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Palpa, Peru, 1915
Eine einzige Nacht sollte sein Leben verändern.
Als Pepe Diaz an jenem Abend Steine sammelte und auf seinen Eselskarren lud, wie es vor ihm schon sein Vater und Großvater getan hatten, wurde er zuerst von einem Sturm und bald darauf auch noch von der hereinbrechenden Dunkelheit überrascht. Hinter einem Fels suchte er Schutz vor dem Wüten der Elemente. Und wurde dort Zeuge von etwas, das ihn an seinem Verstand zweifeln ließ.
"Santa Madre de Dios!"
Am ganzen Leib zitternd bekreuzigte er sich - bevor es ihn hinab in die Unterwelt zog, einem gespenstischen Flüstern entgegen ...
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Versunkene Göttin
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Donma Digital Art/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7517-0125-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Versunkene Göttin
von Veronique Wille
Eine Klingel gab es nicht. Also klopfte Nicole kurzerhand an die Haustür. Als sich nichts tat, schaute sie noch einmal über die Straße hinweg hoch zur Kirche, deren Turm sich wie ein mahnender Zeigefinger vor dem Himmel abhob.
Von Zamorra war nichts mehr zu sehen. Er musste bereits hineingegangen sein.
Der Gedanke, dass er jetzt ohne sie im Inneren der Kirche war und womöglich wirklich auf den widerwärtigen Alten stieß, der sie vor der Seebrücke angesprochen hatte, gefiel ihr immer weniger.
Wir hätten uns nicht trennen sollen.
Aber jetzt war es zu spät …
Da sich auch nach dem zweiten Klopfen nichts tat, betrachtete sie die Haustür noch ein paar Augenblicke länger. Auf den ersten Blick schien es sich um eine der hier verbreiteten Darßer Türen mit kunstvoller Schnitzerei zu handeln. Doch anstatt der sonst üblichen Sonnen, Tulpensträuße oder Blüten war diese Tür mit Symbolen versehen, die selbst der in Magie erfahrenen Nicole unbekannt waren.
Sie erinnerten an Sigillen, an ligierte Buchstaben, die zumeist für eine Art von Wunschmagie angewandt werden. Doch diese Zeichen waren so fremdartig, dass Nicole sie keiner Richtung einordnen konnte. Auch war die Tür im Gegensatz zu den sonst üblichen nicht in fröhlichen Farben bemalt, sondern sie war grau. An manchen Stellen schien die Farbe abgeblättert.
Aber auch hier erkannte Nicole eine gewisse Methodik dahinter. Je länger sie auf die sigillenartigen Zeichen blickte, desto mehr schienen sich diese zu bewegen. Die feinen Linien wanden sich, schlängelten sich ineinander und bannten Nicoles Blick.
Dabei empfand Nicole die Magie, die dies bewirkte, nicht als bedrohlich. Es kam ihr vor, als versuchten die Sigillen mit ihr Kontakt aufzunehmen, weil sie ihnen umkehrt ebenso fremd war. Spürten sie, dass dem Dhyarra, den sie um den Hals trug, eine ganz besondere Kraft innewohnte?
Nicole zwang sich, den Blick zu lösen. Sie strich sich mit der Hand über die Augen, und als sie erneut auf die Tür schaute, war die Magie verflogen.
Sie klopfte ein weiteres Mal. Nach wie vor tat sich nichts. Sie fasste die Klinke an, um sie herunterzudrücken. Vielleicht war die Tür ja gar nicht verschlossen.
Im selben Augenblick durchzuckte sie ein Schmerz, als hätte sie einen starken elektrischen Schlag verspürt.
»Verflucht!«
Sie taumelte zurück und besah sich die schmerzende Rechte. Die Haut war gerötet, aber zum Glück nicht verbrannt.
»Na warte!« Die Drohung war nicht gegen den Zauber an sich gerichtet, sondern an diejenige, die dahintersteckte: Die Bewohnerin des Hauses! So einfach würde sie sich jedenfalls nicht abspeisen lassen. Jetzt schon mal gar nicht!
Der kurze Pfad, der zur Haustür geführt hatte, schlängelte sich durch den verwilderten Vorgarten weiter. Entschlossen folgte sie dem Weg ums Haus herum, bis sie auf die Rückseite gelangte. Hier sah alles noch verwilderter aus, aber dennoch fühlte sich Nicole von dem Garten angezogen. Er hatte etwas Verwunschenes.
Eine Terrasse, die als solche kaum erkennbar war, weil völlig überwuchert, weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie drückte ein paar Zweige beiseite und betrat die Terrasse. Eine Glastür, die ins Haus führte, war nur angelehnt.
Auf den Steinplatten davor fiel Nicole ein großer schwarzer Fleck auf. Als sie sich bückte, um ihn genauer zu betrachten, spürte sie die Magie, die von ihm ausging. Sie war anders als die Magie, die sie beim Anblick der Sigillen wahrgenommen hatte. Aber obwohl sie auch diese nicht einordnen konnte, stieß sie sie ab.
Sie fühlte, wie ihr Inneres sich verkrampfte. Je länger sie hinschaute, desto mehr erkannte sie, dass der Fleck sich bewegte, an Tiefe gewann und ihren Blick wie in einen Strudel in eine unbekannte Tiefe ziehen wollte.
Aus dem Haus glaubte sie einen erstickten Laut zu hören. Sofort war sie wieder im Hier und Jetzt.
»Hallo, ist da jemand?« Sie lauschte. Es war wieder völlig still.
Zu still.
Nicole musste sich überwinden, an dem schwarzen Fleck vorbeizuhuschen und die Verandatür aufzustoßen. Dabei bewegte sie sich völlig lautlos.
Dahinter befand sich eine Art Wohnzimmer, das völlig vollgestopft war mit Bücherregalen und einem Sammelsurium an Krügen, Gläsern und anderen Aufbewahrungsgefäßen. Es roch nach Kräutern und kaltem Rauch.
Nicole orientierte sich kurz und ging weiter, durch eine Tür, die in einen schmalen Korridor führte. Dabei umfasste sie unwillkürlich den Dhyarra, bereit, den Sternenstein jederzeit zu aktivieren, wenn Gefahr drohte.
Da vernahm sie erneut den Laut. Diesmal aus einem der Zimmer, die von dem Flur abgingen.
Die Zimmertür stand offen. Mit zwei Schritten hatte Nicole die Schwelle erreicht. Was sie sah, ließ sie sofort reagieren.
Eine ältere Frau lag mit dem Rücken auf dem Dielenboden. Über ihr stand breitbeinig ein Mann mit schulterlangen grauen Haaren. Er hatte die Arme ausgestreckt, die Kuppen beider Zeige- und Mittelfinger wiesen V-förmig auf die am Boden liegende Frau. Obwohl er sie nicht berührte, schien er mit der Geste etwas zu bewirken: Die Frau hielt beide Hände an den Hals gepresst, als wollte sie einen unsichtbaren Gegner abwehren. Ihr Gesicht war blau angelaufen. Verzweifelt rang sie nach Luft. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Mann an. Der hatte Nicole nach wie vor den Rücken zugewandt und sie offensichtlich noch nicht bemerkt.
Nicole handelte instinktiv. Sie sprang vor und hieb dem Mann die Handkante ins Genick.
Aufstöhnend sackte er zusammen und ging in die Knie.
Nicole hatte nicht allzu fest zugeschlagen, sodass er noch bei Besinnung war.
Mehr noch. Er hatte den Schlag erstaunlich gut weggesteckt. Noch kniend, richtete er den Oberköper auf. Langsam, fast provozierend langsam, drehte er den Kopf und lächelte Nicole boshaft an.
Der Mann war trotz der grauen Haare jünger, als sie zunächst vermutet hatte. Vierzig oder Mitte vierzig vielleicht. Obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte, kam ihr das schmal geschnittene Geiergesicht bekannt vor.
»Sieh an, da will noch jemand sterben«, sagte er süffisant. Seine Arme zuckten vor, diesmal zeigten die zum V gestreckten Ring- und Mittelfinger direkt auf Nicole.
Von der Wucht der Magie, die unsichtbar wie ein starker Orkan auf sie zuraste, wäre sie fast aus dem Raum geschleudert worden.
Sie konnte sich gerade noch am Türrahmen festhalten. Außerdem befahl sie dem Dhyarra kraft ihrer Gedanken, eine Schutzwand zu errichten, um den Angriff abzuwehren. Der magisch erzeugte Sturm prallte nun wirkungslos daran ab.
Befriedigt nahm Nicole den verwirrten Blick ihres Gegners wahr.
»Ich werde dir jetzt erst mal Manieren beibringen«, sagte sie. »Einfach so alte Frauen anzugreifen, ts, ts, ts …«
Sie hatte sich von dem ersten Schock sofort wieder erholt. Eine zweite Chance würde sie dem Mann nicht gewähren. Sie umfasste den Dhyarra nun mit beiden Händen und schuf erneut ein Bild in ihrem Geist, das wie ein Gedankenbefehl wirkte.
Als der Mann erneut die Finger nach ihr ausstreckte und die Magie auf den Schutzschirm traf, verpuffte sie diesmal nicht einfach nur wirkungslos, sondern wurde quasi gespiegelt. Mit doppelter Wucht prallte sie an dem Schirm ab und wurde auf den Verursacher zurückgeschleudert.
Der Mann wurde förmlich hinweggefegt. Er flog durch die Luft und schlug gegen die gegenüberliegende Wand.
Stöhnend rutschte er daran zu Boden und hielt sich den linken Arm. Sein Gesicht war blutüberströmt.
Blitzschnell war Nicole bei ihm. Hasserfüllt sah er zu ihr hoch, wagte aber keinen weiteren Angriff.
»Du hast mir den Arm gebrochen, du Schlampe!«, wimmerte er. Seine zuvor gezeigte Überheblichkeit war erstaunlich schnell von ihm abgefallen.
»Und ich brech dir auch noch den zweiten, wenn du mir nicht erzählst, was du hier wolltest!«
Ein Stöhnen war zu vernehmen. Es kam von der Frau, die noch immer auf dem Boden lag. Aber zum Glück lebte sie. Das war die Hauptsache.
»Hilfe … ich …«, wimmerte sie.
Für einen Moment war Nicole abgelenkt. Ihr Gegner nutzte das sofort aus. Ein Tritt gegen das Schienbein ließ sie tausend Sterne sehen. Der Mann hatte mit voller Wucht zugetreten.
Erstaunlich behände sprang er auf und rannte an ihr vorbei. Instinktiv wollte Nicole ihm hinterherhechten, aber ein erneutes Wimmern der Frau ließ sie innehalten.
Sollte der Typ doch abhauen! Sie war sich sicher, dass sie ihm noch einmal begegnen würde. Und dann würde abgerechnet werden.
Die rasch verklingenden polternden Schritte verrieten ihr, dass er schnell das Weite suchte.
Sie ignorierte den eigenen Schmerz und kniete sich vor der Frau nieder.
Sie hatte die Augen geöffnet und rieb sich den Hals.
»Können Sie mich hören?«, fragte Nicole besorgt.
Die Frau nickte, als sie jedoch sprechen wollte, kam nur ein Krächzen über ihre Lippen.
»Warten Sie, ich komme sofort zurück!«
Auf dem Küchenbord hatte Nicole eine Flasche mit Wasser stehen sehen. Sie humpelte dorthin und schüttete ein Glas voll. Damit begab sie sich erneut zu der Frau, die sich inzwischen aufgerichtet hatte.
Ihr Blick war jetzt wieder klar. Überhaupt diese Augen … Sie waren faszinierend und erinnerten Nicole an sonnendurchflutete Bernsteine. Das Hennarot ihrer Kurzhaarfrisur ließ sie auf den ersten Blick jünger aussehen, aber ein Blick in das Gesicht verriet Nicole, dass die Frau mindestens siebzig Jahre alt sein musste.
Mit gierigen Schlucken trank sie das Glas leer. Zuerst musste Nicole es ihr noch darreichen, doch mittlerweile hielt die Frau das Glas selbst umfasst. Sie erholte sich erstaunlich schnell.
»Frau Martens?«, fragte Nicole. »Sie sind doch Frau Martens, oder?«
Die Frau nickte. »Und wer sind Sie?« Ihre Stimme war noch immer heiser, war aber gut zu verstehen.
»Nicole. Nicole Duval. Ich schätze, da bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen …«
»Das sind Sie fürwahr.« Frau Martens versuchte, aufzustehen, war aber noch zu schwach. Nicole half ihr und begleitete sie auf einen Küchenstuhl. Ein kurzer Rundumblick zeigte ihr, dass es hier genauso chaotisch aussah wie in dem »Wohnzimmer«. Dennoch war es ein irgendwie geordnetes Chaos. Alles schien sich am richtigen Platz zu befinden.
Eine regelrechte Hexenküche, schoss es ihr durch den Kopf, und fast musste sie dabei schmunzeln. Denn wenn, dann war Frau Martens zweifellos eine »gute« Hexe. Ihr war die Frau sympathisch, und auf ihre Menschenkenntnis hatte sie sich noch immer verlassen können.
»Danke, dass Sie eingegriffen haben«, sagte Frau Martens nun. »Aber wie Sie das gemacht haben, sagt mir, dass Sie keine normale Frau sind.«
»Keine normale Frau? Na, wenn das mein Partner hört!« Diesmal musste Nicole tatsächlich schmunzeln.
»So meinte ich das nicht«, verbesserte sich Frau Martens. »Sie verfügen über außergewöhnliche Fähigkeiten …«
Ihr Blick war dabei auf den Dhyarra gerichtet, der noch immer offen über Nicoles Hemdbluse hing.
Der Dhyarra war in der Tat außergewöhnlich. Er sah aus wie ein Schmuckstein, war aber eine Wunderwaffe, wenn es darum ging, sich eines Gegners zu erwehren. Der blaue Sternkristall setzte alles um, was sich Nicole bildhaft in Gedanken vorstellte. Allerdings erforderte sein Einsatz höchste Konzentration. Sobald sie sich nicht mehr auf das Bild konzentrierte, konnte alles sofort zusammenbrechen, was der Dhyarra an durch Nicoles Gedanken erzeugter Wirklichkeit erschuf.
»Das mag sein«, wiegelte Nicole ab, um lieber mehr von der Frau zu erfahren. »Was wollte der Angreifer von Ihnen, Frau Martens?«
»Nenne Sie mich bitte Evica, das tun alle hier im Ort.« Sie räusperte sich und stöhnte. »Ich glaube, ich muss mir erst mal einen Kräutertee zubereiten …«
Sie wollte aufstehen, sackte aber sofort wieder auf den Stuhl zurück.
Sie ist härter im Nehmen, als ich gedacht hätte. Aber nicht so hart, wie sie denkt, dachte Nicole.
In strengem Tonfall sagte sie: »Nein, Evica. Zuerst sagen Sie mir, was gespielt wird! Immerhin hat der Bursche auch mich attackiert. Das hätte auch schlechter ausgehen können.«
Die Frau blickte sie mit ihren hellen Bernsteinaugen an und nickte schließlich. »Sie haben wohl ein Recht darauf, dass ich Ihnen reinen Wein einschenke. Auch wenn Sie mich nachher für eine Spinnerin halten. So wie die meisten hier.«
Nicole schüttelte den Kopf. »Ich halte Sie keineswegs für eine Spinnerin. Ich habe am eigenen Leib gespürt, dass der Angreifer besondere Fähigkeiten hatte, mit denen er uns Schaden zufügen wollte.«
»Schaden, sagen Sie? Er wollte mich töten!«
»Umso mehr ein Grund, dass Sie mich einweihen. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen – mit meinen Fähigkeiten.«
Evica trank noch einen Schluck Wasser, dann fragte sie: »Haben Sie schon einmal von einem Gott namens Svantevit gehört?«
Nicole nickte. »Seit unserer Ankunft leider zu häufig …« Um Evica zu beweisen, dass auch sie ihr vertraute, erzählte sie ihr, warum sie nach Wustrow gekommen waren.
Paul Brümmer, ein Polizist in Travemünde, hatte sich vor einigen Monaten als verlässlicher Partner erwiesen, der ihnen im Kampf gegen den blutrünstigen Dämon namens Roggenbuk geholfen hatte. Nun hatte Brümmer sie um Hilfe gebeten, weil sein Neffe Leonard seit einigen Tagen verschwunden war. Nach einigem Zögern waren Nicole und Zamorra zur Halbinsel Fischland-Darß gereist, um die Sache aufzuklären, obwohl sie nicht überzeugt waren, dass etwas Übernatürliches dahintersteckte.
»Wir haben als Erstes Leonards Eltern aufgesucht«, erzählte Nicole weiter. »Die beiden sind etwas seltsam, aber zumindest hat uns die Mutter erzählt, dass ihr Sohn von Ihrer Enkelin schwärmte …«
»Von Lya?« Evicas Überraschung war nicht gespielt. Nach kurzem Nachdenken sagte sie: »Ich glaube allerdings nicht, dass es über diese Schwärmerei, wie Sie sagen, hinausging. Abgesehen davon, dass das eine sehr einseitige Angelegenheit war oder noch ist. Warten Sie …«
Sie stand auf und ging erstaunlich behände zu einem Sideboard. Mit einem silbernen Bilderrahmen in der Hand kam sie zurück und reichte ihn Nicole.
Auf dem Foto darin war ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen zu sehen.
»Das ist Lya«, sagte Evica. Ein gewisser Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
Nicole betrachtete das Foto. Das Mädchen darauf war eine Schönheit. Eine dunkle Schönheit. In den ebenmäßigen Gesichtszügen las Nicole eine Erwartung, die sie nicht recht deuten konnte. Vielleicht war es ja auch nur die Erwartung, endlich die Schwelle zur Frau zu überschreiten. Am faszinierendsten aber waren die Augen. Sie erinnerten Nicole ebenfalls an Bernsteine, allerdings waren sie von einem viel dunkleren Braun. Und sogar winzige hellblaue Sprengsel glaubte Nicole darin zu erkennen. Der Fotograf hatte den Charakter des Mädchens sehr gut herausgeholt. Ihre Schönheit, aber auch das Geheimnisvolle an ihr.
Nicole reichte das Foto zurück. »Ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Ein Mädchen wie Lya hat sicherlich viele Verehrer.«
»Dieser Leonard hat keine Chance bei ihr. Ich kenne den Jungen. Er ist ziemlich seltsam und vertritt merkwürdige Ansichten.«
»So ähnlich haben das seine Eltern auch ausgedrückt. Aber Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass Lya irgendwie hinter Lennards Verschwinden steckt?« Evica runzelte die Stirn. Sie wirkte nun verärgert.
Nicole zuckte mit den Schultern. »Na ja, könnte ich vielleicht mal mit ihr sprechen?«
»Sie ist nicht zu Hause«, sagte Evica schroff.
»Ah ja, Frau Willmer sagte, sie sei bei einer Freundin …?«
»Und dort ist sie immer noch«, behauptete Evica.
Nicole spürte, dass sie log. Sie versuchte, in ihre Gedanken vorzudringen, doch spürte sie nur eine große Beunruhigung, was Lya betraf. Sie beschloss, das Thema zu wechseln, um zunächst wieder eine vertrauensvollere Basis für ein Gespräch zu schaffen.
»Dieser Svantevit, was hat es nun damit auf sich? Vor der Seebrücke steht doch eine Skulptur von ihm …«
Evica winkte ab. »Wie sich ihn eine Künstlerin so vorstellt. In Wahrheit ist er – weit größer. Ich meine das nicht nur im körperlichen Sinne. Er ist etwas Elementares, das alles durchdringt. Etwas, das man wie Feuer oder Wasser kaum zu fassen vermag. Bei Ersterem verbrennt man sich die Finger. Beim zweiten rinnt es einem durch die Finger. Verstehen Sie, was ich meine?«
Nicole nickte. Sie beschloss, Evica noch ein wenig mehr ins Vertrauen zu ziehen. »Der Svantevit, den ich bisher kannte, hat sein Leben längst ausgehaucht. Er stammte aus einer eigenen Dimension und war unglaublich gefräßig. Vor allem intelligentes Leben wusste er zu schätzen. Nachdem er seine eigene Welt fast leer gefressen hatte, stieß er im Jahre 422 irdischer Zeitrechnung vor der Insel Rügen ein Weltentor auf. Das Volk der Ranen verehrte den Dämon Jahrhunderte lang als Gott und errichtete ihm eine Tempelburg …«
Evica schüttelte den Kopf. »Sie brauchen mir das alles nicht zu erzählen. Dieser Svantevit ist nur eine von vielen seiner Inkarnationen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Sie sagten, er sei tot?«
»Er starb beim Untergang der Hölle, eine lange Geschichte.«
»Der Svantevit, den ich gleichermaßen fürchte wie bekämpfe, ist mitnichten tot. Er hat jahrhundertelang geruht, doch nun ist er dabei, zu erwachen …«