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Die Gaukler kommen!
Jedermann in Saint-Cyriac freut sich über die Neuankömmlinge, die Abwechslung in das zurzeit recht schläfrige Dorfleben verheißen. Zamorra und Nicole freuen sich zudem, eine alte Bekannte wiederzusehen: Crazy Laze, die mit ihrem zauberkundigen Anhang die Sonnenwendfeier zelebrieren will. Doch leider verläuft die Feier nicht ganz so friedlich wie erhofft ...
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Seitenzahl: 129
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Personenliste
Druidenfluch
Leserseite
Vorschau
Impressum
Die Hauptpersonen des Romans sind
Professor Zamorra: Der Meister des Übersinnlichen
Nicole Duval: Zamorras Partnerin und Kampfgefährtin
Gyungo Tensöng: tibetanischer Mönch und Lehrer in Zamorras Zauberschule
Maledisant: ein Mädchen, das zur Seherin ausgebildet wird
Myrddin: Druide und Lehrmeister
Gwydion: Jäger und Kämpfer
Crazy Laze: kosmisch gut drauf
Druidenfluch
von Veronique Wille
Die Gestalt stand reglos da, höchstens fünfzehn Schritte von dem Mädchen entfernt neben einem Wacholderbusch. Die Gestalt trug ein rotes Gewand, und trotz der Hitze hatte sie die Kapuze aufgesetzt. Sie war so tief ins Gesicht gezogen, dass man es nicht erkennen konnte.
Obwohl es immer schwüler geworden war, spürte das Mädchen, wie eine fröstelnde Gänsehaut seinen Körper überzog. Erschrocken starrte es die Gestalt an und wagte nicht, sich zu rühren, während ihm tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Wer war der Mann? War es überhaupt ein Mann? Oder eine Frau? Oder etwa – überhaupt kein Mensch?
»Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat« (Friedrich Dürrenmatt, »Die Physiker«).
»Wenn wir unser Karma verbessern wollen, müssen wir zuerst unseren Geist umwandeln.« (Lama Gyungo Tensöng)
»Die Gaukler sind da!«
Zamorra schaute irritiert von seinem Wälzer auf. Er war völlig versunken gewesen in der Beschreibung altbabylonischer Zauberformeln. Einige davon gedachte er sich zu eigen zu machen. Zum Beispiel die, seinen Gegner in einen Sandfloh zu verwandeln. Leider stand nicht darin, wie man den Zauber wieder rückgängig machen konnte.
»Die ... was?«
»Die Gaukler, chéri!«, sagte Nicole. Sie sagte es ganz langsam, als erkläre sie einem Schulkind das Einmaleins. Sie kannte ihren Partner: Wenn er sich einmal in ein Buch verbissen hatte, brauchte es ein paar Sekunden, bis er daraus aufgetaucht war. »Madame Claire hat sie heute Morgen schon gesehen, als sie im Krämerladen einkaufen war ...«
»Ach ja, die Gaukler ...« Die hatte er ganz vergessen. Aber musste ihn das was angehen, wo er gerade noch einen Hinweis auf einen ganz speziellen Liebeszauber gefunden hatte. Wie war das noch ...?
Nicole hatte die Stirn gerunzelt. So zerstreut hatte sie ihren Partner selten erlebt. Mit zwei, drei schnellen Schritten war sie bei ihm und warf sich auf seinen Schoß. Dabei entging ihr nicht die Darstellung in dem aufgeschlagenen Buch.
»Ach so, du guckst dir Schweinekram an!«
»Schweinekram? Es handelt sich um hoch künstlerische bildliche Darstellungen altbabylonischer Liebesrituale.«
»Seit wann hast du das nötig? Ich finde, du brauchst in dieser Hinsicht keinen Nachhilfeunterricht.«
Er schlug das Buch zu. Eine aufgewirbelte Staubwolke ließ Nicole husten.
»Wie war das jetzt genau mit den Gauklern?«, fragte der Professor des Übersinnlichen.
Nicole verdrehte die Augen. »Madame Claire hat doch schon letzte Woche davon erzählt! Das ganze Dorf hängt voller Plakate. Endlich kommt mal wieder etwas Leben in unser verschlafenes Saint-Cyriac! Immerhin ist unser Schlossfest mit FAUN auch schon wieder länger als ein Jahr her!«
»Ja, das war – großartig.« Obwohl es auch mit vielen gefährlichen Wendungen verbunden gewesen war.
Die Pagan-Folk-Gruppe FAUN hatte auf dem Schloss aufgespielt, doch dann war ein uralter Feind erschienen. Die Künstler von FAUN hatten schließlich mit ihrer Musik den Gott Pan heraufbeschworen, der das Dunkle besiegte. Zum Schluss hatte sich alles in Wohlgefallen aufgelöst. Dennoch, wenn es nach Zamorra ging, reichte ihm so ein Spektakel alle Jubeljahre.
»Siehst du, du hast es auch genossen! Schade eigentlich, dass die Gaukler nur das Dorf unsicher machen und nicht hier oben im Schloss residieren.«
»Ja, zu schade.«
»Meinst du wirklich? Madame Claire hat erzählt, dass sie ihre Wagen auf dem Dorfanger stehen haben. Wir könnten ihnen ja den Schlosshof ...«
»Kommt nicht infrage!«
»Und warum nicht?«
»Ähm, weil ... jemand könnte auf die Idee kommen, dass wir uns hier oben als was Besseres vorkommen. Lassen wir die Dorfbewohner doch auch mal was alleine durchziehen.«
»Da hast du auch wieder recht. Auf jeden Fall sollten wir heute Nachmittag mal einen Abstecher ins Dorf machen, immerhin ist heute auch die Sonnenwendfeier. Madame Claire hat erzählt, dass sie unten im Dorf schon einen großen Holzstoß errichtet haben.«
»Eigentlich hatte ich den heutigen Tag für intensives Quellenstudium vorgesehen ...«
»Oh ja, das habe ich soeben mitbekommen.«
»Jetzt mal Spaß beiseite: Wir haben selten genug Gelegenheit, uns mal in Ruhe fortzubilden. Und genau das habe ich heute auch vor. Wie wär's, chéri, wenn du einfach mal die anderen fragst? Lucia und Laura sind sicher für jede Abwechslung dankbar ...«
»Okay, danke der Herr, dass er mir gerade durch die Blume zu verstehen gegeben hat, dass er der Gelehrigere von uns beiden ist, während seine tumbe Partnerin nur auf Vergnügen aus ist.«
»Unsinn, das habe ich so gar nicht gemeint ...«
Nicole sprang von ihm hinunter. »Aber ich hab's so verstanden. Lies du weiter deine Schmöker. Ich werde den Tag schon irgendwie allein rumkriegen.«
Sprach's und verließ die Bibliothek erhobenen Hauptes.
Zamorra seufzte tief. Wenn er etwas hasste, dann unnötige Reibereien aufgrund ebenso unnötiger Missverständnisse.
Die Lust auf das Erlernen irgendwelcher Verwandlungs- oder gar Liebeszauber war ihm jedenfalls vergangen.
✰
Fasziniert starrte die siebenjährige Inés auf die Aststäbe, aus denen die absonderlichsten Gesichter erwuchsen. Die Gesichter waren nur so groß wie eine Walnuss, aber sie sahen so täuschend echt aus, dass Inés glaubte, sie könnten jederzeit zum Leben erwachen. Während sie noch staunend davorstand, glaubte sie sogar, dass ihr eines der Frauengesichter zugeblinzelt hatte.
»Na, gefallen sie dir?«
Inés schreckte aus ihren Gedanken auf. Den großen Mann, der da plötzlich neben ihr aufgetaucht war, hatte sie vorher gar nicht bemerkt.
Sie nickte eingeschüchtert.
»Das sind Zauberhölzer. Jedes von ihnen unterscheidet sich von den anderen. Siehst du dort Enzo, den Gnom?« Er nahm eines der Hölzer, die allesamt in den Zeigen des Kirschbaums hingen, neben dem er seinen Stand aufgebaut hatte, ab und hielt es Inés hin.
»Der ist hässlich!«, sagte sie.
Der Gnom hatte eine lange gekrümmte Nase, schwarze stechende Augen und schiefe spitze Zähne, die ihm über die wulstigen Lippen ragten.
»Das stimmt, Enzo ist nicht der Schönste, aber er bewahrt dich vor den Nachtmahren, die in deine Träume eindringen wollen.«
»Was macht er mit ihnen?«
»Er frisst sie auf.«
»Uh!« Inés schüttelte sich. Nachtmahre hatte sie bisher noch nicht gesehen, aber der Gnom allein flößte ihr schon eine Gänsehaut ein. Sie versuchte sich lieber nicht vorzustellen, wie er seine Mahlzeit gestaltete.
Dennoch gelang es ihr nur mit Mühe, den Blick von dem garstigen Geschöpf abzuwenden. Es war ihr, als hielte er den ihren gefangen.
Sie sah den Gaukler an. Erst jetzt musterte sie ihn genauer. Er war groß und dürr, ein richtiges Klappergestell. Sein braunes, sackähnliches Gewand schlotterte ihm um den Körper. Auf dem Kopf trug er einen spitzen Hut, und sein Gesicht wirkte so, als sei es aus dem gleichen Holz geschnitzt wie seine Zauberhölzer. Er war ihr ein bisschen unheimlich, aber seine Augen schauten freundlich auf sie herab.
»Ich merke schon, Enzo und du, ihr werdet keine Freunde. Er wies auf die anderen Zauberhölzer, gut zwei Dutzend, die in dem Kirschbaum aufgeknüpft hingen und nun von einer sanften Brise hin und her schaukelten.
»Die da!« Inés zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ein weibliches Zauberholz. Das Gesichtchen wirkte so lieblich, und die aufgemalten winzigen Augen blickten so freundlich, dass Inés den Stab am liebsten in den Arm genommen und an sich gedrückt hätte.
Die Miene des hageren Mannes verfinsterte sich. »Prinzessin Maléfique ist keine Begleiterin für kleine Mädchen.«
»Ist sie denn böse ? Sie sieht so lieb aus !«
»Aber manchmal täuscht der erste Eindruck. Merk dir das fürs Leben!«
Inés war jetzt so eingeschüchtert, dass sie keine Lust mehr hatte, sich die Zauberhölzer anzusehen. Und auch der dünne Mann war ihr jetzt unheimlich. Vielleicht tat er ja auch nur so freundlich und war es in Wahrheit gar nicht. Ihre Eltern warnten sie immer davor, sich mit fremden Männern einzulassen.
»Inés! Hier steckst du also!«
Die zierliche blonde Frau mit dem Pferdeschwanz stand plötzlich ebenfalls vor dem Stand. Es war ohne Zweifel die Mutter der Kleinen. Sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie sah den Mann neben ihrer Tochter misstrauisch an.
»Madame ...« Der Gaukler lüftete den spitzen Hut und deutete eine Verbeugung an. »Ihre Tochter ist bei mir in den besten Händen. Ich beiße nämlich nicht, müssen Sie wissen.«
»Das will ich hoffen, ich beiße nämlich zurück«, antwortete die Frau. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht so böse angucken. Passiert mir manchmal leider ...«
»Mami, die Zauberhölzer sind alle böse!«, sagte das Mädchen mit heller Stimme.
Jetzt betrachtete auch die Mutter die an den Zweigen hängenden Kunstwerke.
»Stimmt das?«, fragte sie schließlich den Gaukler. »Dabei sehen ein paar ganz nett aus.« Und an ihre Tochter gewandt: »Weißt du, das ist wie beim Kaspertheater. Da gibt es auch Gute und Böse, aber am Ende siegen die Guten!«
»Jaa, Kasper und Gretel!«, rief das Mädchen.
Dabei hatte sie »Kasper« und »Gretel« auf Deutsch ausgesprochen.
»Sie kommen aus Deutschland, oder?«, fragte der Gaukler.
»Wir sind vor zwei Jahren hierhergezogen. Ich war zwar Französischlehrerin, aber ich fürchte, meinen Akzent werde ich nie los ...«
»Ich habe keinen Unterschied gemerkt, wirklich nicht. Und Ihre Tochter spricht auch perfekt Französisch. Aber als sie gerade den Kasper und Gretel erwähnten. Und dann Ihre blonden Haare ...«
»Wie auch immer, Inés und ich müssen jetzt mal weiter ...«
»Natürlich, mein Stand hier ist ja nicht der einzige. Haben Sie noch viel Spaß. Darf ich Ihrer Tochter trotzdem noch etwas schenken?«
»Nein, das kommt nicht infra...«
»Mami, ich will ein Geschenk haben!« Inés' Wangen färbten sich vor Aufregung rot.
»Na sehen Sie. Die Freunde können Sie doch Ihrer Tochter nicht abschlagen.«
Der Gaukler pflückte ein Zauberholz vom Baum und bückte sich, um ihn der kleinen Inés zu überreichen.
Das Mädchen wich einen Schritt zurück und verzog das Gesicht. »Bäh, die will ich nicht! Das ist eine Hexe!«
Es war eine alte Vettel mit einer winzigen Warze auf der noch winzigeren Nase. Sie trug ein rotweiß kariertes Kopftuch und wirkte tatsächlich auf den ersten Blick wie die Hexe im Kaspertheater. Aber sie hatte ein gütiges Gesicht, auch wenn ihre Augen streng wirkten.
»Aber ich«, sagte die Mutter. »Mich erinnert sie an meine alte Tante, die mich großgezogen hat. Das ist ein echtes Kunstwerk, haben Sie es geschaffen?«
»Naturelement!« Der Gaukler setzte sich in Positur und stemmte theatralisch die Hände in die Hüften. Dabei setzte er eine arrogante Miene auf. »Gaston ist mein Name, und meine Zauberhölzer sind an sämtlichen Höfen der Zauberlande gefragte Kunstwerke.«
Die Mutter schmunzelte. »Ich nehme das. Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Ich sagte doch: Es ist ein Geschenk, und einer wunderschönen Frau mache ich es umso lieber.«
»Ich weiß nicht ...«
»Natürlich verkaufe ich meine Zauberhölzer auch, also sagen Sie nicht weiter, dass ich es verschenkt habe. Aber nur als Geschenk entfaltet es seine ganze Wunderkraft.«
»Und die wäre?«
»Es beschützt sie. Sie werden sehen ...«
✰
Bis auf Zamorra und Kyra hatte es sich niemand der Château-Bewohner nehmen lassen, hinunter ins Dorf zu fahren, um sich die Gaukler anzuschauen.
Kyra wäre gern mitgefahren, aber Nicole hatte sie vertröstet: »Die Dorfbewohner sind zwar einiges gewohnt, aber es ist besser, wenn wir sie ganz behutsam auf deinen Anblick vorbereiten. Außerdem werden heute viele Auswärtige im Dorf sein ...«
Die Katzenvogeldämonin hatte zwar noch eine Weile gebettelt, sich dann aber gefügt.
Nach dem Mittagessen quetschten sich die meisten in Nicoles weißes Cadillac-Cabrio, Baujahr 59.
Nicole hatte darauf gedrängt, weil der Oldtimer zu lange schon nicht mehr bewegt worden war. Madame Claire hatte noch in der Küche zu tun und wollte erst später mit ihrem Rad nachkommen. Und Gyungo, der tibetanische Mönch und Lehrmeister, zog es vor, zu Fuß ins Dorf hinabzuwandern.
Laura und Lucia, die beiden Streithähne, saßen diesmal einträchtig auf dem breiten mit rotem Leder bezogenen Beifahrersitz. Auf dem Rücksitz hatten Sam McTaggart und die beiden Butler William und Thomas Platz genommen und ließen sich den Fahrtwind um die Nase wehen, während Nicole das über 300 PS starke Schlachtross geschickt durch die Serpentinen lenkte.
Die schöne Französin parkte das Gefährt in der Nähe des Dorfangers, auf dem laut Madame Claire die Gaukler schon ihre Stände und Zelte errichtet hatten. Auch Wagen aus den Nachbargemeinden waren zu sehen. Nicole erkannte sogar ein Lyoner Nummernschild. So viele Auswärtige sah das kleine Dorf Saint-Cyriac nicht allzu oft.
Zwei sechs- oder siebenjährige Jungs kamen angelaufen und bestaunten voller Begeisterung den Cadillac.
»Darf ich den auch mal fahren?«, fragte der Rotschopf der beiden.
»Nur wenn du mir vorher deinen Führerschein zeigst«, sagte Nicole streng.
Der Kleine schüttelte enttäuscht den Kopf. »Den hab ich zu Hause vergessen.«
»Dann gilt: Nur anfassen, und zwar ausschließlich von außen, kapiert?«
Die beiden nickten brav, aber so ganz traute Nicole ihnen nicht. Bevor sie aber den Entschluss fasste, doch lieber das Verdeck zuzumachen, kamen schon die Eltern der beiden herbei und lockten ihre Sprösslinge mit der Aussicht auf den Gauklermarkt in Richtung Anger.
Auch die anderen zog es nun dorthin. Bis auf McTaggart, der aber versprach, später nachzukommen.
»Hast du etwa ein Rendezvous?«, neckte ihn Nicole.
Der ansonsten so taffe Dämonenjäger wurde tatsächlich rot. »Ich, äh, habe was im Krämerladen bestellt, das ich noch abholen muss.«
Sprach's und eilte davon, bevor er sich noch weiter erklären musste.
»Viel Spaß, Sam!«, rief ihm Lucia hinterher.
Nicole schmunzelte. Lucia war heute ungewohnt gut drauf. Lag es daran, dass sie sich alle zusammen einfach mal etwas Abwechslung gönnten? Lucia machte gewöhnlich keinen Hehl daraus, dass sie das Leben im Schloss anödete. Und doch, das wusste Lucia inzwischen auch, tat es nicht nur ihrer Seele gut, es half ihr auch, mit ihrer besonderen Gabe besser umzugehen und sie nicht als Fluch zu betrachten.
»Also los!«, sagte Nicole. »Schauen wir doch mal, was auf dem Anger alles los ist!«
✰
Vergangenheit
Das Blätterdach des Waldes spendete angenehme Kühle. Dennoch war Maledisants Gesicht noch immer erhitzt vom langen Marsch durch die Felder. Die Sonne brannte an diesem Tag erbarmungslos, aber tapfer war das Mädchen ohne Rast zu machen ausgeschritten. Nicht nur wollte es der Tante im Nachbardorf die so dringend benötigte Medizin so schnell wie möglich vorbeibringen, auch wollte es vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein.
Maledisant war acht Sommer alt, und sie war den gut dreistündigen Weg in der letzten Zeit schon oft gegangen. Anfangs war ihre Großmutter besorgt gewesen, ihre einzige Enkelin allein loszuschicken. Beide Großeltern waren zwar noch recht rüstig, aber für einen solch langen Marsch dann doch zu alt.
Die Eltern hatte Maledisant schon früh verloren. Die Mutter war schon im Kindbett gestorben und der Vater ein Jahr später bei der Jagd verunglückt. Die Großeltern hatten sich des Mädchens angenommen und es liebevoll großgezogen.
Ein Sommergewitter kündigte sich an. Fernes Donnergrollen drang an Maledisants Ohren. Das fröhliche Vogelgezwitscher hoch oben in den Bäumen wich aufgeregten Flügelschlägen, als brächten sich die Gefiederten vor einem Gewitterregen in Sicherheit.
Dann setzte Stille ein, so als hielten sämtliche Bewohner des Waldes und sogar der Wald selbst den Atem an. Nicht ein Windhauch war zu spüren.
Maledisant fühlte sich mit einem Mal unwohl. So still hatte sie den Wald noch nie erlebt. Nie hatte sie in den Wäldern Angst verspürt. Im Gegenteil, sie hatte ihn als schützend empfunden, und oft genug hatte sie an den Lippen ihrer Großmutter gehangen, wenn die ihr die alten Legenden von den guten Geistern, Feen und Trollen des Waldes erzählt hatte. Zu gern hätte sie mal einen von ihnen erblickt, doch das war ihr im Gegensatz zu ihrer Großmutter noch nie geglückt.
Grand-mère war eine Sehende, eine, die den Vorhang, der die Anderswelt vor den Blicken der Normalsterblichen verbarg, beiseiteschieben und dahinterschauen konnte.