Das Singen des Waldes - Jona Dreyer - E-Book

Das Singen des Waldes E-Book

Jona Dreyer

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Beschreibung

»Ein Funken bleibt immer übrig: Die Hoffnung.« Die Stadt Windberg ist in Aufruhr: Ein junger Angehöriger des Fuchsvolks soll entführt worden sein. Dessen Eltern beauftragen den Wolf Grimkjell, der bekannt ist für seine hervorragenden Fähigkeiten als Spurenleser, ihn wieder nach Hause zu holen. Doch als Grimkjell den vermissten Stanislav schließlich findet, muss er feststellen, dass dieser freche Bursche ganz und gar nicht entführt wurde, sondern auf seiner eigenen Mission unterwegs ist. Und er hat nicht vor, so bald wieder nach Hause zurückzukehren. Ein Fang- und Versteckspiel beginnt, das die beiden tief in das sagenumwobene Nebeltal führt. Dort ist der Himmel mittlerweile zwar sonniger als früher, jedoch häufen sich in letzter Zeit beunruhigende Vorfälle. Ein Feuerdämon soll die beschaulichen Dörfer angegriffen und in Schutt und Asche gelegt haben. Bald geraten Grimkjell und Stanislav ins Blickfeld dieser dunklen Macht und den beiden bleibt nichts anderes übrig, als sich gemeinsam ihren Ängsten und ihrer Vergangenheit zu stellen ... Das Singen des Waldes ist eine Geschichte für alle, die Romantik, Licht und Dunkelheit, den Wald und seine Tiere sowie je eine Prise Humor, Zucker und Magie mögen.

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Das Singen des Waldes

Gay Fantasy

© Urheberrecht 2021 Jona Dreyer

 

Impressum:

Tschök & Tschök GbR

Alexander-Lincke-Straße 2c

08412 Werdau

 

Text: Jona Dreyer

Coverdesign: Jona Dreyer

Coverbilder: depositphotos.com

Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause, Kristina Arnold, Shannon O’Neall & Sandra Schmitt

 

Kurzbeschreibung:

Die Stadt Windberg ist in Aufruhr: Ein junger Angehöriger des Fuchsvolks soll entführt worden sein. Dessen Eltern beauftragen den Wolf Grimkjell, der bekannt ist für seine hervorragenden Fähigkeiten als Spurenleser, ihn wieder nach Hause zu holen.

Doch als Grimkjell den vermissten Stanislav schließlich findet, muss er feststellen, dass dieser freche Bursche ganz und gar nicht entführt wurde, sondern auf seiner ganz eigenen Mission unterwegs ist. Und er hat nicht vor, so bald wieder nach Hause zurückzukehren. Ein Fang- und Versteckspiel beginnt, das die beiden tief in das sagenumwobene Nebeltal führt.

Dort ist der Himmel mittlerweile zwar sonniger als früher, jedoch häufen sich in letzter Zeit beunruhigende Vorfälle. Ein Feuerdämon soll die beschaulichen Dörfer angegriffen und in Schutt und Asche gelegt haben. Bald geraten Grimkjell und Stanislav ins Blickfeld dieser dunklen Macht und den beiden bleibt nichts anderes übrig, als sich ihren Ängsten und ihrer Vergangenheit zu stellen ...

Über die Autorin

»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«

Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.

VORWORT

Ich bin tatsächlich ins Nebeltal zurückgekehrt! Ich war mir anfangs nicht sicher, ob es tatsächlich einen weiteren Nebeltal-Band geben wird, aber nachdem »Das Herz des Nebels« so viele Freunde gefunden hat und mir vor einigen Monaten ein Plot zu einer neuen Geschichte einfiel, bin ich zur Tat geschritten.

Das Nebeltal ist inspiriert von meinem Heimatort im Erzgebirge. Viel Wald, viele Wildtiere, kauzige Bewohner und – viel Nebel! Auch wenn letzterer in dieser neuen Geschichte nicht so eine große Rolle spielt, bleibt er doch weiterhin namensgebend für den Handlungsort.

Aber genau wie beim ersten Band - den ihr übrigens nicht kennen müsst, um diesen hier zu lesen! – erwartet euch romantische, märchenhafte Fantasy fürs Herz und die Seele. Kein monumentales, intrigenreiches Drama wie bei den Inselreichen, sondern etwas, das euch hoffentlich mit einem warmen, guten Gefühl zurücklässt.

 

Und nun wünsche ich euch viel Spaß bei eurer Reise ins Nebeltal!

VÖLKER UND WESEN

Wulko: Volk der Wölfe. Merkmale: ergrauen früh und tragen einen gräulichen Schweif.

Fuhsazar: Volk der Füchse. Merkmale: ein Fuchsschweif mit weißer Spitze und oft rötliches Haar.

Raiha: Volk der Rehe. Merkmale: eher zierliche Gestalt und Gehörn (kleines Geweih) auf dem Kopf.

Hiruzar: Volk der Hirsche. Merkmale: imposante Gestalt und großes, ausladendes Geweih auf dem Kopf.

Svînar: Volk der (Wild-)Schweine. Merkmale: kräftige Gestalt, große Zähne im Unterkiefer und sogar die Frauen haben eine borstige Gesichtsbehaarung.

Beror: Volk der Bären. Merkmale: große, kräftige Gestalt, starke Behaarung.

Askadril: Auch Mutterbaum genannt; eine riesenhafte Esche mit einem magischen Herzstein im Stamm. Erfüllt die Welt durch ihre überall hinreichenden Wurzeln mit Magie.

Puujoq: Auch Nebelgeist oder Nebeldämon genannt; ein Schattenwesen, groß, dürr und mit einem schaufelartigen Geweih. Ernährt sich von den Seelen verirrter Geschöpfe.

Das große Wesen: Schöpfer der Welt.

KAPITEL 1

Was für ein hässliches Ding. Immer wieder musste Grimkjell mit dem Kopf schütteln, während er das Monstrum von einem Grabstein mit seinem Meißel bearbeitete. Er war so wuchtig und sollte angedeutete Säulen, Blumen und verschnörkelte Schrift eingraviert bekommen. Er hasste es, etwas anfertigen zu müssen, das seiner eigenen Ästhetik widersprach, aber Kundenwunsch war Kundenwunsch und er brauchte die Münzen.

»Meister Grimkjell, ich grüße Euch.«

Grimkjell stöhnte auf. Er kannte die Stimme. Sie gehörte dem Bürgermeister von Windberg, einem grobschlächtigen Kerl aus dem Volk der Beror. Wenn der hier aufkreuzte, bedeutete das meist Ärger für ihn, zum Beispiel, weil sich Nachbarn darüber beschwert hatten, dass er abends zu lange mit dem Meißel hantierte.

Er blickte auf und sah in ein volles, bärtiges Gesicht. »Bürgermeister Pius. Was gibt’s? Soll ich Euch einen Grabstein anfertigen? Ich kann Bürgermeister in extra großer Schrift einmeißeln.«

»Nein«, gab der Mann sauertöpfisch zurück. Er schien keine große Lust zu haben, hier zu sein. Was wollte er dann? »Eure Hilfe wird gebraucht.«

»Ah. Soll ich jemand anderem einen Grabstein fertigen? Ich bin allerdings noch eine Weile beschäftigt. Mit ... diesem Ungetüm hier.« Er wies auf das protzige Monument, das er zu bearbeiten im Begriff war.

»Es geht nicht um Eure Künste als Steinmetz«, versetzte der Bürgermeister etwas unwirsch. »Ein junger Fuchs aus dem Dorf wird vermisst. Seine Familie befürchtet, er wurde entführt.«

»Ich war’s nicht«, gab Grimkjell zurück und stöhnte innerlich. »Ich entführe keine Jungs, auch wenn ich ein böser Wolf bin.«

»Das hat auch keiner behauptet.« Bürgermeister Pius zog sich mit einem Finger den Mantelkragen vom Hals, als sei ihm plötzlich warm. »Wir brauchen Eure Hilfe als Spurenleser. Ihr seid darin ja der Beste, sagt man sich so.«

»Ach, sagt man das.« Grimkjell meißelte weiter an dem Grabstein herum, weil er keine Lust auf dieses Gespräch hatte. Und auch kein Interesse an entführten Fuchsjungen.

»Ja.« Der Bürgermeister räusperte sich. »Also, würdet Ihr der Familie des jungen Mannes helfen?«

»Nein.«

»Was, wieso nicht?«, fragte Pius entsetzt.

»Ich hab’s nicht so mit Fuhsazar.«

»Ihr sollt ja nicht ... wir leben doch alle in Frieden zusammen, hier in Windberg. Egal ob Beror, Wulko, Fuhsazar, Hiruzar, Raiha ...«

»Svînar.«

»Was?«

»Ihr habt in Eurem bunten Kuriositätenkabinett der Stadtbewohner die Svînar vergessen. Dabei sind die Schweine die Freundlichsten von allen.«

»Wie dem auch sei.« Pius zog wieder an seinem Kragen. »Was spricht dagegen, dem jungen Mann zu helfen, außer, dass er ein Fuchs ist, was ich als Begründung übrigens nicht akzeptiere.«

»Mir ist egal, was Ihr akzeptiert. Ich hab hier zu tun. Muss den Grabstein für Meister Odo fertigmachen.«

»Für Meister Odo? Der lebt doch noch!«

»Ja, aber er will sichergehen, dass auch wirklich Zwanzig Jahre Oberlehrer an der Birkenschule in Windberg auf seinem Grabstein steht, wenn er mal die Hufe hoch macht.«

»Meister Odo erfreut sich noch bester Gesundheit«, warf der Bürgermeister kopfschüttelnd ein. »Der Grabstein kann warten.«

»Wann ich meine Aufträge bearbeite, entscheide ich immer noch selbst«, erwiderte Grimkjell gereizt.

»Ich bitte Euch, die Familie des jungen Mannes ist wirklich verzweifelt. Es sieht ihm nicht ähnlich, so lange zu verschwinden. Seit zwei Tagen ist er nun schon fort.«

»Und warum kommen sie dann nicht selbst und bitten mich?«, wollte Grimkjell wissen.

»Weil ...« Unbehaglich rang Pius die Hände. »Na ja, diese Fuchs-und-Wolf-Sache eben.«

»Aha. Sie mögen also keine Wulko, wollen nicht mal mit mir reden, aber um ihr Söhnchen aufzuspüren, bin ich dann trotzdem gut. Wie schon gesagt: Die Antwort lautet nein. Der wird schon wieder auftauchen. Warum sollte hier jemand einen Fuchs entführen?«

»Ist das Euer letztes Wort?«

»Ja, ist es. Und jetzt wäre ich Euch verbunden, wenn Ihr mich nicht weiter von der Arbeit abhaltet. Zeit ist Geld.«

»Argh, Ihr ... Ihr seid wirklich ein unmöglicher Kerl! Kein Wunder, dass niemand in Windberg Euch wirklich leiden kann!«

»Na dann.« Demonstrativ hob Grimkjell Hammer und Meißel. »Gibt bestimmt jemand Netteren, der sich auf die Suche nach dem entlaufenen Füchslein macht.«

»Entführt!«, korrigierte der Bürgermeister erbost, aber dann drehte er sich auf dem Absatz um und stapfte davon.

Grimkjell blickte seiner großen, breiten Silhouette noch einen Moment hinterher, ehe er sich kopfschüttelnd wieder an die Arbeit machte. Die Windberger hatten wirklich Nerven.

Der sonnige Frühherbstabend war zu schön, um ihn ungenutzt zu lassen, und Grimkjell beschloss, den Weg in den Buntwald anzutreten, um den heiligen Mutterbaum Askadril zu besuchen und einen kleinen Korb mit Opfergaben an den Fuß ihres Stammes zu legen.

Das war ihm wichtig. Vor Jahren war der Baum dem Tode nahe gewesen und mit ihm wäre beinahe die Magie gänzlich aus der Welt verschwunden. Ein dunkles Zeitalter hätte begonnen. Doch jemand hatte das Herz des Mutterbaums, einen magischen, tiefroten Stein, wieder zu ihr zurückgebracht und das Schicksal damit abgewendet. Niemand wusste, wer dieser Held gewesen war, und Grimkjell dachte oft, dass es ein ziemlich bescheidenes Geschöpf sein musste. Er hätte sich für diese Tat wohl feiern lassen. Aber wer auch immer es gewesen war: Alle, oder zumindest die meisten, waren ihm oder ihr dankbar dafür. Mit Magie, wenn man sie gut und richtig nutzte, war die Welt ein so viel hellerer Ort.

Grimkjell ließ Windberg hinter sich. In der Ferne sah er das Meer. Das Gewimmel der Stadt kam jetzt am Abend langsam zur Ruhe und für ihn waren das, neben dem Morgengrauen, die schönsten Stunden des Tages. Ursprünglich war Windberg eine Bärenstadt gewesen, aber inzwischen hatten sich auch viele andere Geschöpfe hier angesiedelt. Durch die Küstennähe wurde hier vermehrt Handel getrieben; die Leute gingen ein und aus und trugen etwas von der Welt nach Windberg hinein. Das machte die Bewohner der Stadt offener als viele Geschöpfe, die auf dem Land oder in den Wäldern wohnten, aber Konflikte gab es auch hier. Sein eigenes Volk, die Wulko, waren nirgendwo wirklich beliebt. Sie galten als unnahbar und angriffslustig.

Stimmt ja auch, dachte Grimkjell und zuckte mit den Schultern.

Auf dieser Welt wurde einem nichts geschenkt und für nichts gedankt. Die Gastfreundlichkeit der Svînar zum Beispiel war überall bekannt und wurde auch gern angenommen, aber hinterrücks rümpfte dann doch jeder über das Schweinevolk die Nase. Die Wulko gedachten gar nicht erst, sich so zum Hampelmann zu machen. Und viele von ihnen, so wie er, streiften lieber allein durch die Welt.

Den Buntwald zu betreten, war stets ein herrlicher Moment. Er hatte seinen Namen, weil er das ganze Jahr über in den Farben des Herbstes leuchtete, ohne je seine Blätter abzuwerfen. Ein wahrhaft magischer Ort und man spürte die unbändigen Energien, die von den allumfassenden Wurzeln des Mutterbaums ausgingen, wie eine feine Vibration im Boden. Vögel zwitscherten ihr Abendlied, aber ansonsten war Grimkjell allein. Um diese Zeit saßen die meisten mit ihrer Familie am Tisch und aßen zu Abend. Oder hatten sonst irgendetwas Besseres zu tun, als zum heiligen Mutterbaum zu pilgern. Ihm war es nur recht. Er war froh, wenn er keinem begegnen musste, der ihm mit irgendetwas auf die Nerven ging. Der Besuch des Bürgermeisters heute hatte schon gereicht.

Diese dreiste Familie, die sich nicht einmal selbst zu ihm bequemen konnte, wollte also, dass er ihr entflohenes Söhnchen suchte? Da konnten sie lange warten. Vielleicht hatte ihn tatsächlich jemand entführt und wollte Lösegeld von der reichen, schnöseligen Fuchsfamilie, die er im Verdacht hatte, der Auftraggeber zu sein. Sollte der Entführer sich das Geld doch holen, brauchen konnte er es bestimmt.

Zu allem Überfluss saß genau heute einer dieser Fuhsazar am Baum und hielt Wache. Askadril wurde Tag und Nacht bewacht, damit nicht etwa wieder jemand ihr Herz stahl, und man hatte aus jedem Volk einen Wächter gewählt, der sich mit den jeweils anderen abwechselte. Der Fuhsaz-Wächter war allerdings der eigenartigste von allen. Oft saß er ganz still da, im Schneidersitz, wie eine Statue, und sprach äußerst gern in Rätseln. Stets trug er eine Kappe, versehen mit ledernen Strippen, die ihm bis zur Nase reichten – um zumindest auf den ersten Blick zu verbergen, dass er keine Augen besaß. Wer dem Kerl die Augen genommen hatte, wusste niemand, aber allein die Vorstellung ließ Grimkjell schaudern. So leise wie möglich versuchte er, sich an ihm vorbeizuschleichen, aber dem Wächter entging nichts.

»Guten Abend, Grimkjell«, grüßte der.

Es war ihm stets ein Rätsel, woran der Wächter ohne Augen erkennen konnte, mit wem er es zu tun hatte. Vermutlich waren seine anderen Sinne besonders geschärft, der Geruch, das Gehör.

»Sei gegrüßt, Rastislav«, gab Grimkjell zurück. »Schöner Abend heute, he?« Er stellte seinen Korb, der ein kleines Brot, ein paar Körner und etwas Wurzelgemüse enthielt, auf dem Altarstein ab, der extra vor dem Baum für diese Zwecke errichtet worden war.

»Wohl wahr. Der Sommer macht sich langsam von dannen, aber er schickt uns noch viel wohliges Licht, an dem wir uns laben können, ehe der Winter kommt.«

»Vergiss den Herbst nicht. Meine Lieblingsjahreszeit.«

Rastislav lächelte sein immer seltsam wissendes Lächeln. »Ja, ja, natürlich. Wirst du nach Stanislav suchen?«

Grimkjell runzelte die Stirn. »Wer ist Stanislav?«

»Ein junger Fuchs, der vor zwei Tagen spurlos aus Windberg verschwunden ist.«

»Ach, der schon wieder.« Grimkjell verdrehte die Augen und sein Schweif zuckte. »Ist das ein Verwandter von dir?«

»Nein. Und ja. Wir sind Geschöpfe einer Art und haben den gleichen Ursprung. Irgendwann, irgendwo.«

Immer dieses hochtrabende Gefasel, dachte Grimkjell.

»Nein, ich werde ihn nicht suchen. Ich hab dem Bürgermeister schon abgesagt, als er heute zu mir kam.«

»Warum?«

»Weil ich keine Zeit für so was habe. Ich muss arbeiten und Geld verdienen. Mir schenkt keiner was und von Bezahlung war auch nicht die Rede. Diese Leute konnten nicht einmal selbst zu mir kommen, um mich zu fragen. Stattdessen haben sie Pius vorgeschickt.«

»Sie haben sich sicher einfach nicht getraut.« Rastislav lächelte wieder und sein rötlicher Fuchsschweif mit der weißen Spitze wogte langsam hin und her, als sei er eine Ähre im Wind. »Du bist ein Wolf und kannst einschüchternd wirken.«

»Beruhigend zu wissen. Also ... ich mach mich dann mal wieder auf den Rückweg. Ich will noch bei schlechtem Licht ein Buch lesen oder Ungeziefer aus meinem Keller vertreiben. Irgendwas, was mehr Spaß macht, als schon wieder über diesen verschwundenen Jungen zu reden.«

»Halt, warte.« Gebieterisch hob Rastislav eine Hand. »An der Bezahlung soll es nicht scheitern.« Er griff in seine Manteltasche und holte zu Grimkjells Erstaunen einen nicht gerade kleinen Smaragd heraus.

Nicht gerade klein war untertrieben, das Ding war so groß wie sein Handteller.

»Wo hast du den her?«, fragte Grimkjell misstrauisch.

»Familienerbstück.«

»Und den willst du mir geben, wenn ich diesen Stanislav finde?«

»Ich will ihn dir geben, wenn du Stanislav findest und diesen Stein dann haben willst.«

Natürlich will ich das, was für eine blöde Frage, durchfuhr es Grimkjell. Mit dem Erlös dafür könnte ich mir ein einsames Haus im Wald bauen und müsste nicht mehr arbeiten, sondern nur noch Skulpturen machen, die mir gefallen, auch wenn sie keiner haben will. Ab und zu müsste ich in die Stadt gehen, um mich mit Lebensmitteln einzudecken, aber ansonsten hätte ich meine Ruhe. Wie schön das wäre!

»Und wer garantiert mir, dass du gerade nicht lügst?«

»Sie.« Er wies zum heiligen Mutterbaum, dessen ausladende Krone sich höher als alle anderen Bäume über die Lichtung fächerte. »Ich sitze an Askadrils Fuß, während ich dir dieses Versprechen gebe. Würde ich lügen, würde sie es merken, einen ihrer Äste herabsenken und mich zum Schweigen bringen. Ich schwöre dir also beim Herzen der Askadril: Wenn du Stanislav findest und zurückbringst und diesen Stein dann immer noch willst, sollst du ihn haben.«

»Warum sollte ich ihn dann nicht mehr wollen?« Grimkjell schüttelte den Kopf und seufzte. »Na schön. Für diesen Stein, beziehungsweise für das, was ich mir damit leisten könnte, werde ich es tun.«

»Das freut mich sehr«, gab Rastislav zurück. »Es wird dein Schaden nicht sein. So eine Suche ist ja auch immer ein wenig eine Suche nach sich selbst, nicht wahr?«

»Ja, ja, was auch immer. Also, wo muss ich hin? Wer ist die Familie, die ihren Sohn sucht?«

»Geh zu Boguslav und seiner Frau Lubomira.«

Dachte ich mir doch, dass die das sind.

»Na schön. Aber wenn ich den verschollenen Sohn zurückbringe und du mir diesen Stein nicht gibst, dann werde ich ihn mir holen, das verspreche ich dir. Denn verschaukeln lässt sich ein Wolf nicht, auch nicht von euch Füchsen, die ihr euch immer so schlau gebt.«

»Ich halte mein Wort«, gelobte Rastislav. »Halte du deins.«

»Sicher.« Mit einem leisen Grummeln wandte sich Grimkjell ab. »Also dann, bis zum nächsten Mal.« Er konnte nicht glauben, dass er sich doch dazu hatte breitschlagen lassen, den jungen Stanislav zu suchen, aber der Smaragd war einfach zu verlockend.

Er machte sich auf den Rückweg in die Stadt und obwohl es inzwischen dunkel geworden war, beschloss er, noch heute bei Boguslav vorbeizuschauen, ehe er es sich doch wieder anders überlegte. Das Haus der Fuchsfamilie befand sich nahe dem Marktplatz, ein großes, schönes Gebäude aus Fachwerk, reich an kunstvollen, hölzernen Verzierungen, denn Boguslav war ein angesehener Zimmermann. So wie auch schon sein Vater und dessen Vater und so weiter, jedenfalls erzählten sich das die Leute in der Stadt.

Grimkjell überwand sich, den Griff des schmiedeeisernen Türklopfers in die Hand zu nehmen und ihn dreimal zu betätigen. Ein paar Momente später konnte er hören, wie von innen ein Riegel zur Seite geschoben wurde. Die Tür ging auf und Boguslavs hochnäsiges Gesicht blickte ihm entgegen.

»Ich bin Grimkjell«, begann er ohne Umschweife. »Ich bin wegen Stanislav hier. Um ihn zu finden, brauche ich einen persönlichen Gegenstand von ihm.«

KAPITEL 2

»Kommt doch erst mal rein«, bat Boguslav merklich überrumpelt.

»Keine Zeit.«

»So viel Zeit muss sein! Bitte.« Er öffnete die Tür einen Spalt weiter und machte eine einladende Geste.

Grimkjell rollte innerlich mit den Augen und trat ein.

»Ich werde meiner Frau gleich sagen, dass sie Euch etwas von Stanislav suchen soll«, verkündete Boguslav. »Lubomira? Lubomira, komm her, der Spurenleser ist gekommen.«

»Was, ist er jetzt doch da?«, rief es aus einem Nebenzimmer. Boguslavs Frau erschien in der Tür, hinter der Grimkjell die gute Stube vermutete. Mit Holzwicklern im Haar. Er verkniff sich ein Grinsen. »Da seid Ihr ja!«, kam so vorwurfsvoll, dass er am liebsten gleich wieder gegangen wäre. »Der Bürgermeister hat uns gesagt, Ihr hättet abgelehnt.«

»Hab’s mir anders überlegt«, gab er zurück. Die Sache mit Rastislav und dem Smaragd verschwieg er ihnen lieber, man konnte nie wissen. »Also, wie ich es bereits Eurem Mann gesagt habe: Ich brauche einen persönlichen Gegenstand von Stanislav.«

»Wozu?«

»Weil ich ihn sonst nicht finden kann«, erwiderte er ungeduldig. »Es ist meine magische Begabung, die Spur einer Person zu sehen, wenn ich einen Gegenstand bei mir trage, der ihr gehört. Das kann ein Hemd sein, ein Haarkamm, ein Gürtel. Es spielt keine Rolle, Hauptsache, es ist das Eigentum. Je mehr es genutzt wird, desto besser.«

»Ich verstehe ...« Lubomira kratzte sich zwischen ihren Wicklern. »Dann lasst mich sehen, was ich Euch von Stani geben kann. Ich schaue eben in seinem Zimmer nach.«

Während er schweigend mit Boguslav auf die Rückkehr der Hausherrin wartete, blickte Grimkjell sich um. Es war ein rustikales, aber feines Heim, das Holz ordentlich gebeizt und die Wände strahlend weiß gekalkt. Kunstvoll geschmiedete Wandlüster spendeten warmes Licht und ein Strauß mit getrockneten Blumen stand auf einer Anrichte. Dass jemand Lösegeld von dieser Familie erpressen wollte, erschien Grimkjell immer wahrscheinlicher. Vermutlich würde bald ein entsprechender Brief bei ihnen ankommen.

Nach einer Weile kehrte Lubomira zurück und überreichte Grimkjell einen kleinen Gegenstand, der sich als hölzernes Püppchen herausstellte.

»Frage«, sagte Grimkjell, »wie alt ist Stanislav?«

»Zweiundzwanzig.«

»Und da habt Ihr nichts anderes gefunden als das hier?« Er hielt das Püppchen in die Höhe.

»Na ja«, etwas unbehaglich hob Lubomira die Schultern. »Ich weiß, es ist kindisch, aber es ist sein persönlichster Gegenstand. Die Puppe ist noch aus seiner Kindheit und er hängt daran als Erinnerungsstück. Dass sie noch hier ist, ist für uns ein klares Zeichen, dass er nicht freiwillig gegangen ist. Sein Rucksack ist zwar fort und auch ein paar Kleider, aber er hätte die Puppe nie zurückgelassen.«

Es sei denn, er ist ausgezogen, um endlich erwachsen zu werden.

»Na schön.« Grimkjell steckte die Puppe ein.

»Wir haben hier noch etwas«, erklärte Boguslav und reichte ihm eine Karte. Das gezeichnete Porträt eines jungen Mannes war darauf abgebildet. »Das ist Stanislav. Damit Ihr wisst, nach wem Ihr sucht.«

»Danke.« Grimkjell steckte das Bild in seine Manteltasche.

»Wann wollt Ihr losziehen?«, fragte Lubomira.

»Gleich im Morgengrauen, wenn’s recht ist.«

»Natürlich ist uns das recht«, beteuerte sie. »Findet nur unseren Stani so schnell wie möglich wieder. Er ist ein scheuer Junge und wo auch immer er jetzt ist, er hat sicher große Angst.«

»Ich werd ihn schon finden. Bis jetzt hab ich jeden aufgespürt. Allerdings brauch ich noch Geld ... ich muss mir Proviant kaufen. Und unterwegs vielleicht irgendwo einkehren ...«

»Oh, selbstverständlich!«, rief Lubomira. »Boguslav, hol die Geldbörse. Wie viel braucht Ihr?«

»Sagen wir, vier Schillinge«, forderte Grimkjell dreist.

»Wie Ihr wünscht«, erwiderte Lubomira, zu seiner Überraschung ohne jeden Einwand. Boguslav griff in die Geldbörse.

»Und, äh, wir haben uns noch gar nicht über meine Bezahlung unterhalten. Ich meine ... während ich Euren Sohn suche, kann ich ja nicht meiner normalen Arbeit als Steinmetz nachgehen und damit mein Geld verdienen.«

»Natürlich.« Boguslav räusperte sich. »Wir haben als Belohnung für den, der unseren Stanislav findet, zwei Pfund ausgeschrieben.«

»Zwei Pfund?« Grimkjell pfiff durch die Zähne. Diese Leute mussten wirklich reich sein. »Einverstanden.« Innerlich rieb er sich die Hände. Der Smaragd und zwei Pfund in Münzen, sein Auskommen wäre gesichert.

Er nahm die Spesen von Boguslav entgegen und verabschiedete sich. Draußen vor der Tür atmete er tief durch, ließ die Nachtluft in seine Lungen strömen.

Und dann nahm er die Puppe in die Hand. Seine Fähigkeiten als Spurenleser hatten nicht etwa damit zu tun, dass er irgendwelche Fußabdrücke und Hinweise deuten konnte. Das Spurenlesen war seine Magie. Wenn er sie aktivierte, sah er sie, sah den Weg, den der Gesuchte an einem Ort zuletzt gegangen war. Er schloss die Augen. Sammelte seine Kräfte in sich, konzentrierte sich auf das, was er sehen wollte. Und als er sie wieder öffnete, sah er sie. Die Spuren, leuchtend im bläulichen Licht der Magie. Sie führten vom Haus fort in Richtung Stadttor.

»Ich fang dich schon, Kleiner«, murmelte Grimkjell und lächelte. »Ich fang dich ein und hol mir meine Belohnung. Und wenn ich mich dafür mit deinen etwaigen Entführern anlegen muss.«

Im Morgengrauen packte er sein Bündel und machte sich auf den Weg. Es gab keine Zeit mehr zu verschwenden; je eher der Junge zurück nach Hause kam, umso besser für sie alle.

Auf dem Weg zur Stadt hinaus traf er auf Manfred, einen gutmütigen Svîn, der ihn mit einem Winken grüßte. Manfred besaß ein Wirtshaus, in dem alle in der Stadt gern einkehrten, denn die Gasthäuser der Svînar waren bekannt für ihre rustikale Gemütlichkeit und reichlich gutes Essen.

»Guten Morgen, Manfred«, sagte Grimkjell.

»Guten Morgen, Grimkjell. So früh schon unterwegs?«

»Ja. Werde vermutlich ein paar Tage fort sein. Ich suche diesen verschwundenen Jungen.«

»Stanislav?«, fragte Manfred erstaunt. »Der Bürgermeister hat gesagt, du hättest abgelehnt.«

»Argh«, Grimkjell runzelte die Stirn, »mit wem hat der Knilch seit gestern Nachmittag bitte schon alles geredet? Pius ist ein elendes Tratschmaul.«

»Du kannst doch nicht so über den Bürgermeister reden«, erwiderte Manfred erschrocken.

»Du siehst doch, dass ich’s kann. Aber ja, ich hatte zunächst abgelehnt. Dann habe ich es mir doch anders überlegt.«

Manfred nickte verständnisvoll. »Kommt vor. Manchmal denkt man noch mal über etwas nach, und dann ... aber es ist gut, dass du Stanislav suchen gehst. Hoffentlich findest du ihn wohlbehalten. Er ist ein netter Junge. Sehr scheu.«

»Ja, davon hab ich schon gehört. Also dann – bis demnächst.«

»Bis demnächst und viel Glück!«

Grimkjell verließ die Stadt in die Richtung, in die er die Spuren gestern hatte gehen sehen. Als er das freie Feld vor sich hatte mit der steinigen Straße und der Silhouette des Waldes, der in einigen Meilen Entfernung begann, hielt er inne. Sammelte wieder seine Kräfte, berührte die Puppe in seiner Manteltasche. Leuchtend blau schienen die Spuren vor ihm auf. Gleichmäßige Fußspuren, nicht holprig, nicht, als hätte ihn irgendjemand mit sich geschleift, sondern so, als sei er von selbst gegangen. Grimkjells Verdacht, dass der Kleine entgegen den Vermutungen aller gar nicht entführt worden war, erhärtete sich. Zu seiner Hoffnung auf die fürstliche Entlohnung gesellte sich eine gute Portion Neugier. Ideale Voraussetzungen also, um seinen Auftrag zu erfüllen.

Wie er erwartet hatte, führten die Spuren in den Wald hinein. Die ersten Vögel zwitscherten ihr morgendliches Lied und wieder war eine dieser Stunden des Tages gekommen, die Grimkjell besonders gern mochte. Niemand sonst war hier unterwegs, keine Reisenden, keine Händler, keine Wanderer. Nur er. Und als Wolf fürchtete er sich nicht im Wald. Sein Volk war einst Herrscher über die dunkelsten, dichtesten Gebiete der Wälder gewesen. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Die Völker hatten sich einander angenähert, lebten gemeinsam und auch wenn es hier und da Differenzen gab, waren sie weitestgehend Freunde. Oder zumindest keine erbitterten Feinde mehr. Trotzdem fürchteten sich die meisten Geschöpfe vor dunklen oder nächtlichen Wäldern und mieden diese lieber. Man wusste nie, was dort auf einen lauerte, sagten sie. Als Wolf war Grimkjell das egal. Er fühlte sich von nichts und niemandem bedroht, außer von Leuten, die ihm auf die Nerven gingen.

Während er den Waldweg entlang spazierte und dabei ein Liedchen pfiff, mit dem er im Geiste die Schönheit des Smaragds besang, der bald in seinen Besitz übergehen würde, nahm er die Puppe aus seiner Manteltasche und betrachtete sie. Sie war kaum größer als seine Hand, besaß aber bewegliche, aus Holz geschnitzte Glieder. Sie trug ein hellblaues Leinenkleid, das mit den Jahren schon etwas ausgeblichen und fleckig geworden war und zwei geflochtene Zöpfe aus Flachs. Ein wirklich eigenartiger Lieblingsgegenstand für einen zweiundzwanzigjährigen Mann.

Unwillkürlich dachte Grimkjell darüber nach, was für eine Art Geschöpf ihn bei Stanislav wohl erwarten würde. Scheu, das hatte er nun oft genug gehört. Scheu und eigenartig. Vielleicht ein bisschen zurückgeblieben. Möglicherweise traute ihm deshalb keiner zu, dass er von allein davongelaufen war und wenn doch, dann befand er sich vermutlich in Gefahr. Wie von selbst beschleunigte Grimkjell seine Schritte und folgte weiterhin der Spur. Der Junge war wirklich weit in den Wald hineingelaufen. Doch irgendwann, gegen Mittag, überkam Grimkjell der Hunger und er machte Rast. Am Stamm einer alten Kiefer ließ er sich nieder und packte Brot und Käse aus.

Er hatte ihn bei Ada auf dem Wochenmarkt gekauft; sie stellte köstlichsten Käse aus gereiftem Nussmus her, von mild bis würzig. Es war immer ein großer Genuss, den sich Grimkjell viel zu selten gönnte, weil er teuer war. Aber von dem Kostgeld, das Stanislavs Eltern ihm mitgegeben hatten, würde er es sich gut gehen lassen.

Ein Knacken im Gebüsch erregte seine Aufmerksamkeit. Misstrauisch sah er sich um. »Ist da jemand?«

Es kam keine Antwort. Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und schnitt sich eine Scheibe Brot und ein Stück Käse ab. Dass es in den Büschen knackte, war im Wald vollkommen normal, er war diese Geräuschkulisse nur von seinem Stadtleben kaum noch gewohnt. Dennoch dachte er an die Schauergeschichten von einem Wesen namens Puujoq, die manche Eltern ihren Kindern erzählten. Ein böser Geist sollte das sein, ein Schattendämon, der in den nebligen Wäldern hauste, weshalb man ihn auch Nebelgeist nannte. Dürr und schwarz und groß beschrieb man ihn, mit einem ausladenden Hirschgeweih, und er fraß angeblich die Seelen der Verirrten. Was für einen Blödsinn sich die Leute ausdachten, wenn sie irgendwo einen Schatten im Dickicht sahen, war unglaublich.

Hier war jedenfalls kein Puujoq und Grimkjell beendete seine Mahlzeit ohne Zwischenfälle, ehe er sich wieder auf den Weg machte. Die Spur führte wieder aus dem Wald hinaus und schlug den Pfad in Richtung der nächsten Siedlung ein. Grauheim war ein vorwiegend von Wulko bewohntes Dorf und Grimkjell hatte einmal erwogen, sich dort niederzulassen. Aber die Grauheimer blieben lieber unter sich und waren gegenüber Zugezogenen nicht sehr offen, selbst wenn es sich um andere Wulko handelte.

Dorf eben.

Der Weg in die Siedlung erschien ihm länger, als er ihn in Erinnerung hatte. Beinahe fühlte es sich an, als liefe er einem Trugbild hinterher, aber auch Stanislavs Spuren führten direkt dorthin. Als Grimkjell jedoch am späten Nachmittag endlich Grauheim erreichte, bogen die Spuren ab und umgingen die Siedlung.

Sieh an, dachte er, ins Wolfsdorf hast du dich also nicht getraut.

Außerhalb von Städten wie Windberg tendierten die Geschöpfe eher dazu, mehr unter sich zu leben. Es gab natürlich Ausnahmen, aber allgemein war bekannt, wo sich die Gebiete der Wulko, Fuhsazar, Raiha und so weiter befanden.

»Na schön«, murmelte er zu sich selbst. »Zeit für eine Pause. Mal sehen, ob sich hier etwas zu essen auftreiben lässt.«

Allzu viel los war nicht in dem Dorf, sodass sein Kommen den Wenigen, die draußen zugange waren, sofort auffiel.

»Wer seid Ihr?«, fragte ein Mann, der gerade mit einer Axt Holz spaltete und die Klinge des Werkzeugs drohend in der Sonne blitzen ließ.

»Grimkjell aus Windberg. Ich bin auf der Durchreise und hatte gehofft, dass es in Grauheim vielleicht etwas zu essen für einen Wolf gibt.«

»Und wohin seid Ihr des Weges?«

»Ich suche jemanden. Wo wir gerade dabei sind«, Grimkjell zog das Bild von Stanislav aus der Tasche, »habt Ihr den hier zufällig gesehen?«

Zwei, drei Leute traten näher und sahen sich die Zeichnung an.

»Das ist doch der junge Fuchs, der gestern Mittag hier herumgestreunt ist!«, rief eine Frau plötzlich.

»Stimmt«, bestätigte ein Mann. »Er wollte ins Dorf kommen und fragte genau wie Ihr nach Essen, aber wir haben ihn verjagt.«

Kein Wunder, dass uns keiner leiden kann, dachte Grimkjell, aber er hätte vermutlich ähnlich reagiert. Wulko waren eben keine Svînar.

»Vielleicht habt Ihr ja mit einem von Euch mehr Nachsicht«, erwiderte er. »Ich bezahle auch gut.«

»Na ja«, die Frau sah ihn skeptisch an, »ich habe einen großen Topf Graupensuppe gekocht, da fällt bestimmt noch was für Euch ab.«

Graupensuppe war nicht unbedingt Grimkjells Lieblingsgericht, aber er sehnte sich nach der stundenlangen Wanderung nach einer warmen Mahlzeit, also willigte er ein und folgte der Frau und ihrem Mann in ihr Haus.

»Setzt Euch doch schon mal«, bat sie und wies auf den langen, hölzernen Tisch, der fast die gesamte Stube ausfüllte.

Grimkjell nahm auf einem der Hocker Platz. »Der Junge war also allein?«, fragte er beiläufig.

»Der Fuchs?« Sie drehte sich kurz um. »Ja, der war allein.«

»Und in welchem, äh ... Zustand war er?«

Der Hausherr setzte sich Grimkjell gegenüber und zuckte mit den Schultern. »Ich würde sagen: lebendig.«

Grimkjell stieß ein unwilliges Brummen aus. »Ich meinte eher: Wirkte er verängstigt? Verwirrt?«

»Nein, gar nicht. Er wurde sogar noch frech, als wir ihm nichts geben wollten, und wünschte uns Kobolde, die uns die Speisekammern leerräumen. Als dann Vitringur kam, unser Schmied, ein großer, kräftiger Kerl, hat er aber Fersengeld gegeben.«

Na sieh einer an, durchfuhr es Grimkjell, von wegen verängstigter, kleiner Kerl. Er scheint mir eher ziemlich aufmüpfig zu sein. Zumindest außerhalb seines Zuhauses.

»Warum sucht Ihr ihn denn?«, wollte die Frau wissen.

»Ich werde dafür bezahlt. Ich bin nicht schlecht im Spurenlesen. Seine Eltern glauben, der Junge wurde entführt, aber wie es aussieht, ist er wohl davongelaufen.«

»Ah. Passt nur auf, dass man Euch nicht übers Ohr haut. Füchse sind verschlagen, wie man weiß.«

»Durchtrieben und hinterlistig, das ist mir bekannt. Ich bin auf der Hut, keine Sorge.«

»Also schön.« Die Frau stellte ihm eine Schüssel Graupensuppe hin. »Dann lasst es Euch schmecken.«

KAPITEL 3

Langsam wurde es wirklich anstrengend. Seit zwei Tagen verfolgte er Stanislavs Spur und wann immer er an einen Ort kam und nach ihm fragte, teilte man ihm mit, dass sich der Junge am Abend vorher hier herumgetrieben hatte. Allein. Wo auch immer er hinwollte, er schien noch nicht am Ziel zu sein, dafür immer einen Schritt voraus. Trotzdem hatte Grimkjell den Jungen schon ganz gut eingeholt. Aber eben noch nicht genug.

Er hatte also eingesehen, dass er seine Taktik ändern musste. Seltener rasten. Erst bei Anbruch der Dunkelheit einkehren oder ein Lager aufschlagen und schon vor dem Morgengrauen wieder loslaufen. Nur so hatte er eine Chance, Stanislav einzuholen. Ausschlafen und in Ruhe speisen konnte er auch dann noch, wenn er den Smaragd und das Geld hatte und sich zur Ruhe setzen konnte.

Die Dunkelheit brach herein, als er einen Ort namens Wintertal erreichte. So eisig, wie der Name dieses Ortes klang, heulte hier auch der Wind. Obwohl zunächst der Herbst an der Reihe war, das Land mit Stürmen und buntem Laub zu überziehen, schickte hier offenbar tatsächlich schon der Winter seine ersten Vorboten.

Glücklicherweise gab es in Wintertal ein kleines Gasthaus, sodass er nicht irgendjemanden um ein Obdach in dessen Zuhause bitten oder gar unter freiem Himmel übernachten musste. Das Haus wirkte sehr viel neuer als die anderen Gebäude des Ortes; robustes Fachwerk anstatt reiner Holzwände. Vermutlich war dieser Gasthof erst vor wenigen Jahren errichtet worden. Die Leute reisten inzwischen mehr umher und auch das Nebeltal, das nicht weit von hier begann, war ein Ort geworden, den man nicht mehr vollends mied.

Das Nebeltal.

Grimkjell schauderte bei dem Gedanken, trotz allem. Es hatte seinen Namen bekommen, weil dort über endlos lange Jahre ununterbrochen Nebel geherrscht hatte. Nebel, in dem angeblich Monster und Dämonen hausten, wie der berüchtigte Puujoq. Grimkjell war einmal dort gewesen und er hatte keine guten Erinnerungen daran. Allerdings hatte das nicht unbedingt an irgendwelchen Nebelgeistern gelegen. Sein Bedürfnis, noch einmal dorthin zurückzukehren, war gering, also hoffte er, dass der junge Fuchs nicht etwa vorhatte, seine Reise in diese Richtung fortzusetzen. Seine Spuren führten jedenfalls in dieses Gasthaus. Vermutlich würde man ihm auch hier wieder mitteilen, dass Stanislav am gestrigen Abend hiergewesen war. Oder am Vormittag oder wann auch immer.

Er betrat das Gasthaus und in dem Augenblick, in dem er die Tür hinter sich schloss und den kalten Wind aussperrte, herrschte Stille. Der einzige Gast im Schankraum, ein alter Hirsch mit einem ausladenden Geweih, blickte misstrauisch auf. Die Wirtin eilte heran.

»Willkommen im Gasthaus Zum Magischen Geweih«, begrüßte sie ihn und blickte skeptisch auf seinen Schweif, der unwillkürlich nervös zuckte.

Wie ihr Geweih die Wirtin als Hirschfrau verriet, so verriet der graugescheckte, pelzige Schweif, der seinem unteren Rücken entwuchs, Grimkjell als Wolf.

»Ich bin ein Wanderer auf der Durchreise«, verkündete er wie üblich, »und ich hätte gern ein Bett für die Nacht und etwas Warmes zu essen.«

»Sollt Ihr haben.« Sie nickte dem alten Hirsch zu. »Vater, würdest du die freie Kammer bitte für unseren Gast vorbereiten?«

Ächzend erhob sich der Alte und musterte Grimkjell immer noch misstrauisch. »Zahlung im Voraus, guter Mann.«

»Ja, ja.« Grimkjell winkte ab und griff in seinen Geldbeutel.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und es betraten doch noch ein paar Gäste den Schankraum. Ortsansässige, wie es schien, die sich den Abend bei einem Krug Bier in Geselligkeit gemütlich machen wollten.

Mir soll’s recht sein, dachte Grimkjell, vielleicht hört der Alte dann auf, mich so anzustarren.

Immer mehr Leute kamen, Hiruzar und Raiha, und es wurde ein ziemliches Gewimmel. Grimkjell zog sich an einen Tisch in der Ecke zurück, bestellte eine Bierspezialität namens Frau Ewas Nebelmalz und einen Nussbraten mit Klößen, Rotkohl und dunkler Soße. Während er auf das Essen wartete, nahm er die Puppe aus seiner Manteltasche und drehte sie gedankenverloren in den Händen. Stanislav war definitiv in diesem Schankraum gewesen, denn selbst, wenn Grimkjell sich nicht auf seine Magie konzentrierte, konnte er ein blasses Schimmern seiner Spuren sehen. Er würde die Wirtin nachher definitiv nach ihm fragen, aber erst wollte er seine wohlverdiente Mahlzeit genießen.

»Frau Angharad, eine Runde Rehbier für uns alle!«, rief einer am größten Tisch in der Mitte des Schankraums. »Und sagt Eurem Vater, er soll sich zu uns gesellen. Ein lustiges Kartenspiel ohne Meister Gatharnan macht nur halb so viel Spaß.«

»Gleich, gleich«, beschied ihn die Wirtin. »Er bereitet gerade noch eine Kammer für einen Gast vor.«

Ein Schatten huschte in Grimkjells Augenwinkel vorbei und er drehte sich um. Aber da war niemand. Nur die anderen Gäste, die gerade eben schon dagesessen hatten. Trotzdem fühlte er sich merkwürdig beobachtet. Bald jedoch wurde er von diesem Gefühl abgelenkt, denn die Wirtin Angharad servierte ihm sein Essen. Es duftete köstlich und genauso schmeckte es. Grimkjell langte kräftig zu und verputzte es bis auf den letzten Krümel, und von diesem erstaunlich guten Bier ließ er sich noch einmal nachschenken. Aber wie das mit Bier eben so war, meldete sich irgendwann der Ruf der Natur mit dem dringenden Bedürfnis, sich zu erleichtern. Er stand auf und ging nach vorn an den Tresen, wo Angharad gerade Gläser polierte.

»Verzeihung«, sprach er sie an, »wo ist hier die Latrine?«

»Am Tresen vorbei, die erste Tür rechts«, antwortete sie ihm. Grimkjell verrichtete sein Geschäft, wusch sich die Hände und kehrte zurück an seinen Tisch.

Ach ja, durchfuhr es ihn, ich wollte die Wirtin nach Stanislav fragen.

Erneut griff er in die Tasche seines über dem Stuhl hängenden Mantels, wo er die Puppe und die Zeichnung aufbewahrte, und runzelte die Stirn. Tastete tiefer. Spürte den ersten Anflug von Panik in sich aufsteigen. Die Puppe war weg! Hektisch suchte er die andere Manteltasche ab sowie seinen Rucksack, aber er wusste genau, dass er die Puppe in die rechte Tasche gesteckt hatte. Jetzt war sie fort.

»Ich wurde bestohlen!« Er sprang auf, sein Stuhl kippte mit einem dumpfen Knall hinter ihm um. Alles wurde still.

»Eure Geldbörse hängt doch noch an Eurem Gürtel«, bemerkte einer der anderen Gäste lapidar.

»Es ist nicht meine Geldbörse, die fehlt. Es ist ...«, erst in dem Moment dämmerte ihm, dass man ihn womöglich auslachen würde, »es ist eine Puppe. Ja, lacht Ihr nur, sie hat einen großen Wert für mich. Einen ... ideellen Wert.«

»Hmm.« Ein Raihu, der mit an dem großen Tisch saß, kratzte sich am Ansatz seiner Hörner. »Gerade vorhin, als Ihr kurz euren Tisch verlassen hattet, schlich ein junger Fuchs dort in der Ecke herum. Vielleicht hat der Euch ja bestohlen.«

»Ein Fuchs?« Grimkjell riss die Augen auf und holte die Porträtzeichnung aus der Manteltasche. »Zufällig der hier?«

»Zeigt mal her.« Der Raihu nahm das Bild und betrachtete es kritisch. »Ja«, bestätigte er und blickte Grimkjell regelrecht verwundert an. »Das war genau der.«

»Wo ist er hin?«

»Er ist raus.«

»Raus? Nach draußen?«

»Ja.«

»Verdammt!« Grimkjell ballte die Fäuste. »Ich bin gleich wieder da. Mit dem Dieb. Keine Angst, Frau Angharad, ich werde meine Zeche nicht prellen!«

Eilig zog er sich seinen Mantel über und stürzte regelrecht aus dem Gasthof. Wo war dieser diebische, kleine Fuchs? Die Magie half Grimkjell an dieser Stelle nicht weiter, denn der persönliche Gegenstand, den er brauchte, um die Spuren zu sehen, war ihm von dessen Besitzer ja gerade eben gestohlen worden. Also musste er sich auf seine ganz normalen Instinkte verlassen.

Stück für Stück suchte er die Umgebung mit den Augen ab, hielt Ausschau nach sonderbaren Schatten oder verräterischen Bewegungen. Gleichzeitig lauschte er in die Stille, die leider nicht ganz so still war, weil der Wind um die Häuser heulte. Irgendwo hier war der Kleine. Er konnte nicht weit sein; auf keinen Fall hatte er sich jetzt in der Nacht auf seine Weiterreise gemacht. Jedenfalls nicht, wenn er bei Verstand war.

Langsam schritt Grimkjell jeden Baum, jeden Busch um das Gasthaus herum ab. Auch ohne Magie konnte er spüren, dass Stanislav ganz in der Nähe war. Es war dieses Prickeln, dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Und dann passierte es. Das Gebüsch direkt neben ihm nieste.

»Da bist du also!«, rief Grimkjell und machte einen Satz darauf zu.

Im gleichen Augenblick sprang der Junge aus seinem Versteck und gab Fersengeld. Doch Grimkjell, der viel längere Beine hatte, holte ihn im Nu ein, packte ihn an seinem Rucksack und zerrte ihn zurück.

---ENDE DER LESEPROBE---