 2015

Schrill läutete die Pausenklingel zum Unterrichtsende. Für die meisten Schüler glich es einer Erlösung, für Elliot hingegen war es das Startsignal seines alltäglichen Albtraums.

Eigentlich wäre er gern noch ein wenig geblieben und hätte dem Lehrer ein paar Fragen zum heutigen Unterrichtsstoff gestellt, aber stattdessen beeilte er sich, seine Sachen zu packen, damit er möglichst vor allen anderen das Klassenzimmer verlassen konnte.

»Elliot. Warte kurz.« Mr. Prentice, sein Physiklehrer, trat zu ihm heran.

Mist. Hoffentlich hält er mich jetzt wenigstens so lange auf, dass die anderen keine Lust haben, auf mich zu warten.

Die anderen – das waren seine Mitschüler. Seine Mitschüler, die ihn behandelten wie–

»Ich habe von einem Wettbewerb für junge Forscher erfahren, der Hauptpreis ist eine Exkursion nach Cape Canaveral. Zeit ist bis März. Wäre das nichts für dich?«

»Ähm ... ja. Sicher. Wenn ich dazu komme.«

»Prima.« Mr. Prentice, ein ältlicher Mann mit Schnurrbart und Halbglatze, blinzelte ihn freundlich an und überreichte ihm den Flyer.

»Vielen Dank.« Sicher wäre es klüger, Mr. Prentice jetzt in ein Gespräch zu verwickeln, um Zeit zu schinden, aber ausgerechnet jetzt hatte er einen Blackout und vergaß sämtliche Fragen, also stand er nur da, stumm wie ein Fisch.

»Na dann.« Mr. Prentice klopfte ihm kurz auf die Schulter, nahm seinen Aktenkoffer und verließ das Klassenzimmer.

Vielleicht kann ich einfach hier stehen bleiben und abwarten.

Elliot nahm den Flyer zur Hand und schaute ihn sich an. Die Aufgabe war weit gefasst und bot dadurch einen gewissen Spielraum: Man sollte ein Modell, ein Experiment oder eine Installation eines Themas nach Wahl aus dem Bereich der Astrophysik erstellen. Er überlegte, was er dafür machen könnte. Vielleicht eine irgendwie geartete Simulation eines sterbenden Sterns? Das war ein Thema, das ihn faszinierte, seit er sich mit Astrophysik beschäftigte, und das tat er schon ziemlich lange.

Jemand betrat das Zimmer, zwei schwatzende Mädchen, die verstummten und ihm irritierte Blicke zuwarfen, als sie ihn entdeckten.

Ach ja. Hier findet ja gleich der Spanischkurs statt. Verdammt.

Ihm blieb also keine Wahl. Schnell zum Schließfach laufen, die Bücher, die er für seine Hausaufgaben brauchte, einpacken und dann zur Bushaltestelle eilen. Vielleicht hatte er Glück und schon genug Zeit vertrödelt – oder war immer noch schnell genug, um zu entkommen. Aber als er an seinen Spind kam, warteten seine Peiniger schon auf ihn. Kevin Gutierrez und seine Clique. Ein Kribbeln fuhr bis in seine Fußsohlen, das ihn zur Flucht antreiben wollte, aber er zwang sich, langsam zu gehen.

»Na, Sheldon Cooper? Dachtest du, du kannst dich vor uns verstecken, oder was?«

Elliot blieb stehen. Er war zwar nicht klein, aber er war schmächtig und unsportlich. Seinen Angreifern körperlich vollkommen unterlegen. »Warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe?«, fragte er. Er hatte selbstbewusst klingen wollen, aber seine Stimme war nur ein peinliches Krächzen.

»Warum sollten wir? Ist viel zu lustig, dich zu ärgern.« Kevin versetzte ihm einen Stoß, der ihn rückwärts taumeln und beinahe über seine eigenen Füße stolpern ließ. Das Lachen der anderen gellte in seinem Kopf.

»Zum Stehenbleiben, ohne auf die Fresse zu fallen, reicht’s mit der Physik dann wohl doch nicht«, bemerkte Josh Cardona, ein weiteres Arschloch aus dieser Truppe. »Kannst nur schlau labern und sonst nichts.«

Und du kannst nur Football spielen, bist aber zu dumm, um aus dem Bus zu winken.

Was sie sagten, tat nicht einmal mehr weh. Dazu war Elliot inzwischen zu abgestumpft. Es nervte nur noch.

»Rück deine Kohle raus, Sheldon«, forderte Kevin.

»Ich heiße nicht Sheldon.«

»Ist mir doch scheißegal, wie du heißt. Kohle raus.«

»Ich hab nichts mit.«

»Verarsch mich nicht!« Kevin packte ihn beim Kragen und stieß ihn gegen seine Spindtür. »Ich sagte, Kohle raus.«

Hilfesuchend sah sich Elliot um, aber wie üblich war niemand in Sichtweite, der sich irgendwie für seine Not interessierte. »Ich hab fast nichts mehr. Es ist mein letztes Taschengeld und–«

»Du hast also doch was! Ich hab doch gesagt, verarsch mich nicht!« Kevin packte Elliot am Schopf und stieß seinen Hinterkopf gegen die Tür.

Ein dumpfer Schmerz durchfuhr Elliots Schädel und ihm wurde ein wenig schwindelig. »Bitte, ich brauch die paar Dollar. Du hast doch genug.«

»Wann ich genug habe, entscheide ich selbst. Raus mit der Kohle, du dämlicher Nerd.«

Kevin ließ ihn los, aber seine Miene blieb lauernd. Elliot hatte keine andere Wahl. Er nahm seinen Rucksack ab, holte sein Portemonnaie heraus. Es waren die letzten fünf Dollar, die er für diesen Monat von seiner Mom bekommen hatte, aber er hatte sie nicht zu Hause lassen können, weil er sie für ein Busticket nach Sunrise brauchte. Und es war gerade mal knapp die Hälfte des Monats um. Er sparte so viel Geld wie möglich, um, so oft wie es nur ging, nach Sunrise ins Fox Observatory zu fahren. Das konnte er sich wieder einmal abschminken. Genau wie das Vorhaben, Geld für ein halbwegs gutes Teleskop zu sparen.

»Ist alles in Ordnung hier?«

Sie schreckten auf. Eine Lehrerin stand auf dem Gang und musterte sie alle prüfend.

Sag es. Sag, dass sie dich piesacken und dir dein letztes Geld abpressen.

»Alles gut«, erklärte Elliot und hasste sich selbst dafür. Warum war er so? Warum konnte er nicht einfach die Wahrheit sagen? Er hatte wohl zu oft gehört, dass Leute, die Mitschüler verpetzten, das Allerletzte waren. Er war schon unter den Letzten, wollte aber nicht noch weiter hinabrutschen. Es war so schon schwer genug.

»Ja, Mrs. Forsythe, Elliot erklärt uns gerade die Physik-Hausaufgaben.«

Ihrem Blick zufolge schien Mrs. Forsythe dem Frieden nicht ganz zu trauen, aber letztendlich gab sie sich damit doch zufrieden und ging weiter. Mit einem traurigen Seufzen überreichte Elliot Kevin seine fünf Dollar.

»Braves Hundchen.« Der Hohlkopf grinste und drosch Elliot auf die Schulter, bevor er sich mit seiner gesamten Entourage entfernte.

Einsam blieb Elliot im Gang stehen. Alle anderen waren schon nach Hause gegangen oder besuchten noch Kurse, nur er stand noch hier und kämpfte wie ein kleines Kind gegen die Tränen. Warum war ihm nirgends Ruhe vergönnt, außer im Unterricht? In den Pausen verkroch er sich möglichst in irgendeine Ecke, um nicht aufzufallen, und zu Hause tat er im Prinzip das Gleiche.

Seufzend schulterte er seinen Rucksack und verließ das Schulgebäude. Wenigstens hatte Russell angekündigt, bis zum Abend weg zu sein, sodass Elliot bis zum Abendessen wenigstens vor dem seine Ruhe hätte.

»Hey, Sheldon!«, rief jemand hinter ihm, als er gerade das Schulgelände verließ. »Warte mal!« Eine Mädchenstimme.

Elliot drehte sich um und sah sich Ashley Loughlin gegenüber. Sie gehörte zu Kevin Gutierrez’ Clique und hatte vorhin mit dabeigestanden, als der ihn um sein letztes bisschen Geld erleichtert hatte. Hörte das denn nie auf? »Was willst du?«, fragte er.

Nervös sah sie sich um, kam zu ihm heran, zog ihn in den Schatten eines Baumes und senkte ihre Stimme. »Ich brauch deine Hilfe.«

Misstrauisch runzelte Elliot die Stirn. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? »Warum solltest du meine Hilfe brauchen?«

Sie warf ihr goldblondes, langes Haar über die Schulter und musterte ihn abfällig. Kaugummikauend. »Ich brauch Nachhilfe in Physik.«

»Konnte ich mir denken.«

Sie zog ihre dick nachgezeichneten Brauen zusammen. »Hör zu, Blödmann. Meine Noten sind beschissen, mein Abschluss ist in Gefahr und meine Eltern sind total angepisst und machen mir Druck. Ich brauch also jemanden, der mir diesen Scheiß erklärt.«

»Und warum sollte gerade ich dir helfen?«

»Na weil du gut in dem Bullshit bist!«

Elliot verdrehte innerlich die Augen. »Nein, ich meine: Warum sollte ich das für dich tun, nachdem ihr mich nur ärgert und mir mein ganzes Geld wegnehmt?«

»Ich kann mit Kev und den Jungs reden«, verkündete sie und verschränkte die Arme. »Kev steht auf eine meiner besten Freundinnen und ich kann ihm Hoffnungen machen, sie mit ihm zu verkuppeln, wenn er mir ’nen Gefallen tut. Du gibst mir Nachhilfe und hältst darüber deine Fresse, sie lassen dich in Ruhe. Meine Eltern geben dir sogar Kohle dafür. Deal?«

»Du denkst, Kevin, Josh und die anderen hören auf dich?«

»Sie fressen mir aus der Hand, du Freak. Also, was ist jetzt?«

Elliot überlegte. Normalerweise sollte er diese Bitte rundheraus ausschlagen, um sich einen Rest an Stolz zu bewahren. Andererseits war die Aussicht, dass Ashley die anderen dazu bringen könnte, ihn für den Rest des Schuljahres in Ruhe zu lassen, verlockend. Danach würde er sowieso aufs College gehen, möglichst weit fort von hier. Vielleicht war das seine Chance auf etwas Ruhe. Und auf etwas Geld, um ab und zu zum Planetarium zu fahren. »Na gut«, sagte er schließlich. Vielleicht würde Ashley ihn sogar mögen und die anderen davon überzeugen, dass nicht jeder, der sich für Naturwissenschaften interessierte, ein uncooler Langweiler war. Obwohl er vermutlich genau das war.

»Dann komm morgen Abend so gegen fünf bei mir vorbei«, bat sie, verriet ihm ihre Adresse, erfragte seine E-Mail und machte sich, nachdem sie sich noch einmal versichert hatte, dass niemand sie beobachtete, grußlos davon.

Erneut blieb Elliot wie vom Donner gerührt stehen. Was sollte er von dieser Anfrage halten? War sie wirklich ernst gemeint? Er konnte sich nicht helfen, aber die unterschwellige Angst, dass es sich hierbei um eine Falle handeln könnte, ließ sich nicht abschütteln. Vielleicht lockten sie ihn in Ashleys Haus, ihre Eltern waren nicht da und ...

Ein Schütteln durchfuhr Elliots Körper und er setzte sich endlich in Bewegung. Sicher sein konnte er nicht, so viel war klar. Ashley besuchte nicht denselben Physikkurs wie er, denn er besuchte den AP Course für besonders Begabte, aber dass sie schlechte Noten hatte, konnte er sich gut vorstellen. Anstatt zu lernen, hing sie vermutlich lieber mit ihrer Clique ab und verdrehte Jungs den Kopf. Elliot mochte sie nicht. Im Grunde gab es hier fast niemanden, den er mochte, bis auf einige Lehrer und den Hausmeister. Sein bester und einziger Freund DeAndre war vor drei Jahren in einen anderen Bundesstaat gezogen und seither lebte Elliot nur noch für den Tag, an dem er endlich aufs College gehen konnte.

Manchmal wünschte er sich aber auch, die Zeit zurückdrehen zu können. Dahin, wo das Leben noch schön und alles irgendwie einfacher gewesen war. Aber das war ein dummer Wunsch. Und nach den bisherigen Erkenntnissen der Physik war er sogar unmöglich.

Kapitel 2

Elliot war verunsichert, als er den gepflegten, mit Palmen und Sträuchern bewachsenen Vorgarten des hübschen, weiß gestrichenen Hauses betrat. Am liebsten wäre er umgekehrt und davongelaufen, aber dann entdeckte er, dass in der Garage Licht brannte und jemand an seinem Auto werkelte. Das musste bedeuten, dass Ashleys Eltern zu Hause waren.

Er gab sich einen Ruck, ging zur Tür und klingelte. Das rief den Menschen in der Garage auf den Plan, denn der kam um die Ecke.

»Was willst du?«, fragte der Mann grußlos und Elliot traf ein missbilligender Blick unter tiefliegenden Brauen.

»Ich, äh ... guten Abend, Sir«, stammelte er und spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. »Ich wollte zu Ashley.«

Elliot hätte es nicht für möglich gehalten, aber der Blick wurde tatsächlich noch düsterer. »Um diese Zeit? Wir essen in eineinhalb Stunden und vorher muss Ashley noch ihre Hausaufgaben machen.«

»Ja ...« Er räusperte sich. »Ashley hat mich gebeten, ihr Nachhilfe in Physik zu geben. Sie sagte, ich soll jetzt kommen ...« Hatte sie ihn etwa nur herbestellt, damit ihr Vater ihn wieder vom Grundstück jagen konnte?

Doch plötzlich verzogen sich die Gewitterwolken über dem Kopf des Mannes und seine Miene hellte sich auf. Erstaunlich, wie freundlich er wirken konnte. »Ach so!«, rief er. »Du bist das. Entschuldige bitte. Ich dachte, du bist wieder einer von den Deppen, mit denen Ashley ihre Freizeit verbringt. Nichts für ungut.«

»Nein, Sir. Das bin ich bestimmt nicht.«

»Tut mir leid«, sagte der Mann noch einmal. »Ich bin Sean Ruiz, Ashleys Vater.« Er streckte ihm die Hand hin und Elliot ergriff sie nach einem kurzen Zögern. Sie war warm und trocken, der Griff fest. Aber warum hieß er Ruiz und nicht Loughlin?

»Elliot Keeney.«

»Na dann, komm mit rein.« Mr. Ruiz ging zur Tür und öffnete sie. »Ich hoffe, du hast die Geduld eines Engels.« Er zwinkerte Elliot zu und hielt ihm die Tür auf.

Elliot wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, aber er bekam eine leise Ahnung, wie der Nachhilfeunterricht mit Ashley sich gestalten würde.

Vielleicht wäre es ja doch die klügere Entscheidung gewesen, Kevin weiterhin mein Taschengeld zu geben.

»Ashley!«, rief Mr. Ruiz die Treppe hinauf, während sich Elliot in dem hellen, modernen Wohnzimmer umsah. »Dein Schulkamerad ist da. Wegen der Nachhilfe.«

»Der Nerd?«

»Wie bitte?«

Ashley erschien am oberen Treppenabsatz. »Ah, ja.«

»Hast du ihn gerade Nerd genannt?«, fragte ihr Vater stirnrunzelnd. »Ich will nicht, dass du so redest!«

»O mein Gott.« Sie verdrehte die Augen.

»Ist schon in Ordnung, Sir«, versicherte Elliot. Dass Ashley seinetwegen Ärger mit ihrem Vater bekam, konnte er nicht gebrauchen. »Ich bin ja durchaus ein Nerd.«

»Ich möchte trotzdem nicht, dass sie so redet.« Mr. Ruiz wandte sich wieder an Ashley. »Elliot opfert seine Freizeit, um dir zu helfen. Du wirst ihn mit Respekt behandeln. Verstanden?«

»Meine Güte, reg dich ab, Sean«, giftete Ashley. »Ich werd schon nett zu ihm sein. Komm hoch, Elliot.«

Er tat, wie ihm geheißen, aber als er die Tür hinter sich zuziehen wollte, wurde sie von außen festgehalten.

»Die Tür bleibt nur angelehnt«, erklärte Mr. Ruiz, der ihn offenbar unbemerkt gefolgt war, und gleich darauf verriet das Knarren der Treppenstufen, dass er zurück nach unten ging.

Als ob ich hier heimlich mit Ashley rummachen würde, wenn die Tür geschlossen ist!

Er konnte sich nichts Abwegigeres vorstellen und das lag nicht nur daran, dass sich Ashley nicht für ihn interessierte. Er interessierte sich auch nicht für Ashley. Er interessierte sich überhaupt nicht für Mädchen. Aber das wussten weder Ashley noch ihr Vater noch sonst irgendjemand auf der Welt außer ihm selbst. Jeder nahm einfach an, dass er nicht mit Mädchen ausging, weil er sich eben mehr für seine Hobbys interessierte. Zum Glück. Andernfalls wäre das vermutlich sein Todesurteil.

»Warum hast du ihn Sean genannt?«, entfuhr es Elliot.

Ashley verzog verständnislos das Gesicht. »Na, weil er so heißt.«

»Ja, aber ... warum nicht Dad?«

»Weil er nicht mein Dad ist, auch wenn er sich so aufführt. Er ist nur mein Stiefvater.«

»Oh. Da haben wir was gemeinsam. Ich hab auch einen Stiefvater.«

Sie runzelte die Stirn und kaute auf ihrem Kaugummi wie ein Schaf auf Weidegras. »Schön für dich.« Mit einem Wink gab sie ihm zu verstehen, sich auf den Stuhl an ihrem Schreibtisch zu setzen, während sie selbst sich auf dem Bettrand niederließ. »Du bist aber nicht nur hier, weil du denkst, du kannst mit mir ausgehen, oder?«

»Nein danke, kein Interesse.«

»Hey, was soll das denn heißen?«, fragte sie beleidigt.

»Nur, dass ich denke, dass wir nicht zusammenpassen würden. Das bedeutet nicht, dass du nicht hübsch bist oder so.«

»Aha?« Sie grinste selbstgefällig. »Du findest mich also doch hübsch?«

Er seufzte. So langsam bekam er eine Idee davon, was Sean mit der Geduld eines Engels gemeint hatte, und sie hatten noch nicht mal angefangen. »Rein objektiv betrachtet bist du hübsch, aber ich bin trotzdem nur hier, um dir in Physik zu helfen. Wollen wir anfangen?«

»Okay.«

»Gut.«

Er holte sein mitgebrachtes Physikbuch aus dem Rucksack und blätterte auf die markierte Seite. Ashley hatte ihm per Mail den aktuellen Stoff gesandt, der in ihrem Kurs gerade durchgenommen wurde. Aber Elliots Gedanken schweiften ab.

Sean. Der Erste, seit ich denken kann, der meine Ehre verteidigt hat.

Sean holte die Zutaten für das Abendessen aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Küchenarbeitsfläche. Chickenwings mit Pommes und Coleslaw sollte es geben. Heute war er mit Kochen dran, weil Lynette lange arbeiten musste und er schon seit dem Nachmittag Feierabend hatte.

Während er den Kohl kleinschnitt, entschied er, etwas mehr als sonst zu machen, denn wenn Ashley und Elliot mit ihrer Nachhilfestunde fertig waren, war es Zeit fürs Abendessen und der Junge hatte bestimmt Hunger. Er sah so blass und schmächtig aus, vielleicht hatte er Eltern mit diesen neumodischen Ansichten zur Ernährung, wo es nur Smoothies und Grünzeug gab. Oder er war ein Bücherwurm, der darüber vergaß, zu essen. Auf jeden Fall machte er einen netten Eindruck.

Trotzdem ging Sean alle paar Minuten hinüber ins Wohnzimmer und lauschte in Richtung Treppe. Er wusste selbst, dass er übertrieb, aber Ashley zog sonst nur allzu gern mit Jungs herum, die er nicht guthieß und die seiner Meinung nach eindeutige Absichten hatten, also ging er lieber auf Nummer sicher. Aber als sich die beiden auch beim vierten Mal Lauschen tatsächlich nur über die Brechung von Licht in einem Prisma unterhielten, beruhigte er sich und widmete sich voll und ganz seiner Aufgabe in der Küche.

Wenig später kam Lynette nach Hause. Sie wirkte abgespannt, als sie sich auf den Küchenstuhl plumpsen ließ.

»Was ist los, Schatz?«, erkundigte sich Sean. »Einen stressigen Tag gehabt?«

»Hör mir bloß auf«, murrte sie. »Stell dir vor, du musst als Sekretärin für zwei Chefs arbeiten, die sich nicht ausstehen können, aber in der gleichen Kanzlei arbeiten. Noch.«

»Sie streiten sich immer noch?«, erwiderte Sean stirnrunzelnd.

»Jawohl. Aber es sieht ganz so aus, als ob Lipschitz die Kanzlei verlassen wird.«

»Und du bleibst bei Wartner? Oder gehst du mit Lipschitz?«

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fuhr sie ihn an. »Ich bleibe natürlich bei Wartner. Lipschitz ist ein aufgeblasenes Arschloch und das habe ich ja wohl schon oft betont.«

»Verzeihung«, erwiderte Sean und kippte Mayo an das gehobelte Kraut. »Ich habe den Überblick verloren.«

Frag mich, wie mein Tag war, dachte er. Frag mich, was ich heute so gemacht habe. Aber Lynette fragte nie.

»Wer soll denn den ganzen Salat essen?«, bemerkte sie stattdessen mit einem Schnauben.

»Ashley hat gerade Besuch von einem Mitschüler, der ihr Nachhilfe gibt. Ich dachte, dass er vielleicht zum Abendessen bleiben möchte.«

»Ah.« Sie nickte. »Hoffentlich schafft er es, ihr den Stoff zu vermitteln, wenn es ihre Lehrer schon nicht hinkriegen. Ich habe keine Lust, sie auf ein drittklassiges College zu schicken, weil ihre Noten nicht gut genug für etwas Besseres sind.«

»Sie schafft das schon«, erwiderte Sean aufmunternd, obwohl er im Inneren Zweifel hatte. Er wünschte sich die bestmögliche Ausbildung für Ashley, aber sie sollte eben tatsächlich auch ihren Möglichkeiten entsprechen und sie nicht vollends überfordern. Erwartungsdruck konnte seltsame, sehr ungute Dinge mit jungen Menschen machen. Man durfte den schmalen Grat zwischen einem notwendigen Tritt in den Hintern und unverhältnismäßigen Forderungen nicht überschreiten.

Die Chickenwings brieten im Ofen vor sich hin und verbreiteten einen köstlichen Duft, als Ashley und Elliot in die Küche kamen.

»Oh hey, seid ihr fertig?«, erkundigte sich Sean.

»Ja«, gab Elliot zur Antwort und wandte sich an Lynette. »Guten Abend, Mrs. Loughlin ... Ruiz. Entschuldigung, wie heißen Sie?« Er war ein so höflicher Junge, nicht wie die Rüpel, die hier manchmal hereinspazierten, als würden sie hier wohnen.

»Loughlin, hallo«, erwiderte Lynette. »Schön, dass du unserer Ashley hilfst. Willst du noch zum Essen bleiben? Mein Mann hat Coleslaw für eine ganze Footballmannschaft gemacht.«

»Ich würde ja gern ...« Elliots Blick wanderte sehnsüchtig zu den Chickenwings im Ofen. »Aber es geht leider nicht. Der letzte Bus fährt gleich.«

»Ich kann dich fahren«, bot Sean an. »Dann kannst du noch bleiben.«

»Danke, das ist wirklich sehr, sehr nett von Ihnen, aber ich will Ihnen nicht zur Last fallen. Meine Eltern warten zu Hause schon ... mit dem Essen.«

Sean konnte nicht sagen, wieso, aber er hatte das Gefühl, dass der Junge zumindest teilweise log. Was auch immer es war, er wollte offensichtlich nicht hier sein. »Na schön. Was bekommst du für deine Nachhilfe?«

»Oh ... ich hab mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht. Geben Sie mir einfach, was Sie für angemessen halten.«

»Bist du mit zwanzig Dollar für die Stunde einverstanden?«

»Ich ... denke, das ist zu viel«, kam schüchtern zurück. Irgendetwas an diesem dünnen Burschen mit den dicken, dunkelblonden Haaren, die ihm bis über die Brauen hingen, ging ihm nahe.

»Ich denke nicht, dass das zu viel ist. Immerhin musst du dich mit Ashley herumschlagen.«

»Sean!«, maulte Ashley, verdrehte auf ihre typische Art und Weise die Augen und ging mit verschränkten Armen zum Backofen, um beleidigt das Essen zu beobachten.

»Die Möglichkeit, jemandem die Physik nahezubringen ... vielleicht sein Herz für die Wissenschaft zu öffnen ... das ist mir schon Lohn genug.«

Sean lachte auf und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er den Jungen nicht auslachen wollte. »Himmel, wenn unsere Tochter so einen Pathos zeigen würde wie du ...« Er griff nach seinem Portemonnaie und holte einen Zwanziger heraus. »Da, nimm, wenn du schon nicht mit uns essen willst.«

Die Art, wie Elliot den Schein entgegennahm, glich dem Empfang einer kostbaren Reliquie. »Vielen Dank, Sir.«

»Nicht dafür. Komm gut nach Hause, Elliot. Und sag deinen Eltern, dass du nächstes Mal bei uns isst.«

Kapitel 3

Elliots Kreislauf fuhr Achterbahn, während er im Bus nach Hause saß. Rastlos drehte er den Zwanzigdollarschein in seinen Händen. Er hatte das Geld, das ihm Kevin Gutierrez diesen Monat abgeknöpft hatte, wieder drin. Und diesen Zwanziger würde ihm kein Mensch auf der Welt abnehmen. Er, und nur er, würde entscheiden, wann und wofür er ihn ausgab.

Es war ein berauschendes Gefühl. Fast ein bisschen wie Unbesiegbarkeit. Wenn er Ashley zweimal die Woche Nachhilfe gab und dafür jedes Mal zwanzig Dollar bekam, dann könnte er sich bis zum Schuljahresende ein hübsches Sümmchen zusammensparen, um sich einen kleinen Traum zu erfüllen.

Der Bus hielt in seinem Viertel und er stieg aus, ging das letzte Stück bis nach Hause zu Fuß. Er lebte nicht in einem Brennpunktviertel, hier war es kaum anders als in dem Teil der Stadt, in dem die Ruiz-Loughlins wohnten. Aber er fragte sich, wie lange das wohl noch so sein würde. Denn sie hatten Probleme. Große Probleme.

Als er zu Hause ankam und die Tür aufschloss, wurde er mit einer Ohrfeige empfangen. Er hatte sie nicht kommen sehen und taumelte rückwärts, fiel beinahe die Verandatreppe hinunter, aber Russell packte ihn beim Kragen und zerrte ihn ins Haus.

»Warum kommst du so spät?«, herrschte er ihn an. »Wo hast du dich herumgetrieben? Antworte!«

Elliot schüttelte den Griff ab und ging auf Distanz. Seine rechte Wange pochte schmerzhaft von dem Schlag. »Ich war bei einer Mitschülerin und hab ihr Nachhilfe in Physik gegeben. Ich hab Mom doch Bescheid gesagt!«

»Ach ja? Sie hat nichts gesagt.«

»Dann hat sie es vergessen.«

»Willst du jetzt deiner Mutter deine eigene Unzuverlässigkeit in die Schuhe schieben?«, brüllte Russel. »Du lügst doch.«

»Ich lüge nicht!«, fuhr Elliot auf und verschränkte schutzsuchend die Arme. »Wo sollte ich mich denn rumtreiben? Mich interessiert so was doch gar nicht.«

»Lässt du dich wenigstens dafür bezahlen, dass du anderer Leute Kinder Nachhilfe gibst, anstatt dich zu Hause nützlich zu machen?«

»Ja, ich habe Geld bekommen.«

»Zeig es her.«

»Nein.«

»Elliot ...« Russell sagte seinen Namen mit dieser unverkennbaren Drohung in der Stimme.

»Was brüllt ihr euch denn so an?« Mom kam ins Wohnzimmer. Sie trug einen Morgenmantel und Hausschuhe. Sie trug immer einen Morgenmantel und Hausschuhe.

»Der Bengel kommt zu spät nach Hause und lügt mich auch noch an!«, erklärte Russell voller Zorn.

»Ist das wahr, Elliot?«, fragte seine Mutter. Seine Mutter, die ihm eigentlich beispringen sollte, sich letztendlich aber immer auf Russells Seite schlug.

»Nein, es ist nicht wahr! Ich war bei Ashley und hab ihr Nachhilfe gegeben, das hab ich dir doch gesagt, als ich heute Nachmittag gegangen bin.«

»Ja.« Sie runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. »Ja, das stimmt«, erklärte sie noch einmal an Russel gewandt. »Das hat er mir gesagt.«

»Er behauptet, man hätte ihn bezahlt, aber er zeigt mir das Geld nicht.«

»Warum zeigst du Russell das Geld nicht, Schatz?«, fragte Mom.

»Weil es meins ist. Es geht ihn nichts an.«

»Das hier ist mein Haus und solange du hier lebst, gehört alles, was in deinen Taschen steckt, mir! Jetzt rück das Geld raus!«

Zitternd zog Elliot den Zwanziger aus seiner Jeanstasche. In seinem Inneren baute sich ein schmerzhafter Druck auf, der ihm bis hinter die Augen stach. Sein Zwanziger. Seans Zwanziger. Und es war, verdammt noch mal, nicht Russells Haus, es gehörte seiner Mutter, die es von Elliots Vater geerbt hatte. Er wünschte, Sean wäre jetzt hier und würde ihn verteidigen und ihm danach Chickenwings und Coleslaw zu essen geben.

»Her damit.« Russell riss ihm den Schein aus der Hand und steckte ihn ein.

»Aber das ist mein Geld!«, protestierte Elliot ohnmächtig. »Ich hab es mir heute verdient!«

»Aber das ist mein Geld«, äffte Russell ihn nach. »Hast du mir gerade nicht zugehört? Du lebst hier auf unsere Kosten. Wird Zeit, dass du dich finanziell mal beteiligst! Und jetzt ab in dein Zimmer, ich will dich heute nicht mehr sehen. Essen gibt’s keins, weil du der Meinung warst, mir Widerworte geben zu müssen.«

»Mom?«, krächzte Elliot hilflos. Sein Magen hatte schon ein Loch und der Gedanke an die Chickenwings machte es nicht besser.

Aber Mom half ihm nicht. Sie half ihm nie. »Mach, was dein Vater sagt«, bat sie stattdessen.

»Er ist nicht mein Vater.« Es war ihm schneller herausgerutscht, als er darüber nachdenken konnte, und schon im nächsten Moment traf ihn ein so wuchtiger Schlag, dass er mit dem Rücken gegen das Treppengeländer stieß. Zum Glück federte der Rucksack seinen Aufprall ab.

»Rauf mit dir, bevor ich mich vergesse!«, keifte Russell. Sein Kopf hatte eine dunkelrote Färbung angenommen.

Elliot beeilte sich, die Treppe hinaufzurennen, die Augen tränenblind. Warum musste das Leben so beschissen sein? Es reichte doch schon, wenn sie ihn in der Schule ärgerten, wieso musste er zu Hause den größten Mobber von allen haben?

Er verkroch sich in seinem Zimmer und ließ den Tränen freien Lauf. Ashley wusste gar nicht, was für ein Glück sie mit Sean hatte. Sie keifte ihn nur an, in einem Tonfall, für den Russell ihm eine Tracht Prügel verpassen würde. Der Zwanziger war verloren und Elliot musste sich etwas einfallen lassen, damit nicht genau das Gleiche mit allen zukünftigen Zahlungen passierte. So konnte er es auch gleich Kevin geben, welchen Unterschied machte das dann noch?

Aber erst einmal blieb ihm nur sein einziger Trost, den ihm niemand von all diesen scheußlichen Menschen nehmen konnte. Das Universum. Die fremden Welten außerhalb der irdischen Atmosphäre, außerhalb des Sonnensystems, der Milchstraße. Wurmlöcher und Supernovae, Pulsare, Lichtjahre entfernt. Er kroch unter der Decke hervor, wischte sich die Tränen vom Gesicht und nahm sein Lieblingsbuch zur Hand. Das Universum in der Nussschale von Stephen Hawking.

Elliot war erschöpft über dem Buch eingeschlafen, als es an seiner Zimmertür klopfte. Mom trat ein und sie brachte ihm ein Glas Milch und ein Erdnussbuttersandwich.

»Iss was, Liebling.«

»Russell hat es doch verboten.«

»Russell muss ja nichts von diesem Sandwich wissen.«

Seufzend nahm Elliot es entgegen und biss davon ab. Auf einen hungrigen Magen schmeckte es himmlisch, aber trotzdem hätte er lieber Chickenwings gehabt. So etwas gab es hier selten. Mom ging es oft zu schlecht zum Kochen, sie war antriebslos und musste sich oft hinlegen. Manchmal stand sie gar nicht erst auf. Elliot war der Meinung, dass sie eine Therapie brauchte, Gespräche mit einem Psychologen und vielleicht Medikamente, aber Russell war dagegen, obwohl seine Versicherung dafür aufkommen würde.

»Deine Mutter ist gesund«, hatte er erklärt. »Sie wird zu keinem Arzt gehen, der sie krank macht und in die Klapsmühle schickt.«

In diesem Haus passierte sowieso nichts, ohne dass Russell es erlaubte. Es war eine Katastrophe.

»Er hasst mich«, bemerkte Elliot resigniert und trank einen Schluck Milch.

»Das tut er nicht. Er will dir ein verantwortungsvoller Vater sein, damit du nicht auf die schiefe Bahn gerätst.«

»Er schlägt mich!«, protestierte er.

»Er ist eben streng und erzieht noch nach der alten Schule. Ihr jungen Leute seid so verwöhnt, ihr wisst gar nicht mehr, was echte Strenge ist. In meiner Schulzeit war es noch erlaubt, dass der Lehrer ungehorsame Schüler mit einem Paddel schlägt. Und hat es uns geschadet? Nein. Spare an der Rute und du verdirbst das Kind.«

»Aber ich mach doch gar nichts. Ich treib mich nicht irgendwo rum, ich hab gute Noten, ich hab nicht mal eine Freundin oder gehe auf Partys. Trotzdem ist Russell nichts recht, was ich mache. Gar nichts. Er akzeptiert meine Interessen nicht, weil es nicht Sport, Jagen und Angeln sind.«

»Er will eben, dass du später deinen Mann stehen kannst! Und das wirst du nicht, wenn du deine Nase nur in Bücher steckst.«

»Du könntest ruhig auch mal auf meiner Seite sein.« Elliot zog die Knie an den Körper und biss vom Sandwich ab. Es schmeckte plötzlich wie Sägemehl.

»Ich bin auf deiner Seite. Deshalb wünsche ich mir, dass du anerkennst, dass sich Russell um dich sorgt. Das macht nicht jeder, wenn das Kind nicht mal sein eigenes ist.«

»Ashley, bei der ich heute war, hat auch einen Stiefvater«, murmelte er. »Der ist ganz anders zu ihr.«

»Und wie ist diese Ashley? Ist sie ein gutes Mädchen oder ist sie eine von denen, die sich lieber mit Jungs rumtreibt, anstatt für die Schule zu lernen?«

Elliot sagte nichts, denn wenn er diese Frage beantwortete, würde er Mom auch noch recht geben müssen. Er glaubte allerdings nicht, dass Ashleys Verhalten Seans Schuld war. Sie war undankbar. Nicht Elliot. »Lässt du mich jetzt bitte allein?«, bat er. »Ich hab noch Hausaufgaben zu erledigen.« Es war eine Lüge, aber wenn er etwas jetzt gerade nicht brauchte, dann war es seine Mutter, die versuchte, ihm Russell schönzureden.

»Na gut, dann schlaf schön, Schatz.«

Sie schlurfte hinaus und schloss die Tür hinter sich. Wie gerne würde Elliot jetzt abschließen, aber er hatte keinen Schlüssel. Also zog er sich nur aus und verkroch sich unter seiner Decke. Stellte sich vor, wie Sean Russell zurechtwies oder wenigstens Mom. Oder wie ihm in der Schule jemand zur Seite eilte, ohne dass er dafür petzen musste. Aber es schien, als ob alle absichtlich die Augen zukniffen, wenn es um ihn ging. Und er war machtlos, solange er noch zur Schule gehen und damit zu Hause wohnen musste. Es war das letzte Schuljahr. Aber es hatte gerade erst begonnen und Elliot hatte das Gefühl, dass es sich endlos hinzog, während die wenigen, schönen Momente so flüchtig waren wie ein Blinzeln.

Er schubste sein Newtonpendel an und beobachtete, wie die fünf Kugeln aufeinanderprallten. Wie eine gegen die vier anderen schwang und damit die Kugel am anderen Ende in Bewegung setzte. Und wieder von vorn, hin und her, unaufhörlich. Wie sein Leben. Vielleicht bewegte sich deswegen nichts voran und er pendelte nur von einer Mauer zur anderen.

Kapitel 4

Der ganze Wagen roch nach Pizza. Lynette hatte Sean gebeten, auf dem Heimweg etwas zum Abendessen mitzubringen, weil sie es nicht schaffte, zu kochen. Also hatte er vier verschiedene Pizzen geholt, jede eine andere Sorte, weil er zwar wusste, was Ashley und Lynette mochten, aber nicht, was Elliot gern aß.

Der Junge war wieder da, um Ashley zu helfen. Sean empfand großen Respekt vor jungen Leuten, die das für ihre Mitschüler taten, selbst wenn sie dafür bezahlt wurden. Er selbst hatte seinerzeit auch in den Naturwissenschaften geschwächelt, aber ein Klassenkamerad hatte ihm so gut geholfen, dass er sich bis zum Abschluss um eine ganze Note hatte verbessern können. Er selbst hätte sich in dem Alter sicher Besseres vorstellen können, als begriffsstutzigen Mitschülern den Unterrichtsstoff noch einmal vorzukauen.

Er fuhr sein Auto bis vor die Garage, nahm die Pizzen vom Beifahrersitz und ging ins Haus. Ashley und Elliot kamen gerade die Treppe herunter.

»Hi Sean«, grüßte seine Stieftochter.

»Guten Abend, Mr. Ruiz«, sagte Elliot und reckte den Hals in Richtung Pizzaschachteln.

»Guten Abend Ashley, Elliot. Ich hoffe, du hast deinen Eltern gesagt, dass du heute bei uns isst?«

Verlegen kratzte er sich hinterm Ohr. »Ich schaffe meinen Bus nicht, wenn ich bleibe.«

»Ich sagte doch schon, dass ich dich fahre.«

»Ich will Ihnen aber keine Umstände machen, Sir.«

»Du machst mir Umstände, wenn ich jetzt umsonst eine zusätzliche Pizza gekauft habe. Jetzt komm schon. Du siehst hungrig aus.«

Elliot schien mit sich zu ringen, aber schließlich nickte er. »Vielen Dank für die Einladung.«

»Sehr gern.«

Sie gingen hinüber in die Küche, wo Lynette bereits den Tisch deckte.

Sie blickte auf. »Ah, da bist du ja. Hallo.«

»Hallo Schatz.« Er stellte die Pizzakartons auf den Tisch und gab Lynette einen flüchtigen Kuss auf die Wange, den sie mehr oder weniger über sich ergehen ließ. Er bemühte sich, aber es wurde immer schwieriger. Oft fühlte er sich nur noch geduldet, anstatt wertgeschätzt, vor allem dann, wenn er ihr im Bett mal wieder nicht bieten konnte, was sie gerne wollte. Aber vielleicht war das eben einfach so, wenn im Laufe der Jahre Gefühle einschliefen, die von Anfang an nicht über alle Maßen groß gewesen waren.

»Ich hoffe, du hast ’ne vegetarische Pizza mitgebracht«, bemerkte Ashley und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen.

»Natürlich. Ich weiß doch, dass du mich sonst postwendend enthauptet hättest.«

Elliot sah mit einer solchen Mischung aus Erstaunen und Nervosität zwischen ihm und Ashley hin und her, dass Sean sich fragte, was wohl gerade in ihm vorging.

»Setz dich doch, Elliot«, bat er. »Ich habe vegetarische Pizza, Vier Käse, Salami-Peperoni und Schinken mitgebracht. Jeder darf sich von jeder bedienen, wie er möchte.«

Sie öffneten die Schachteln und machten sich über das Essen her. Am Anfang aß Elliot nur ein kleines Stück, aber als Lynette ihn ermunterte, sich ruhig noch mehr zu nehmen, schien er kaum noch zu bremsen zu sein. Sean schmunzelte, während er Elliot dabei beobachtete, wie der sich die Pizzastücke beinahe wie ein Hamster in die Backen stopfte, der Vorräte für magere Zeiten sammeln wollte. Aber das Schmunzeln verging ihm, wenn er darüber nachdachte, was das vielleicht bedeuten mochte. Er würde den Jungen später auf jeden Fall danach fragen.

»Isst du das noch?«, hörte er Elliot leise fragen, als Ashley sich satt zurücklehnte, aber noch zwei Pizzastücke auf ihrem Teller hatte.

Zur Antwort zog sie den Teller zu sich heran. »Später vielleicht noch.«

»Ashley«, mahnte Sean.

»Was? Das ist meine Pizza.«

»Nein, die Pizza ist für uns alle gedacht. Wenn du satt bist, gib sie Elliot. Er scheint sehr hungrig zu sein.«

»Ich will dem Nerd aber meine Pizza nicht geben.«

»Ashley!«, mahnte nun auch Lynette.

»Er hat einen Namen«, erklärte Sean verärgert. Er schämte sich für das Verhalten seiner Stieftochter. »Er heißt Elliot und du wirst ihn so nennen. Ich wiederhole mich nur ungern, aber ich erwarte, dass du ihn mit Respekt behandelst. Er hilft dir, damit du einen guten Abschluss machen kannst und dir deine Zukunftschancen nicht verdirbst.«

»Ich will diesen ganzen Nachhilfescheiß doch gar nicht!«, fuhr Ashley auf und wischte den Teller beiseite. Elliot hielt ihn auf, bevor er über die Tischkante stürzte.

»Junges Fräulein, es reicht«, schimpfte Lynette und sandte ihrer Tochter einen ihrer tödlichen Blicke. »Du benimmst dich wie eine Fünfjährige!«

»Ihr könnt mich mal!« Ashley sprang auf und stapfte beleidigt aus der Küche. Lynette ging ihr hinterher und ließ Sean allein mit Elliot zurück.

»Ich muss mich für das unmögliche Benehmen meiner Tochter entschuldigen«, erklärte er beschämt. »Ich weiß nicht, warum sie so respektlos ist. Wir leben ihr das nicht vor, aber ich fürchte, es ist der schlechte Einfluss der Leute, mit denen sie sich herumtreibt. Sie war sonst immer ein liebes Mädchen. Jetzt ist sie so eine ... Zicke.« Er versuchte sich an einem Lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Iss nur«, bat er und wies auf Ashleys Teller.

»Nein ... nein, ich werde Ashleys restliche Pizza nicht essen, wenn sie das nicht will.«

So rücksichtsvoll, obwohl sie sich dir gegenüber wie ein verdammtes Miststück betragen hat.

»Dann iss meinen Rest.«

»Sir, ich–«

»Bitte. Ich bestehe darauf.« Er schob Elliot den Teller hin und nach einem kurzen Zögern machte der sich über das übriggebliebene Stück her. »Verzeih die Frage«, begann Sean, als der Junge fast fertig gegessen hatte, »aber bekommst du zu Hause auch genug zu essen?«

»Ja.« Elliot schluckte schwer. »Nur selten etwas Warmes. Mom kann nicht oft kochen, weil ... weil sie krank ist.«

»Verstehe. Habt ihr keine Haushaltshilfe?«

»Können wir uns leider nicht leisten.«

»Tut mir leid. Dann werde ich auf jeden Fall dafür sorgen, dass es immer etwas Warmes gibt, wenn du hier bist.«

»Oh, nicht doch, Sir. Sie machen sich viel zu viele Umstände meinetwegen. Ich bin auch mit einem Sandwich zufrieden.«

»Es macht keine Umstände. Außerdem sind wir dankbar, dass du Ashley hilfst, obwohl sie sich dir gegenüber so widerlich beträgt.«

»Vielleicht tut sie’s dann ja nicht mehr«, murmelte Elliot und stierte auf die Tischplatte.

»Was soll das heißen?«

Erschrocken blickte Elliot auf. »N-nichts. Das war nur so dahergesagt.«

»Sicher?« Sean runzelte die Stirn. Er hatte das Gefühl, hier etwas auf der Spur zu sein. »Behandelt sie dich in der Schule auch so wie hier?«

Elliot schüttelte den Kopf. »Ashley ist nicht das Problem.«

»Aber ihre Freunde? Ärgern sie dich?«

»Mr. Ruiz, bitte seien Sie mir nicht böse. Ich möchte da jetzt nicht drüber reden. Ich komm schon klar.«

»Du kannst mir ruhig sagen, wenn–«

Die Küchentür ging auf und Lynette und Ashley kamen herein, letztere mit einer Miene wie drei Tage Regenwetter.

»Elliot, ich will mich bei dir entschuldigen«, sagte sie monoton.

Der Junge wirkte regelrecht erschrocken, als sei es ihm äußerst unangenehm, dass sich bei ihm entschuldigt wurde. »Ist schon gut, Ashley. Bitte ...« Er wandte sich mit hilfesuchendem Blick an Sean. »Ich will nicht, dass sie meinetwegen Ärger bekommt.«

Sean verstand. Auch wenn die Konsequenz eine andere sein würde als die, die sich Elliot in seiner offensichtlichen Angst erhoffte. »Ich bringe dich jetzt nach Hause, Elliot«, verkündete er und erhob sich.

Auch der Junge stand auf, schien fast erleichtert. »Danke für das Essen«, sagte er zu Lynette, nahm seinen Rucksack und verließ gemeinsam mit Sean das Haus.

Sie fuhren los, aber Elliot blieb schweigsam und stierte aus dem Beifahrerfenster.

»Du musst dir keine Sorgen machen, weil wir Ashley zurechtgewiesen haben«, bemerkte Sean nach einer Weile. »Da muss sie durch. Wir können ihr nicht alles durchgehen lassen, vor allem nicht so was.«

»Ich will nicht, dass sie deshalb jetzt sauer auf mich ist.«

»Sie auf dich?« Sean hob eine Braue. »Du hättest ja wohl allen Grund, sauer auf sie zu sein. Du hast meinen ganzen Respekt dafür, dass du ihr Nachhilfe gibst, obwohl sie dir so begegnet.«

»Ich kann ja nicht jeden schlecht behandeln, der mich schlecht behandelt, oder?« Elliot sah ihn kurz von der Seite an. »Sonst ist das ganze Leben nur ein Newton-Pendel. Es stößt sich immer wieder gegenseitig an, hin und her, und hört nie auf.«

»Ein interessanter Vergleich«, erwiderte Sean, der nur wenig Ahnung von Physik hatte. »Und eine gesunde Einstellung. Man muss nur aufpassen, dass man sich dabei nicht ausnutzen lässt.«

»Ich werd’s versuchen.«

»Gut.«

Die restliche Fahrt schwiegen sie wieder und Sean schaltete das Radio ein, damit die Stille nicht zu drückend wurde. Dann erreichten sie Elliots Zuhause, ein kastiges, nicht allzu großes, gemauertes Haus mit gelbem Anstrich und einer einzelnen, durstigen Palme in der Einfahrt.

»Da wären wir.«

»Ja.« Elliot warf einen Blick aus dem Beifahrerfenster, zog plötzlich die Schultern hoch, als würde er frieren und machte keinerlei Anstalten, auszusteigen.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«, hakte Sean nach. »Hast du ... hast du Probleme zu Hause?«

Erschrocken schien Elliot aus seiner Trance zu erwachen und schnallte sich hastig ab. »Alles gut«, versicherte er und öffnete eilig die Beifahrertür. »Bin nur müde. Vielen Dank fürs Fahren, Sir.«

»Halt.« Sean hielt ihn am Ärmel fest. »Deine Bezahlung.«

»Oh, ja, richtig ... also, ich hätte eine Bitte an Sie. Können Sie mir nur jeden zweiten Nachhilfenachmittag auszahlen und das von dem anderen aufheben und mir erst nach Schuljahresende geben?«

»Warum denn das?«, fragte Sean verdutzt.

»Weil ... ich möchte etwas sparen und ... und ich habe Angst, dass es für irgendwelchen Mist draufgeht, wenn ich es direkt in die Hände kriege.«

»Na schön.« Sean hob die Schultern. »Dann stelle ich zu Hause ein Sparschwein für dich hin und stecke jeden zweiten Zwanziger dort rein. Ist das in Ordnung?«

»Ja. Vielen Dank, Sir.«

»Elliot ...« Sean räusperte sich. »Ich bin Polizist. Wenn du irgendein Problem hast, kannst du dich jederzeit vertrauensvoll an mich wenden.«

»Okay.« Elliot zögerte noch einen Moment, aber dann stieg er aus und winkte. »Danke. Und einen schönen Abend noch.«

Die Tür fiel zu, aber Sean fuhr noch nicht fort, sondern blieb stehen, bis Elliot die Haustür erreichte und ihm geöffnet wurde. Eine Frau im Bademantel stand in der Tür und ließ Elliot hinein. Der drehte sich noch einmal kurz zu Sean um, bevor er im Inneren des Hauses verschwand.

Zu Hause angekommen, führte Seans direkter Weg ihn in Ashleys Zimmer. Er musste mit ihr reden. Musste mehr über Elliot und dessen Lebensumstände herausfinden, denn dort lag offenbar so einiges im Argen. Und wenn das so war, dann brauchte der Junge Hilfe. Dringend.

Er klopfte an die Zimmertür und wartete nicht, bis Ashley antwortete, ehe er eintrat. »Ash, ich muss mit dir reden.«

Genervt blickte sie auf und schob ihre Kopfhörer von den Ohren. Sie saß auf ihrem Bett mit einem Buch im Schoß. »Was? Willst du mir jetzt auch noch eine Standpauke halten wegen Elliot? Ich hab mich doch schon entschuldigt!«

»Und es wäre sogar noch schöner gewesen, wenn du die Entschuldigung ernst gemeint hättest. Aber ich bin tatsächlich nicht deshalb hier, jedenfalls nicht nur.«

»Aha?«

»Nein.« Er setzte sich auf den Bettrand. »Ich wollte wissen, ob du mir etwas über Elliot sagen kannst. Über seine Familie und ob er Probleme hat. Ich habe das Gefühl, dass da einiges im Argen liegt.«

»Ich hab keine Ahnung, was der für eine Familie hat. Hat mich nie interessiert.« Ashley seufzte und legte das Buch beiseite. Ein Physikbuch.

Sieh an, sieh an.

»Er ist dein Mitschüler.«

»Na und? Hast du alles über jeden deiner Mitschüler gewusst?«

»Nein«, gab Sean zu. »Da hast du recht. Aber du kannst mir eine andere Frage beantworten: Bist du in der Schule auch so zu ihm, wie du dich heute hier betragen hast?«

Seine Stieftochter schwieg trotzig und starrte auf die Bettdecke.

»Ashley?«

»Ich hab Kevin und so gebeten, dass sie ihn erst mal in Ruhe lassen«, erklärte sie schließlich.

»Deine Freunde haben Elliot also drangsaliert?«

»Na ja ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Ja.«

»Wie lange schon?«

Sie zuckte abermals mit den Schultern. »Ne Weile.«

»Und du hast sie jetzt erst gebeten, damit aufzuhören? Wegen der Nachhilfe, nehme ich an?«

»Ja.«

Sean stieß einen angestrengten Atemzug aus. Mit jeder Antwort wurde er innerlich wütender. »Warum nicht vorher?«

»Boah, so langsam komm ich mir vor wie bei einem Verhör.« Ashley verschränkte die Arme.

»Ja, das ist vielleicht gar nicht so verkehrt«, gab Sean zurück. »Also?«

»Er hat mich eben vorher nicht interessiert«, erwiderte sie. »Du klingst, als wolltest du uns verkuppeln.«

»Nein, das habe ich nicht vor. Ich kann nur keine Ungerechtigkeit ausstehen. Ich frage mich außerdem, seit wann du so empathielos bist? Das ist nicht das, was deine Mutter und ich dir vorleben und du warst früher auch nicht so. Das liegt alles an dem schlechten Einfluss von diesem Kevin und wie sie alle heißen. Was habt ihr gegen Elliot? Was hat er euch getan?«

»Nichts«, gab sie zu. »Eigentlich ist er ja ganz nett. Aber er ist auch ziemlich komisch. Und einfach ... uncool. Wer sich mit ihm abgibt, gilt als genauso uncool und darauf hat keiner Bock. Ich werd ja schon wegen der Nachhilfe genug aufgezogen werden, wenn das rauskommt, ich muss nicht noch seine beste Freundin werden.«

»Niemand sagt, dass du seine beste Freundin werden sollst«, gab Sean zur Antwort und griff nach Ashleys Armen, um ihre Verschränkung zu lösen. »Aber ich wünsche mir, dass du für andere einstehst, wenn sie ungerecht behandelt werden. So, wie wir es dir beigebracht haben. Was tut dieser Kevin für dich? Nichts. Aber Elliot opfert seine Freizeit, damit du einen guten Abschluss bekommst. Irgendwann kommst du in das Alter, in dem du wirklich weißt, was cool und uncool ist. Mobbing ist verdammt noch mal uncool, Ash. Und ich wünsche dir, dass du das lieber früher als später erkennst.«

Sie zog ihre Beine an den Körper und umschlang sie mit den Armen. »Ich fühl mich ja schon schlecht.«

»Du sollst dich nicht schlecht fühlen. Nur wirklich mal intensiv nachdenken. Und mir eine Bitte erfüllen.«

»Welche?«

»Frag Elliot durch die Blume ein bisschen über seine Familie aus. Und dann sag mir, was er dir erzählt hat.«

»Muss das wirklich sein?«, fragte sie seufzend. »Musst du unbedingt den Samariter spielen?«

»Ich bin so«, erwiderte Sean und lächelte. »Du kennst mich doch.«

Kapitel 5

Bis zum Morgen lag Elliot wach. Zu viele Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Da war wie immer die Angst vor dem nächsten Tag, vor der Schule, obwohl er gerne lernte und Kevin Gutierrez ihn wirklich in Ruhe ließ, seit er Ashley half. Aber Angst war ja nichts Rationales. Nichts, was immer nur mit Logik und Wissenschaft zu erklären war. Sie steckte ihm in den Knochen und traute dem Anschein einer Verschnaufpause nicht.

Und dann war da noch Sean. Sean, mit seiner Neugier und Fürsorglichkeit und seinen hellbraunen Augen und diesem herben Aftershave ...

Elliot verkroch sich unter seiner Bettdecke und schämte sich vor sich selbst. Sean war einfach nett zu ihm und seine dummen Hormone reagierten natürlich sofort mit Schmetterlingen im Bauch und ganz anderen Dingen. Er hatte sich standhaft geweigert, seinen obszönen Vorstellungen nachzugeben und sich mit dem Gedanken an Sean selbst zu befriedigen, auch wenn er immer schon von erwachsenen Männern fantasiert hatte. Es erschien ihm einfach respektlos, außerdem war er der Stiefvater seiner Mitschülerin. Trotzdem freute sich Elliot schon darauf, wenn Sean ihn das nächste Mal nach Hause fuhr ...

Seufzend stand er auf. Eine Dusche könnte jetzt guttun und seine Lebensgeister wecken, anschließend würde er eine Schüssel Cornflakes essen und sich Sandwiches für die Schule schmieren. Danach wurde es auch bald schon Zeit, zu gehen.

Zunächst stellte er das Wasser auf lauwarm, aber es löste schon wieder zu zwiespältige Gefühle in ihm aus. Zu viel Lust. Also drehte er es so kalt, wie er es gerade noch aushielt. Er hasste es, sich in diesen Dingen manchmal so wenig unter Kontrolle zu haben. Unter der Dusche beim Sportunterricht verhinderte immerhin die Angst davor, entdeckt zu werden, dass er eine Erektion bekam. Das Leben war verdammt anstrengend, wenn sogar der eigene Körper gegen einen war.

Er verließ die Dusche, trocknete sich ab und zog sich an. Immerhin fühlte er sich jetzt munterer und seine Gedanken waren wieder klarer und fokussierter. Beschwingt ging er die Treppe hinunter, aber schon auf halbem Wege kam er ins Stocken, nur um den Rest panisch zu stolpern.

»Mom!« Er lief zu ihr und fiel neben ihr auf die Knie. Sie lag auf dem Wohnzimmerfußboden, reglos, wie tot. »Mom, bist du verletzt?« Er versuchte, sie auf den Rücken zu drehen, aber sie stemmte sich dagegen.

»Nein, Liebling. Ich will einfach nur hier liegen.«

»Aber wieso? Bist du gestürzt?«

»Nein. Hab mich einfach hingelegt. Will heute nicht aufstehen.«

»Wo ist Russell?«

»Weggefahren.«

Also hab ich mir das Motorgeräusch doch nicht eingebildet.

»Mom, du musst aufstehen. Du kannst hier nicht liegen bleiben.«

»Doch. Kann ich.«

»Nein.« Er rüttelte an ihrer Schulter. Ihm wurde speiübel, weil er wusste, was das bedeutete. Eine von Moms schlimmen Phasen ging wieder los. »Du brauchst Hilfe.«

»Ich brauch keine Hilfe. Lass mich doch einfach liegen. Das Leben ist so anstrengend.«

»Genau deshalb brauchst du ja Hilfe.«

»Was soll ein Arzt denn dagegen machen?«

»Dir Medikamente geben. Mit dir reden.« Elliot streichelte ihr über den Rücken.

»Das bringt doch nichts.«

»Würdest du das auch sagen, wenn du mit einem gebrochenen Bein hier liegen würdest oder mit einem Herzinfarkt? Dann würdest du doch auch nicht daran zweifeln, dass du einen Arzt brauchst.«

Sie schwieg. Er streichelte weiter ihren Rücken, eine lange Zeit, und saß einfach bei ihr.

---ENDE DER LESEPROBE---