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Buch 1 in der Serie - Wandel des Herzens Als ein junger Mann, der schwul ist und noch dazu ein Werpanther, wünscht sich Jin Rayne nichts sehnlicher als ein normales Leben. Er ist seiner Vergangenheit entflohen und möchte einfach neu anfangen. Aber Jins altes Leben will ihn nicht loslassen. Als seine Reisen ihn in eine neue Stadt führen, begegnet er dem Anführer eines örtlichen Werkatzen-Stammes. Logan Church ist ein Schock und ein Rätsel für ihn und Jin ist voller Sorge, dass Logan der Gefährte ist, den er so sehr fürchtet, aber auch die Liebe seines Lebens. Jin möchte mit den Traditionen nichts mehr zu tun haben und die Verbindung mit einem Gefährten würde ihn unwiderruflich daran fesseln. Aber Jin ist genau der Gefährte, den Logan an seiner Seite braucht, um seinen Stamm erfolgreich zu führen, und deshalb wird er Jin nicht einfach gehen lassen. Jin wird Zeit und Vertrauen brauchen, die Freude zu entdecken, die darin liegt zu Logan zu gehören und seine Liebe ohne Einschränkungen zu erwidern.
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Inhalt
Zusammenfassung
Widmung
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Buch 1 in der Serie – Wandel des Herzens
Als junger Mann, der schwul ist und noch dazu ein Werpanther, wünscht sich Jin Rayne nichts sehnlicher als ein normales Leben. Er ist seiner Vergangenheit entflohen und möchte einfach neu anfangen. Aber Jins altes Leben will ihn nicht loslassen. Als seine Reisen ihn in eine neue Stadt führen, begegnet er dem Anführer eines örtlichen Werkatzen-Stammes. Logan Church ist ein Schock und ein Rätsel für ihn und Jin ist voller Sorge, dass Logan der Gefährte ist den er so sehr fürchtet, aber auch die Liebe seines Lebens. Jin möchte mit den Traditionen nichts mehr zu tun haben und die Verbindung mit einem Gefährten würde ihn unwiderruflich daran fesseln.
Aber Jin ist genau der Gefährte den Logan an seiner Seite braucht um seinen Stamm erfolgreich zu führen, und deshalb wird er Jin nicht einfach gehen lassen. Jin wird Zeit und Vertrauen brauchen um die Freude zu entdecken die darin liegt zu Logan zu gehören, und seine Liebe ohne Einschränkungen zu erwidern.
Für meine Schwester Melissa, die immer daran geglaubt hat,
für meine Familie für ihre Geduld
beim Umgang mit einem Zombie,
für meine Freunde für ihre Großzügigkeit,
und für die großartigen Menschen bei Dreamspinner Press,
die mir eine Chance gegeben haben.
Ich kann allen nicht genug danken.
ICH ACHTETE normalerweise nicht auf Mädchen, daher war es nicht verwunderlich, dass Crane sie zuerst bemerkte. Nachdem er mich auf sie aufmerksam gemacht und ich die Männer gesehen hatte, die sie verfolgten, stimmte ich ihm zu, dass sie zu dieser späten Stunde nicht mehr allein unterwegs sein sollte. Unsere Entscheidung war schnell getroffen. Wir folgten der Frau und den vier Männern durch die menschenleere, windige Straße. Das Mädchen sah sich immer wieder verstohlen um, als wäre sie sich ihrer Verfolger bewusst. Verborgen zwischen den dunklen Häuserschluchten beobachteten wir, wie sie von einem Ende des Häuserblocks zum anderen erst normal ging, dann schneller lief und schließlich rannte. Aber vielleicht war ja doch alles in Ordnung. Vielleicht hatte sie den schwarzen Gürtel in Taekwondo oder kannte die Typen, die ihr nachliefen. Vielleicht war es nur ein kleines Spielchen, das mein Freund und ich nicht durchschauten. Tatsache war, dass sie anscheinend allein unterwegs war. Um zwei Uhr nachts und in einem sehr zwielichtigen Stadtviertel.
„Kann ich nicht einfach alleine gehen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. „Ich bin viel schneller.“
Crane schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt. Wir kannten uns schon seit Kindertagen, darum versuchte ich erst gar nicht, ihm mit Logik zu kommen. Er würde an einer Frau, die seine Hilfe benötigte, nie einfach so vorbeigehen, deshalb würde er mich auch keinesfalls allein lassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als an seiner Seite zu bleiben und mein Tempo dem seinen anzupassen.
„Was treibt sie nur hier draußen?“, fragte Crane und lief schneller.
Sie war auf jeden Fall verrückt. Um zwei Uhr nachts allein in dieser miesen Gegend? Das Mädchen hatte anscheinend einen Todeswunsch. Ich konnte nur hoffen, dass dieser nicht auf uns abfärben würde. Jedenfalls gab es kein Zurück mehr. Ab dem Moment, in dem wir erkannt hatten, in welcher Gefahr sie sich befand, konnten wir uns einfach nicht mehr raushalten.
Wir machten einen kurzen Abstecher in eine Seitenstraße, zogen uns aus und ließen Jacken, Pullover, Jeans, Schuhe und Socken auf einem Haufen in einem Hauseingang liegen. Wir mussten unsere Kleidung ablegen, damit wir uns verwandeln und die Kerle erschrecken konnten. In unserer menschlichen Gestalt würden wir nämlich niemandem Angst einjagen. Ich war knapp einen Meter achtzig groß und nicht sonderlich kräftig gebaut, eher wie ein Schwimmer – schlank und mit sehnigen Muskeln. Mein Freund Crane Adams war mit seinen einen Meter achtundachtzig und muskelbepackten neunzig Kilo Gewicht sicherlich beeindruckender als ich, doch so richtig Furcht erregend wirkte auch er nicht.
Aber das alles änderte sich, sobald wir uns verwandelten. Als Panther waren wir der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind, und ich ließ dieses „kleiner und schwächer als mein Freund“ innerhalb von Sekunden hinter mir. In meiner Pantherform war ich entschieden Furcht einflößender als jeder andere, den ich bisher getroffen hatte.
Ich hörte einen Schrei und lauschte kurz, um sicher zu sein, dass ich in der richtigen Richtung unterwegs war, bevor ich losrannte. Wie eine Pistolenkugel schoss ich los, noch ehe meine Augen sich ganz an die veränderte Sicht angepasst hatten und ich wieder richtig sehen konnte. Innerhalb eines Herzschlags wechselte mein Sehvermögen von halb blind in der Dunkelheit zu perfekter Nachtsicht. Meine Verwandlung verlief immer so schnell. Es würde etwas dauern, bis Crane zu mir aufschloss. Seine Verwandlung war eine Sache von Minuten, nicht von Sekunden wie bei mir. Man hatte mir schon des Öfteren gesagt, dass meine Verwandlung wie eine Welle aussieht, die beim Heranrollen zunächst den Mann umschließt, um dann beim Zurückweichen die Bestie freizugeben. Ich hatte über die Jahre viele Gestaltwandler gefragt, wie sich die Verwandlung für sie anfühlen würdeund ihre Antworten waren recht unterschiedlich ausgefallen. Einige sprachen von einer Kraft, die über ihre Haut streicht, andere von einer Hitze, die ihre Gliedmaßen durchströmt. Wieder andere bezeichneten das Ganze als einen Adrenalinrausch oder eine kurze Euphorie. Ich habe selbst noch nie ein solches Hochgefühl verspürt, denn mein Körper wechselt die Form so schnell, dass mein Gehirn es gar nicht registrieren kann. Im einen Augenblick bin ich noch Mann, im nächsten schon Panther. Die Verwandlung verläuft so nahtlos, dass man sie mit den Augen nicht verfolgen kann. Wahrscheinlich könnte ich damit in einer Zaubershow in Vegas auftreten.
Ich hetzte über die Straße in eine Seitengasse und sah gerade noch, wie die Frau über eine verlassene Baustelle lief, immer noch verfolgt von den vier Männern. Ich preschte hinterher, setzte problemlos über den fast zwei Meter hohen Maschendrahtzaun und landete auf der anderen Seite, ohne an Geschwindigkeit einzubüßen. Es war, als hätte ich eine Bühne betreten. Nun konnte die Show beginnen.
Ich erwartete Schreie, Schrecken, Panik und Angst. Ich bekam – nichts. Die Szene vor mir fror gewissermaßen ein. Sogar das Mädchen blieb reglos stehen und verstummte. Niemand bewegte sich, aber es fiel auch niemand in Ohnmacht. Seit wann war es denn nicht mehr gruselig, wenn mitten in Reno plötzlich ein schwarzer Panther aus dem Nichts auftauchte?
„Was zum Teufel soll das?“, fragte einer der Männer und zeigte auf mich. „Ich dachte, du bist allein.“
Keiner fürchtete sich und – was noch viel schlimmer war – sie wussten, was ich war und hielten mich demnach nicht für ein Tier. Diese Erkenntnis lag mir wie ein Stein im Magen. Wenn man sich unerlaubt in einem fremden Territorium aufhielt, empfahl es sich, nicht entdeckt zu werden. Ich senkte meinen Kopf für den bevorstehenden Kampf.
„Glaubst du wirklich, ich wäre zu dieser nachtschlafenden Zeit ohne Beschützer unterwegs?“, fragte das Mädchen ihren Verfolger herausfordernd. Sie ging rückwärts, weg von den Männern und auf mich zu. „Ihr seht besser zu, dass ihr Land gewinnt. Das ist nur einer von meinen Bodyguards.“
Für einen kurzen Moment schauten sie zögerlich drein. Nichts beunruhigte sie mehr, als der Gedanke, dass ich nur die Vorhut sein könnte. Sie zogen sich zurück und warfen hektische Blicke in alle Richtungen, bevor sie sich plötzlich umdrehten und davonliefen. Ich war einen Augenblick hocherfreut, aber nur, bis ich die lauten Schreie und das Brüllen hörte, mit dem sie ihre Verwandlung zu erkennen gaben. „Oh, Gott“, wimmerte das Mädchen und trat einen Schritt zurück. Sie griff in meinen Pelz, nur um gleich wieder loszulassen, an ihrer Kleidung zu zerren und sich so schnell wie möglich auszuziehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie sah panisch zwischen mir und der Baustelle hin und her, als hätte sie Angst, dass ich sie angreifen würde. Liebend gern hätte ich mich zurückverwandelt und ihr gesagt, dass sie nichts zu befürchten hatte – ich war schwul, und mein einziges Interesse an ihr bestand darin, sie zu beschützen. Aber sie musste sich darauf konzentrieren, sich so schnell wie möglich zu verwandeln, daher wollte ich sie nicht ablenken.
Wie ich vermutet hatte, dauerte ihre Verwandlung mehrere Minuten. Muskeln und Knochen verformten sich sich um, während ihr Körper zuckte und sich wand. Ich sah ihr an, dass ihr das Schmerzen bereitete. Vermutlich hasste sie es, sich zu verwandeln. Das ging mir zwar genauso, aber aus ganz anderen Gründen.
Ich hörte das Geräusch von Pfoten im Schnee und war froh, Crane auf mich zurennenzu sehen. Das Mädchen schmiegte sich ängstlich an mich, aber sie beruhigte sich schnell wieder, als ich sie mit der Nase anstupste. Als Crane wie angewurzelt vor mir stehen blieb, schaute sie vorsichtig hinter mir hervor.
Crane durchlief ein Schauer, und wenn ich in diesem Moment in Menschengestalt gewesen wäre, hätte ich sie beide angeschrien. Irgendetwas passierte zwischen ihnen, und das ausgerechnet jetzt, wo wir für so etwas wirklich keine Zeit hatten. Wir mussten hier weg. Aber es war ohnehin schon zu spät. Ihre langsame Verwandlung und Cranes verspätete Ankunft hatten uns um die Gelegenheit zur Flucht gebracht, denn in diesem Moment sprangen jede Menge Katzen über den Maschendrahtzaun, um uns anzugreifen. Wir mussten also kämpfen, statt uns in Sicherheit bringen zu können. Ich fühlte einen Stups an der Schulter und drehte mich zu Crane um, der mich ansah und darauf wartete, was ich tun würde. Das Pantherweibchen blickte mich ebenfalls an. Ihr Wunsch nach Schutz war größer als ihr Fluchtinstinkt. Sie hatten beide Angst, und als ich loslief, blieben sie dicht hinter mir.
Riesige, rasiermesserscharfe Klauen kamen in mein Gesichtsfeld, aber ich wich ihnen problemlos aus. Jede andere Katze, die ich bisher getroffen hatte, bewegte sich im Vergleich zu mir wie in Zeitlupe, sodass ich mich wegducken konnte, ohne überhaupt berührt zu werden. Den Körper, der auf mich zusprang, stieß ich mit dem Kopf weg – eher wie ein Bulle als ein Panther. Ich sah Reißzähne aufblitzen, schlug die Schnauze zur Seite und rannte über die gefallene Katze hinweg. Ich pflügte durch das Rudel mit dem Ziel, meine Schützlinge aus diesem Chaos herauszubringen. Sie waren vielleicht zu sechst oder zu siebt, alles riesige männliche Panther, die unsere Flucht verhindern wollten. Aber sie gingen einzeln auf uns los, anstatt uns gemeinsam anzugreifen. Ich hatte eine Chance, wenn ich sie mir nacheinander vornehmen konnte, und meine Hoffnung wuchs noch, als Crane und das Pantherweibchen dicht hinter mir blieben. Sie wussten instinktiv, dass wir uns nicht trennen durften.
Ein weiterer Panther hechtete vorwärts. Ich sprang über ihn drüber trat ihm in den Rücken und stieß mich von ihm ab. Er brach unter mir zusammen. Die Kraft meines Absprungs hatte ihntaumeln lassen. Als ich mich umdrehte, um weiterzulaufen, wurde das Weibchen plötzlich gepackt und weggerissen. Ich fuhr herum, um ihren Angreifer zu stellen, der wie angewurzelt über ihr stand und mich anstarrte. Seine Zähne waren gebleckt, die Lefzen über langen, dolchartigen Reißzähnen und geschwärztem Zahnfleisch zurückgezogen. Er brauchte nur seinen Kopf zu senken, um sie zu verletzen. In der Hoffnung, ihn einzuschüchtern, richtete ich mich auf und reckte den Hals, holte dann tief Luft und ließ ein Grollen aus der Kehle aufsteigen. Ich wusste genau, dass ich in diesem Moment aussah wie ein Fragment der Nacht. Als schwarzer Panther war ich anders als die goldene Katze vor mir. Er hatte so etwas wie mich wahrscheinlich noch nie gesehen. Ich war eben eine echte Rarität. Erleichtert bemerkte ich, wie sich sein Geruch änderte. Ich konnte seine Furcht riechen.
Zu meiner Verwunderung blieb er stocksteif stehen und wurde so still, wie nur ein Tier es kann. Als ich den Kopf senkte, trat er einen kleinen Schritt zurück. Um meinen Vorteil auszunutzen, nahm ich den Kopf wieder hoch und knurrte laut. Er fing an zu zittern. Meine Demonstration von Kraft und Schnelligkeit hatte ihn so sehr geängstigt, dass er nun vorsichtig abwartete, was ich als nächstes tun würde. Er war besorgt. Als er einen weiteren Schritt rückwärts ging und damit die unmittelbare Gefahr für das Weibchen gebannt war, sprang ich vor und direkt über sie. Alle konnten mich sehen. Meine Haltung sagte ganz deutlich, dass sie mir gehörte, dass ich sie für mich beanspruchte. Falls der Anführer sie haben wollte, würde er mich herausfordern müssen, und dann gäbe es einen Kampf Mann gegen Mann. Ich wusste, dass ich unter diesen Umständen im Vorteil wäre.
Trotzdem überraschte es mich, dass der Anführer der Meute nichts unternahm. Sein Zögern ließ mich glauben, dass er gleich vor mir zu Boden sinken, sich auf den Rücken rollen und mir seine Kehle darbieten würde. Gemäß dem Kodex, nach dem wir alle lebten, musste er seine Unterlegenheit deutlich demonstrieren. Daher war ich vollkommen perplex, als er sich umdrehte und mit den anderen Katzen im Schlepptau davonlief.
Plötzlich allein mit dem Pantherweibchen und verwirrt über den unerwarteten Rückzug, erschreckte mich die Bewegung unter mir. Sie stand mühsam auf und schob ihren Kopf unter mein Kinn. Als ich mit meinem Maul sanft ihren Nacken umschloss, hörte ich ein lautes Schnurren der Zufriedenheit, bevor sie zu zittern begann.
Ich richtete mich langsam und vorsichtig auf, bis auch sie wieder auf den Beinen war, dann stützte ich sie mit meinem Körper. Der andere Panther hatte sie geschnappt und ziemlich grob zu Boden geworfen, daher lehnte sie sich schwer an mich, als wir losliefen. Crane stützte sie von der anderen Seite. Sekunden später hörte ich, dass wir Gesellschaft bekamen. Ich verstand jetzt den wahren Grund für den Rückzug der anderen. Ihr Anführer hatte gewusst, dass die Kavallerie unterwegs war. Er hatte sich für die Flucht entschieden, da er nicht wusste, wann sie eintreffen würde. Ich war also doch nicht so Furcht erregend, wie ich gedacht hatte.
Das Weibchen stieß einen kurzen Ruf aus, um ihrem Stamm mitzuteilen, wo sie war und dass es ihr gut ging. Ich spannte mich an und fühlte, wie ihre Zähne sich sanft in meine Schulter gruben, um mich festzuhalten. Ich drehte mich um, strich mit dem Kinn über ihren Kopf und stieß sie dann leicht an, um sie aus der Balance zu werfen und von mir weg zu bekommen. Ich sprang zur Seite, bevor sie mich wieder packen konnte. Sie machte einen Schritt auf mich zu, aber ich war bereits außerhalb ihrer Reichweite. Ihre Sippe war schon sehr nah und sie war in Sicherheit. Ich knurrte Crane an, der mir nach einem Moment der Unsicherheit folgte. Dann drehte ich mich um und lief den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich hörte sie rufen, immer wieder, kurz und laut, aber es waren keine Laute des Schmerzes mehr, sondern des Verlusts. Mit Crane an meiner Seite lief ich weiter. Wir sprangen das zweite Mal in dieser Nacht über den Zaun und überquerten blitzartig die Straße. Unsere Kleidung lag noch da, wo wir sie zurückgelassen hatten. Minuten später waren wir wieder verwandelt und hatten unsere inzwischen kalten und klammen Klamotten an.
„Warum laufen wir denn weg?“, fragte Crane verwundert.
„Wie kannst du das fragen?“, schnappte ich. „Wir haben keine Ahnung, in wessen Territorium wir sind und wir haben uns gerade mit jemandem geprügelt, den wir auch nicht kennen. Wir sehen besser zu, dass wir hier möglichst schnell verschwinden und nach Hause kommen.“
„Aber wir haben doch das Mädchen gerettet.“
„Ja, schon. Aber wen haben wir da gerettet?“
„Was meinst du damit?“
Er hatte keine Ahnung, warum ich mir Sorgen machte. Die Tatsache, dass wir gerade eine unfreundliche Begegnung mit einer Panthersippe gehabt hatten, die früher oder später nach uns suchen würde, verursachte Crane keine grauen Haare. Es war richtig gewesen, das Mädchen zu retten, also würde sich der Rest schon finden. Aber ich war Realist. Ich war besorgt über das mögliche Nachspiel. Zum Beispiel fragte ich mich, wer demnächst an unsere Tür klopfen würde. Die dankbare Sippe des Pantherweibchens, das wir gerettet hatten? Oder eine sehr verärgerte Sippe, die wir vertrieben hatten? Es war in jedem Fall schlecht. Ich wollte da nicht hineingezogen werden. Und was noch wichtiger war – ich wollte nicht vor den Semel, den Anführer des Stammes, zitiert werden. Weder vor deren Semel, noch vor meinen.
„Was ist wirklich los?“
Er kannte mich und wusste, dass ich mir nicht grundlos Sorgen machte. Nur den Hintergrund verstand er nicht.
„Jin?“
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare. „Lass uns einfach nach Hause gehen, okay?“
„Du bist mal wieder ziemlich seltsam“, kommentierte er, aber er folgte mir, als ich mich in Richtung Innenstadt aufmachte.
Ich wollte noch etwas sagen, doch plötzlich wurden wir von Autoscheinwerfern geblendet. Wie sich herausstellte, konnten wir doch nicht so einfach in der Nacht verschwinden.
DER RIESIGE Lincoln Navigator kam vor uns zum Stehen und drei Männer stiegen aus. Das hieß, dass der Fahrer noch hinterm Steuer saß und auch auf dem Rücksitz konnte ich zwei weitere Personen erkennen. Das Mädchen war nicht mehr zu sehen und ich fragte mich, wo sie wohl war. Ich schob mich vor Crane und hielt ihn fest, als er sich bewegen wollte.
„Meine Güte, Jin, ich bin hier der Muskelmann, nicht du.“
Ich ignorierte ihn, während die drei Männer auf uns zukamen.
„Habt ihr beiden gerade ein Mädchen gerettet?“
Der Mann war sich nicht sicher, ob wir Panther waren, was mir wieder etwas Hoffnung gab. Er war nur Fußvolk und hatte keine wichtige Position inne. Er war ein Khatyu, ein Kämpfer, nichts weiter.
„Ja, das waren wir“, sagte ich und hob zur Begrüßung die Hand in einer Demutsgeste, mit der Handfläche nach oben.
Er nickte und schenkte mir ein knappes Lächeln. Eine Woge der Erleichterung durchlief die ganze Gruppe. Alle entspannten sich und ich erkannte den Respekt auf ihren Gesichtern.
„Sie ist die Schwester des Semel und wurde nach Hause in Sicherheit gebracht“, sagte er und umfasste meine Hand mit beiden Händen. „Wir stehen in eurer Schuld.“
„Dann ist uns verziehen, dass wir ohne Erlaubnis hier sind?“
„Natürlich“, erwiderte er, als wäre es lächerlich, dass ich überhaupt gefragt hatte.
„Das habe ich doch gleich gesagt“, murmelte Crane leise und stieß mich mit der Schulter an.
„Da gibt es nichts zu verzeihen“, versicherte der Mann. „Und falls du in Zukunft wieder in unserem Territorium unterwegs sein solltest, kannst du sagen, du hättest meine ausdrückliche Erlaubnis. Ich bin Andrian Basargin.“
„Vielen Dank.“ Ich lächelte breit und meinte es auch so. „Ich bin Jin Rayne, und das ist mein Freund Crane Adams.“
„Nennt mir euren Stamm“, verlangte er freundlich.
„Pakhet“, sagte ich.
„Wirklich?“ Seine Augen strahlten. „Das ist großartig. Ich dachte schon, ihr beiden seidvielleicht nur zu Besuch hier oder so.“
„Nein, wir leben hier in Reno.“
„Dann kommt ihr sicherlich auch zum Mating-Fest in drei Monaten?“
„Ich auf jeden Fall“, versicherte Crane. „Aber Jin hat mit solchen Dingen nichts am Hut.“
Ich hatte meine Gründe dafür.
„Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagte Andrian lächelnd. „Ein Bund zwischen unseren beiden Stämmen? Ist das nicht wunderbar? Ich meine – wir werden sozusagen ein einziger großer Stamm sein.“
Andrian und seine Freunde gehörten zum Stamm Mafdet. Der Semel dieses Stammes war Logan Church. In zwei Wochen würde er offiziell Simone Danvers, die Schwester unseres Semel Christophe Danvers, zur Gefährtin nehmen. Dadurch, dass sie seine Gefährtin wurde – genauer gesagt, seine Yareah, wie die Frauen eines Semel genannt wurden –, würden Logan und Christophe die beiden Stämme in einem feierlichen Bund vereinen. Es würde eine richtig große Sache werden. So ziemlich jeder war zu der Feier eingeladen, die drei Tage dauern sollte. Geplant waren Jagden und aufwändige Gelage mit reichlich Essen und Trinken. Alles in allem eine gigantische Party, von der die Leute noch Jahre später reden würden. Mich würde keiner dorthin bekommen. Nur über meine Leiche.
„Ich freue mich schon riesig darauf, die Jagdgründe in den Bergen zu erkunden“, sagte Crane zu Andrian. „Ich habe mit anderen Panthern von eurem Stamm gesprochen. Dort oben soll es wirklich schön sein.“
„Das ist es.“ Andrian lächelte Crane an. „Bei der Feier werde ich es euch zeigen.“
„Vielen Dank!“
„Dass euer Semel es schafft, zwei Stämme miteinander zu vereinen, ist wirklich eine tolle Sache“, meinte ich aufrichtig.
„Absolut“, sagte er. Ich sah ihm an, wie begeistert er war. „Der Mann ist brillant. Deshalb haben wir uns solche Sorgen gemacht.“
„Was meinst du damit?“, fragte Crane.
„Na ja, wir wollen, dass Logan einen Sohn bekommt. Wir wollen sicher sein, dass die Blutlinie unseres Semel fortgeführt wird. Deshalb haben wir alle darauf gewartet, dass er sich endlich eine Gefährtin nimmt. Aber er hat es nicht getan, und mehr und mehr Zeit ist vergangen. Inzwischen ist er zweiunddreißig und hat immer noch keine Nachkommen.“
„Zweiunddreißig ist doch kein Alter“, wandte Crane ein.
„Ja, schon. Aber die meisten von uns haben bereits mit zwanzig Jahren ihre Gefährtin gefunden.“
Crane zuckte mit den Schultern. „Stimmt auch wieder.“
„Tja, nachdem wir nun alle ein bisschen besorgt waren, verkündete er auf der letzten Versammlung plötzlich wie aus heiterem Himmel, dass er eine Gefährtin gefunden hätte und dass es Christophes Schwester sei. Und damit bekommen wir auf einen Schlag nicht nur einen Erben, sondern auch noch eine Stammesvereinigung. Das ist wie ein Sechser im Lotto!“
Mein Freund lachte leise. „Wollt ihr mit uns Essen gehen? Das hatten wir nämlich ursprünglich vor, als das Ganze losging.“
Für die Idee, noch mehr Zeit mit Andrian und seinen Freunden zu verbringen, hätte ich ihn liebend gern umgebracht. Allerdings vermisste Crane die Gesellschaft anderer Panther, daher hatte er wohl diesen Vorschlag gemacht, ohne vorher sein Hirn einzuschalten. Aufgeregt, wie er war, bemerkte er noch nicht einmal meinen eisigen Blick. Als er dann auch noch ein Restaurant mit sehr guten Hamburgern und langen Öffnungszeiten vorschlug, waren alle begeistert dabei.
Nachdem auch der Fahrer aus dem Wagen ausgestiegen war, gab es eine allgemeine Vorstellungsrunde. Wir entschieden, die beiden Häuserblocks bis zum Restaurant zu Fuß zu gehen. Es wurde schnell deutlich, dass die anderen von meinem ungewöhnlichen Wesen überhaupt nichts bemerkten. Schließlich fühlte ich mich sicher genug, um mich zu entspannen, was wiederum wie so häufig dazu führte, dass alle sich in meiner Gegenwart wohlfühlten und sich geradezu darum stritten, wer neben mir gehen durfte. Dieses Phänomen kannte ich schon mein ganzes Leben. Vielleicht ging es ja anderen Reahs auch so, aber ich hatte leider noch nie eine getroffen, die ich hätte fragen können. Als ich Crane ansah, verdrehte der nur die Augen.
„Also“, sagte Andrian, legte einen Arm um meine Schulter und zog mich näher an sich. Ich bezweifelte, dass er sich bewusst war, was er tat. Es war einfach nur die Anziehungskraft einer Reah auf eine normale Katze. „Wie lange seid ihr beiden schon bei Christophes Stamm?“
„Sechs oder sieben Monate.“ Ich holte tief Luft.
„Christophe war weg.“ Er zwinkerte mir zu und holte ebenfalls Luft. „Hat er dich und Crane selbst aufgenommen? Oder war es sein Sylvan?“
„Sein Sylvan und sein Sheseru waren zu beschäftigt, um uns zu empfangen.“ Ich lächelte. „Wir wurden von Christophes Yareah aufgenommen, von Theresa.“
Ihm klappte die Kinnlade runter. „Du machst Witze, oder?“
„Keineswegs“, schmunzelte Crane, als auch die anderen lächelten. „Wir haben den Mann noch nie getroffen. Wir würden ihn nicht einmal auf der Straße erkennen.“
„Das ist echt der Hammer“, sagte einer von Andrians Freunden. „Unser Semel … er kennt jeden Mann und jede Frau in seinem Stamm, darauf kannst du Gift nehmen.“
„Und deshalb findet ihr ihn so toll“, stellte ich fest. „Ein Anführer, der sich wirklich um seine Leute kümmert, ist etwas Besonderes.“
„Da stimme ich dir zu“, meinte Andrian und nahm seinen Arm von meinen Schultern, als wir das Restaurant betraten.
Crane winkte die Bedienung heran und lächelnd ließ diese ihn wissen, dass sein Stammplatz frei war. Auch mir schenkte sie ein Lächeln. Als wir am Tisch ankamen, setzte Crane sich neben mich, bevor die anderen reagieren konnten. Andrian nahm gegenüber Platz.
„Also noch mal, damit ich es richtig verstehe …“ Andrian lächelte mich an. „Angenommen, Logan würde Christophe bitten, zwei Mitglieder seines Stammes offiziell zu ehren, weil sie seine Schwester gerettet haben. Und auch angenommen, er gäbe ihm eure Namen … Dann würde Christophe euch also gar nicht kennen?“
„So ist es“, versicherte Crane und erklärte ihm dann, dass der Champignon-Burger und der scharfe Amarillo-Burger das Beste seien, was hier serviert wurde. Die Mehrheit beschloss, ihm zu vertrauen. Es wurde gar nicht mehr in die Karte geschaut, sondern alle bestellten entweder das eine oder das andere. Und außerdem natürlich etwas zu trinken.
„Wo wart ihr eigentlich davor?“, fragte Andrian eine Weile später, während er seinen Burger verspeiste.
„Ich habe in Miami gelebt“, log Crane, ohne zu zögern, weil er es schon oft so erzählt hatte. „Und Jin ist viel rumgereist. Wir arbeiten beide im Fusion, das ist ein Nachtclub auf dem Strip.“
„Da war ich schon“, sagte einer der Männer. „Ein netter Club. Er hat diese coole Bossa Nova Lounge im ersten Stock.“
„Genau, das ist es“, bestätigte Crane.
„Was macht ihr dort?“
„Jin arbeitet im Club an der Bar. Ich mixe die Drinks in der Lounge, die dir so gut gefällt.“
„Ich wette, ihr kassiert jede Menge Trinkgeld, oder?“ Andrian konnte nicht aufhören, mich anzulächeln.
„Ja, das stimmt.“
Crane runzelte die Stirn. „Unser Boss hätte gern, dass Jin als Manager die Nachtschicht für das Restaurant in King’s Beach übernimmt. Dann könnte er dort aufhören und seinen Club endlich wieder selbst führen. Ich könnte wohl auch dort arbeiten, und wir wären alle glücklich.“
„Und was hält dich davon ab, den Job anzunehmen?“, fragte mich Andrian.
Ich sah ihm lange in die Augen, bis der Groschen fiel.
„Oh, verdammt! King’s Beach liegt in unserem Territorium. Du bräuchtest Logans Genehmigung, um dich dort aufzuhalten.“
„Du hast es erfasst. Ich kann mich ohne Erlaubnis nicht in eurem Gebiet aufhalten.“
„Verdammt, Jin, das kann ich doch für dich klären. Darauf kannst du dich verlassen. Ich meine, du und Crane, ihr beiden seid doch Helden. Und Logan wird es nicht stören. Ich frage am besten unseren Sheseru, aber ich glaube kaum, dass das ein Problem sein wird. Sag deinem Boss, dass ihr den Job annehmt.“
Ich nickte. Das war doch mal ein netter Nebeneffekt des Abends. „Danke.“
„Nein, ich danke euch. Wenn ihr nicht dazwischen gegangen wärt, hätte diese Nacht wirklich böse enden können. Falls wir uns dafür irgendwie revanchieren können, dann lasst uns das einfach wissen.“
„Na ja, das war doch jetzt schon ziemlich gut.“ Crane lächelte ihn an.
„Also, dann.“ Andrian nickte aufrichtig erfreut, als unsere Blicke sich trafen.
Um vier Uhr morgens wurden wir direkt vor unserem Apartment abgesetzt. Ich war zutiefst erleichtert, als der Lincoln wieder wegfuhr. Ich hatte Andrian das Versprechen abgenommen, Delphine nichts von uns zu erzählen, falls sie ihn fragen würde. Er hatte gemeint, dass sie ganz sicher fragen würde, war aber trotzdem zu der kleinen Täuschung bereit. Als wir allein auf dem Gehweg standen, sah mich Crane mit hochgezogener Augenbraue an.
„Du verdammter Glückspilz“, grummelte er, als er mir die drei Treppen hoch zu unserem Apartment folgte.
„Wieso?“
„Das weißt du ganz genau“, schnaubte er. „Von wegen Katze. Selbst, wenn man dir die Pfoten auf dem Rücken zusammenbindet, fällst du doch noch auf die Füße.“
„Wovon sprichst du?“
„Wovon ich spreche? Zum Beispiel von dem glücklichen Zufall, der Christophe Danvers’ Yareah und ihre Freundinnen neulich Nacht in unseren Club geschickt hat. Damit du sie mal so eben dazu überreden konntest, uns in ihren Stamm aufzunehmen, ohne dass wir vor dem Semel erscheinen mussten.“
Ich blieb auf der Treppe stehen und drehte mich zu ihm um. „Sie fand es schick. Sie wusste gar nicht, dass sie auch Mitglieder in den Stamm aufnehmen kann, bis ich es ihr gesagt habe.“
„Ja, ich weiß“, meinte er, schob sich an mir vorbei und ging den Rest des Weges voraus. „Und nachdem du sie für den Gedanken erwärmen konntest und ein bisschen mit ihr geflirtet hast, konnte sie gar nicht mehr anders. Mir war nicht bewusst, dass Frauen sich von schwulen Männern derartig um den Finger wickeln lassen.“
„In erste Linie ist sie eine Pantherin, in zweiter Linie eine Frau, also …“
„Sie ist in erster Linie eine Frau, und du hast sie rumgekriegt.“
„Vielleicht habe ich sie ja ein bisschen in die richtige Richtung geschubst.“
Er stöhnte laut und brachte mich damit zum Grinsen. Wir waren vor unserer Tür angekommen. „Ich hoffe nur, dass dich diese Nummer nicht irgendwann wieder einholt.“
„Und damit meinst du natürlich gar nicht mich, sondern vor allem dich“, stellte ich klar, während ich die Tür aufschloss und das dunkle Apartment betrat.
„Stimmt!“ Er gähnte und warf sich auf die Couch, während ich das Licht einschaltete. „Es geht immer nur um mich.“
„Na ja, ich denke, wir sind jetzt erst mal fein raus“, erwiderte ich und ging hinter der Couch entlang in mein Schlafzimmer. „Morgen sage ich Ray, dass ich den Job als Manager für das Restaurant übernehme. Dann können wir nach King’s Beach umziehen und müssen Christophe Danvers überhaupt nicht begegnen.“
„Und Logan Church wird uns in Ruhe lassen, wenn Andrian ihm sagt, dass wir zu Christophes Stamm gehören“, rief Crane laut genug, dass ich es hören konnte.
Ich zog meine Jacke und den Pullover aus und ging, nur in Jeans, T-Shirt und Socken, zurück ins Wohnzimmer. „Und damit ist die Sache wasserdicht. Ich muss keine Semels treffen und du kannst mit anderen Panthern abhängen. Das willst du doch schon, seit ich aus dem Stamm geworfen wurde und du mit mir gegangen bist.“
„Was hätte ich denn machen sollen? Meinen besten Freund ohne Nachsendeadresse einfach ziehen lassen?“
Ich seufzte. „Wenn du geblieben wärst, hättest du eines Tages Sheseru werden können.“
„Scheiß drauf.“ Er gähnte laut. „Es ist viel lustiger, dich dabei zu erleben, wie du dich mit deiner Taktiererei in eine Krise nach der anderen manövrierst.“
„Du bist ja so witzig. Ich gehe ins Bett.“
„Warte.“ Seine Stimme hielt mich zurück, bevor ich die Tür ganz geschlossen hatte.
„Was?“
Er drehte sich auf der Couch zu mir um. „Vermisst du es wirklich nie?“
„Ich weiß nicht, was du damit meinst.“
„Einen Stamm, du Arsch. Vermisst du es nie, Teil eines Stammes zu sein?“
„Nein“, log ich schlicht. Und obwohl er mich schon so lange kannte, merkte er nicht, dass ich log. Natürlich wollte ich zu einem Stamm gehören. Ich wollte es genau so sehr wie er. Doch dazu mussten wir erst einmal einen Stamm finden, der mich so akzeptierte, wie ich war. Und da konnten wir lange suchen. Es war müßig, darauf zu hoffen.
Wir schwiegen eine Weile, dann räusperte sich Crane.
„Weißt du, irgendwie ist es eine Schande, dass Logan Church aufgibt und sich eine Yareah nimmt.“ Er lenkte das Gespräch auf ein neutrales Thema, so wie er es immer machte. „Wenn ich Semel wäre, würde ich das niemals tun. Wenn ich Semel wäre, würde ich auf meine Reah warten. Wer will schon eine falsche Gefährtin?“
„Jemand, den man sich aussucht, ist ja nicht von vornherein falsch“, korrigierte ich ihn und lehnte mich gegen den Türrahmen. „Millionen von Menschen machen das jeden Tag.“
„Stimmt schon. Aber ein Semel sollte nun mal eine Reah als Gefährtin nehmen. So ist es gedacht. Sich mit weniger zufrieden zu geben, ist irgendwie gegen die Natur des Semel.“
„Aber wenn ein Semel nun keine Reah findet? Was soll er dann tun? Ohne Gefährtin leben? Ohne seine eigene Familie leben und sterben?“
„Ich sage ja nur, dass ich auf meine wahre Reah warten würde.“
Ich nickte. „Klar, würdest du.“
„Ich würde das wirklich tun!“
„Schon möglich“, gab ich ihm recht.
„Warum bist du so ein Sturkopf?“
„Wer nicht selbst Semel ist, hat immer leicht reden“, seufzte ich. „Und ich garantiere dir, jeder Semel hat das Gleiche gesagt, bis er dann die Führung übernommen hat.“
„Du bist so zynisch.“
„Ich bin einfach realistisch. Wenn man nur für sich selbst verantwortlich ist, ist es immer einfach zu sagen, was man tun und lassen würde. Aber wenn dein Stamm auf dich schaut und auf einen Erben wartet, so wie Andrian es vorhin über Logan Church sagte … Ich meine, wenn deine Nachfolge gesichert werden muss, dann ist das ein gewaltiger Druck. Dem kann wahrscheinlich kaum jemand auf Dauer standhalten.“
Er sah mich an. „Du sagst also, dass kein Semel es sich leisten kann, auf seine Reah zu warten.“
„Realistisch ist es nicht. Reahs sind zu selten. Die Chance, eine zu finden, steht ziemlich schlecht.“
„Und trotzdem …“, widersprach er theatralisch, „… bist du da.“
Ich zeigte ihm den Mittelfinger.
„Ach komm schon, Jin. All das Gerede über Reahs … Und hier stehst du, der seltenste Panther aller Zeiten, eine männliche Reah.“
„Ich zähle nicht.“
„Natürlich zählst du, du Idiot. Du bist eine Reah!“
„Ich bin keine richtige Reah. Ich bin keine Frau.“
„Wer sagt denn, dass eine Reah immer weiblich sein muss?“
„Oh, ich weiß auch nicht … Alle vielleicht?“ So, wie ich es sagte, klang es selbst in meinen eigenen Ohren bitter.
„Na ja, dann haben eben alle unrecht. Du bist ein Kerl und du bist eine Reah. Eine echte Reah. Das steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Du existierst, also bist du auch echt.“
„Crane …“
„Wir führen jetzt keine existentielle Diskussion, okay? Ich weiß, dass du eine Reah bist. So, wie ich weiß, dass du die einzige männliche Reah bist. Punkt und Ende der Geschichte.“
„Aber das weißt du eben nicht. Zumindest nicht sicher.“
„Oh, ich weiß das nicht?“, schnaubte er. „Ich denke schon, dass ich das weiß. Auf all unseren Reisen in den letzten zwei Jahren, seit wir das College verlassen haben, haben wir nie von einer Reah gehört, geschweige denn von einer männlichen. Ich meine, eine weibliche Reah gibt es nur einmal in einer Million, aber eine männliche Reah … Scheiße, Mann, vergiss es. Du bist einmalig.“
„Meinetwegen.“
„Ich sag ja nur … Willst du es nicht irgendwann mal jemand anderem erzählen als immer nur mir?“
„Mein Vater weiß es“, erinnerte ich ihn. „Ebenso wie unser alter Stamm und unser alter Semel, der versucht hat, mich umzubringen. Ich finde, es wissen schon mehr als genug Leute.“
Er drehte sich wieder um und rollte sich auf der Couch zusammen. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen.
„Du könntest nach Hause gehen, Crane. Dich würden sie wieder zurücknehmen.“
„Leck mich doch. Geh ins Bett. Ich will nicht mehr darüber reden.“
Ich respektierte seine Entscheidung, denn wir waren in einer Sackgasse gelandet und brauchten beide unseren Schlaf. Also schloss ich die Tür und fiel ins Bett. Ich war so erschöpft, dass ich sogar traumlos schlief.
NACH MEINER Einschätzung benutzen die Leute das Wort „kalt“ viel zu häufig. Beispielsweise war ich schon in Kinos und Restaurants, sogar in überfüllten Supermärkten gewesen, in denen ich Leute sagen hörte, dass ihnen kalt sei … eiskalt sogar. Tatsache ist, solange man noch nie den eisigen Windhauch gespürt hat, der Ende Januar über den Lake Tahoe streicht, hat man keine Ahnung was „kalt“ tatsächlich bedeutet. Und deshalb konnte ich wirklich nicht verstehen, warum einige unserer Gäste unbedingt draußen auf der Terrasse sitzen wollten. Sie trugen zwar warme Mäntel, die Heizstrahler waren an und die Terrasse war überdacht, aber trotzdem war es immer noch sehr kalt. Als ich die Gruppe sah, die sich nach draußen aufmachte, schaute ich meinen Oberkellner an und zuckte mit den Schultern.
„Du hast doch nichts dagegen, oder?“, erkundigte er sich.
„Wenn sie unbedingt erfrieren wollen, werde ich sie nicht davon abhalten.“
„Danke, Boss.“
„Bitte sag Owen Bescheid, dass er Linda aushelfen soll. Das sind eine Menge Leute und es ist scheißkalt da draußen.“
„Wird gemacht.“ Er lächelte mir zu.
„Und sag ihnen, dass sie ihre Schneeanzüge anziehen sollen“, fügte ich noch hinzu und wandte mich zum Gehen.
Ich wollte in der Küche nach dem Rechten sehen und hatte den Speiseraum schon halb durchquert, als sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte. Ich drehte mich um und sah meinen Chef, Ray Torres, hinter mir stehen.
Ich sah ihn an. „Was tust du denn hier?“
„Aber ich schaue hier doch jede Woche nach dem Rechten. Läuft anscheinend gut, wie immer.“
„Und was willst du außerdem? Normalerweise rufst du einfach an.“
Sein Lächeln war ein bisschen schlitzohrig. „Ich hatte gehofft, dass du eine Antwort für mich hast.“
„Willst du mich veralbern, Ray? Bisher hatte ich noch keine Sekunde Zeit, um …“
„Ach, komm schon“, sagte er schmunzelnd. Seine Hand wanderte weiter in Richtung meines Nackens und drückte mich kurz. „Es ist doch nur noch eine Nacht. Danach hast du drei Tage frei.“
„Klingt ja fast so, als hätte ich mir das nicht verdient. Ich habe fünfzehn Tage am Stück gearbeitet, Ray. Ich lebe praktisch hier. Ich sollte mir einfach eine Pritsche in die Küche stellen.“
„Du könntest das Zimmer oben benutzen.“
„Scherzkeks.“
Er lächelte mich an und beugte sich vor, um meine Haare zu zerzausen. „Du bist noch jung. Mit vierundzwanzig konnte ich tagelang durchhalten, ohne zu schlafen oder zu essen.“
Ich wollte ihn stehen lassen, aber seine Hand legte sich auf meinen Oberarm und hielt mich zurück.
„Weißt du, Jin, in den zweieinhalb Monaten, in denen du das Restaurant hier führst, bist du absolut unersetzlich für mich geworden. Ich hoffe, du denkst über mein Angebot ernsthaft nach.“
Er hatte ja keine Ahnung, wie intensiv ich über sein Angebot bereits nachgedacht hatte, seitdem er es mir letzte Woche aus heiterem Himmel unterbreitet hatte. Er wollte mich als Geschäftsführer für den Laden – eine Position, um die sich bereits zwei andere bewarben, darunter auch Crane.
Das Paragon war ein Lounge-Restaurant, das in King’s Beach direkt am Strand lag. Im Sommer konnten die Gäste entweder mit ihren Booten Anker werfen und zum Steg schwimmen oder paddeln, oder sie konnten direkt vom Schiffsdeck auf die hintere Terrasse kommen. Während des Sommers war hier morgens, mittags und abends die Hölle los. Im Winter war es, dank der Lichter und der Heizstrahler auf der Terrasse, ein beliebter Zufluchtsort für die Wintertouristen aus Incline Village. Die Kundschaft bestand sowohl aus Einheimischen als auch aus Touristen und reichen Wochenendbesuchern, die hier Ferienhäuser besaßen.
„Jin“, riss Ray mich aus meinen Gedanken.
„Ja.“
Er stellte sich vor mich, so dass ich seinen Blick erwidern musste.
„Als du damals hier angefangen hast, dachte ich, du bist auch so ein Punk wie die meisten anderen. Aber du hast dich von Anfang an reingekniet und deine Qualitäten unter Beweis gestellt.“
„Du hast mich für einen Punk gehalten?“, neckte ich ihn.
„Jin“, warnte er mich.
„Ray“, sagte ich im gleichen Tonfall.
Er grummelte. „Hör zu. Alle mögen dich und alle hören auf dich. Das ist genau das, was ich brauche.“
„Ray …“
„Seitdem du hier angefangen hast, schreibt der Laden endlich wieder schwarze Zahlen.“
Ich sagte nichts.
„Deine Marketing-Ideen wie beispielsweise die Kooperation mit den Clubs in Reno und der Deal mit dem Lakehouse Inn für private Partys … Alle Beteiligten machen richtig Geld. Greg kam gestern vorbei und erzählte mir, dass es im Inn das erste Mal seit Jahren richtig gut läuft. Er hält dich für ein Geschenk des Himmels.“
„Ach hör schon auf, Torres.“
Sein Grinsen wurde breiter. „Er sagte, wenn ich dir nicht die Geschäftsführung hier anbiete, will er dich für das Inn. Ihm gefällt, was er sieht.“
„Und ich weiß das zu schätzen. Aber ich weiß einfach noch nicht, was ich machen soll. Ich wollte eigentlich nicht lange hier bleiben.“
„Ich weiß, dass du das vorhattest. Aber ich möchte, dass du bleibst. Wir alle wollen das.“
„Ich weiß nicht … Ich bin nicht der einzige, der sich für den Job interessiert.“
Er zuckte mit den Schultern. „Tatsache ist, wenn du hier bist, Jin, dann brauche ich nicht selbst zu kommen. Wenn ich weiß, dass du hier bist, mache ich mir keine Sorgen. Bei allen anderen, bin ich mir da nicht so sicher.“
„Ich weiß das sehr zu schätzen. Aber gib mir bitte noch etwas Zeit zum Nachdenken, okay?“
„So viel du willst.“ Er lächelte und ging wieder.
Wenige Minuten später wurde ich in der Küche mit dem üblichen Schwall liebevoller Hänseleien begrüßt, bevor man mich drängte, eine neue Kreation aus Jalapenos, Grillkäse und Cranberry-Soße zu probieren, die noch dazu doppelt frittiert war. Es schmeckte fürchterlich und ich fragte Ramon, den Küchenchef, ob er mich damit umbringen oder einfach nur zum Kotzen bringen wollte.
„Wissen alle Mädchen hier, dass du schwul bist?“
Ich konnte zwar Vermutungen über seinen Gedankengang anstellen, aber wirklich richtig folgen konnte ich ihm nicht. „Was hat das mit meiner Frage zu tun?“
„Überhaupt nichts“, versicherte er mir.
Wir sagten nichts und starrten uns an. Ich musste zuerst aufgeben und grinste.
„Okay. Worauf willst du hinaus?“, fragte ich seufzend.
„Die Mädels“, wiederholte er. „Wissen sie Bescheid?“
„Ich denke schon.“
„Wie kommt es dann, dass sie die ganze Zeit nur von dir reden?“
„Weil Frauen und schwule Männer sich ergänzen wie Erdnussbutter und Marmelade“, klärte ich ihn auf. „Wir sind einfach füreinander geschaffen.“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie reden, als wollten sie mit dir ins Bett springen.“
Das wollten sie eigentlich nicht, doch diesen Unterschied kapierte er nicht.
Alle Frauen, die für mich arbeiteten, liebten mich. Nur das war der Grund für ihre Wertschätzung. Ob ich es wollte oder nicht, ob ich es darauf anlegte oder nicht, spielte keine Rolle. Ich liebte Frauen, aber ich schlief nicht mit ihnen. Das machte mich offenbar unwiderstehlich. Sie überschütteten mich mit Komplimenten über meine hellgrauen Augen, meine langen schwarzen Haare und meine dunklen Augenbrauen. Frauen achten auf Kleinigkeiten wie den perfekten Schwung deiner Brauen, die Länge deiner Wimpern, wie voll deine Lippen sind und wie deine Nase geformt ist. Ich hatte schon oft zu hören bekommen, dass ich mit meinem Schlafzimmerblick, meinem knackigen Körper und meiner tollen Haut jederzeit als Model arbeiten könnte. Es war irgendwie süß, genau wie die Umarmungen und Küsschen, die ich jedes Mal bekam, wenn ich im Restaurant auftauchte.
„Hallo!“
Ich hob den Kopf und sah Ramon an. „Keine will mit mir ins Bett. Sie wollen alle Crane.“
„Keines der Mädels interessiert sich für deinen Zimmerkumpel. Sie wollen dich.“
Das ergab keinen Sinn.
„Du bist nur zu blind, um es zu sehen.“
Ich schenkte ihm einen nachsichtigen Blick und drehte mich um.
Bevor ich gehen konnte, fasste er mich am Arm.
„Was ist denn noch?“ Ich sah ihn wieder an.
„Wir“, er zeigte mit einer schwungvollen Geste auf die gesamte Küchenbrigade, „werden diesen Ben windelweich prügeln, falls er so dämlich ist, sein Gesicht hier noch einmal zu zeigen.“
Ich grinste ihn an. Wenn er nur wüsste. Ben würde mir unter keinen Umständen noch ein einziges Mal zu nahe kommen. „Ich finde es toll, dass ihr auf mich aufpassen wollt, aber ich bin kein Mädchen. Ihr braucht den Typen nicht aufzumischen, nur weil er mir ein bisschen übel mitgespielt hat.“
„Jin, die ganze Aktion war komplett unfair. Er ist mitten in der Nacht in deine Wohnung eingebrochen.“
Das sagte eigentlich hauptsächlich etwas über unsere billigen Schlösser und darüber aus, wie tief ich in dieser Nacht geschlafen hatte. Crane war ein paar Mal mit einer Stripperin ausgegangen, die natürlich einen eifersüchtigen Ex-Freund hatte. Der hatte die beiden so lange verfolgt, bis er herausgefunden hatte, wo Crane wohnte. In der Nacht, in der er dann bei uns einbrach, war Crane gar nicht zu Hause. Ich schlief ganz allein auf der Couch, auf der ich nach einer sechzehn-Stunden-Schicht praktisch zusammengebrochen war.
„Das Arschloch hätte dich umbringen können.“
„Was soll ich dazu sagen? Aus Fehlern wird man klug.“
„Ja, aber es war nicht dein Fehler.“
Damit hatte er auch wieder recht.
„Du weißt, dass du ziemlich übel ausgesehen hast, nachdem er dich zusammengeschlagen hatte?“
Das hatte ich allerdings. Aufgeplatzte Lippe, blaues Auge und diverse blaue Flecken am Hals, weil er mich gewürgt hatte. Ben Eller war vor einer Woche in unser Apartment eingebrochen, um seinem Rivalen ein bisschen Angst einzujagen, war dann aber im Adrenalinrausch offenbar schnell von Drohgebärden zu Mordgelüsten übergegangen. Er hatte versucht, mich zu erdrosseln.
Benommen hatte ich mich im Halbschlaf aus Ben Ellers tödlichem Griff befreit und mich mitten im Wohnzimmer verwandelt. Ich war ein Opfer der Umstände. Es gab keine Fluchtmöglichkeit, also blieb nur der Kampf. Instinktiv hatte ich zu meiner besten Waffe gegriffen. Er war schreiend aus dem Apartment geflohen. Ich machte mir keine Sorgen. Was sollte er der Polizei schon erzählen? „Als ich versuchte, diesen Typen zu erwürgen, verwandelte er sich direkt neben dem Beistelltisch in eine Kreatur aus dem Discovery Channel.“ Ich konnte damit rechnen, dass der Augenzeuge meiner Verwandlung durch seinen Mordversuch deutlich an Glaubwürdigkeit verlor.
„Jin?“
„Ich weiß, wie ich ausgesehen habe“, sagte ich schnell. „Und ich danke dir, dass du dir Sorgen gemacht hast.“
„Du hättest Anzeige erstatten sollen.“
„Crane und ich haben eine einstweilige Verfügung erwirkt. Das sollte reichen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe wirklich, dass euer Stalker sich aus dem Staub macht.“
„Und dabei ist er noch nicht mal mein Stalker“, sagte ich grinsend. Die Ironie war mir durchaus bewusst.
„Ja, echt superwitzig“, grummelte er und beugte sich zu mir. „Aber mal ganz was anderes … Ich habe gehört, dass Ray dir den Geschäftsführerposten angeboten hat.“
„Ja, stimmt.“
„Dann nimm ihn an. Wir stehen alle hinter dir.“
„Vielen Dank.“
Er lächelte mich an und wandte sich ab, um wieder an die Arbeit zu gehen. „Keine Ursache.“
Ich kümmerte mich jeden Tag persönlich darum, dass Ramon alles hatte, was er in der Küche brauchte. Auf seine Art hatte er mich gerade wissen lassen, wie sehr er meine Fürsorge zu schätzen wusste.
Zurück im Restaurant wurde ich von Linda Rice, einer der Kellnerinnen, beinahe umgerannt.
„Da bist du ja“, seufzte sie erleichtert. „Jin, die Truppe auf der Terrasse macht Randale. Einer der Typen ist ziemlich betrunken. Ich gehe da garantiert nicht wieder raus.“
Ich nickte nur und wollte zur Terrasse gehen.
Linda fasste mich am Arm. „Ich hole einen von den Rausschmeißern aus der Lounge, damit er mit dir rausgeht, okay?“
Ich lächelte sie an. „Mach dir keine Sorgen um mich, Linda. Ich bin gerade in der richtigen Stimmung.“
„Na, wunderbar. Einige von den Typen sehen wie russische Gangster aus.“
„Waren wir uns nicht einig, dass du zu viel Law & Order siehst?“
„Du bist ja so witzig!“ Sie zog eine Grimasse, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Sei einfach vorsichtig. Du bist nicht so groß und Furcht einflößend, wie du vielleicht denkst.“
„Nein?“ Ich grinste sie an und sie kicherte, obwohl sie von der Auseinandersetzung draußen sichtlich mitgenommen war. Und es war irgendwie niedlich, dass sie mir noch einen Klaps auf den Hintern gab, bevor ich von ihr los kam.
Auf der Terrasse waren drei Tische zusammengeschoben worden. Die Gäste hatten schon recht viel getrunken. Es war wirklich sehr laut, selbst für eine Runde unter freiem Himmel. Mein zweiter Kellner, ein netter Junge aus Tulsa namens Owen, wurde gerade angebrüllt. Die Frauen verlangten Champagner, und als er sie fragte, welche Sorte sie gerne hätten, stand plötzlich ein großer, breitschultriger Mann auf und schubste ihn weg. Owen wäre beinahe gestürzt. Der Mann packte ihn am Pulli, schüttelte ihn und fragte ihn, ob er Englisch verstünde. Ich trat schnell vor und schob mich zwischen meinen Kellner und den Fremden.
„Das war es dann“, sagte ich und deutete ohne Umschweife zur Tür. „Sie sind fertig hier.“
„Ach, wir sind also fertig hier?“, fragte der Mann und schlug hart gegen mein Schlüsselbein. „Ist das so?“
Als er mich anfasste, wusste ich Bescheid. Er war eine Katze. Er war kein Semel, kein Anführer, aber ziemlich hochrangig. Entweder ein Stellvertreter oder Vollstrecker, ein Sylvan oder Sheseru. Ich war mir nicht ganz sicher. Wie auch immer, er hatte Macht und war es gewohnt, dass die Leute sich ihm beugten. Ich hätte mich auch gebeugt, denn ich wollte mit einer Katze nichts zu tun haben. Doch da war Owen, und der stand unter meinem Schutz.
„Ja“, sagte ich und sah ihm direkt in die Augen. „Sie sind fertig hier.“
Er war betrunken, sonst hätte er mich wohl nicht angeknurrt und seine menschlichen Zähne gebleckt, um mich zu beeindrucken. Auf jeden anderen hätte er vermutlich nur ein bisschen verrückt gewirkt, aber ich wusste sofort, was mit ihm los war – er verlor die Beherrschung, weil er zu viel Alkohol intus hatte.
„Jin“, sagte Owen mit zitternder Stimme und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, du solltest besser nicht …“
