Träume ... alles anders - Justin C. Skylark - E-Book

Träume ... alles anders E-Book

Justin C. Skylark

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Beschreibung

Träume ... alles anders/ Leere Augen ist die spannende Fortsetzung des Romans "Craig's little Dawn". Das Leben auf der Straße hat für Craig und Dawn ein Ende gefunden. Doch die erhoffte Ruhe und sorgenfreie Zukunft bleiben aus. Unvorhersehbare Ereignisse stellen die Liebe der beiden jungen Männer auf eine harte Bewährungsprobe.

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Träume … alles anders

Leere Augen

Roman von J. C. Skylark

Fortsetzung von „Craig’s little Dawn“

Impressum

© by the author

© by dead soft verlag

http://www.deadsoft.de

Covergestaltung: M. Hanke

Motiv: © Eiskönig – fotolia.com

2. Auflage  2008

3. Auflage 2013

ISBN 978-3-934442-16-0 (print)

ISBN 978-3-943678-70-3 (epub)

Vogelspuren im Schnee,

Angst und Freude,

Hunger und Tod.

Wenn der Schnee geschmolzen ist,

wer denkt noch daran?

Träume ... alles anders ... 

Was sind Träume? Die Antworten darauf liefern uns Freud und Langs zu genüge, doch habe ich aufgegeben, in ihren Deutungen einen Sinn zu sehen.

Für mich bedeuten Träume nur noch Angst, Verlust, Konflikte, Trauer und Schmerz – das ergibt den Stoff, aus dem meine Träume sind.

Können Sie sich vorstellen, was es heißt, nachts ins Bett zu gehen, mit dem Wissen, dass der Traum – ein Albtraum – weitergehen wird? Er sich nicht wiederholt, nicht stehen bleibt, sondern einfach weitergeht ... wie ein Film, ein Horrorfilm ...

Schweißgebadet wache ich auf, Nacht für Nacht. Und auch wenn ich im ersten Moment froh darüber bin, dass alles doch nur ein „blöder“ Traum war, so ergreift mich stets die erneute Angst vor der Fortsetzung dieses Films.

Vielleicht haben Sie meine Geschichte gelesen, vielleicht wissen Sie, was ich alles erlebt habe. Es mag keine Entschuldigung für meine Träume sein, doch sicherlich ein Auslöser.

Und vielleicht können Sie auch begreifen, wie schrecklich es ist, wenn selbst in der Realität – weit außerhalb der Träume – alles ganz anders wird, als man vorher gedacht hatte. Wenn man zwar erwacht, doch das eigentliche Leben auch keinen besseren Traum darstellt.

1

Mein Herz stolperte vor Freude, als ich die schwere Tür der Klinik öffnete. Frische Winterluft kam uns entgegen. Der Wind wirbelte ein paar welke Blätter in unsere Richtung. Euphorisch drehte ich mich um.

„Freust du dich, Craig? Freust du dich nicht?“

Ich war so begeistert, dass ich nicht bemerkte, wie mein Freund die schwere Tür kaum halten konnte. Er zwängte sich durch den schmalen Spalt, der offen stand, dann ließ er die Tür geräuschvoll zufallen.

„Doch, doch ... Ich freu mich.“ Seine Stimme klang schwach und bleiern. Er hatte Schmerzmedikamente intus, und doch hielt er sich die Hand vor den Bauch.

„John wird gleich kommen, dann fahren wir heim.“

Ich stellte die kleine Tasche ab und starrte auf die Straße. Heim – mein Heim war jetzt bei John. Ich war so froh darüber. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Ich war frei, ungebunden.

Das Leben voller Angst und Abhängigkeit war vorbei.

„Er kommt sicher gleich!“, rief ich aufgeregt. Craig schlurfte hinter mir her, dann schleppte er sich auf die Bank, die vor der Klinik stand und setzte sich.

„Kurze Pause...“, krächzte er. Er atmete schwer. Es war noch alles sehr anstrengend für ihn. Ich nickte verständnisvoll.

„Hast du ne Kippe?“

„Klar.“

Ich reichte Craig meine Schachtel CamelohneFilter. Seine dürren Finger zogen sich einen Glimmstängel heraus. Ich gab ihm Feuer.

Er hustete beim ersten Zug. Das hatte ich bei ihm noch nie erlebt. Er lächelte.

„Mann, 6 Wochen ohne Kippe, dass ich das überlebt habe?“

Ich versuchte auch zu lächeln, aber es fiel mir schwer. 6 Wochen. Es war eine lange Zeit gewesen. Eine Zeit voller Angst und Ungewissheit. Craig hatte mit dem Tode gerungen  – und gewonnen. Ich verkniff mir die Tränen. Ich hatte genug geweint. Nun war Schluss damit.

Dann bog ein Jeep um die Ecke. Es war John in seinem neuen Wagen. Ich fuchtelte wild mit den Armen, lotste ihn heran. Der Wagen hielt. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, wie Craigs Entlassung aus der Klinik ablaufen würde. Und nun ging alles so einfach.

John stieg aus. Er sah wieder gut aus. Ein kurzärmliges Hemd hatte er über ein Longsleeve gezogen, seine Jeans saß perfekt. Als er auf uns zukam, nahm er die Brille ab. Das tat er nur, weil ich Männer mit Brille nicht mochte. Nun trafen sie aufeinander. Die ganzen Wochen, die Craig in der Klinik verbracht hatte, war John zurückhaltend gewesen. Er brachte mich zwar hin und holte mich auch wieder ab, doch er kam nie mit, um Craig zu besuchen.

John war nervös, das sah ich an seinem Blick und seinen zuckenden Mundwinkeln. Er wusste sicher nicht, ob ein Lächeln angebracht war.

Ich grinste ihn heldenhaft an. Er klopfte mir kurz auf die Schulter, dann trat er auf Craig zu und hielt ihm etwas schüchtern die Hand entgegen.

„Hallo, ich bin John“, sagte er. Craig hob seinen Kopf und musterte John gründlich. Erst rechnete ich mit keiner Antwort, doch dann streckte Craig ihm ebenfalls die Hand entgegen.

„Hi!“, kam es über seine Lippen. Sie schüttelten kurz die Hände. „Vielen Dank, dass ich bei dir unterkommen darf.“

Mir fiel ein kleiner Stein vom Herzen. Craig schien in keiner Weise nachtragend zu sein. Immerhin war John mal ein Freier von mir gewesen, doch das war eine andere Geschichte. Das Zusammentreffen zwischen Craig und John zeigte mir nur zu deutlich, dass diese Geschichte der Vergangenheit angehörte. Zumindest wollte ich es in diesem Moment glauben.

„Es ist kein Problem“, sagte John freundlich. Er schien lockerer zu werden. Die Anspannung fiel von ihm ab. „Bei mir ist genug Platz.“

John trug die Tasche zum Auto. Ich half Craig beim Laufen. Ich war in den letzten 4 Monaten ordentlich gewachsen; deswegen war ich sogar schon beim Arzt gewesen. Ich hatte Knochenschmerzen. Ich wuchs einfach zu schnell, und das, obwohl ich in der Zeit meiner Obdachlosigkeit so gut wie gar nicht gewachsen war. Es war, als wolle mein Körper jetzt plötzlich alles ganz schnell nachholen.

Jedenfalls war ich froh, dass ich Craig etwas stützen konnte. Ich war zwar noch nicht ganz so groß wie er, doch kräftiger. Mein Freund dagegen sah zerbrechlich und müde aus. Die Verletzung und der lange Krankenhausaufenthalt hatten ihn geschwächt.

Ich half  ihm ins Auto. Der Range Rover war ein hoch gelegter Wagen. Craig verzog das Gesicht, als er auf den Sitz kletterte. Ich setzte mich ebenfalls mit auf die Rückbank.

Ganz dicht saß ich neben Craig, der seine Augen geschlossen hatte. Ich streichelte seinen schlanken Hals mit meinen Lippen und seufzte tief.

„Ich bin so froh, dass du da raus bist“, sagte ich leise. Craig nickte still. Ein Lächeln tat sich bei ihm auf.

„Nikolas? Schnallst du dich bitte an?“ Es war John, der mich ermahnte. Ich widersprach nicht. John hatte ja recht. Ich rückte von Craig ab und setzte mich ordentlich hin, zog den Gurt um meinen Körper.

Doch als ich wieder aufsah, bemerkte ich, wie John in den Rückspiegel sah und den nachdenklichen Blick von Craig streifte.

Bei John angekommen, brachte ich Craig gleich in mein Zimmer. Es war nicht sonderlich groß, doch Craig bestand darauf, bei mir zu schlafen und nicht in dem Gästezimmer.

John duldete es ohne Worte.

Ich half Craig beim Ausziehen. Ein dicker Verband klebte an seinem Bauch.

Ich konnte jede einzelne seiner Rippen zählen. Wochenlang wurde er nur durch Infusionen ernährt. Ich hatte Angst, er würde verhungern.

Ich half ihm in ein weites T-Shirt, damit er es bequem hatte, dann deckte ich ihn zu. Dass er sich ausruhen musste, das stand gar nicht zur Diskussion.

„Ich mach’ dir eine Suppe, okay?“

Craig nickte.

„Kann ich hier rauchen?“, fragte er in seiner sanftmütigen Art. Ich überlegte kurz. John mochte es gar nicht, wenn ich mein Zimmer vollqualmte, doch ich konnte unmöglich von Craig verlangen, dass er für jeden Glimmstängel in die Küche gehen musste. Und der Blick von seinen grün-blauen Augen ließ mich sofort weich werden.

„Ja, kannst du. Solange du nicht das Bett anzündest!“

Craig lachte und hielt sich dabei den schmerzenden Bauch.

Ich stopfte Craigs schmutzige Kleidung in die Waschtrommel. Ich freute mich so über seine Entlassung, dass mich das Waschen heute nahezu kalt ließ.

„Und?“, fragte ich gespannt. Ich blickte John erwartungsvoll an. „Wie findest du ihn?“

John überlegte nur kurz, dann nickte er zustimmend.

„Ja, doch! Er scheint nett zu sein.“

Ich schloss die Waschmaschine und drehte an den Knöpfen.

„Sieht er nicht gut aus?“, nervte ich weiter.

Ich merkte nicht, wie nachdenklich Johns Blick wurde.

„Ja, er sieht gut aus. Besser, als ich mir vorgestellt hatte.“

Warum er dies so ernst sagte, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht spürte er schon damals, dass alles nicht so glatt laufen würde, wie ich zuerst angenommen hatte.

Die Suppe hatte ich selbst zubereitet. Gut, ich gebe zu, es war ein Fertigprodukt, aber immerhin hatte ich sie eigenhändig gekocht. Ich setzte mich zu Craig an das Bett.

„Soll ich dich füttern?“, fragte ich. Ich konnte an diesem Tag einfach nicht ernst bleiben.

„Das ist ja wohl das Mindeste.“ Auch Craig war in guter Stimmung. Überhaupt, es war ein ganz wundervoller Tag. Vorsichtig schob ich Craig den Löffeln zwischen die Zähne. Ich freute mich zutiefst, dass er wieder essen konnte. Jeder Tropfen, den er herunterschluckte, war für mich ein Weg in die viel versprechende Zukunft.

„Wenn ich deine Lippen sehe, dann dreht sich alles bei mir“, sagte ich abwesend. Ich merkte, wie ich rot wurde. Ich war geil auf Craig, keine Frage. Wochenlang musste ich auf so viel verzichten. In der Klinik war ich froh, wenn ich ihn mal küssen konnte, ohne dass er vor Schmerzen wimmerte oder eine Krankenschwester uns merkwürdig ansah.

„Tust du mir einen Gefallen?“, hörte ich Craig dann sagen.

„Ja, was?“ Ich kratzte den letzten Rest der Suppe zusammen.

„Zieh dich aus.“

Ich senke den Löffel und wurde noch roter.

„Jetzt?“ Ich schielte zu der offenen Tür,  hörte, wie John in der Küche hantierte.

Craig nickte. Sein Blick war flehend.

„Bitte“, sagte er.  „Ich hab dich so lange nicht gesehen ... Und du hast dich ... verändert ...“

Ich wusste, was Craig meinte. Seine Aussage war nicht negativ gemeint. Ich hatte mich verändert, das wusste ich selbst. Ich war größer geworden, mein Haar war länger, meine Statur kräftiger, meine Gesichtszüge waren kantiger geworden. Ich sah nicht mehr aus, wie der hilflose Junge. Ich war dabei, erwachsen zu werden.

Vorsichtig stellte ich den Teller ab und blickte Craig an. Ich sah Sehnsucht in seinen Augen. Die gleiche Sehnsucht, die auch ich verspürte. Der stille Moment hielt nicht lange an. Ich grinste schelmisch. Craig auch. Ich sah seine Zahnlücke. Kurz dachte ich an den Moment, als ich ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Es war, als wäre es erst gestern gewesen.

„Also, ein spezieller Strip, für den bezauberndsten Mann der Welt!?“

Ich erhob mich von dem Stuhl. Craig nickte eifrig. Ich schloss die Tür.

„Was willst du denn sehen?“, fragte ich provozierend, während ich mir als erstes die Socken auszog.

„Alles!“ Craigs Gesicht glühte. Vorsichtig richtete er sich im Bett auf und lehnte sich gegen eins der Kissen. Neugierig verfolgte er jede Bewegung meines Körpers. Ich kicherte, als ich die Knöpfe meines Hemdes öffnete. Ich ließ es einfach auf die Erde fallen.

Dann zog ich mein T-Shirt aus. Ich bemerkte, dass meine Bewegungen unfreiwillig langsamer wurden. War ich nervös? Es war doch Craig, mein Freund! Doch trotz all der Vertrautheit, die ich ihm gegenüber verspürte, war mir auch bewusst, wie lange wir nicht mehr intim miteinander gewesen waren. 3 ½ Monate waren es bestimmt. 8 Wochen in der Jefferson Villa und 6 Wochen Bangen um Craigs Leben.

Es war mittlerweile Dezember. Das neue Jahr stand vor der Tür.

Mein Oberkörper war nun frei, und meine Hände begannen zu zittern. Craig sah mich gierig an. Sein Blick heftete sich auf meiner Brust fest.

„Bist du schön ...“, hörte ich ihn sagen. Es klang etwas weinerlich, verzweifelt, als könne er es gar nicht glauben.

„Findest du?“, fragte ich verlegen. Ich griff nach meinem Reißverschluss und öffnete die Hose. Ich kann nicht leugnen, dass sich erste Anzeichen einer Erregung bemerkbar machten. Ich sah noch kurz zur Tür, doch die war verschlossen. Mein Lachen war längst verstummt. Es lag eine merkwürdige Spannung in der Luft, und schließlich entledigte ich mich auch noch meiner Unterhose. Ich schluckte, stand da, wie erstarrt. Craig musterte mich von Kopf bis Fuß, dann richtete er sich etwas auf.

„Komm’ her ...“, sagte er mit leiser Stimme. Ich trat an das Bett heran und ließ zu, dass mich seine warmen Hände sanft berührten. Er strich seitlich an meinen Hüften entlang, fuhr über meinen Bauch, meine Brust, dann an meinen Oberschenkeln entlang, schließlich berührte er mein Geschlecht. Ich seufzte laut und schloss die Augen. Craig wusste zu gut, was er in mir auslöste.

„Du bist ... kein Junge mehr, Dawn“, sagte er. Seine Stimme bebte. Ich war mir nicht sicher, ob er ebenfalls so erregt war, oder ob ihm die Schmerzen wieder zusetzten. Unsicher sah ich ihn an.

„Ja, ich weiß ...“

Irgendwie schämte ich mich. Ich weiß auch nicht wieso. Und dann ganz plötzlich tat sich ein schlimmer Gedanke bei mir auf. Meine Knie wurden weich, und ich setzte mich zu Craig auf das Bett.

„Aber, das stört doch nicht, oder?“, fragte ich ihn angsterfüllt. „Du magst mich doch noch, oder?“

Mein Herz stolperte. Mir war nicht klar, warum ich auf einmal diese Unsicherheit verspürte. Wahrscheinlich, weil ich nicht mehr den Körper besaß, mit dem ich Craig kennen gelernt hatte. Ich war nicht mehr der Junge, der damals einsam und verlassen seinen Weg kreuzte. Ich war reifer geworden, erfahrener und um viele Tränen ärmer.

Craig strich über meine Wange.

„Natürlich mag ich dich noch“, flüsterte er. Dann versanken wir in einem innigen Kuss. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Stürmisch presste ich Craig an mich.

„Bitte, bitte, nicht so doll!“ Craig versuchte sich zu lösen. Ich sah sein verzerrtes Gesicht.

Sofort ließ ich ihn los. Er war ja so zerbrechlich. Müde sank er zurück in die Kissen.

„Es tut mir leid!“, beteuerte ich. Craig lächelte.

„Macht nichts ... Es tut nur noch so weh, verstehst du?“

Ich nickte.

„Was um alles in der Welt würde ich jetzt tun, um dich ...“ Er verstummte. Ich verstand sofort, was er meinte. Ohne Worte ließ ich meine Hand unter die Bettdecke gleiten und erforschte Craigs Körper.

„Entspann dich einfach“, sagte ich liebevoll, dann zog ich ihm die Shorts aus. Ihn mit den Händen zu berühren, erschien mir auch zu heftig. Craigs Körper schien wie aus Porzellan. Deswegen nahm ich seine Männlichkeit lieber behutsam in meinen Mund. Ich begann daran zu saugen, zu lutschen, so vorsichtig, wie noch nie in meinem Leben. Ihm gefiel das, ich spürte es an seiner steigenden Erektion. Seine rechte Hand griff in meine Haare. Er atmete tief durch.

„Das ist göttlich, Dawn ... Ich wusste schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlt.“

Er streichelte meinen Rücken und genoss meine Zärtlichkeiten in vollen Zügen. Kurz drauf wurde sein Atmen schneller. Er fasste sich an den Bauch, seine Muskeln spannten sich an, es schmerzte, ich sah es in seinem Gesicht, und doch war seine Lust größer. Schließlich kam es ihm. Ich hielt seine Hand ganz fest. Ich fragte mich, was das für ein Gefühl sein musste. Er war geplagt von Schmerzen, doch ebenso von lustvoller Gier.

Nach kurzer Zeit hatte er sich beruhigt. Ich legte mich neben ihn und küsste seine hohlen Wangen.

„Geht’s?“, fragte ich unsicher. Er drehte seinen Kopf und sah mich mit funkelnden Augen an.

„Ich liebe dich, Dawn.“

Jetzt bloß nicht heulen! ermahnte ich mich.

„Ich dich auch, Craig!“

Wir küssten uns. Lange Zeit war ich nicht mehr so glücklich gewesen.

Dann klopfte es an der Tür. Ich schreckte hoch.

„Nikolas?“ Es war John. Ich sprang auf, griff nach meinen Klamotten.

„Gleich sofort!“, schrie ich. Hastig zog ich mich an.

„Es gibt Abendessen!“

In der Eile zog ich meine Socken verkehrt herum an, doch das war jetzt egal.

„Ich komme!“

Johns Schritte entfernten sich wieder. Ich atmete auf.

„Was machst du denn für einen Aufstand?“, fragte mich Craig erstaunt.

„Wir sind hier Gäste, Craig“, erklärte ich mein Verhalten. „Wir sollten uns auch dementsprechend verhalten.“

Hastig stopfte ich das Brot in den Mund.

„Craig bringe ich was ins Zimmer. Er ist noch schwach“, erklärte ich.

John schwieg. Wie immer lag ein Stapel von Akten neben seinem Teller. Er war Psychiater. Im Erdgeschoss lag seine eigene Praxis. Man sagt ja immer, dass alle Psychiater selbst eins an der Waffel haben, doch so sehr ich mir auch Mühe gab, bei John fand ich keine Auffälligkeiten. Außer, dass er auf Knaben stand, doch wer hatte keinen Fetisch?

Die einen treiben es im Pelz, die anderen lecken dabei Stiefel, andere stehen auf Ketten und Wachs. John mochte es eben jung. Dagegen war eigentlich nichts einzuwenden.

In meiner Zeit als Strichjunge hatte ich ihm einige rettende Geldscheine zu verdanken, das werde ich nie vergessen. Er war immer spendabel gewesen. So auch jetzt, in der Zeit, in der ich bei ihm wohnte. Er hatte mir sogar Klamotten gekauft. Auch die schwarze Cordhose, auf die ich nun meine Salamischeibe fallen ließ, weil plötzlich Craig in der Tür stand und uns neugierig ansah.

Ich sprang sofort auf.

„Craig! Du sollst dich doch schonen, im Bett liegen bleiben.“

Jetzt sah auch John auf und musterte meinen unterernährten Freund. Eine, vom vielen Waschen, ausgeblichene Shorts schlackerte um seine mageren Hüften, sonst war er nackt. Seine große Statur wankte auf den langen, knochigen Beinen, und er hielt sich wieder die Hand auf seinen Verband.

„Kann doch hier essen“, murmelte er.

Ich erkannte sofort, dass ihn der Schmerz erneut plagte, doch ich sagte nichts. Craig wusste immer, was er tat. Man durfte ihm nie schlau kommen, dann wurde er wütend. Ohne Kommentar stellte ich ihm ein Glas hin und träufelte ein paar Schmerztropfen hinein. John erhob sich und tischte noch ein Gedeck auf. Ich sah genau, wie er Craig betrachtete. Prüfend und eindringlich. Es gab keinen Streit, doch ich wusste, dass John sich unterlegen fühlte und sicher einen Heidenrespekt vor Craig hatte.

Stundenlang hatte ich John von unserem Leidensweg erzählt. Er wusste, welche Geschichte Craig und mich prägte. Er wusste, in welchem Milieu wir monatelang zusammen gelebt hatte. Und es war ihm klar, welche Vergangenheit Craig mit sich trug.

John war zwar schon Mitte dreißig und hätte mein Vater sein können, doch an Erfahrungen und Erlebnissen, war er um einiges ärmer als mein Freund.

Und so mager und krank Craig nun auch da saß und ein Weißbrot fast schwächelnd mit Butter bestrich, soviel stärker und überlegener war er doch John gegenüber. Es wurde nicht darüber gesprochen, doch wir wussten es alle.

Als Craig sein Brot gegessen hatte, klapperte sein Körper vor Kälte.

„Du solltest wieder ins Bett“, sagte ich. Er nickte, doch seine Hand legte sich auf seinen Bauch.

„Der Verband müsste noch mal neu gemacht werden.“ Er sah unsicher in die Runde. Automatisch blickte ich John an. Er war zwar Psychiater, hatte aber ein Medizinstudium absolviert. Er würde am Besten wissen, wie man so etwas machte.

„Ähm, ja ... Ich kann es gerne neu verbinden“, sagte er zögernd.

Kurze Zeit später lag Craig auf dem Bett in meinem Zimmer, und John löste das Pflaster des Verbandes. Craig verzog das Gesicht.

„Vorsichtig, bitte ...“

Ich fragte mich, wie John noch vorsichtiger vorgehen sollte. Seine Berührungen an Craigs Wunde waren mehr als zaghaft. Er ging wirklich behutsam damit um. Als der Verband ab war, kam eine ziemlich große Narbe zum Vorschein. Doch die war noch längst nicht vollständig abgeheilt. Blutiger Schorf hatte sich gebildet. John musste die Wunde mit Kochsalz reinigen, eine Salbe auftragen und zum Schluss alles so steril wie möglich verbinden. Doch soweit kam es erst gar nicht. Als John an der Narbe herumtupfte, wurde Craig zappelig.

„Mann, das tut weh!“, fauchte er. Wütend sah er John an. Ich biss mir auf die Lippe. Wenn Craig ausfallend wurde, dann war es stets ein beängstigendes Erlebnis für mich.

„Ich pass auf“, sagte John ruhig. Er fuhr fort, die Wunde zu reinigen. Craig verzog das Gesicht jedoch nur noch mehr.

„Au! Hör’ auf damit!“, zischte er. Genervt richtete er sich auf und schlug Johns Hand weg. „Das ist die Hölle, was du da machst. Du kannst das gar nicht!“

Spannung lag in der Luft. Ein bisschen schämte ich mich für Craigs Verhalten. Ich hatte oft genug erlebt, wie die Schwestern in der Klinik den Verband gewechselt hatten. Sie hatten das genauso wie John gemacht, und Craig hatte bei ihnen nie so ein Theater veranstaltet.

„Es ist doch normal, dass es noch etwas weh tut“, versuchte John die Situation zu besänftigen.

Hastig schüttelte Craig den Kopf.

„Aber nicht so!“

Verbissen griff Craig nach ein paar feuchten Tupfern, und begann umständlich, seine eigene Wunde zu säubern.

„Ich mach’ das alleine“, schimpfte er. „Und Dawn klebt das Pflaster drauf.“

John erhob sich zögernd. Er war sichtlich verunsichert. Er hatte es nur gut gemeint, und ich wusste, dass ihn wirklich keine Schuld traf. Er sah mich fragend an. Zaghaft zuckte ich  mit den Schultern. Ich konnte mir auch nicht richtig erklären, warum Craig plötzlich so gereizt war.

Die Krankenschwester reichte mir eine Tasse heißen Kaffee. Den brauchte ich, denn meine Hände zitterten wie Espenlaub, meine Nerven lagen blank. Es war mitten in der Nacht, man hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Ich ruhte auf einem Stuhl neben Craigs Krankenbett. Es ging ihm so schlecht wie noch nie. Der diensthabende Arzt war längst informiert. Ich hörte, wie er sich telefonischen Rat von Kollegen holte. Er war überfordert.Allewaren überfordert.

Ich trank nur einen kleinen Schluck, dann stellte ich die Tasse hastig ab. Craig krümmte sich wieder vor Schmerzen. Er stöhnte. Ich musste ihn festhalten, er wäre sonst über die Bettgitter gegangen. Richtig wach war er jedoch nicht. Nur unruhig. Er wühlte in der Bettdecke herum, griff sich an den Bauch, dann schrie er vor Schmerzen.

Er schwitzte stark, dann kam auch schon wieder eine Schwester, die ein Medikament spritzte.

„Bauchfellentzündung? ... Magendurchbruch ... Noch einmal Röntgen? ... Oder erneute OP? ... Hoher Blutverlust ... Macht das denn noch Sinn?“

Die Stimmen der Ärzte und Schwestern waren plötzlich überall. Und ich hörte ihn nur schreien, meinen Craig.

„Was hat er denn bloß!?“ Mich ergriff langsam Panik. Meine Hände krallten sich an Craig fest. Ich sah in sein Gesicht. Es war eingefallen und bleich. Seine Nase spitz.

„Craig!“

„So schlecht, mir ist so schlecht ...“ Das war das letzte, was er sagte. Mit einem Mal bäumte er sich auf und stöhnte laut. Ich rief nach dem Arzt. Es ging alles so schnell.

Craig fiel zurück ins Kissen und begann zu würgen. Er spuckte Blut. Das Leben wich aus seinem Körper. Ich griff ihn wieder, drückte ihn an mich. Blut rann ihm aus dem Mundwinkel und aus den Nase. Er röchelte nur noch. Ärzte und Schwestern zerrten an ihm, an mir ...

„Was hat er denn?“

Dann sackte er in sich zusammen. Er wurde schwer in meinen Armen. Ich konnte ihn nicht mehr halten. Als ich ihn losließ, fiel er wie eine Puppe zurück auf das Bett. Und überall Blut.

„Zu spät! ... Wir können nichts mehr tun!“

Ich riss erschrocken die Augen auf.

„Wie!?“

Dann stand da plötzlich John und strich mir über den Rücken. Mein Gesicht war tränenüberströmt.

„So schnell, so weiß und blass ...“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich kenne Craig nur in Farbe ...“

2

„Dawn!“

Jetzt schrie ich. Entsetzt  richtete ich mich auf. Ich atmete schnell.

Craig sah mich merkwürdig an.

„Was strampelst du denn so?“, fragte er besorgt. „Du hättest mich beinah aus dem Bett gedrängelt!“

Ich seufzte tief und fuhr mir mit der Hand über das Gesicht.

„Ich weiß nicht ...“

„Hast du geträumt, dass ich plötzlich auf Frauen stehe?“ Craig lachte herzhaft und hielt sich dabei den Bauch fest.

„Schlimmer.“

„Hey, es ist alles okay.“

Er beugte sich über mich, streichelte meine Wangen. Wärme durchströmte meinen Körper. Craig war da. Er lebte. Ich drückte ihn gierig an mich. Alles in mir schrie nach seiner Nähe.

Wie eine quietschende Puppe fuhr Craig jedoch zusammen. Sofort ließ ich ihn los.

„Diese Scheißwunde!“, fluchte er. Er drehte sich auf den Rücken und schloss verkrampft die Augen. „Wenn ich mich nicht bald wieder richtig bewegen kann, dann drehe ich durch.“

Nun musste ich lächeln. Verträumt strich ich durch sein Haar.

„Dir geht es doch gar nicht wirklich um’s Bewegen, sondern um’s ... na ja ...“ Ich machte eine eindeutige Handbewegung.

„Das eine schließt das andere nicht aus“, hörte ich Craig sagen.

Wie recht er hatte. Doch in diesem Moment war es mir fast egal, dass ich auf seinen Körper vorerst verzichten musste. Mir saß die Angst um ihn noch in den Knochen. Ich träumte oft davon, dass er in meinen Armen liegt und mir einfach wegstirbt.

Ich bemerkte nicht, wie Craig eines nachts aufstand, weil ihn der Schmerz erneut plagte. Still schlich er aus dem Zimmer und ging ins Bad, um ein paar Schmerztropfen einzunehmen. Dort angekommen stutzte er jedoch. Er vernahm Stimmen, die leise in den Flur drangen. Sie kamen aus Johns Zimmer. Und natürlich war Craig neugierig genug, um das Gespräch zu belauschen. Nachdem er die Tropfen eingenommen hatte, stellte er sich vor Johns Zimmertür, die dummerweise auch noch einen Spalt offen stand.

„Möchtest du etwas trinken?“ Es war John. Seine Worte klangen aufmerksam und liebevoll. „Vielleicht Saft oder ein Glas Cola?“

Durch den schmalen Spalt konnte man die Konturen eines Jungen erkennen. Er trug nur eine Unterhose, doch es schien ihm in keiner Weise unangenehm zu sein. Vergnügt wippte er auf dem Bett hin und her. Er wirkte entspannt und vergnügt. Craig schätzte ihn auf 14 Jahre.

„Kann ich nicht ein Bier haben?“

John runzelte die Stirn.

„Ist in deinem Alter eigentlich nicht das wahre.“

„Bitte!“ Der Junge sah ihn flehend an. Da löste sich ein Seufzer aus Johns Mund. Zärtlich strich er dem Knaben über den schlanken Rücken.

„Wir können uns ja eins teilen. Das wird wohl nicht schaden.“

John erschrak gewaltig, als er den hageren Schatten im Flur erblickte. Hastig machte er Licht.

„Craig? Du ... du bist noch wach?“ Er schloss die Tür hinter sich und versperrte somit den Einblick in das Zimmer – und auf den Jungen.

„Gib dir keine Mühe“, erwiderte Craig. „Ich habe den Bengel längst gesehen. Wie viel zahlst du ihm?“

John sah zu Boden und schwieg.

„Du denkst wohl, ich kriege das nicht mit, was du hier abziehst?“ Mein Freund schüttelte abfällig den Kopf. John sah immer noch nicht auf. Wie angeklagt stand er da und ließ die Schultern hängen.

„Ich mache das extrem selten“, sagte er dann leise. „Und ich tu ihm doch nichts. Ich zahle gut. Er kann das Geld gebrauchen.“

„Ach, wofür? Für Drogen und Alkohol?“ Craig hielt sich den Bauch. Die Schmerztropfen hatten noch nicht gewirkt. Und die Tatsache, dass John sich immer noch sein Vergnügen von der Straße holte, stimmte ihn sichtlich wütend.

„Wenn ich ihn nicht bezahle, macht es ein anderer. Was macht das für einen Unterschied?“ John versuchte, sich zu rechtfertigen. „Und andere sind brutaler ... Ich versuche doch nur, zu helfen.“

„Du bist doch krank im Kopf!“, erwiderte Craig. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie du damals mit Dawn ...“ Er verzog angewidert das Gesicht, dann wandte er sich ab. „Spätestens morgen früh ist der Junge weg!“, sagte er bestimmend. „Ich will nicht, dass Dawn etwas davon mitbekommt.“

John nickte still. Er konnte kaum registrieren, dass ihm in seiner eigenen Wohnung Vorschriften gemacht wurden. Zu sehr war er von Peinlichkeit gezeichnet. Er brachte keine weitere Kraft mehr auf, um seine Neigung zu verteidigen.

Und dann war Silvester. Es lag Schnee, und es war lausig kalt. Oft dachte ich daran, wie es mir vor einem Jahr ergangen war. Jeden Tag hatte ich von Neuem gedacht, ich würde die kalte Nacht auf der Straße nicht überleben.

Doch nun lag ich in der warmen Badewanne und fuhr mir mit einem flauschigen Schwamm über die nasse Haut.

Craig stand vor dem Waschbecken und kämmte sich die Haare. Es ging ihm schon wieder bis zu den Schultern. Ich hatte nie einen Menschen erlebt, dessen Haar so schnell wuchs. Fast so schnell wie meine Knochen.

Als ich den Schaum aus meinen Haaren spülte, sah ich, wie Craig merkwürdige Übungen vor dem Spiegel vollzog. Er zog ein Bein dicht an seinen Körper heran, dann ging er in die Hocke. Danach machte er eine Kniebeuge, dann streckte er sich, um kurz drauf seinen Körper zu senken und mit den Fingern seine Füße zu berühren.

Perplex stellte ich das Wasser ab.

„Was soll das denn werden?“, fragte ich etwas amüsiert. „Trainierst du für die Olympischen Spiele?“

Als Craig seinen Kopf zu mir drehte, fiel eine Haarsträhne in sein Gesicht. Ich fragte mich oft, wie er es ertragen konnte, so schön zu sein. Sein Blick war geheimnisvoll.

„Nee, Dawn, es geht wieder ...“, sagte er. Dann fing er vor Freude an zu glucksen. „Ich kann mich bewegen, wie ich will. Ich merke nichts mehr ...“

Demonstrativ machte er noch ein paar Übungen.

„Weg, alles ist weg!“, berichtete er erfreut. Dann drückte er seine Hände in den Bauch. Selbst ich zuckte dabei zusammen, doch Craigs Gesicht blieb entspannt.

„Ich kann so viel draufdrücken, wie ich will. Es tut nicht mehr weh.“

Ich blieb skeptisch, sah Craigs Körper prüfend an.

„Bist du sicher? Nicht, dass du einen Rückfall erleidest.“

„Sicher nicht!“

Erfreut kam Craig auf mich zu und half mir aus der Wanne. Mir war klar, dass wir sofort an dasselbe dachten.

„Dann können wir also wieder?“, wollte ich sofort wissen. Ich merkte, wie aufgeregt ich wurde. Craig reichte mir ein großes Handtuch, dabei musterte er meinen nackten Körper gründlich.

„Wir werden heute nichts anderes machen“, antwortete er.

Wir waren dann doch so anständig, um bis zum Abend zu warten. John war zu einer Feier eingeladen. Craig und ich wollten zu Hause bleiben und den Silvesterabend in vertrauter Gemeinsamkeit genießen.

Ich muss zugeben, als es dunkel wurde, konnte ich es auch kaum noch erwarten. John sah gut aus. Er hatte einen dunklen Anzug an mit Fliege. Auf meinen Rat hin trug er Kontaktlinsen.

„Ich habe euch etwas zu Essen in die Küche gestellt“, sagte er fürsorglich, während er sich den dicken Wintermantel anzog. Ich half ihm dabei.

Craig stand im Hintergrund und tippte ständig auf seine Uhr und verdrehte die Augen. John sah es zum Glück nicht, aber ich konnte auch nicht mehr tun, als abzuwarten, dass er endlich ging.

Dann schnappte die Tür zu. Craig riss die Hände empor.

„Endlich sturmfrei!“, schrie er.

Grölend, wie die kleinen Kinder, rannten wir in mein Zimmer. Wir ließen uns auf das Bett fallen, und schon im nächsten Moment zerrten wir uns gegenseitig die Klamotten vom Leib.

Besonders zärtlich fiel unsere Vereinigung nicht aus. Immerhin hatten wir nun fast 4 Monate in Abstinenz  gelebt. Craig war hektisch, so hatte ich ihn noch nie erlebt. Er war sonst immer gefühlvoll und leidenschaftlich gewesen, doch in diesem Moment bestand sein Wille wohl nur daraus, endlich wieder in mich eindringen zu können.

Es war ein einziges Gerammel, was wir abzogen. Als er sich wieder von mir runterrollte, war er ganz außer Atem.

„Entschuldige Dawn“, sagte er keuchend. „Ich konnte  nicht mehr warten.“

Auch ich war erschöpft. Uns fehlte einfach die nötige Kondition. Sanft strich ich über Craigs Brustwarzen.

„Das war völlig in Ordnung“, erwiderte ich. „Hat doch Spaß gebracht!“

Ich schmiegte mich an ihn. Dabei fiel mir wieder auf, wie hager mein Craig noch war. Und als ich so in seinen Armen lag, bemerkte ich auch, wie ein neuartiges Gefühl in mir hochstieg. Ich lag nicht neben ihm, wie ein schutzsuchendes Kind, sondern wie ein liebeshungriger Mann, wie ein Geliebter. Ich seufzte zufrieden. Schöner konnte dieser Tag nicht sein.

Wir liefen durch die Wohnung und machten uns nicht einmal die Mühe uns anzuziehen. Nach einer ausgiebigen Kissenschlacht gingen wir in die Küche. John hatte uns Nudelsalat und Frikadellen gemacht. Craig köpfte die erste Flasche Sekt. Danach trieben wir es auf dem Tisch in der Küche. Unsere Sehnsucht nach Liebe war so groß wie nie zuvor.

Schon leicht betrunken stellten wir uns unter die Dusche. Unsere anfängliche Euphorie hatte sich etwas gelegt. Nun fingen wir an zu genießen. Ich denke, es war fast eine Stunde, in der wir unter der Dusche standen und uns nur küssten und streichelten, unsere Körper gegenseitig erkundeten. Da war so viel Neues zu entdecken.

Mein Körper war reifer geworden, und Craig zierte eine Narbe, die ihn bis an sein Lebensende an die schrecklichen Vorfälle erinnern würde.

Doch das schönste war: Niemand störte uns. Da waren keine Freier, die nach uns lechzten, da war kein Jefferson, der uns quälte, da war keine einsame, dunkle Nacht, die nach uns griff, da war keine Angst, die uns im Nacken saß. Wir hatten keinen Hunger, brauchten keine Tabletten. Wir waren gesund und glücklich.

Um Mitternacht öffneten wir dann mein Zimmerfenster und bewunderten das Feuerwerk. Craigs Augen leuchteten. Sein Anblick und die funkelnden Feuerwerkskörper brachten mich fast zum heulen. Ich schmiegte mich fest an ihn.

„Genial ist das, genial“, hörte ich ihn sagen. Von der Straße drang Musik und Gelächter. Knaller wurden gezündet. Auch ich hatte eine Tüte mit „Sprengsätzen“ gekauft.

Craig lehnte sich so weit aus dem Fenster, dass ich ihn festhalten musste, damit er nicht rausfiel. Wir mussten ständig lachen. Der Sekt rauschte durch unsere Venen. Wir hatten lange nichts mehr getrunken, und nun haute uns das Zeug fast aus den Latschen.

Als diese festliche Stimmung zu uns in das Zimmer drang, als wir uns verliebt in die Augen sahen und uns klar war, dass der Silvesterabend noch längst nicht den Höhepunkt erreicht hatte, hörte ich Craigs unternehmungslustige Stimme: „Denkst du das gleiche wie ich?“

Ich musste schmunzeln. „Ich glaube schon, Craig.“

Vergnügt liefen wir in den Schnee. Craig trug eine Pudelmütze. Seine Wimperntusche, die er dezent aufgetragen hatte, war von Schneeflocken leicht verwischt. Er rutschte auf dem glatten Boden herum und lachte. Das war mein Craig, wie ich ihn kannte. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine neue Hose anzuziehen. Er trug die gleichen Lumpen, wie damals, als wir noch auf der Straße lebten. Mir war es egal. Ich liebte ihn so, wie er war.

Und ich werde nie den Moment vergessen, in dem er losrannte, die Sektflasche noch in der Hand, und zu schreien begann. Er streckte die Arme gen Himmel und brüllte durch die ganze Straße.

„Scheiß auf sämtliche Freier der Welt! Sollen sie alle verrecken! Und meinem Vater wünsche ich den Tod!“ Er lachte und krümmte sich dabei.

Er war betrunken, keine Frage, aber trotz dieser Tatsache wurde mir ganz mulmig, als ich seine Worte hörte. Es waren Worte, von Hass erfüllt. So etwas kannte ich von Craig nicht. Das machte mir Angst.

Und dann stand er plötzlich wieder vor mir und hielt mir den Sekt entgegen.

„Auf ein schönes, neues Jahr, Dawn ... Auf dass wir den ganzen Müll vergessen.“

Ich nickte und versuchte zu lächeln.

Dann ging es erst richtig los. Wir brauchten nicht darüber sprechen. Wir hatten die gleichen Absichten. Unser Weg führte uns direkt zu der Wohnung, in der wir früher ständig Party gemacht hatten. Wir wollten sie plötzlich wiedertreffen, unsere „Freunde“.

Nichts hielt uns davon ab.

„Craaaiiig!“ Rustys Geschrei war ohrenbetäubend. Er umarmte Craig stürmisch. Sie fielen grölend zu Boden. Oh, mein Gott, ich konnte es nicht glauben, die Wohnung sah noch gammeliger aus, als vor einigen Monaten. Und doch herrschte hier eine Menge Betrieb.

Es war schwer für mich, das Koks abzulehnen, welches mir Esther anbot. Ich war clean und wollte es auch bleiben. Auch Craig nahm nichts. Er konnte sich eh kaum auf den Beinen halten. Ein dunkler Gangster-Rap dröhnte durch die Wohnung. Finstere Gestalten, wo ich nur hinsah. In einer Ecke sah ich Gene. Er knutschte zur Abwechslung mal mit einer Frau. Ich hatte nichts zu befürchten. Chantall sah ich jedoch nicht.

Dann hoben alle ihre Gläser. Wir stießen auf Skit an. Er war der einzige, der nicht stark genug gewesen war, dieses zermürbende Leben durchzustehen.

Ich ließ Craig nicht los, hielt immer seine Hand. Ich war so froh, dass es ihm gut ging. Und innerlich spürte ich, so sehr diese einfachen Leute uns auch mochten und akzeptierten, es würde unsere letzte Party in diesem Milieu sein. Vor uns stand ein neues Jahr, das uns neue Chancen bieten würde.

Ein Dasein voller Dreck und Elend wollten wir hinter uns lassen. Und wir genossen es zutiefst, noch einmal die Sau rauszulassen.

Ein letztes Mal die Manieren  vergessen!

Craigs Küsse wurden immer gieriger. Ich spürte seine Hände unter meinen Pullover gleiten. Ich war nicht minder betrunken wie er. Ich wurde schnell geil.

Irgendwann fielen wir zu Boden und wälzten uns auf dem schmutzigen Fußboden. Es störte niemanden. Diese Partys waren für ihre Freizügigkeiten bekannt.

Meine Lust auf Craig stieg. Uns war klar, dass wir nirgends ungestört sein konnten. Vielleicht wollten wir es in diesem Moment auch gar nicht sein.

Craig erhob sich. Zügig zog er an meiner Hand.

„Komm! Ins Schlafzimmer!“

Lachend schüttelte ich den Kopf. „Oh, nein! Nein!“

Es war das Geschmackloseste, was uns in diesem Moment einfallen konnte. Das Schlafzimmer der Wohnung war eine einzige Katastrophe. Als wir eintraten, kam uns nur ein schwaches Neonlicht entgegen. Wir waren nicht alleine. Anscheinend hatten andere Pärchen den gleichen Gedanken wie wir. Wir fielen sofort wieder zu Boden. Ich landete auf einer Decke und ein paar alten Kleidungsstücken. Auch Gene sah ich wieder. Sein Oberkörper war nackt. So ungefähr stellte ich mir die Atmosphäre eines Darkrooms vor. Man sah alles und auch wieder nichts. Mir blieb nicht viel Zeit, um nachzudenken. Craigs Lippen verschlossen sofort meinen Mund. Die Lust auf mehr kam automatisch.

Als ich bei Jefferson wohnte, wurden mir gute Manieren beigebracht, und auch bei John lernte ich schnell, wie man sich im „normalen“ Leben zu verhalten hatte. Doch nun, mit Craig, auf diesem dreckigen Fußboden, bei diesen niveaulosen Menschen, vergaß ich das alles ganz schnell. Hemmungen hatte ich plötzlich nicht mehr. In nur kurzer Zeit hatte ich wieder das Gefühl, ein Straßenkind zu sein. Flegelhaft und pervers. So, wie ich immer mit Craig zusammen gelebt hatte. Es war wie früher. Das machte mich irgendwie glücklich.

Wir drängten uns ganz dicht in die Ecke. So gingen wir sicher, dass wir es nicht völlig in der Öffentlichkeit trieben. Wir zogen uns nicht ganz aus. Wir ließen unsere Hände nur sanft unter die Kleidung des anderen gleiten. Was wir taten, hatte etwas verbotenes, und gerade das turnte mich an.

„Mach’ es hier“, flüsterte ich Craig zu. Er nickte sofort, und schon drehte er mich auf den Bauch. Dann zog er meine Hose etwas herunter, bei sich selbst öffnete er den Reißverschluss.

Dann bekam ich nur noch mit, wie er sich auf mich legte. Erst klappte es nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten. Ich war nicht so entspannt wie sonst. Es waren andere Leute im Raum, das war ungewohnt. Doch als ich Craigs Lippen in meinem Nacken spürte, und er mir zärtliche Worte zuflüsterte, wurde ich lockerer. Craig glitt in mich. Mir entwich ein erleichtertes Stöhnen. Es war zu intensiv, was ich fühlte, und meine Männlichkeit rieb sich rhythmisch an der unter mir liegenden Wolldecke.

Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu sein. Ich hörte die Stimmen der anderen und das leise Klatschen, das durch Craigs Stöße ausgelöst wurde. Seine Leisten stießen gleichmäßig gegen mein Hinterteil. Und dann immer schneller ...

Ich konnte es nicht mehr zurückhalten und ergoss mich auf der Decke. Dabei kam mir der verruchte Gedanke, dass ich sicher nicht der Einzige war, der auf dieser Decke schon mal gekommen war. Ich vernahm Craigs geräuschvolles Atmen. Spätestens da wurde mir klar, dass Craig sich ganz schön ins Zeug gelegt hatte, obwohl er sich eigentlich noch etwas schonen sollte. Mit einem leichten Grinsen drehte ich meinen Kopf. Ich wollte Craig gerade auf seine Höchstleistung hin ansprechen, als ich im Augenwinkel etwas sonderbares bemerkte.

Ich sah einen wehenden Mantel, eine große Person, die eilig das Zimmer verließ. Sie hatte blonde Haare.

Ich stutzte sofort und deutete auf die Tür.

„Hast du das gesehen, Craig?“, fragte ich aufgeregt.

„Was?“ Er rollte sich von mir herunter und atmete tief durch.

„Die Tussi da, die eben den Raum verließ ...“

Craig lachte kurz auf.

„Es ist dunkel hier. Ich hatte eben einen höllischen Orgasmus ... Ich habe nichts gesehen.“

Er schloss seine Hose und seufzte zufrieden, doch für mich war die Sache längst nicht gegessen.

„Ich glaube, die hat uns beobachtet.“ Plötzlich wurde mir ganz mulmig in der Magengegend. Mein Freund drehte sich zu mir hin und strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht.

„Warum sollte das jemand tun?“, fragte er. Ich hörte aus seiner Stimme heraus, dass er sich am liebsten darüber lustig gemacht hätte. Doch ich fand das gar nicht komisch.

„Ich glaube ...“, fing ich an und schluckte heftig. „Es war Super She!“

Mit einem Mal war ich stocknüchtern. Wir verließen die Party. Ich konnte keinen Augenblick länger mehr dort bleiben. Hektisch verließen wir das Haus. Craig konnte sich meine plötzliche Unruhe immer noch nicht erklären.

„Wie kommst du darauf, dass es Super She war?“, fragte er. Mein Gang war zügig. Craig konnte kaum mit mir mithalten.

„Ich habe sie erkannt ... Die Haare, die Figur, der Mantel ... Sie war es!“

Für mich war alles klar. Ich ärgerte mich gewaltig, dass diese blöde Schlampe mir nun den Abend verdorben hatte.

Craig schüttelte ungläubig den Kopf.

„Es ist Silvester“, stellte er fest. „She hätte die Möglichkeit, zu nobleren Partys zu gehen. Warum sollte sie ausgerechnet in die WG kommen? Wie absurd!“

Craig fasste sich an den Kopf. Hätte nur noch gefehlt, dass er mir einen Vogel zeigte. Doch ich wusste, was ich gesehen hatte. Für mich stand die Sache fest.

Ich blieb stehen, sah ihm ernst ins Gesicht.

„Vielleicht hat sie dich gesucht?“, sagte ich mit einer Art Panik im Unterton. „Hast du vergessen, dass sie deine Zuhälterin war?“

Craig antwortete nicht. Stillschweigend gingen wir weiter. Nach ein paar Minuten griff Craig nach meiner Hand. Sie war warm, ihr Griff fest. Obwohl er schwieg, wusste ich, was er mir sagen wollte. Die Zeiten hatten sich geändert. Craig gehörte nun mir alleine.

Doch dieser Vorfall bohrte sich in meinen Magen.

Wir waren auf dem Heimweg. Ich weiß gar nicht mehr genau, worüber wir uns unterhielten, jedenfalls hatte ich mich gerade wieder abreagiert, als ich diese grellen Scheinwerfer bemerkte. Ein dunkelblauer BMW mit getönten Scheiben bog um die Ecke. Die Reifen quietschten, und er hatte eine hohe Geschwindigkeit drauf. Nur deswegen drehte ich mich eigentlich um, ... wollte sehen, welcher Idiot hier nachts so einen Lärm veranstaltete.

Der Wagen raste von hinten an uns heran, und als er nur noch 20 Meter von uns entfernt war, fuhr er zu meinem Entsetzen einfach auf den Bürgersteig. Doch er drosselte das Tempo nicht, sondern rauschte auf uns zu.

Ich griff Craig am Arm.

„Pass auf!“

Ich zog ihn zur Seite. Wir taumelten. Dank unseres guten Reaktionsvermögens, konnten wir uns gerade noch in einen Hauseingang drängeln. Der BMW preschte an uns vorbei. Als er den Bürgersteig wieder verließ, rammte er sogar eine Mülltonne. Craig war ganz außer sich.

„Ist der nicht ganz dicht!?“, fluchte er. Wütend blickte er den Rücklichtern des Wagens hinterher. „Der spinnt wohl!“

Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Gedanken waren nun total verworren. Craig fing sich hingegen recht schnell. Er drehte sich zu mir hin und strich über meine Wange.

„Na, ist ja noch mal gut gegangen!“   

Schockiert erwiderte ich seinen Blick.

„Gut gegangen? Der Typ wollte uns umnieten!“ 

Ich ging in die Knie. Mir war übel. Ich hatte genau gesehen, wie uns das Auto angepeilt hatte. Es konnte kein Zufall gewesen sein. Da wollte uns jemand über den Haufen fahren, vielmehr ... Craig ... Ich stand nah genug an der Häuserreihe. Für mich war die Gefahr nicht so groß gewesen. Aber für Craig. Ich schüttelte den Kopf, konnte gar nicht glauben, dass es anscheinend jemand auf ihn abgesehen hatte.

Craig ist tot? Nein, das glaube ich nicht. Die Ärzte sahen mich mitfühlend an. Craig sah furchtbar aus. Er war tot, und ich alleine ... Tagtraum ...

Ich hörte Craigs Lachen.

„Es ist Silvester, Dawn! Der Typ war sicher nicht ganz nüchtern! Komm’ lass uns hier reingehen und noch was trinken!“

3

Kaum hatte ich die Haustür aufgeschlossen, trat John auf mich zu. Sein Blick war besorgt, sein Körper wirkte angespannt.

„Wo kommst du her?“, fragte er sofort. Ich hatte richtig gehört. Wo ich herkäme. Craig beachtete er gar nicht.

Wir traten ein. Ich legte meine Jacke ab, Craig ebenfalls. Ich wollte ruhig bleiben. Und John hatte ja Recht. Ich hatte mich nicht abgemeldet.

„Ich habe mit Craig im Hotel geschlafen“, erzählte ich und senkte den Kopf, als wäre es etwas Schlimmes, was wir getan hatten. Schlimm war, dass uns dieser BMW überfahren wollte, aber das konnte ich jetzt nicht auch noch erwähnen.

John blieb ruhig, doch für ihn war die Sachlage noch nicht geklärt.

„Du hättest mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen können ...“

Ich nickte einsichtig.

„Und nach Alkohol riechst du auch“, stellte er fest. Das stimmte auch. Ich hatte mir ja im Hotel nicht mal die Zähne putzen können. Wir waren auf die dortige Übernachtung nicht vorbereitet gewesen.

Ich schwieg. Stattdessen trat Craig einen Schritt vor.

„Mensch, wir waren in Partystimmung“, sagte er etwas gereizt. Dann legte er seinen Arm um meine Schulter und drückte mich fest. Liebevoll fügte er hinzu: „Ich habe doch auf ihn aufgepasst!“

Ich sah Craig dankbar an. Er legte immer ein gutes Wort für mich ein, egal, was war.

Doch war es jetzt nicht eine Sache, die nur John und mich etwas  anging?

John war eigentlich nie streng zu mir gewesen, doch an diesem Tag war er ganz merkwürdig. Klar, er hatte sich Sorgen gemacht, immerhin war er für mich verantwortlich, doch so katastrophal war dieser Silvesterausflug ja nun auch nicht, oder?

Seine Stimme blieb ernst.

„Kommt ihr bitte in die Küche. Ich muss euch etwas sagen.“

Wieder bohrte sich etwas tief in meinen Magen. Konnte diese Aufregung sich nicht mal langsam legen? Unsicher sah ich John an, und dann Craig, der mit den Achseln zuckte und John in die Küche folgte. Und mir kamen sofort wirre Gedanken.

Jugendamt, Heim ... Ich war mir sicher, dass es etwas damit zu tun hatte. Deswegen war John auch plötzlich so ernst gewesen.

Ich hatte ihm viel zu verdanken. Momentan brauchte ich nicht zurück ins Heim. Es liefen noch Verhandlungen in meinem Fall.

Es stand zur Diskussion, dass ich in eine betreute Einrichtung kommen sollte. Ich wusste nicht, ob das gut für mich war. John war zwar Psychiater und hatte gute Beziehungen zum Jugendamt, er hatte sich sehr für mich eingesetzt, und ich durfte bei ihm wohnen, doch für wie lange? War jetzt alles vorbei?

Wir setzten uns still an den Küchentisch. Kein Mucks war zu hören. Und ich sah auch nicht zur Waschmaschine, wie ich es sonst immer tat, wenn ich die Küche betrat.

Ja, diesen dummen Waschzwang hatte ich immer noch ...

„Es ist ... etwas passiert ...“, fing John an. Das mulmige Gefühl in meiner Magengegend wurde stärker. Ich ahnte alles mögliche, doch schon jetzt fiel mir auf, dass es wohl gar nicht  direkt mich betraf, denn Johns Blick fixierte Craig. Ich schluckte. Was war los?

John suchte nach den passenden Worten. Oh Gott, ich ließ den Kopf hängen.

„Nun sag doch schon!“, zischte ich mit gesenktem Haupt, als wolle ich mich vor der Nachricht verstecken. John faltete nervös die Hände, doch er sah meinen Craig immer noch eindringlich an. Dann sagte er mit gedrückter Stimme: „Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber ... Craig, dein Vater ...  ist tot ...“

Mir fiel die Kinnlade hinunter. Ungläubig starrte ich John an, und gleichzeitig merkte ich, wie ein Zucken Craigs Leib durchfuhr. Auch er sah John erschrocken an.

„WAS?“

John nickte betroffen und bestätigte seine Aussage.

„Ja, Conner Jefferson, dein Vater ... Er ist gestorben.“

Wahrscheinlich wäre ein andächtiges Schweigen angebracht gewesen, immerhin ging es hier um einen Todesfall, doch kaum hatte John seine Nachricht wiederholt, erhob sich Craig rasant vom Tisch. Dabei stieß er den Stuhl um. Der landete krachend auf dem Boden, und Craig stürmte aus der Küche. Ich sah ihm hinterher, doch so schnell konnte ich gar nicht gucken und denken sowieso nicht mehr. Ich schüttelte den Kopf.

„Wie kann das denn sein!?“, schrie ich auf. „Jefferson war grad mal vierzig Jahre alt!“

John war ganz blass geworden. Craigs Reaktion hatte ihn arg aus dem Konzept gebracht. Fast kleinlaut sah er mich an und zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß doch auch nichts genaues ... Sie bringen es nur ständig im Radio, und die Polizei hat hier angerufen!“

Ich hatte auch keine detaillierte Antwort erwartet. Ich erhob mich ebenfalls und rannte Craig hinterher. Er war in mein Zimmer gelaufen und saß dort auf dem Bett. Sein Gesicht hatte er in seine Hände gebettet. Sein Kopf war geneigt. Er weinte.

Als ich sein leises Schluchzen vernahm, dachte ich sofort an seine Worte, die er noch am vorherigen Tag in die Nacht geschrien hatte: ... undmeinem Vater wünsche ich den Tod!

Nun waren seine fluchenden Worte wahr geworden, doch Craig weinte. Ich verstand seine Reaktion und sein Verhalten ehrlich gesagt nicht so ganz. Okay, da war ein Menschenleben von uns gegangen ... Jefferson war  Craigs Vater gewesen, doch ... was war alles passiert? Was war das für ein Mensch, was für ein Vater, der gestorben war? Musste man um den Menschen wirklich weinen? Ich trat auf Craig zu. Vor ihm blieb ich stehen und suchte nach Worten. Es war eine ganz blöde Situation, das können Sie mir glauben!

„Äh, Craig“, fing ich leise an. „Das tut mir echt leid, wirklich!“ Ich machte eine kurze Pause und atmete tief durch. Ich hatte ja nun gar keine Ahnung, was man bei einem Trauerfall zu sagen hatte. Ich fuhr fort.

„Ich will jetzt auch nicht ungerecht wirken, aber ... der Jefferson war nicht fair zu uns, das brauch’ ich dir ja wohl nicht sagen ... Es tut mir leid für dich, klar, aber ich denke, der Mann ist keine Träne wert ...“

In dem Moment war ich mir sicher, dass ich die passenden Worte gefunden hatte, doch zu meinem Erstaunen sah mich mein Freund nur wütend an. Feucht schimmerten seine Wangen. Er schniefte unkontrolliert. Er weinte sonst wirklich nur in Extremsituationen.

„Es tut dir leid?“, wiederholte er entrüstet.

Ich bemerkte, wie seine Muskeln sich anspannten. Er stand auf und kam auf mich zu. Ich dachte erst, er würde mich vor Wut würgen.

„Hast du gesagt, dass es dir leid tut?“ Er schrie mir ins Gesicht. Ich wich ängstlich zurück. Meine Stimme war kaum hörbar

„Mmh, ja, hab’ ich gesagt ...“

Craigs Augen funkelten, verbittert rannen die Tränen über sein Gesicht, doch es war keine Trauer, die er mir gegenüber ans Licht brachte. Er war gar nicht deprimiert über Jeffersons Tod, dass wurde mir jetzt erst bewusst, als ich ihn mir näher betrachtete.

„Dieses Schwein ist tot, Dawn! Hast du gehört? Tot! Er hat das bekommen, was er verdient hat. Endlich wurde er bestraft für seine dreckigen Taten! Das muss niemandem leid tun! Er ist tot!“

Mit einem Mal fiel mir Craig um den Hals und drückte mich fest. Ich spürte, wie sein dünner Leib vor Aufregung zitterte. Es war wie eine riesige Last, die plötzlich von Craig abfiel, wie eine große Erleichterung.

„Er ist tot ...“ Craig schluchzte erneut, doch als er sein tränennasses Gesicht an meine Wange lehnte, konnte ich sein Lächeln förmlich spüren. Craig weinte nicht vor Traurigkeit, sondern vor Glück. Er vergoss nichts anderes als Freudentränen.

Auch mir schossen die Tränen in die Augen. Was Craig bewegte, ging mir auch nahe. Wir hielten uns ganz fest.

„Natürlich hat er es verdient, Craig“, sagte ich. „Und ich meinte das nicht so. Ich habe das nur gesagt, weil ich gar nicht wusste ... nicht wusste, ... was ich sagen ...“

Craig strich über meinen Rücken.

„Ist gut“, flüsterte er. Still standen wir im Raum. Unsere Leiber fest umklammert. Es war, als ließen wir die ganzen schrecklichen Ereignisse mit Jefferson noch einmal Revue passieren. Jetzt erst spürten wir, wie sehr uns dieser Mann noch negativ zugesetzt hatte, obwohl er im Gefängnis war. Seine grausamen Schandtaten an unseren Körpern würden uns wohl bis ans Lebensende begleiten.

Ich hörte ein Räuspern. Es war John, der vorsichtig in mein Zimmer guckte. Er registrierte sofort, dass Craig und ich heulten und wir dennoch sichtlich erleichtert waren.

„Ich weiß, es ist ein ungünstiger Moment“, sagte John zögernd, „aber Craig, die Polizei erwartet dich morgen auf dem Präsidium! Es gibt da noch einige Sachen zu klären.“

Craig wischte sich mit dem Ärmel über seine Augen und nickte gefasst.

„Natürlich, ich werde hingehen.“

Craig zündete ein paar Kerzen an. Es war schon spät, doch wir konnten uns noch nicht schlafen legen. Wir waren zu aufgewühlt. Jeffersons Tod kam so unerwartet. Und so unerwartet war auch das Gefühl der Freiheit, das wir mit einem Mal spürten. Ich hatte mir immer vorgestellt, was passieren würde, wenn Jefferson vorzeitig aus dem Knast entlassen worden wäre. Was wäre dann passiert?

Doch nun war er tot. Er würde uns nie mehr aufsuchen oder versuchen, auf Craig zu schießen.

Craig hatte eine Flasche Wein geöffnet. Wir füllten unsere Gläser randvoll. Wir waren zwar nicht mehr auf Drogen aus, doch ich muss zugeben: Alkohol war bei uns zu jedem Anlass gerne gesehen. Und um das Rauchen aufzugeben, war es längst zu spät.

Ich setzte mich auf das Bett und trank ein paar Schlucke des Weines. Craigs Gesicht schien im Kerzenlicht wie aus Glas. Seine Haut war transparentartig. Tiefe Furchen gruben sich in seine Wangen, als er von der Zigarette zog, dann fing er plötzlich an zu lächeln.

„Hey, Dawn, weißt du, was ich in meiner alten Jeans gefunden habe?“, fragte er geheimnisvoll.

Ich schüttelte ahnungslos mit dem Kopf.

„Wirst du es mir verraten?“

Craig antwortete nicht. Aus seiner Hosentasche zog er geschickt ein kleines Beutelchen. Ich erkannte den Inhalt sofort. Hasch!

In Windeseile stellte ich mein Glas ab, beugte mich nach vorne und entriss Craig die kleine Plastiktüte. Meine Augen wurden groß.

„Oh, geil!“ Mir floss fast das Wasser im Mund zusammen. „Cool, Craig, cool!”

Was anderes kam nicht über meine Lippen.

Fest hielt ich das Beutelchen zwischen meinen Fingern und betrachtete es sorgfältig. Es war viel Hasch. Viel zu viel. Dann senkte ich meine Hände.

„Craig, wir wollten keine Drogen mehr nehmen“, sagte ich schließlich.

„Jeff ist tot!“

„Wir wollten clean bleiben! Haben wir gesagt!“ Ich erinnerte meinen Freund an unsere Abmachung.

„Jeff ... ist tot.“ Das war das einzige, was Craig erwiderte.

Ich senkte nachdenklich den Kopf, betrachtete das gepresste Haschpaket von allen Seiten.

„Weißt du noch, wie mies es dir in der Klinik ging? Welche Schmerzen du hattest?“, fragte ich leise. „Und ich rede jetzt nicht von deiner Wunde ...“

Gewunden hatte er sich in seinem eigenen Schweiß. Zwei Tage mussten sie ihm die Hände fixieren, weil sich Craig sonst blutig gekratzt hätte, weil er sonst versucht hätte aufzustehen – und das mit einer frischen OP-Naht. Man hatte ihn abgedröhnt, ruhig gestellt. Ein paar Tage hatte ich ihn nicht widererkannt. Man hatte ihn dort im Krankenhaus entgiftet. Der Entzug von dem Heroin war pure Quälerei. Das konnte Craig unmöglich vergessen haben.

Craig kam zu mir auf das Bett. Er sah mich liebreizend an.

„Mensch, Jeff ist tot, das müssen wir doch feiern!“ Er nahm mir das Hasch aus der Hand und öffnete das Beutelchen. Mit flinken Fingern zerbröselte er das Kraut über dem kleinen Tisch. Ich sah schon den Tabak, die Plättchen, die er bereitgelegt hatte.

Meine Güte, es war nur läppisches Hasch! Und Craig hatte Recht, wir mussten feiern.

„Ein Mal noch!“, sagte ich glucksend. Erfreut rückte ich an den Tisch heran.

Ich sah zu, wie Craig das Hasch erhitzte und dann zwischen den Tabak bröselte. Dann drehte er einen Joint. Ich hatte nie einen anderen Menschen getroffen, der so schnell eine Tüte bauen konnte wie mein Freund. Selbst dafür musste man ihn schon lieben.

Im Nu war er fertig und fing an zu rauchen. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Mann tut das gut ...“ Er lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen. Ohne Aufforderung hielt er mir den Joint entgegen. Gierig griff ich danach. Dann wurden die Bierflaschen geköpft. Unsere „Trauerfeier“ fiel sehr ausgelassen aus.

An John hatte ich gar nicht gedacht. Erst als er am nächsten Morgen gegen eine der Bierflaschen trat und mich das polternde Geräusch weckte, wusste ich, dass wir wohl etwas übertrieben hatte.

Das Laken war zerwühlt, die Bettdecke lag auf der Erde. Meine Unterhose hing auf halb acht, und Craig war nackt. Mein Zimmer war verraucht, der Aschenbecher prall gefüllt mit abgebrannten Kippen. Wir hatten ein Chaos hinterlassen, als Craig meine CD Sammlung durchwühlt hatte und dann auf die Idee kam Strippoker zu spielen.

Meine Träume waren heftiger als sonst gewesen ...

Ich öffnete zaghaft die Augen. Ich traute mich nicht, John ins Gesicht zu sehen.