Raban und Röiven Rückkehr dunkler Zauberer - Norbert Wibben - E-Book

Raban und Röiven Rückkehr dunkler Zauberer E-Book

Norbert Wibben

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Beschreibung

Ein weiß gefliester Raum wird durch ein kaltes, sehr helles Licht erleuchtet, das leicht grünlich schimmert. Auf einem Metalltisch mit schwarzer Gummimatte ist ein Kolkrabe mit Riemen fixiert. Der auf dem Rücken liegende Vogel kann nicht kreischen, da sein Schnabel mit Klebeband zusammengebunden ist. Die dunklen Augen des intelligenten Tieres starren angstvoll in die Richtung seines Peinigers. Diese Person trägt einen weißen Laborkittel, eine Haube über den Haaren, einen Mundschutz sowie Schutzhandschuhe. Jetzt sticht sie die Nadel einer Spritze durch einen Gummiverschluss in ein braunes Fläschchen. Eine klare Flüssigkeit wird langsam in die Spritze gezogen. Die Nadelspitze nähert sich der Brust des Vogels, der voller Angst seine Augen verdreht. Raban wird von seinem Freund, dem Kolkraben Röiven, um Hilfe gebeten, dessen Kinder zu retten. Unbekannte haben seine Partnerin und das Nest mit den Eiern geraubt. Nachkommen dunkler Zauberer wollen endlich wieder Zauberkräfte erlangen, dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Sind die Rabenkinder zu retten, oder stehen die Freunde vor einer unlösbaren Herausforderung?

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Raban und Röiven

Rückkehr dunkler Zauberer

Fantasy Roman

Norbert Wibben

Raban und Röiven

Rückkehr dunkler Zauberer

Raban und Röiven, Band 2

Für Nils

Du hattest schon in jungen Jahren ein großes Wissen über Vögel.

Ich bin stolz auf dich und deine Arbeit für Menschen mit Handicap!

In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:

Ein Huhn und ein Hahn – …

Frühling

Eine traurige Nachricht

Im geheimen Wald

Solveigs Bestattung

Schlussfolgerungen

Verschwunden

Überlegungen

Minervas Ratschlag

Recherchen

Eine Spur?

Munegard

Ein Plan

Ein Traum?

Fragen

Alarmierende Nachrichten

Zoes Auffinden

Morganas Cousin

Zoes Bericht

Ein neuer Plan

Eine Rettungsaktion

Asyl im geheimen Wald

Oskars Überlegungen

Ein neues Leben

Endlich Erfolg

Treffen mit Ilea

Geburtstag

Seltsame Vorfälle

Suche nach Morgana

Beratungen

Rabans Idee

Am Nordmeer

Oskars Vermutung

Fàisnich

Festung Munegard

Beratung mit Röiven

Gezieltes Hellsehen

Morgana

Zeitungsartikel

Erneute Überlegungen

Gavin und Oskar

Suche nach Sorcha

Perseus und Hekate

Der Tarnumhang

Sorcha

Ende gut?

Zaubersprüche

Danksagung

Frühling

Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an

Es ist bald Frühling. In der Nacht hat es leise geregnet, doch nun steht die Sonne an einem blauen Himmel. Nur wenige, duftig geformte, weiße Wolken sind zu sehen. An diesem frühen Vormittag ist die Luft von dem Gezwitscher und dem Trillern verliebter Vögel erfüllt. Raban wird bereits seit mehreren Tagen davon geweckt.

Der Junge macht sich nach dem Frühstück auf den Weg zur Schule. Ein leichter, warmer Windhauch streicht über die sanften Hänge mit dem wenigen Buschwerk im bergigen Norden des Landes. Weiße Schafe grasen friedlich auf den mit Steinmauern eingegrenzten, hügeligen Weiden. Gemächlich herumwandernd rupfen sie das fette Gras, um es langsam zu kauen. Kleine Lämmer tollen verspielt herum oder trinken bei ihren Müttern die nahrhafte Milch. Sie haben wie ihre Eltern schwarze Köpfe, aber noch keine Hörner. Um zu Saugen, beugen sie den Kopf hinab, damit sie an eine der Zitzen gelangen. Die Lämmer genießen die Milch, während sich ihre Schwänzchen wie kleine Propeller drehen.

Auch wenn das ein vertrautes Bild ist, freut sich Raban jedes Mal bei diesem Anblick. Jetzt schweifen seine Gedanken ab. Im letzten Sommer begannen die aufregenden Geschehnisse ähnlich. Nur dass es nicht so früh im Jahr, sondern der erste Ferientag der Sommerferien war, als er den Kolkraben Röiven kennenlernte.

Er weiß noch, wie erstaunt er war, als der verletzte Rabe ihn ansprach, nachdem er ihn vor einigen Jungen aus seiner Klasse gerettet hatte. Plötzlich hörte er eine knarzende Stimme, als er mit dem schwarzen Vogel alleine war. Überrascht hörte er, dass der Vogel ausgeschickt worden war, um IHN zu finden. Es war der Beginn unglaublicher Ereignisse, die sie dann gemeinsam erlebten.

Wenn Raban heute daran zurückdenkt, kann er es immer noch nicht fassen. Nach außen hin wirkt er wie ein ganz normaler Junge, der in wenigen Wochen, also kurz nach Ostern, 15 Jahre alt wird.

Im Sport ist er nicht so talentiert wie die meisten anderen Jungen in seiner Klasse. Biologie und Kunstunterricht sind dagegen seit jeher seine Lieblingsfächer. Besonders wissbegierig nimmt er alle Informationen auf, wenn es dabei um Tiere geht. Er ist im Zeichnen von Vögeln sehr begabt und sicher einer der Besten der Schule.

Im letzten Schuljahr ist er für seine Vorliebe oft gehänselt worden.

»Du bist ein richtiges Weichei!«, und: »Zeichnen und Tiere sind doch Dinge, für die sich Mädchen interessieren, aber keine Jungen, die zu echten Männern werden wollen!«, musste er sich ständig anhören. Auf dem Schulhof wurde er häufig von Klassenkameraden oder Schülern aus den oberen Klassen angerempelt, falls er nicht vorher geschickt ausweichen konnte.

Aber das ist heute komischerweise alles nicht mehr der Fall. Ihn scheint eine unnahbare Aura zu umgeben, die derartige Angriffe auf ihn verhindert.

Es weiß ja keiner seiner Mitschüler, dass er zaubern kann.

Richtig: Raban kann zaubern!

Er sieht aus wie ein normaler Junge seines Alters, auch wenn er eher schmächtig ist. Er hat einen wachen und forschenden Blick und ist für sein Alter bereits sehr klug. Das mag daran liegen, dass er gerne und viel liest. Die hellblauen Augen passen sehr gut zu seinen kurzen, blonden Haaren. Sie verleihen ihm ein etwas nordisches Aussehen. Zusammen mit den wenigen Sommersprossen auf und um seine Nase wirkt er etwas verschmitzt aber freundlich.

Die Pöbeleien und Angriffe auf ihn haben seit dem letzten Sommer plötzlich aufgehört. Es ist nicht so, dass er seine Zauberkräfte an den ehemaligen Kontrahenten ausgelassen hätte. Er hat ihnen nicht einmal damit gedroht. Er hat es für besser empfunden, niemandem von seinen Fähigkeiten zu erzählen. Raban weiß, damit hätte er letztlich nur Furcht erzeugt, sich aber gleichzeitig noch mehr ausgegrenzt. Dennoch kam es nicht einmal mehr zu einer der früher üblichen Hänseleien. Ob es wohl daran liegt, dass er seit den Kämpfen gegen den dunklen Zauberer Baran an Selbstbewusstsein gewonnen hat?

Er ist jedenfalls keinem der größeren Schüler ausgewichen, als sie nach den Ferien wie früher direkt auf ihn zukamen, um ihn anzurempeln. Kurz vor dem Zusammenprall wichen sie aus und schauten sich anschließend entgeistert an.

»Was war das denn jetzt? Warum weicht Raban uns nicht mehr aus?«

»Irgendwie wirkt er bedrohlich, so als würde es uns schlecht bekommen, wenn wir ihn herausfordern würden.«

»Habt ihr auch ein kurzes Aufleuchten bemerkt. Was war das wohl?«

»Hoffentlich hat sonst keiner unser Ausweichmanöver bemerkt! Unser Ansehen würde sonst erheblich leiden.«

Die drei Jungen, die als schlimmste Rüpel der Schule bekannt sind, schauten sich verstohlen um. Sie atmeten erleichtert auf, da ihr Verhalten offenbar nicht bemerkt worden war. Sie hatten nicht registriert, wie Raban kurz vorher »Sgiath« gemurmelt hatte. Und selbst wenn sie das bemerkt hätten, wüssten sie natürlich nicht, dass der Junge damit einen physischen Schutz um sich erzeugt hatte, den er sofort danach mit »Inhibeo« wieder aufhob. Seit diesem Tag haben die drei Flegel Raban nie mehr herausgefordert, sondern weichen ihm stets in möglichst großem Bogen aus.

Selbstverständlich wissen Rabans Eltern und auch sein Großvater von den magischen Kräften, die der Junge von dem Kolkraben Röiven übertragen bekommen hat, sonst aber niemand. Sein Großvater Finnegan war sogar kurz in die Ereignisse im letzten Jahr eingebunden und hatte seinen Enkel bei einem magischen Sprung begleitet.

Der Junge lächelt, wenn er an seinen gefiederten Freund Röiven denkt. Sie haben viel Spaß gehabt und aufregende Abenteuer erlebt. Beide sind zu echten Freunden geworden, die sich aufeinander verlassen können und füreinander alles wagen. Gemeinsam überstanden sie die größte Lebensgefahr, als Baran sie mit Zaubersprüchen und dem Haupt der Medusa versteinern wollte.

Raban besucht seinen Freund möglichst oft oder umgekehrt. Dafür nutzen sie manchmal ihre Zauberkräfte, aber hin und wieder wandert der Junge zu ihm, oder der Vogel kommt geflogen. Vorher nutzen sie die Möglichkeit, sich über geistigen Kontakt auszutauschen. Daher ist es für Raban nicht so schwierig, Röiven zu finden, auch wenn sich dieser meistens in der Nähe aufhält. Sie erzählen dann abwechselnd von den Ereignissen im letzten Sommer und träumen sich in die Vergangenheit zurück.

Der Kolkrabe hat sich im letzten Jahr entschlossen, zusammen mit seiner Gefährtin Zoe einen neuen Clan zu gründen. Ihr bevorzugtes Revier liegt ganz in der Nähe von Rabans Wohnort. Der Junge erinnert sich daran, wie Röiven und Zoe sich kennengelernt haben. Das war, als Baran durch einen von Raban zurückgeworfenen Fluch versteinerte.

Als die gleichzeitig von Röiven auf den dunklen Magier gerichteten Flammenzungen erloschen, stürzte sich ein junger Kolkrabe mit folgenden Worten auf den Zauberer:

»Du elender Mistkerl. Du hast meinen Bruder getötet! Ich werde dir deine kalten Augen aushacken!« Zoe, denn sie war der junge Rabe, landete auf Barans Kopf und hackte immer wieder wütend auf dessen Augen ein.

Mit den Worten:

»Bist du verrückt geworden?«, stürzte Röiven aus seinem Versteck, um dem jungen Kolkraben beizustehen. Zum Glück war der dunkle Zauberer zu diesem Zeitpunkt bereits versteinert, sonst wäre die Aktion für beide Raben sicher schlecht ausgegangen. Das Rabenmädchen hatte sofort Röivens Herz erobert, und sie beschlossen damals, ein Leben lang zusammenzubleiben.

Im Spätwinter, also Ende Februar, beginnt die Balz der beiden Vögel, die Raban bei seinen Besuchen aufmerksam verfolgt. Der Junge beobachtet paarweise Flugspiele über deren Revier, wobei sie laute Rufe hören lassen. Er sieht, wie sie gemeinsam Kreise, halbe Rollen und Wellen fliegen. Erstaunt stellt er fest, dass sich die großen Vögel gegenseitig das Gefieder pflegen, sich mit dem Schnabel kraulen und gegenseitig füttern. Röiven nimmt den Jungen jetzt kaum noch wahr, so gefesselt scheint er von Zoe zu sein.

Auch wenn Raban sich etwas vernachlässigt fühlt, freut er sich für seinen Freund, der jetzt endlich eine Familie gründet. Er erinnert sich daran, dass sein Freund seine Eltern und Geschwister verloren hatte, noch bevor er als Jungvogel das Nest verlassen konnte. In seinem Zimmer zeichnet Raban zwei neue Bilder, die er zu den bereits vorhandenen neben seinem Bett aufhängt. Er schaut beide an und ist zufrieden. Ja, er kann gut zeichnen, besonders gut aber Vögel! Die neuen Bilder zeigen die Silhouette Röivens im Flug und ein Brustbild von Zoe.

Bei seinem nächsten Besuch erspäht Raban das Nest des Paares. Es ist rund und befindet sich weit oben in der Krone einer Rotbuche. Beide Vögel bauen noch etwas daran herum. Jetzt erkennt der Junge, wie sie die Mulde darin mit Erdklumpen, Wollflecken von Schafen, Fellfetzen, trockenen Gräsern und ähnlichem auspolstern. Die Eiablage wird wohl bald erfolgen.

In der zweiten Märzwoche ist es dann soweit. Über geistigen Kontakt erfährt Raban die Neuigkeit.

»Also, ähem. Wie soll ich es sagen?…«, krächzt es frühmorgens in Rabans Kopf. Der Junge reibt sich verschlafen die Augen und sitzt kurz darauf aufrecht im Bett.

»Röiven, ist etwas passiert? Brauchst du Hilfe?«

»Äh, nein. Nicht wirklich. Ich wollte dir nur schnell sagen: ich werde Papa!«

»Hey. Das sind ja gute Neuigkeiten«, erwidert der Junge. »Obwohl das ja absehbar war, so sehr hast du Zoe umflattert.«

»Wie, umflattert? Willst du mich etwa auslachen?«

»Nein, mein Freund, das will ich wirklich nicht. Ich freue mich mit dir, will sagen, mit euch. Denn Zoe hat sicher auch ihren Anteil dabei, oder?«

»Ja klar. Genau genommen hat sie im Moment den größten Anteil. Das erste Ei war gerade gelegt, als ich es dir gemeldet habe. Jetzt sind es bereits drei!«

»Wie geht es Zoe? Läuft alles normal?«

»Zoe scheint es soweit gut zu gehen. Ich denke, es ist alles normal. Für mich ist es ja das erste Mal, dass ich dabei bin. Natürlich abgesehen von dem einen Mal, als ich ins Nest gelegt worden bin. – So, jetzt liegt ein viertes Ei im Nest und Zoe sieht glücklich aus. Ich finde, sie macht das super!«

»Röiven, ich gratuliere euch. – Wie lange dauert es jetzt, bis eure Kinder schlüpfen werden. Drei Wochen?«

»Also, soweit ich das von Elfrun weiß, dauert es etwa 20 Tage. Das variiert um einen Tag mehr oder weniger.«

»Das freut mich, dann erblicken sie etwa zu meinem Geburtstag das Licht der Welt, ich meine, dann schlüpfen sie.«

»Genau, dann schlüpfen sie. Ihre Augen sind noch einige Zeit geschlossen, ihre Schnäbel aber nicht. Dann beginnt für Zoe und mich eine arbeitsreiche Zeit. Wir müssen unaufhörlich Nahrung beschaffen, bis unsere Kinder endlich selbstständig sein werden.«

»Grüße Zoe von mir. Ich muss mich jetzt für die Schule fertig machen. Vielleicht kann ich dich ja heute Nachmittag besuchen?«

»Gerne, obwohl ich dann sicher nicht viel Zeit haben werde. Aber du kannst dann gerne einen Blick ins Nest werfen.« Die letzten Worte klingen voller Stolz. Es ist offensichtlich: Röiven wird gerne Vater!

Eine traurige Nachricht

In den kommenden Tagen besucht Raban seinen Freund wie zuvor. Jetzt hat der Rabe etwas mehr Zeit, sich mit dem Jungen zu unterhalten. Er wechselt sich mit Zoe beim Brüten ab. Erneut entstehen Bilder der Ereignisse aus dem vergangenen Sommer vor ihren Augen, wenn sie davon sprechen.

»Hast du eigentlich die liebreizende Ilea einmal wiedergesehen? Sie vielleicht sogar besucht?«, wird Raban unerwartet von dem Vogel gefragt.

»Was willst du damit andeuten?«, erwidert Raban aufgebracht. »Ilea ist nicht… nun, also… du bist blöd!«

»Wirst du schon wieder rot?«, keckert der Rabe, um dann ernst fortzufahren. »Ich wollte dich nur etwas necken. Entschuldige, wenn ich dich damit irgendwie verletzt haben sollte.«

»Äh, ich werde nicht rot. Nein, es ist schon gut. Und ja, ich habe sie seit den Ereignissen einmal besucht.«

Raban lächelt, als das Bild des Mädchens in seiner Erinnerung erscheint. Sie streicht das mittelblonde Haar hinter die Ohren und strahlt ihn an. Er mag sie und wollte sie wissen lassen, dass der damalige Auftrag, Baran zu stoppen, erledigt worden sei. Ilea hatte ihm den Armreif eines Auserwählten geschenkt, den sie von ihrer Großmutter bekommen hatte. Der Armreif verstärkte seine Zauberkräfte, wodurch er in der Lage war, schwierige Zauber leichter auszuführen. Vermutlich verdankte er ihr dadurch sogar sein Leben.

»Ich habe ihr von Barans Ende berichtet«, ist alles, was der Junge dem Raben erläutert. Das Bild Ileas steht noch lange vor seinen Augen, auch als er abends im Bett liegt.

»Vielleicht sollte ich sie wieder einmal besuchen«, überlegt Raban noch, bevor er lächelnd einschläft.

»Raban, etwas Schreckliches ist passiert!«, wird der Junge von der krächzenden Stimme seines Freundes geweckt. Er richtet sich erschrocken auf und reibt sich die Augen.

»Was gibt es, Röiven? Werdet ihr angegriffen?«, sendet er sofort zurück, während seine Ohren bereits die Ankunft seines Freundes im Zimmer registrieren. Er lässt seine Hände sinken und erblickt auch wirklich den Kolkraben, der auf dem Tischchen neben seinem Bett hin und her schreitet. Der Vogel scheint sehr aufgeregt zu sein, so unruhig stakst er herum.

»Was ist los, mein Freund? Zoe geht es doch hoffentlich gut?«

»Ja, Zoe wärmt die Eier. Aber ich habe gerade eine geistige Verbindung zu meiner Großmutter gehabt. Sie berichtete mir, dass Solveig gestorben ist. Sie war dabei sehr aufgeregt und konnte keine Einzelheiten berichten. Meine Fragen, wie oder warum die Oberste der Elfen gestorben sei, konnte sie nicht beantworten, da unsere Verbindung plötzlich abbrach. Ich kann meine Großmutter nicht erreichen, sie reagiert einfach nicht. Ich befürchte, etwas Schlimmes ist passiert!«

»Jetzt bleibe ruhig. Das Solveig gestorben ist, war doch zu erwarten. Sie war schon sehr alt. Was beunruhigt dich denn derart, dass du nicht einmal stillstehen kannst?«

Raban hat Recht. Der große schwarze Vogel wandert in der kurzen Zeit mehrfach auf dem Tischchen hin und her. Einmal musste er sich sogar durch ein schnelles Flügelschlagen davor retten, hinunterzustürzen, als er über den Rand hinaus kommt.

»Ja, also. Großmutter weckte mich, wobei mir ihre Stimme gehetzt oder keuchend vorkam: »Solveig ist tot«, war ihre kurze Nachricht. Da sie mich gerade geweckt hatte, benötigte ich einen kurzen Moment, um ihre Nachricht richtig zu verstehen. Ich fragte sie also, ob ich richtig gehört hätte, worauf sie erwiderte: »Solveig … ist … tot.« Das klang fast so, als ob sie einem schwachsinnigen Küken etwas erklären müsste. In den Zwischenräumen der drei Worte meinte ich ein Keuchen zu vernehmen, so, als hätte sich Großmutter körperlich stark anstrengen müssen.«

»Und da hast du sie gefragt, wie und warum Solveig gestorben ist?«, ergänzt Raban seinen Freund.

»Genau. Ich bekam als Antwort noch ein komisches Geräusch übertragen. Es hörte sich nach einem Röcheln an. Danach war es still, grausam still!«

»Vielleicht muss sich Elfrun auf etwas anderes konzentrieren, weshalb sie die Verbindung zu dir blockiert. Der Grund ihrer Kontaktaufnahme ist ja erfüllt. Du weißt jetzt, dass Solveig gestorben ist. – Versuche doch erneut, einen Kontakt mit ihr herzustellen«, fordert Raban den aufgeregten Vogel auf.

»Ja. Gute Idee. Das mache ich.« Der Kolkrabe bleibt sofort stehen und klappt seine Augendeckel zu.

»Vermutlich kann er sich so besser konzentrieren«, denkt der Junge, als er auch schon Röiven krächzen hört:

»Das klappt aber nur, wenn du mir nicht dazwischen funkst. Also versuche jetzt möglichst nicht zu denken!«

Raban versucht, sich auf Nichts zu konzentrieren, was gar nicht so einfach ist. Er hatte doch glatt für einen Moment vergessen, dass der Rabe und er sich durch Gedanken verständigen können.

Es dauert nicht lange, dann öffnet Röiven seine Augen, während er schon wieder hin und her stakst.

»Ich bekomme keinen Kontakt zu Großmutter. Da ist bestimmt etwas passiert. Vielleicht …? Gibt es doch noch Dubharan? Wenn diese dunklen Magier im geheimen Wald eingedrungen sind, können sie Solveig getötet haben. Dann ist Großmutter sicher auch schon ermordet worden. – Ja, das ist es. Sie ist TOT!« Abrupt bleibt der Kolkrabe stehen und lässt traurig seinen Kopf hängen. Zwei dicke Tränen laufen über seinen Schnabel und tropfen von dessen Spitze herunter.

»Röiven«, versucht Raban seinen Freund zu beruhigen, während er ihm vorsichtig über den Rücken streicht. »Das muss nicht passiert sein. Soweit wir wissen, gibt es keine Dubharan mehr. Baran war im letzten Jahr der einzige dunkle Magier, der Fithich und Elfen bedrohte. Aber der ist zu Stein geworden. Und Baran hatte seine Zauberkräfte von einem Fithich, deinem Vetter Grimur erhalten. Andere Zauber gibt es doch nicht mehr. Na ja, außer mir, will ich sagen.«

Der Rabe legt seinen Kopf schräg und schaut den Jungen nachdenklich an.

»Glaubst du? Aber Nachfahren der Dubharan könnten doch einen anderen Raben überlistet haben, Zauberkräfte übertragen zu bekommen.«

»Aber dafür gibt es keinen Hinweis.«

»Nein, den gibt es nicht. Aber wie sollten wir einen derartigen Hinweis bekommen?«

»Richtig. Das ist das Problem. Das würde sicher nicht in der Zeitung bekannt gegeben werden oder im Radio oder Fernsehen. Hm.«

»Es ist aber auch egal, ob es möglicherweise eine Bedrohung durch Nachfahren der Dubharan gibt. Wir müssen sofort in den geheimen Wald. Falls es dort einen Angriff gab, werde ich die Eindringlinge vernichten. – Ich werde sie…«

»Ruhig, mein Freund. Kann Zoe denn alleine die Eier wärmen?«

»Wir werden sicher nicht lange fort sein. Notfalls kann sie das Brüten einige Tage alleine schaffen.«

Raban steht mittlerweile schon vor dem Bett.

»Ich ziehe mich an und dann begleite ich dich.«

So geschieht es. Raban hat sich schnell angekleidet und den Haselstab in seine rechte Hand genommen. Dann tritt er nach einem kurzen Zögern zu seinem Schreibtisch und entnimmt einer Schublade einen schmalen, bronzenen Armreif, auf dem ein Sonnensymbol zu erkennen ist.

»Den sollte ich besser mitnehmen«, sagt er und schließt ihn um sein linkes Handgelenk. Raban verspürt den vertrauten Wärmeimpuls, den der Armreif abgibt, wenn er von seinem zugeordneten Auserwählten angelegt wird. Falls es notwendig werden sollte, werden die Zauberkräfte des Jungen durch den Reif um ein Vielfaches verstärkt. Da er nicht weiß, was sie im geheimen Wald erwartet, ist das eine kluge Vorsichtsmaßnahme.

Raban streckt den linken Arm aus. Sobald sein gefiederter Freund darauf gelandet ist, flirrt die Luft.

Das Zimmer ist verlassen.

Im geheimen Wald

Raban blickt jetzt in den ihm bekannten, hellen Laubwald. An den Bäumen sind hellgrüne Blätter des Frühjahrs zu sehen. Der Waldboden ist übersät mit Buschwindröschen und Leberblümchen.

Erwartungsvoll aber auch etwas ängstlich schweifen seine Augen umher, ob er einen der Wächter entdecken kann.

Ist hier etwas geschehen, was die Wachen vertrieben oder, schlimmer noch, getötet hat? Der Junge ist besorgt und überlegt, ob Röiven mit seiner Vermutung Recht haben könnte. Aber wenn es hier einen Überfall gegeben hätte, müssten doch Spuren zu erkennen sein!

In diesem Moment lässt ihn ein Rascheln aufschrecken und herumfahren.

Fünf grün gekleidete, junge, schlanke Elfen treten aus ihrer Deckung hervor. Sie tragen langes, hellblondes Haar und machen strenge Gesichter. Auf ihren Bogensehnen liegen vorsorglich Pfeile, die aber nicht auf den Jungen oder den Vogel gerichtet sind.

»Ich grüße euch, Raban und Röiven. Ihr seid hier wie immer willkommen!«, spricht der Mittlere von ihnen sie an.

»Ich grüße euch«, antwortet der Junge.

»Gab es hier einen Überfall durch die Dubharan?«, will der Rabe knarzend wissen.

»Überfall?« und »Dubharan?«, klingen die erstaunten Antworten. »Nein. Hier ist alles ruhig. Aber Solveig, die Oberste von uns Elfen hier im geheimen Wald, ist heute Nacht gestorben«, ist die traurige Stimme von einem der Elfen zu vernehmen.

»Das tut uns leid«, bekräftigen die beiden Ankömmlinge ihre Anteilnahme.

»Deshalb sind wir unter anderem auch gekommen. Elfrun hat uns informiert«, fügt Raban hinzu.

»Wisst ihr, wie es meiner Großmutter geht?«, fragt der Rabe aufgeregt.

»Das wissen wir nicht. Sie bereitet vermutlich die Bestattung von Solveig vor. Sie waren sehr befreundet.«

Der Vogel bedankt sich kurz, dann flirrt die Luft.

Die beiden stehen jetzt unter der Linde, wo sie sich im letzten Sommer oft mit Elfrun getroffen und beraten haben.

Doch der Baum steht verlassen.

Es ist wie immer angenehm warm im geheimen Wald, wie an einem sonnigen Frühlingstag. Trotzdem scheint der Rabe zu frösteln. Er schüttelt sich und blickt zur Elfenfestung Serengard hinüber, die von hier aus gut zu sehen ist.

»Dorthin!«, bestätigt der Junge die unausgesprochene Frage seines Freundes.

Sofort flirrt die Luft wieder, und sie stehen in einem kleinen Vorraum vor einer Tür, die mit Runen verziert ist. Raban klopft an. Als die entsprechende Aufforderung von innen erklingt, öffnet der Junge die Tür und tritt ein. Sie befinden sich jetzt in der Bibliothek, in der sie oft mit Solveig gesprochen haben. Der Rabe hüstelt und knarzt leise:

»Ich grüße dich Solveig, du Oberste der Elfen.«

»Was soll das denn? Solveig ist doch tot!«, flüstert der Junge erstaunt.

Bevor Röiven aber eine Antwort geben kann, erklingt eine Stimme von dort, wo Solveig am liebsten ihre Zeit in einem der Sessel vor dem Kamin verbracht hat.

»Tretet ein, Röiven und Raban!«

Die Stimme ähnelt der Solveigs sehr, doch die Elfe, die jetzt auf sie zukommt ist natürlich nicht Solveig. Sie hat eine große, schlanke Gestalt, mit langen, blonden Haaren, das aber nicht mit einem goldenen, sondern mit einem geflochtenen, grünen Band um den Kopf fixiert ist. Das von einem dunkelgrünen Band umgürtete Gewand ist weiß und reicht bis zu den Knien hinab. Ihr Gesicht wirkt stolz und unnahbar, aber auch traurig.

»Ich sehe, Röiven ist der Brauch bekannt, beim Eintreten in einen Raum den Bewohner zu grüßen, auch wenn dieser bereits gestorben ist. – Mein Name ist Sorcha.«

»Sei gegrüßt, Sorcha«, krächzt der Rabe.

»Ich grüße dich, Sorcha«, erwidert auch Raban. »Es tut mir leid, dass deine Mutter gestorben ist.«

Erstaunt blickt ihn die große Elfe an, doch sie erwidert nichts. Sie wendet sich statt dessen an den Raben: »Und jetzt zu dir, Röiven. Du suchst Elfrun, deine Großmutter. Sie ist hier bei Solveig.«

Während dieser Worte hat Sorcha sie aufgefordert, mit zu den Sesseln vor dem Kamin zu kommen.

»Großm…“, ruft Röiven. Doch als er sie erblickt, bricht er erschrocken ab.

»Was ist passiert …?«, fragt Raban, der auf den Vogel hinunterblickt, der im Schoß von Solveig liegt, die scheinbar schlafend in dem Sessel sitzt.

Der Kolkrabe hebt matt beide Augendeckel. Trübe Augen blicken in die von Röiven, der sich auf einer Armlehne niedergelassen hat.

»Röiven«, keucht Elfrun. »Mein geliebter Enkel.«

Mühsam hebt sich ihr Brustkorb. Sie röchelt kurz und fährt dann leise fort: »Es ist … schön, dass … du gekommen … bist.« Erneut röchelt die alte Rabendame. »Danke … für … deine … Liebe. … Ich … … wer…de … immer … bei dir sein.«

»Großmutter…!«, schluchzt der Rabe auf, während unaufhörlich Tränen über seinen Schnabel rollen und auf die Sitzfläche des Sessels tropfen.

Der Junge streicht seinem Freund über den Rücken und kann es kaum fassen. Er weiß, Elfrun hat für einen Kolkraben ein sehr hohes Alter erreicht, trotzdem versteht er seinen Freund. Sie hat ihn erzogen und war in seinem Leben die wichtigste Bezugsperson, da die Eltern früh gestorben sind.

Raban schaut die Elfe fragend an, die auf der anderen Seite des Sessels steht und Solveigs Hände streichelt.

»Was ist passiert? Kann ich helfen? – Ich könnte Lebensenergie auf Elfrun übertragen!«

Erstaunt blickt Sorcha ihn an.

»Du könntest was?«

»Ich habe Zauberkräfte von Röiven übertragen bekommen und besitze den Armreif von Eila, der meine Magie verstärkt. Soll ich es machen?«

»Ich weiß nicht, ob das Sinn hat, Elfrun ist bereits sehr alt. Sie hat sich vermutlich verausgabt, als sie Solveig helfen wollte, aber versuchen solltest du es natürlich.«

Raban hält seine Hände über den Körper der Rabendame und spricht: »Beatha.« Nichts geschieht. Noch einmal fordert er: »Beatha!« Wieder nichts. Sollte er den Spruch falsch nutzen?

»BEATHA! BEATHA! BEATHA!« schallt sein Ruf laut durch den Raum. Und jetzt bemerkt der Junge eine Reaktion. Er spürt ein leichtes Kribbeln an seinen Handflächen. Dann beginnt ein kaum sichtbares Licht von seinen Händen zu dem Kolkraben zu fließen. Das golden schimmernde Gleißen wird immer stärker.

Die kleine Brust des Vogels beginnt sich etwas stärker zu heben und zu senken, wie der Junge nach kurzer Zeit erfreut sieht. Raban beobachtet das helle Licht noch eine kurze Zeit, bevor er das Übertragen von Lebensenergie unterbricht.

Er beugt sich hinab und horcht nach dem Herzschlag. Dieser klingt für ihn nicht normal. Das Herz schlägt unregelmäßig und sehr flach.

Raban weiß, dass er sonst nichts für Elfrun machen kann. Obwohl der Herzschlag nicht ermutigend klingt, hofft er dennoch auf die Genesung des Vogels.

»Danke!«, knarzt sein Freund.

»Ich danke … dir auch … für den … Versuch«, ist die schwache Stimme Elfruns zu vernehmen, die kurz ihre Augen öffnet. »Aber, Röiven, sei … nicht traurig, … ich werde … nicht mehr lange … leben.« Ihre Stimme klingt gehetzt, obwohl sie sehr langsam spricht. Röiven hebt seinen Kopf und blickt in das geliebte Antlitz seiner Großmutter, die ihre Augen wieder ermattet schließt.

»Großmutter. Du musst wieder gesund werden. Ich, … wir werden dich pflegen und erneut Lebensenergie auf dich übertragen.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ich werde bald Vater werden. Zoe brütet bereits vier Eier aus. – Du musst doch deine Urenkel kennenlernen, … sie sollen dich kennenlernen!«

Obwohl das sicher nicht möglich ist, scheint ein Lächeln über Elfruns Gesicht zu huschen.

»Das freut … mich für … dich! … Wirk…lich!« Die Rabendame versucht jetzt ihren Kopf unter einen Flügel zu schieben, doch dann schläft sie bereits ein, ohne die seit vielen Jahren gewohnte Stellung einzunehmen.

»Wir sollten ihr jetzt Ruhe gönnen. Das ist das Beste, was wir für sie tun können«, fordert Sorcha die beiden Freunde auf.

Der Junge betrachtet nun Solveig. Sie scheint ohne Schmerzen gestorben zu sein. Ein feines Lächeln ist auf ihren Zügen zu erkennen. Raban erinnert sich an die Unterhaltungen mit ihr. Sie war immer sehr freundlich, hatte aber auch Phasen, in denen sich ihr zunehmendes Alter zeigte. Sie wiederholte sich oft und Müdigkeit ließ sie mitten in der Unterhaltung einschlafen. Raban freut sich, dass der Tod offenbar so leicht zu ihr gekommen ist. Zaghaft streicht er über ihre Stirn, auf der das Sonnensymbol bereits verblasst.

Der Rabe bleibt auf der Armlehne bei seiner Großmutter, um über sie zu wachen. Die Elfe und der Junge begeben sich jetzt zu einer anderen Sitzgruppe und setzen sich. Obwohl sich Sorcha und der Junge leise unterhalten, vernimmt der Rabe alles.

»Woher weißt du, dass Solveig meine Mutter ist? Du bist doch noch viel zu jung, um das zu wissen.«

»Ähem. Ich bin in deinen Augen sicher sehr jung, aber ich habe von den Ereignissen vor über 100 Jahren gelesen, in der Geschichte über Eila. Als ich jetzt deinen Namen hörte und deine große Ähnlichkeit mit Solveig hinzunahm, konntest du nur ihre Tochter sein. – Aber, verzeih, woher kennst du meinen Namen?«

»Wenn du über die Ereignisse von vor 100 Jahren gelesen hast, weißt du vermutlich, dass wir Elfen fast ständig untereinander gedanklich in Verbindung stehen. Die Wächter am Eingang zu unserem Wald haben mir euer Kommen mitgeteilt. Darum kenne ich auch deinen Namen.«

»Entschuldigung«, stottert Raban. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber bist du nicht schon sehr alt? Du wirkst aber überhaupt nicht so alt«, fügt er schnell hinzu.

»Ist schon gut. Ich bin mit meinem Alter nicht empfindlich. – Du erinnerst dich durch das Buch sicher daran, dass Elfen wesentlich älter als Menschen werden. Mit meinen 135 Jahren bin ich für eine Elfe zwar nicht mehr jung, habe aber noch viele Jahre vor mir.«

Nach einer Pause erklärt Sorcha dann die Ereignisse der Nacht.

Solveig hatte Elfrun und sie gegen Ende der Nacht herbeigerufen, da sie merkte, dass ihr Ende naht. Elfrun hat dann durch Übertragen von Lebensenergie versucht, ihre Freundin zu retten, was ihr aber nicht gelang. Der Versuch forderte seinen Tribut bei dem alten Raben, der sich zu sehr verausgabt hatte. Sorcha kann nicht Zaubern und somit auch nicht mittels magischem Sprung reisen. Als sie den Ruf ihrer Mutter vernahm, musste sie somit den magischen Verbindungsweg von ihrem Aufenthaltsort in den geheimen Wald nutzen. Als sie endlich hier ankam, stellte sie den Tod ihrer Mutter fest. Sie konnte nur mit Mühe die noch fließende Lebensenergie von Elfrun zu Solveig unterbrechen. Die Rabendame war mittlerweile schon bewusstlos und wäre in Kürze gestorben.

»Ich danke dir«, krächzt Röiven von seinem Platz herüber.

»Das habe ich gerne gemacht, auch wenn ich lieber etwas früher hier gewesen wäre. Vielleicht ginge es ihr dann nicht so schlecht.«

»Ähem, Röiven«, spricht Raban plötzlich zu seinem Freund.

»Ja. Was gibt es?«

»Kann ich dich kurz alleine lassen. Ich habe meine Eltern nicht informiert. Die werden sich bestimmt wundern, wo ich geblieben bin.«

»Na klar. Ich bleibe hier bei Großmutter. Wir können jetzt nur warten.«

»Dann bis nachher.«

Die Luft flirrt und Raban ist wieder Zuhause.

Solveigs Bestattung

Raban stürmt sofort aus seinem Zimmer und die Treppe hinunter. Er findet seine Mutter in der Küche.

»Hallo Mom. Ich hoffe, ihr habt euch keine Sorgen gemacht!«

»Guten Morgen Raban. Ich habe mir Sorgen gemacht. Dein Vater hat mich aber zu beruhigen gewusst. Du wüsstest schon auf dich aufzupassen. Wenn du so plötzlich verschwunden bist, sagte er, muss das dringend gewesen sein, sonst hättest du uns doch vorher informiert. Das hat sicher etwas mit deinem Freund, dem Raben zu tun. So meinte er jedenfalls.«

»Und er hat Recht damit«, erwidert der Junge. Er setzt sich an den Tisch und frühstückt hastig, wobei er seiner Mutter von den Ereignissen berichtet.

»Mom. Meldest du mich in der Schule krank? Ich möchte meinem Freund zur Seite stehen. Ich glaube nicht, dass seine Großmutter ihre Schwäche überleben wird. Und Röiven braucht dann einen Freund an seiner Seite. Sobald er meine Hilfe nicht mehr benötigt, werde ich zurückkommen. – Keine Angst. Diesmal gibt es keine Auseinandersetzung mit einem bösen Zauberer. Ich möchte einem wirklich guten Freund nur seelischen Beistand leisten!« Er blickt seine Mutter bittend an, die nach kurzer Zeit lächelnd die Erlaubnis erteilt.

»Du mit deiner Zuneigung zu diesem Vogel. Aber ich freue mich, dass du so mitfühlend bist. Ich werde dich in der Schule auf unbestimmte Zeit entschuldigen. Ich hoffe aber, die Zeit wird nicht zu lang werden. Du könntest zu viel verpassen.«

»Danke, Mom!« Raban umarmt sie. »Grüße Dad. Ich versuche so schnell wie möglich zurückzukommen. – Oh. Entschuldigung. Jetzt wäre ich fast von hier verschwunden. Das erschreckt dich doch so sehr. Ich werde es von meinem Zimmer aus machen, so wie wir es im letzten Jahr besprochen hatten. Also bis bald.« Der Junge drückt ihr noch schnell einen Kuss auf die Wange, dann flitzt er nach oben in sein Zimmer.

Ciana hört noch kurz seine Schritte, dann ist es still dort.

Als Raban wieder bei seinem Freund ist, schläft Elfrun immer noch. Der Brustkorb der Rabendame hebt und senkt sich unregelmäßig. Der Junge horcht erneut nach ihrem Herzen, das sehr schwach und heftig stolpernd schlägt. Traurig blickt er seinen Freund an und streicht diesem über den Rücken. Worte des Trostes wollen ihm nicht einfallen. Er meint, sie würden nur hohl und leer klingen, darum steht er seinem Freund schweigend zur Seite. Gegen Abend dreht Elfrun den Kopf in Richtung ihres Enkels, ihre Augen blicken ihn an. Sie öffnet den Schnabel und krächzt kaum vernehmbar:

»Röi…ven, sei nicht … tra…uri…g.« Ihre Augen schließen sich und ihr Kopf fällt zur Seite. Der Brustkorb hebt sich nicht mehr.

»Großmutter. NEIN!«, schluchzt Röiven. Ein heftiges Zittern durchläuft ihn, während Raban die Hand auf seinen Rücken legt.

Nach einer geraumen Zeit richtet sich der Rabe auf, dreht den Kopf herum und blickt den Jungen an.

»Danke, mein Freund.« Er seufzt tief. »Ich verdanke Großmutter so viel! Ihre Anam kehrt jetzt zum großen Geist heim, der uns alle geschaffen hat.«

»Sollen wir sie eine Weile im Schoß ihrer Freundin lassen, was meinst du?«, fragt der Junge leise.

»Ja. Das würde ihr sicher gefallen.« Der Kolkrabe seufzt noch einmal, dann richtet er sich gerade auf. »Wo ist eigentlich Sorcha?«

Sie unterhalten sich lange mit der Elfe. Sorcha erklärt, dass sie jetzt ihren Aufenthaltsort nach Serengard verlegen wird. Sie ist nach dem Tod ihrer Mutter die Oberste der Elfen im geheimen Wald und muss sich um deren Angelegenheiten kümmern. Trotzdem wird sie hin und wieder ihren ehemaligen Wohnort aufsuchen. Dort hat sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht und kann sich nicht so einfach davon trennen.

Sie sprechen auch über den Ablauf von Solveigs Bestattung, die nach Elfenbrauch innerhalb drei Tagen stattfinden sollte. Sorcha freut sich, als Raban erklärt, er möchte unbedingt dabei sein, wenn sie es ihm gestattet.

»Natürlich darfst du dabei sein. Jeder, der sie gekannt hat, ist willkommen!«

»Das freut mich. Und ich habe eine Idee«, fährt der Junge fort. »Ich weiß, dass Fithich ihre Angehörigen nicht beerdigen. Sie werden dem Kreislauf des Lebens überlassen und dienen anderen Tieren als Nahrung. Ich denke daran, wie wir im letzten Jahr Roya bestattet haben. – Also: Elfrun und Solveig sind doch Freundinnen gewesen. Sollten wir sie nicht zusammen bestatten? Was meint ihr?«

Jetzt herrscht für einige Augenblicke Ruhe im Raum.

Die Elfe lächelt den Jungen an und nickt.

»Ich bin damit einverstanden. Sie kann auf ihrem Schoß ruhen, so, wie sie gestorben ist. Beim Versuch, ihrer Freundin zu helfen.«

»Also … ich. – Ja, ich bin auch damit einverstanden«, krächzt der Kolkrabe leise. Dann ergänzt er mit kräftiger Stimme: »Ich bin sogar sehr damit einverstanden! Das wird, äh, hätte Großmutter gefallen. Danke, mein Freund!«

Der nächste Tag vergeht mit den Vorbereitungen für Solveigs und Elfruns Bestattung. Sorcha wählt den Platz in der Nähe der Linde, auf der Elfrun so oft gesessen hat. Sie steht als Einzelbaum auf einer mit Wildblumen übersäten Wiese. Die Blüten der Linde verströmen einen süßlichen Duft. Es riecht nach Honig und Bienen summen geschäftig. Von hier ist der Blick auf die Elfenfestung Serengard besonders schön und gleichzeitig fällt viel Sonne auf die ausgewählte Stelle.

Ein Sarg aus Glas ist in der Bibliothek aufgestellt, in dem Solveig nun ruht, mit Elfrun zwischen den Händen auf ihrem Schoß. Die Elfe wirkt unverändert, so, als schlafe sie nur. Am nächsten Tag wird der Sarg von mehreren Elfen aus der Festung zur Linde getragen. Alle Elfen umringen den Sarg. Es sind so viele, dass Raban die Menge nicht überblicken kann. Der Junge steht in der Nähe unter der Linde. Röiven sitzt auf seinem rechten Arm.

Als es Mittag ist, tritt Sorcha zum Sarg und legt beide Hände darauf, direkt über dem Kopf ihrer Mutter. Sie murmelt einige Worte, die Raban nicht versteht. Doch sie haben eine Bedeutung.

Plötzlich ist es gleißend hell und ein hohes Sirren erklingt. Sobald die Helligkeit verschwunden ist, scheint tiefe Dunkelheit zu herrschen. Aber nein, es ist nicht völlig dunkel. Dort, wo Sorcha steht, leuchtet es jetzt hell. Es sieht aus, als ob dort ein Stern erschienen wäre.

Nach einiger Zeit haben sich Rabans Augen wieder von der Blendung durch das Gleißen erholt. Er erkennt die Umgebung wieder. Alles scheint normal zu sein. Aber halt, der Sarg ist verschwunden und es geht immer noch ein Leuchten von Sorcha aus. Genauer gesagt kommt das Leuchten von ihrer Stirn. Mit einer schnellen Bewegung greift die Elfe an ihr Stirnband und das Leuchten ist verschwunden.

Die Elfen verlassen den Platz bei der Linde. Sie haben gesehen, worauf sie gehofft hatten. Sorcha tritt mit einem Lächeln zu Raban. Dieser erkennt erstaunt, dass sich die Farbe ihres Stirnbands von Grün in Gold geändert hat.

»Was ist passiert? Und was war das für ein Leuchten?«, fragt er immer noch verblüfft.

»Meine Mutter hat mich zur Obersten der Elfen gemacht, während sie heimgekehrt ist. Das hatte das Leuchten zu bedeuten.«

»Aber, was war das für ein heller Stern auf deiner Stirn. Solltest du …?«

»Ja, mein junger Freund. Das Sonnensymbol ist jetzt auf meiner Stirn. Ich bin somit gleichzeitig eine der oberen Drei der Zauberer geworden. Ich werde mich in der nächsten Zeit mit einigen der alten Bücher in der Bibliothek beschäftigen. Vielleicht gibt es dort Hinweise, ob noch andere Elfen zaubern können. – Ich kannte unter den lebenden Elfen außer meiner Mutter bisher keine.«

»Das ist ja großartig, du kannst jetzt also auch zaubern? Von wem wirst du aber darin ausgebildet?«

»Eine Ausbildung brauche ich nicht. Das Besondere an dem Vorgang, den du eben erlebt hast, ist, dass ich gleichzeitig alles Wissen und alle Fähigkeiten meiner Mutter übertragen bekommen habe. Trotzdem muss ich mich erst einmal daran gewöhnen, denke ich.«

Im nächsten Moment befinden sich die drei wieder in der Bibliothek. Sorcha hat zum ersten Mal ihre Zauberkräfte genutzt.

Den Rest des Tages und die halbe Nacht verbringen sie damit, sich über die Vergangenheit zu unterhalten. Raban erfährt durch Sorcha Details, die in dem Buch über Eila nicht festgehalten worden sind. Außerdem berichtet Röiven aus seiner Kindheit. Es tut ihm offensichtlich gut, über die Zeit mit seiner Großmutter zu erzählen. Trotzdem wirkt er etwas bedrückt. Der Junge hofft, dass sein Freund seine Fröhlichkeit und Unbeschwertheit bald wiedererlangt.

Schlussfolgerungen

»Jetzt setz dich endlich einmal ruhig hin! Dein ewiges Gerenne hilft uns nicht weiter. Das irritiert mich. Ich kann dann nicht klar denken. Wir müssen logisch vorgehen und die uns bekannten Fakten bewerten. Hallo? SETZ DICH HIN!« Die Stimme ist jetzt drohend geworden.

»Sonst, was?«, ist die höhnische Antwort. »Verzauberst du mich dann, vielleicht in eine, hm, in eine Steinfigur? – Ha. Das hat gesessen!«

»Das ist NICHT WITZIG! Wie kannst du es wagen …?«

»Warum nicht? Du möchtest mich jetzt tatsächlich liebend gern verzaubern, in was auch immer. Es fehlen dir nur, und darüber bin ich wirklich froh, die magischen Fähigkeiten! Haha!«

»Hör mal. Wir sind hier nicht im Kindergarten. Also sollten wir uns auch nicht wie kleine Kinder zanken.«

»Ist ja gut«, ist die brummige Antwort. »Trotzdem freue ich mich, dass du nicht zaubern kannst!«, wird leise, sehr leise hinzugefügt.

Doch die große Frau mit dem glatten, langen, schwarzen Haar, hat ein sehr feines Gehör. Sie beugt sich etwas vor und lächelt den Mann an, der jetzt vor ihr Platz genommen hat.

»NOCH nicht. Aber bald! Verlass dich drauf.« Ihre Antwort ist ebenfalls leise gewesen. Hat ihr Gegenüber die Worte überhaupt mitbekommen? Sie vermutet, nein.

Auch er zeigt jetzt ein Lächeln, während er ihr schönes Gesicht mit den unergründlichen Augen bewundert. Er könnte sich in diesem Dunkelblau, das fast Schwarz ist, verlieren. Doch er ist auf der Hut und will es bleiben.

»Du hast Recht, Morgana, wir sollten nicht streiten sondern uns auf den Zweck unseres Treffens konzentrieren.«

»Es freut mich, Oskar, dass du jetzt offenbar wieder mithelfen willst.«

Der Mann mit dem krausen, rötlichen Haar, das kurz geschnitten ist, ist etwa gleich alt wie die Frau und ebenso von schlanker Statur. Er ist nur einen halben Kopf größer als sie, was ihn komischerweise freut. So muss er nicht zu ihr hinaufschauen, wenn sie sich gegenüberstehen. Es reicht, dass sie ganz offensichtlich intelligenter ist als er, was er aber nie zugeben würde.

»Wir haben folgende Fakten«, beginnt Oskar. »Es sind:

1. Baran, der so wie wir ein Nachfahre der Zauberer des Mondes ist, die von anderen oft als »Dubharan« bezeichnet werden, verschwand im Sommer letzten Jahres spurlos.

2. Wir scheinen ihm bekannt gewesen zu sein, obwohl wir ihn nie gesehen oder getroffen haben.

3. Baran hat bei einem Rechtsanwalt ein Vermächtnis hinterlassen, das dieser uns, so wie Baran es bestimmt hatte, ein halbes Jahr nach dessen Verschwinden übergeben hat.

4. Baran vermachte uns zu gleichen Teilen seine Wohnung und Besitztümer, die er zum Großteil in einer separaten Liste aufgeführt hat.«

Hierbei deutet der Mann auf einen Bogen Papier, der dem Vermächtnis beigefügt war und fährt dann fort:

»Außerdem ist uns noch bekannt:

5. Baran hat behauptet, dass er Zauberkräfte erlangte, indem er einen Kolkraben überlistete. Den Raben hat er in Stein verwandelt. – Das ist vermutlich die Steinfigur, die wir in einem seiner Kellerräume gesehen haben.

6. Aus einem Museum der Hauptstadt wurde im letzten Jahr eine Skulptur, das Haupt der Medusa, gestohlen. Nach einigen Wochen stand dann plötzlich die Steinfigur eines Mannes vor dem Eingang zum Museum, die mit einer Hand das Medusenhaupt an den Schlangenhaaren hielt. Wir hatten das Foto in der Zeitung gesehen.

7. Der Anwalt hatte uns ein Foto von Baran gezeigt, auf dem eine große Burg im Hintergrund zu sehen war. Er erklärte uns, die Burg soll Barans Vorfahren gehört haben. Vor Gericht hatten diese vergeblich versucht, sie wieder in ihren Besitz zu bringen. Das Seltsame ist, Barans Gesicht auf diesem Foto ähnelt dem der Steinfigur zum Verwechseln.

8. In seinem Vermächtnis fordert Baran uns auf, sein Vorhaben, die Elfen zu vernichten und danach die Herrschaft in diesem Land zu übernehmen, fortzuführen.«

Jetzt schweigt Oskar und blickt Morgana auffordernd an. Diese wartet einen Moment und beginnt:

»Das ist soweit richtig. Und was können wir daraus folgern?« Der Mann hebt beide Schultern. Er kann sich entweder keinen Reim aus den Aufzählungen machen, oder er will der Frau den Vortritt lassen. Morgana kräuselt verwundert ihre Stirn, um dann zu beginnen.

»Da du schweigst, werde ich meine Überlegungen darlegen:

1. Es gibt Kolkraben, die über Zauberkräfte verfügen und die diese an Menschen weitergeben können.

2. Wir haben in Barans Büchern über magische Sprüche und Artefakte einen Hinweis gefunden, wie das Haupt der Medusa zum Leben zu erwecken ist. Also wird er die Skulptur aus dem Museum gestohlen haben, um sie zu verwenden.

3. Barans Versuch, die Elfen zu vernichten, ist offenbar nach hinten losgegangen. Er wurde dabei versteinert und wird jetzt im Museum ausgestellt.

4. Wir könnten Zauberkräfte erlangen, wenn wir uns an die Raben wenden. Elfen werden uns dagegen vermutlich nicht helfen.

5. Wir wissen nicht, welche Raben über Zauberkräfte verfügen und wie wir das erkennen können. Wenn es möglicherweise nicht alle Rabenarten, sondern nur Kolkraben betrifft, haben wir ein Problem.

6. Im letzten Jahr sind massenweise Kolkraben gestorben. Es wird schwierig werden, geeignete Exemplare zu finden. Wir sollten recherchieren, wo diese Vögel noch leben.

7. Baran hat sein Wissen, dass Raben zaubern und diese Kräfte übertragen können, irgendwoher bezogen. Wir müssen diese Quelle finden.

8. Wichtig ist außerdem, wie Raben veranlasst werden können, Zauberkräfte zu übertragen. Freiwillig werden sie es möglicherweise nicht tun. Vielleicht hat Baran den Raben in Stein verwandelt, damit dieser sich nicht rächen kann.

9. Wir sollten Barans Hinterlassenschaft erneut durchsuchen. Vielleicht hat er entsprechende Aufzeichnungen hinterlassen. Die müssen aber gut versteckt sein, da sie uns bei einer ersten Sichtung nicht aufgefallen sind.