Professor Zamorra 1217 - Veronique Wille - E-Book

Professor Zamorra 1217 E-Book

Veronique Wille

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Beschreibung

Wach auf, mein kleiner Noël. Wach auf und schau, was ich dir mitgebracht habe ...
Die zärtlich geflüsterten Worte weckten ihn aus dem Schlaf. Noch glaubte der Sechsjährige zu träumen, als er die dunkel gekleidete Frau vor seinem Bettchen stehen sah. Sie war wunderschön, schöner noch als seine Mutter, die er über alles liebte.
Das kalte Mondlicht fiel auf ihr blasses Gesicht.
Sie lächelte, als sie ihm das Geschenk überreichte.
Als er erkannte, was es war, stockte ihm vor Schreck der Atem ...


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Seitenzahl: 137

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Feuerfee

Leserseite

Vorschau

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

© 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Ironika / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0871-5

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Die Feuerfee

von Veronique Wille

Wach auf, mein kleiner Noël. Wach auf und schau, was ich dir mitgebracht habe ...

Die zärtlich geflüsterten Worte weckten ihn aus dem Schlaf. Noch glaubte der Sechsjährige zu träumen, als er die dunkel gekleidete Frau vor seinem Bettchen stehen sah. Sie war wunderschön, schöner noch als seine Mutter, die er über alles liebte.

Das kalte Mondlicht fiel auf ihr blasses Gesicht.

Sie lächelte, als sie ihm das Geschenk überreichte.

Als er erkannte, was es war, stockte ihm vor Schreck der Atem ...

Madame Claire radelte wie jeden Morgen die Serpentinenstraße hinauf, die zum Château Montagne führte. Der kalte, aber nicht zu frostige Januarmorgen tat ihrem Körper und den Lungen gut. Sie atmete beim Fahren tief ein und aus und genoss den morgendlichen Frühsport, den sie natürlich nie als solchen bezeichnen würde. Sport war etwas für Menschen, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wussten. Oder für Leute wie Professor Zamorra und Nicole Duval, die natürlich aus gewichtigem Grunde ihren Körper in Schuss halten mussten und für die es lebenswichtig war, fit zu bleiben.

Die wohlbeleibte Köchin verband mit der morgendlichen Radtour hinauf zum Schloss vor allem eines: geistige Vorbereitung und Planung, was die kommenden Stunden betraf. Vor allem, seit sich der Professor in den Kopf gesetzt hatte, aus dem Château eine Zauberschule zu machen, war von Routine keine Rede mehr. Zumindest was ihren Arbeitsplatz betraf. Sie war es ja gewohnt gewesen, dass der Professor und Madame sich an keine festen Zeiten hielten, wann sie ihr Frühstück einnahmen. Nicht nur, dass sie ihre Recherchen oft bis tief in die Nacht betrieben, wenn mal wieder ein akuter Fall anlag. Und auch was sonst noch in der Nacht zwischen den beiden ablief, musste wohl oftmals sehr kräftezehrend sein. Vor allem für den Professor konnte nach solchen Nächten das Frühstück nicht üppig genug sein.

Das alles hatte Madame Claire stets im Griff gehabt, genau wie die Situationen, wo der dampfende Kaffee, die brutzelnden Spiegeleier und die frischen Croissants vergeblich auf die Herrschaften warteten, wenn die unverzüglich aufgebrochen waren, um irgendwo auf der Welt gegen die Schwarzblüter zu Felde zu ziehen.

Erst vor einem Monat hatte Madame Claire mal wieder am eigenen Leib erlebt, wie gefährlich die Höllenmächte waren, als sie im Zillertal auf die scheußlichen Saligen getroffen war. Dort war sie auch Sam McTaggart das erste Mal begegnet. Der wortkarge Ex-Soldat und erklärte Dämonenhasser war ihr von allen neuen Bewohnern des Château noch immer am unheimlichsten. Schon frühmorgens war er unterwegs – bei Frost und Wetter – und lief durch die Wälder – selbst in dieser Jahreszeit mit bloßem Oberkörper. Anschließend folgten diverse Trainingseinheiten im Schlosshof. Oftmals hatte Madame Claire ihn vom Küchenfenster aus heimlich beobachtet. Einen gestählten Körper hatte er ja und auch eine gute Konstitution, aber trotzdem sollte er aufpassen, sich keine Erkältung zuzuziehen.

Sie blickte hinauf zum Château, dessen dunkle Zinnen von Nebelschwaden umkränzt waren, und schnaufte. Sie hatte noch gut die Hälfte zu bewältigen und legte sich ins Zeug. Sowieso war sie heute etwas später dran, weil sie in der Backstube nicht pünktlich fertig geworden waren. Abermals machte die Serpentinenstraße eine Biegung, und das Château verschwand wieder aus ihrem Blick.

Da geschah es: Die Gestalt in glänzender Rüstung tauchte so unvermittelt vor ihr auf, dass sie nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Und bevor sie auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden imstande war, wo die Erscheinung so plötzlich herkam und überhaupt, was es mit ihr auf sich hatte, war sie schon hindurchgefahren.

Wie durch ein Gespenst, schoss es ihr durch den Kopf. Ein eiskalter Schauer hatte sie dabei erfasst, der auch jetzt nicht nachließ, als sie die Gestalt hinter sich gelassen hatte. Ihr Leib war wie von einer Eisschicht überzogen.

Das alles hatte nur Sekunden gedauert. Sie drehte den Kopf nach hinten und erschrak, als die Erscheinung noch immer dort stand. Allerdings hatte sie sich umgedreht und starrte auch sie an. Deutlich sah sie die Augen durch das Visier blitzen und erschauerte noch mehr.

Nur wenige Augenblicke hatte sie nicht nach vorn geschaut, konnte es auch nicht, da der Anblick des Unheimlichen sie geradezu bannte.

Das Rad kam ins Trudeln und legte sich zur Seite. Bevor Madame Claire gegensteuern konnte, spürte sie den harten Aufprall, der erfolgt war, als das Rad, anstatt die Kurve zu nehmen, direkt in die Böschung fiel.

Ihr Kopf machte schmerzhaft mit dem harten Boden Bekanntschaft. Dunkle Schlieren tanzten vor ihren Augen, als sie vergeblich versuchte, sich hochzustemmen.

Das Letzte, was sie bewusst wahrnahm, bevor die Dunkelheit wie ein gnädiger Vorhang ihr Bewusstsein verhüllte, war, wie die Gestalt langsam auf sie zuschritt.

»Sie lebt!«

»Natürlich lebt sie, du Hirni!«

»Selber Hirni! Ich meinte nur, sie wird endlich lebendig!«

(Genervtes Seufzen)

»Ich darf die Damen nun bitten, das Zimmer zu verlassen, bitte.«

Die letzte Stimme klang resolut. Madame Claire, die langsam wieder zu sich kam, überlegte, woher sie die Stimme kannte. Noch während graue Schlieren ihren Blick umwölkten, fiel es ihr ein.

Die Stimme gehörte Doktor LeGrande. Vor über einem Jahr hatte er sie wegen einer Magenverstimmung behandelt. Nie und nimmer wäre sie freiwillig zu so einem jungen Spund gegangen! Damals hatte Zamorra sie gedrängt, den Arzt zu kontaktieren, und dieser hatte sie tatsächlich von ihren Magenkrämpfen befreien können. Aber was hatte er jetzt hier wieder zu suchen?

Ihr Blick klärte sich, und verwundert stellte sie fest, dass sie auf dem Bett in einem der Gästezimmer lag. Sie befand sich nicht allein in dem Zimmer. Neben Doktor LeGrande befanden sich noch Lucia und Laura darin ... und ein überaus besorgt dreinschauender Sam McTaggart. Was machten die denn alle hier um sie herum?

Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass sie nicht etwa unbekleidet war. Nein, man hatte ihr nur den Mantel und die Schuhe ausgezogen. Unter die bestrumpften Füße hatte man ihr ein Kissen gelegt, damit sie hochlagen.

Die kurze Kopfbewegung hatte allerdings gereicht, dass ihr Schädel zu zerplatzen drohte. Aufstöhnend sackte sie zurück auf das Kissen.

»Bitte bleiben Sie ruhig liegen«, vernahm sie erneut die Stimme des Arztes.

»Was ... was ist ...?«

»Sie haben sich eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen. Kein Grund zur Beunruhigung. Ein paar Tage müssen Sie sich allerdings gedulden, ehe sie wieder ...«

»Ein paar Tage? Unmöglich, ich ...« Unwillkürlich hatte sie erneut den Kopf ein Stück gehoben. Der sofort einsetzende Schmerz brachte sie zum Schweigen.

»Was ... was ist eigentlich passiert?«, fragte sie nach einer Weile, blieb aber ruhig liegen dabei und hielt die Augen geschlossen. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war dieser silberne Ritter, durch den sie hindurchgefahren war.

»Sie sind mit dem Fahrrad in den Graben gefahren und haben sich eine Kopfwunde zugezogen«, erklärte Doktor LeGrande ernst. »Sie hatten Glück im Unglück, dass Monsieur McTaggart Sie gefunden hat und ...«

Nun riss sie doch die Augen auf und ignorierte das Pochen hinter der Stirn. Sie fixierte den Amerikaner und stammelte: »Haben Sie ... haben Sie ihn auch gesehen?«

»Wen gesehen?«, knurrte McTaggart.

»Den Ritter. Also den Geist!«

Ihr entging nicht der Blick, den sich LeGrande und McTaggart dabei zuwarfen.

»Ich habe weder einen Ritter noch einen Geist gesehen«, antwortete McTaggart schließlich. Nur Sie, als Sie ohnmächtig im Graben lagen! Sie haben ganz schön geblutet.«

Ihre Hand zuckte vor und umklammerte McTaggarts Handgelenk. »Ich muss mit Madame Nicole sprechen. Und Monsieur Zamorra! Holen Sie sie her! Schnell ...!«

Erschöpft sackte sie erneut zurück. Das alles war doch ein bisschen zu viel für sie. Sie sehnte sich nach Ruhe. Und Schlaf ...

Als hätte Doktor LeGrande ihre Gedanken gelesen, spürte sie den leichten Einstich am Arm.

»Ich gebe Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel, damit Sie sich umso schneller wieder erholen.«

»Nein, ich muss doch erst ...«

Aber da umfing sie schon erneut wohliger Schlummer.

Als Madame Claire erneut erwachte, glaubte sie zunächst zu träumen. Das Gesicht, das über ihr schwebte, konnte doch unmöglich ...

»Erschrecken Sie nicht, ich bin es ...«

Giacomo Parisi! Der alte Monsignore hatte sich über sie gebeugt und lächelte sie an.

»Erschrecken? Wieso sollte ich erschreckt sein? Ich habe Sie doch erwartet. Ich ...«

Sie fasste sich an die Stirn und fühlte einen dicken Verband. Augenblicklich fiel ihr alles wieder ein.

»Der Ritter ... der Geist ...!«

»Beruhigen Sie sich, Madame. Wir wissen Bescheid. Sam McTaggart hat uns informiert. Zamorra wird sich mit Ihnen darüber unterhalten. Aber alles zu gegebener Zeit ...«

»Wie ... wie lange habe ich geschlafen?«

Parisi sah auf seine Armbanduhr. »Länger als sechzehn Stunden.«

Madame Claire hob erschrocken die Hand vor den Mund. »Jetzt begreife ich! Wir haben Sie für morgen erwartet!«

»Morgen ist heute.« Parisi lächelte. »Und für mich heißt es schon wieder aufzubrechen, obwohl meine beiden Schützlinge am liebsten hier ganz einziehen würden.«

Jetzt lächelte auch Madame Claire, beeilte sich aber sogleich wieder um eine strengere Miene. »Mit den beiden Rackern haben Sie uns ein ganz schönes Kuckucksei ins Nest gesetzt. Oder vielmehr zwei. Robin und Christoph haben es faustdick hinter den Löffeln. Selbst der Herr Professor hat mehrmals die Geduld verloren ...«

»Da sehen Sie mal, was ich oft auszuhalten habe«, seufzte Parisi. »Auf jeden Fall ist es eine gute Idee des Professors, besonders PSI-begabte Schützlinge unserer Stiftung hier im Château weiterzubilden – und ihnen ganz nebenbei eine willkommene Auszeit zu gönnen. Die beiden Jungs hat es besonders McTaggart angetan. Sie wollen später auch harte Dämonenjäger werden wie er ...«

Madame Claire lächelte schwach. »Hoffentlich nicht«, flüsterte sie. »Ein Sam McTaggart ist genug für die Welt.«

»Ich sehe, Sie haben Ihre Bissig... ich meine Ihren Humor nicht verloren. Auf jeden Fall wollte ich noch mal nach Ihnen sehen, bevor ich gleich abreise. Ich wünsche Ihnen eine gute Besserung!«

Er drückte noch einmal ihre Hand und erhob sich.

»Der Professor, bitte! Ich muss ihm doch mitteilen, dass ...«

Sie spürte, wie ihr die Augen zufielen. Kurz danach befand sie sich bereits wieder im Land der Albträume.

»Madame Claire glaubt also, einen Ritter in einer glänzenden Rüstung gesehen zu haben«, wiederholte Nicole, nachdem ihr Zamorra von seinem Gespräch mit der Köchin berichtet hatte. »Was hältst du davon? Hat sie sich vielleicht nur etwas eingebildet?«

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Zamorra ehrlich. Er und seine Partnerin saßen am Küchentisch und nahmen eine Mahlzeit zu sich, die ausnahmsweise Lucia und Laura gemeinsam zubereitet hatten. Dabei hatten sie sich wie die Besenbinder gestritten, ob in eine vegetarische Lasagne nicht doch etwas Hackfleisch reindürfte. Das Ergebnis war nahezu ungenießbar.

»Jedenfalls wünsche ich mir, dass Madame Claire so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommt!« Er verzog das Gesicht und legte die Gabel, auf der sich noch immer ein Stück Lasagne befand, zurück auf den Teller.

»Egoist! Du denkst nur an deinen Bauch und deine Befriedigung, anstatt dir ernsthaft Sorgen zu machen!«

Zamorra seufzte. »Natürlich gibt auch mir der Vorfall zu denken. Und wie du kommen mir dabei sofort der Orden der 1000 und Kealan in den Sinn. Trotzdem gehe ich nach wie vor davon aus, dass sich diese Angelegenheit mehr oder weniger erledigt hat. In all den Monaten haben wir nichts mehr davon gehört ...«

»Ist das nicht eher Wunschdenken?«

»Erstens hält die M-Abwehr ums Château bombenfest ...«

»... aber zweitens hat Madame Claire den Ritter außerhalb der Schlossmauern gesehen.«

»Aber er hat sie nicht angerührt, oder? Wenn er es wirklich auf sie oder uns abgesehen hätte, hätte sie wohl mehr davongetragen als nur eine leichte Gehirnerschütterung.«

Nicole überlegte eine Weile. Dann gab sie zu: »Du hast irgendwie recht. Trotzdem sollten wir weiterhin auf der Hut sein. Vielleicht war es eine Art Omen. Oder eine Warnung ...«

Zamorra beugte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Sind wir nicht immer auf der Hut? Warten wir einfach ob, ob dieser ominöse Ritter noch einmal auftaucht ...«

Aber das tat er nicht, und nach zwei Tagen übernahm zu Zamorras Erleichterung auch Madame Claire wieder das Zepter in der Küche.

Rudolphe drückte die Daumen. Und zwar sich selbst, dass er diesmal nicht der Letzte sein würde, der in eine der beiden Mannschaften gewählt wurde. Er rechnete sich gute Chancen aus, denn der Neue schien noch unsportlicher zu sein als er. Zumindest wenn man von seinem Leibesumfang ausging.

Es war ein ungemütlicher, frostiger Tag an diesem Januarnachmittag. Einmal die Woche, am Montag, fand der Sportunterricht auf dem neben der Schule errichteten Fußballfeld statt. Die 22 Schüler des Lycée St. Joseph du Loquidy standen in ihren kurzen Hosen und leichten Trikots bibbernd da und wünschten sich, dass das Spiel endlich anfing, damit ihnen wärmer wurde.

Monsieur Le Tousse hielt große Stücke darauf, was die Abhärtung »seiner Jungs« betraf. Er selbst allerdings trotzte dem frostigen Ostwind, der über das Feld fegte, in einem gefütterten Trainingsanzug.

Rudolphe spürte nur zu gut, wie ihn Monsieur Le Tousse wegen seiner Unsportlichkeit verachtete. Wie übrigens die meisten seiner Mitschüler auch. Nicht nur nach dem Sportunterricht war er ein beliebtes Mobbingopfer. Ach was, das Mobbingopfer.

Umso mehr hoffte er, dass der Neue, Didier, seine unrühmliche Stelle einnehmen würde. Bisher hatte sich der Dicke allerdings bei den Anführern in der Klasse lieb Kind gemacht und großzügig Süßigkeiten und Zigaretten verteilt. Mit Rudolphe hatte er bisher kaum ein Wort gewechselt, wahrscheinlich um sich nicht mit ihm, dem Loser, gemein zu machen.

»Didier.«

Rudolphe glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Nathan hatte den Neuen gleich als Zweiten gewählt. Gleich nach Enzo, einem der besten Stürmer in der Klasse. Nathan war ganz sicherlich nicht der beste Spieler, aber der geborene Anführer. Auf Rudolphe schaute er nur mit Verachtung, wenn er ihn überhaupt beachtete. Rudolphe hätte gern so ausgesehen wie Nathan, der mit seiner schlanken, hoch aufgeschossenen Gestalt und den schwarzen Locken nicht nur Klassensprecher war, sondern auch der erklärte Schwarm aller Mädchen.

Rudolphe tröstete sich damit, dass der Neue ihn wahrscheinlich mit Zigaretten bestochen hatte, damit er ihn in seine Mannschaft wählte.

Im Gegensatz zu Nathan hatte Rudolphe von Jules viel mehr zu befürchten. Der blonde Jules, der die zweite Mannschaft zusammenstellte, war klein und drahtig. Ein gemeiner Hund, der keine Gelegenheit ausließ, ihn zu drangsalieren. Rudolphe hoffte, dass er nicht in seine Mannschaft kam, denn besonders gerne ließ Jules, wenn er verlor, hinterher im Umkleideraum seinen Frust an Rudolphe aus.

Es war wie jedes Mal: Am Schluss stand Rudolphe allein da. Das Trikot spannte über seinen Oberkörper, während die Hose unter seinen Bauch gerutscht war. Er fror jämmerlich und sah selbst ein, dass er eine lächerliche Figur abgab.

»Los, Rudolphe, steh nicht rum! Nun trab schon zu deiner Mannschaft!«, brüllte ihn Monsieur Le Tousse an.

Rudolphe fühlte sich wie ein Wurm, der jederzeit befürchten musste, zertreten zu werden, als er zu Jules und den von ihm gewählten Klassenkameraden hinüberlief. Ein paar lachten jetzt schon gehässig. Jules selbst verdrehte genervt die Augen.

»Du spielst letzter Verteidiger!«, bestimmte er.

Rudolphe nickte. Er war fast jedes Mal »letzter Verteidiger« und damit meistens der Sündenbock, wenn ein Tor fiel, weil er den gegnerischen Stürmer nicht hatte stoppen können.

Das Spiel lief für ihn ab wie meistens. Man ignorierte ihn weitgehend. Niemand spielte ihm einen Ball zu. Noch nicht einmal Mathis, der Klassentorwart, selbst wenn er als Einziger völlig frei stand.

Nach zehn Minuten lag seine Mannschaft zwei zu null zurück. Jules trat neben ihn und boxte ihm schmerzhaft in die Rippen, ohne dass es Monsieur Le Tousse bemerkte. Oder nicht bemerken wollte.

Rudolphe schrie auf. Fast kamen ihm die Tränen.

»Wenn du kleine Ratte noch einmal jemanden durchlässt, kannst du dein Testament machen!«, drohte Jules.

Bevor Rudolphe wieder zur Mittellinie trabte, versetzte ihm Jules noch einen zweiten Boxhieb.

Rudolphe ahnte, dass das nur ein Vorgeschmack dessen war, was ihn erwartete, wenn er ein weiteres Mal versagte.

Zum Glück verteidigten seine Mitspieler ganz gut. Nathan kam nur einmal durch und drosch das Leder aufs Tor, aber Mathis parierte reflexartig und boxte den Ball ins aus. Rudolphe atmete auf, als Monsieur Le Tousse nach zwanzig Minuten zur Halbzeit pfiff. Die Hälfte hatte er also halbwegs überstanden! Wie er die Sportstunden doch hasste! Hier konnte er sich nicht hinter seinen Heften und Büchern verstecken. Höchstens in den Pausen war er den anderen ausgeliefert. Zumindest wenn es ihm nicht gelang, sich rechtzeitig auf der Toilette einzuschließen.