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»Nach einem politischen Umsturz ist der Inspektor der Abwässer aufgefordert worden, einen Bericht über den Zustand der Kanalisation zu verfassen. Denn die Leute, die immer ›so gewaschen tun‹, müßten einmal da hinabschauen können, was alles unter ihren Füßen dahinfließt, das Verborgene und Chaotische unter ihrer sauberen Stadt…«
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hugo Loetscher
Ein Gutachten
Diogenes
MEINE HERREN, als der Umsturz stattfand, war ich unten bei meinen Kanälen. Es ist eine grundlose Verdächtigung zu behaupten, ich habe mich verkrochen. Freitag ist der einzige Tag, den ich als Inspektor der Abwässer seit meiner Amtsübernahme nicht im Büro verbringe; sondern an dem Tag steige ich zu meinem wöchentlichen Kontrollgang hinunter, und zwar wählte ich mir diesmal den Kanalabschnitt, der von der Kinderkrippe, dem Schlachthaus und dem Stadtpark abgegrenzt wird.
Auf diesem Kontrollgang fiel mir kaum etwas auf, das eine Veränderung in der Oberwelt hätte vermuten lassen. In meinem Kontrollbuch ist nichts Besonderes eingetragen. Ich stutzte zwar einen Moment, als das Abwasser um die Mittagszeit nicht anschwoll. Aber wie hätte ich aus der Tatsache, daß nicht gekocht wurde, daß sich niemand die Hände wusch und sich keiner zu Tisch setzte und kein Geschirr gespült wurde – wie hätte ich daraus schließen sollen, daß oben ein Umsturz stattgefunden hatte?
Sie hielten mir entgegen, daß mein Stellvertreter sogleich an die Oberfläche zurückgekehrt ist. Ohne seinen revolutionären Willen zu mindern, gebe ich Ihnen zu bedenken, daß er an dem Tag, den Sie zum historischen erklärt haben, jenen Teil des Kanalnetzes inspizierte, der unter dem Regierungsviertel liegt. So wurde er von einem Flüchtenden über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt und hatte genügend Zeit, Ihnen Bericht über den wichtigsten Fluchtweg zu erstatten, jenen Kanal, der von der Stadtmitte ins Weichbild zum Schwesterholz führt und der aus der Zeit stammt, als das Abwasser und das Frischwasser ungedeckt nebeneinander flossen.
Hätte ich fliehen wollen, dann hätten mich Ihre Leute kaum dort verhaftet, wo sie mich an das Licht zerrten. Es ist nicht anzunehmen, ich, dem Sie vorgeworfen haben, Einstiege in die Kanäle verraten und damit manchem zur Flucht verholfen zu haben, werde selber aus einer Dole steigen, die nur einige Meter von einem Polizeiposten entfernt liegt.
Es stimmt: jedem, der sich nach einem Einstieg erkundigte, gab ich Auskunft – es ist ein öffentliches Kanalnetz, das ich betreue. Und ich könnte mir keinen Inspektor der Abwässer, auch keinen zukünftigen, vorstellen, der die Auskunft verweigert hätte. Zu meiner Überraschung war ich in den letzten Monaten von einflußreichen Leuten zum Essen eingeladen worden; sie ließen mich abholen, und ich durfte Küchenwünsche anbringen. Man sprach bei diesen Einladungen von der Abwasserarbeit, was ungewohnt ist. Wer redet von Schlammfang und Vorfluter, bevor er sich an einen gedeckten Tisch setzt? Aber man war neugierig, ob es gefährlich sei, durch die Kanäle zu waten, ob auch in unmittelbarer Nähe solche Kanäle angelegt seien, und wie man die Dolendeckel mit bloßer Hand hebe.
Sollte heute einer von Ihnen, meine Herren, gleiche Fragen an mich richten und sollte ich noch Inspektor der Abwässer sein, ich würde ihm in meinem Büro die Wege zeigen, auf denen es möglich sein könnte, über die Abwässer zu entfliehen, wenn es auch keine Garantie gibt, über die Kanalisation zu entkommen, wie die Ereignisse bewiesen. In meinem Büro, an der rechten Wand, hängt die Karte: auf ihr sind die Gebäude dieser unserer Stadt eingetragen, auch jene, die in diesen Tagen zerstört worden sind, in mattem Blau gedruckt, als handle es sich um einen vorläufigen Eintrag; endgültig und schwarz ist aber darauf das Entwässerungsnetz eingezeichnet, mit allen Kanälen, die begehbaren gestrichelt und die bekriechbaren punktiert.
In meinem Kanalabschnitt gab es an diesem Freitag kein Anzeichen für einen Umsturz oder eine Revolution. Erst als ich an den Steigeisen hochkletterte, mich am Rahmen der Schachtabdeckung festhielt und die Stiefel spürte, die meine Finger auf den Asphalt klemmten, wußte ich, daß eine Änderung eingetreten war. Vier junge Arme schoben sich vor das Stück Himmel und packten mich unter der Achsel. Mein Kopf schlug an einen Betonbrunnenring; die Schlupfweite der Einsteigeschächte ist knapp für einen Mann bemessen. Mein Kopf war betäubt, als mich Ihre Leute auf die Beine stellten und fragten, wer ich sei. Ich erwähne dies Ereignis nicht, um mich zu beklagen. Ihre Leute fanden nachher in meiner Tasche die Papiere, die mich als Beamten der gestürzten Regierung auswiesen, was sie nachträglich rechtfertigte, mich auf dem Straßenscheitel niedergeschlagen zu haben.
Ich habe keinen Grund zu klagen, da ich nicht einmal eine ganze Nacht im Gefängnis verbrachte. Sogar die Illustrierte ließ man liegen, ich blätterte darin und las mein Horoskop für eine zurückliegende Woche. Ja, als man mich um drei Uhr früh weckte, wünschte ich weiterzuschlafen, doch begriff ich, daß Sie meine Zelle benötigten. Man gab mir einen Ausweis, auf dem das Wort »Freiheit« nicht mehr in Grotesk-, sondern in Antiquaschrift gedruckt ist. Bevor man mich entließ, untersuchte mich ein Arzt, ob an meinem Körper Spuren von Mißhandlungen festzustellen seien, was nicht der Fall war. Zwar hatte während meiner Einvernahme einer Ihrer jungen Leute ein Frottiertuch unter dem laufenden Wasserhahnen getränkt und es zu einem Schläger ausgewrungen. Nicht, daß er ihn gebraucht hätte; doch nahm ich an, meine Nerven hätten den Schlag weitergegeben, ohne daß die Haut Spuren aufnimmt. Ich wunderte mich, hatte ich doch von fortschrittlicheren Methoden gehört wie dem Elektroschock und dem Wasserstrahl. In meinem Falle aber schnitt eine Schwester vom Roten Kreuz ein Stück Heftpflaster von einer Rolle. Mit dem neuen Ausweis und dem Heftpflaster für meine geplatzte Lippe wurde ich entlassen.
Noch nie war ich zu dieser Stunde mit gleicher Nüchternheit durch unsere Stadt gegangen. Was mir auffiel, waren die Vögel. Ich ahnte nicht, daß wir mit so viel Vögeln unsere Stadt teilen. Ich sah auch die Hydranten, von denen die Schläuche hingen, die auf die Demonstrierenden gerichtet worden waren, plattgedrückte Schlangen, aus deren Maul Wasser träufelte; ich sah die umgestürzten Autos, die herausgerissenen Sitze, mottend, als fräßen Glühwürmchen daran, und ich ging im Bogen um die Pflastersteine, die gehäuft am Straßenrand lagen als handliche Arsenale für den Mann der Straße, doch ließ ich die Barrikaden rechts und links liegen. Die Vögel müssen an diesem frühen Morgen besonders laut gewesen sein. Ich bemerkte eine Patrouille, die in einen Baum hinaufstaunte, als zwitscherte daraus eine Nachricht. Da fiel mir ein, daß man mir mein Kontrollbuch und meine Schlüssel nicht zurückgegeben hatte. Ich läutete den Hauswart aus dem Schlaf. Ein Unbekannter öffnete; ein Neuer hatte die Aufsicht im Haus übernommen.
Nein, meine Herren, ich beklage mich nicht. Um so mehr nicht, als Sie mir eine ehrenvolle Beförderung in Aussicht stellen, auch wenn mich die Beförderung erschreckt. Ich bin verwirrt. Sie denken an eine Beförderung, und vor drei Tagen noch verwehrte mir, als einem lausigen Verräter, ein Wärter die Auskunft, wieviel Uhr es ist. Aber ich werde das Gutachten schreiben, das Sie von mir fordern. Und ich bin mir bewußt, daß es augenblicklich weniger um die Abwässer geht als um meine Nachfolge. Wie sollten Sie auch so kurz nach dem Umsturz sich wegen der Kanalisation Sorgen bereiten! Hingegen verstehe ich, daß nach einem Umsturz personelle Fragen von Belang sind. Ich hoffe, Ihnen mit diesem Gutachten klarzumachen, was für ein Mann vorzugsweise sich für das Inspektorat der Abwässer eignet. Sollte ich dabei von mir reden, dann geschieht dies beispielhalber.
Das Gefängnis, zum Beispiel, in das man mich brachte, kannte ich. Dorthin geben wir unsere Überkleider zum Waschen. Das Gefängnis besitzt die Wäscherei, die am meisten Leute beschäftigt und die auch die Spitäler bedient; in der Schuhmacherei zudem lassen wir unsere Stiefel flicken und kleben. Ich empfehle auch für die Zukunft, die Dienste dieses Gefängnisses in Anspruch zu nehmen. Nicht nur wegen der Reparaturen und der Wäsche aber war ich oft dort. Sondern viele, die bei den Abwässern arbeiten, ordnen sich über die Kanalisation wieder in die Gesellschaft ein: Buchhalter, die nicht mehr ins Kontor zurückmögen, Zuhälter, die das Milieu nicht mehr anzieht, Bauern, die ihre Höfe angezündet haben, solche, die wegen einer einzigen Tat ins Strafregister kamen, und andere, die von Anstalt zu Anstalt büßten; einige, denen ein Drittel der Strafe erlassen wurde, und andere, die ihr ganzes Urteil absaßen. Es sind Strafentlassene, die sich gefügt hatten, die bald in die zweite Klasse versetzt wurden. Das erlaubte ihnen, die Zellenwände mit Ansichtskarten und Kunstreproduktionen zu schmücken und Tiere zu halten; es versteht sich, nur Tiere, die man nicht ausführen muß; so betreuten sie Kanarienvögel, Goldhamster und weiße Mäuse. Und wurden sie in die dritte Klasse versetzt, durften sie ein Radio aufstellen, eine Tageszeitung abonnieren und in ihrer Freizeit Nebenbeschäftigungen und Nebenverdienst nachgehen. Im Stadium der dritten und höchsten Klasse pflegt ein Inspektor der Abwässer sie kennenzulernen, dann, wenn sie in ihrer Zeitung nach ausgeschriebenen Stellen suchen.
Unter dem Portal, auf dessen Außenseite in der toten Sprache des Lateins »Gerechtigkeit« steht, pflege ich auf sie zu warten. Nicht immer wartet man als Inspektor der Abwässer allein. Oft warten Frauen und Kinder mit, dann stellt man sich am besten beim Kiosk auf, der gegenüber dem Portal liegt und wo sich Sonntagsbesucher mit Geschenken eindecken. Treten die Männer mit ihren Köfferchen heraus, klemmen sie gewöhnlich eine Erbauungsschrift unter den Arm, den Abschiedsgruß des Pförtners, ein Traktat, das manche sogleich in den Rinnstein werfen. Und die Männer, die oft gezögert haben, während der Besuchsstunde über den Tisch hinweg nach den Händen ihrer Frau zu greifen, packen diese nun auf offener Straße. Manche ziehen aus der Tasche ein Geschenk hervor, ein Pferd, einen Hund oder ein anderes Tier, aus Holz, wenn sie in der Schreinerei gearbeitet haben, aus Stoff, wenn sie in der Schneiderei tätig gewesen sind; die Männer haben basteln gelernt.
Tritt man dann als Inspektor der Abwässer hinzu, erschrecken sie oft. Manche befürchten, der Vertrag gelte nicht mehr. Nicht alle, mit denen Arbeit bei den Abwässern abgesprochen worden ist, bleiben bei der Vereinbarung. Kaum stehen sie vor dem Gefängnistor, höhnen sie über die Kanalisation. Aber mit denen, die es ernst meinen, redet man vorzugsweise über Vorreibebeschlüsse und Baugruben, diskutiert man Bruchlasten und Fällungsmittel. Vor allem, wenn man als zukünftiger Arbeitgeber allein wartet, ist das sachliche Gespräch über Arbeit in der ersten Stunde der Freiheit der Trost, den man als Mann dem Manne spendet. Und die Hand, die bei der Begrüßung gezögert hat, dankt beim Abschied mit allen fünf Fingern.
Die Karriere bei den Abwässern zwingt einen Inspektor zu einem regelmäßigen und geregelten Aufenthalt in einem hellen Büro, dessen Lamellenstoren, gegen die Sonne gebaut, vor dem Lichte schützen – es kommt einmal die Zeit, dann liegen die Tage zurück, an denen er nur für die Essenspausen aus den Kanälen an die Oberfläche stieg. Sollte einen zukünftigen Inspektor der Abwässer gelegentlich ein Gefühl wegen seiner Kanäle befallen, schlage ich ihm vor, sich vor Bürozeit in seinem Arbeitsraum am Fenster aufzustellen und durch die Lamellen zu den Baracken hinunterzuschauen und auf den Arbeitsbeginn zu warten: da fahren aus den Garagen die Wagen, die als Last einen eisernen Bauch tragen, aus dem ein Rüssel wächst, um den Schlammfang in den Straßenabläufen sauber zu saugen; da schieben sie die Karren, auf welche die Bockwinden festgebunden sind, und an den Winden baumeln die Korkenschwimmer, die die Bürste durch die Leitung nachziehen, und dann kommen sie, die die begehbaren Kanäle betreuen. Einzeln treten sie heraus, die Blendlaterne auf ihren Mützen, die Jüngeren tragen einen Helm aus Aluminium; die Abwässer-Kanäle gewöhnen nicht an einen Gang Schulter an Schulter, aber dicht marschieren sie. Ihr Schritt löst sich kaum vom Boden, schweigsam gehen sie, denn in den Abzugsschächten folgt jedem Wort ein Echo; so sprechen sie zu leise oder zu laut; sie verlernten, im Licht zu reden; mit griffiger Zärtlichkeit öffnen die Männer die Dolendeckel und die Eisengitter zu den Einsteigeschächten.
Als ich auf Ihren ausdrücklichen Wunsch, meine Herren, am Dienstag die Arbeit wieder aufnahm, vorläufig, wie Sie mir mitteilten, aber nur vorläufig, weil Sie mich für einen höheren Posten vorgesehen haben – als ich meine Arbeit wieder antrat, hatten sich alle Arbeiter eingestellt und standen in einem solidarischen Kreise um mich. Sie sagten kein Wort, obwohl ihnen auffiel, daß ich einen Hut trug; ich wollte die Schürfwunde an meiner rechten Schläfe verdecken. Meine Arbeiter legten es als Anteilnahme aus, daß ich jedem einzelnen die Hand drückte, sie konnten nicht ahnen, daß ich jeden betrachtete und mich fragte, wer von ihnen wohl mein Nachfolger werde, wenn ich das Inspektorat Ihrem Willen gemäß aufzugeben habe.
Lediglich mein einstiger Stellvertreter fehlte. Ich weiß nicht, in welchem Ausschuß er heute tätig ist. Ich weiß nur, daß er einen Rapport verfaßte, in dem er darlegte, daß das Warnsystem der Kanalisation mangelhaft und unbrauchbar sei. Ich erlaube mir, dieses Warnsystem zu verteidigen. Ich selber baute es aus. Ich ließ an den Kanalwänden in Gefahrenhöhe gußeiserne Kästchen anbringen; eine Quecksilberwippe im Innern bewirkt notfalls bei steigendem Wasserdruck, daß Schieber an bestimmten Kanalanfängen selbsttätig schließen, damit das Abwasser umgeleitet wird; wenn die Schieber diesmal versagten, waren es besondere Umstände.
Es ist richtig, daß die Keller- und Straßenüberschwemmungen, die nach dem Umsturz eintraten, eine Folge der verstopften Abzugskanäle waren. Nun steht fest, daß ich über vier Tage nicht im Amt war; das Inspektorat der Abwässer war verwaist. Eine solche Vernachlässigung mußte sich spürbar machen, wenn auch nicht notwendigerweise im Grade der eingetretenen Überschwemmungen. Doch muß ich eine allgemeine Bemerkung vorausschicken, wobei ich einen Fachmann zitiere, der einleuchtend darlegt, daß wir bei unserem Entwässerungsnetz jährlich mit zwei bis drei Überstauungen zu rechnen haben: »Die Entwässerungsleitungen so groß auszulegen, daß sie jeden überhaupt möglichen ›Wolkenbruch‹ unschädlich ableiten könnten, führt zu so erheblichen Leitungsabmessungen, daß die dafür aufzuwendenden Kosten unerträglich hoch werden.« (Zitiert nach Hosang »Stadtentwässerung«.)
Nun war es aber nicht der Regen, welcher die Überstauung herbeiführte. Ich muß hier festhalten, es waren Tote, die die Abzugskanäle verstopften. Flüchtende, die eingestiegen waren, ohne die Viertelstunde für die Frischluftzufuhr abzuwarten, andere, die im Dunkel erschraken und sich mit Feuerzeug und Streichhölzern den Weg suchten, nicht ahnend, daß das offene Feuer in diesem Untergrund lebensbedrohend ist, und andere, die der Regen überraschte. Wenn die Anlage der Kanalisation schon unerträglich hoch käme, um jeden Wolkenbruch abzuleiten, wie teuer käme sie erst, wenn sie bei jedem Umsturz folgenlos dienlich sein sollte.
Mit dieser Überstauung erklärt sich auch das Auftreten der Ratten. Diese mahnen uns Abwasserleute, daß im System etwas nicht in Ordnung ist. Plötzlich sind sie da, auf das Datum genau, wie sie einst in Europa datierbar auftraten. Da huschen sie vor unseren Augen, klettern an den glatten Wänden, vorzügliche Springer und waghalsige Schwimmer, faßbarer dem Ohr als dem Auge. Wo sie nagen, sind unsere Gewissensbisse. Frei von Ratten muß das Kanalsystem sein. Und doch ist es gerade unser Kanalsystem, das den Ratten die Bedingungen zum Gedeihen schafft. Wo immer wir einen Kanal bauen, stellen sie sich ein, rattentreu, wie sie einst dem Menschen auf den Schiffen in alle Kontinente folgten und von den Häfen aus mit den Entdeckern und Kolonisatoren in das Innere der Länder wanderten. Skrupellos zucken sie uns über den Weg, fortpflanzungswütig, weil verfolgt, und fruchtbar, da nicht geduldet; fünfmal werfen die Weibchen im Jahr, damit genügend da sind, bricht ein Damm, bebt die Erde oder findet ein Umsturz statt.
Wir Abwasserleute töten die Ratten. Sie sind Profiteure jener Unordnung, an die sie uns gemahnen. Unser Kanalsystem ist inzwischen wieder rattenfrei geworden. Wir zogen durch die Rohre Drahtseile mit Morgensternen, so groß wie die Durchmesser der Rohre. An diesen Morgensternen wurden die Ratten aufgespießt. Es freut mich, meine Herren, Ihnen dies mitteilen zu können.
Vielleicht war es das letzte Mal, daß ich der Pflicht der Rattenvernichtung oblag. Doch fürchte ich, daß meine Beförderung im Zusammenhang steht mit der Tatsache, daß ich in der Kartothek des früheren Sicherheitsdienstes namentlich aufgeführt wurde, ein Eintrag, dem ich auch die rasche Entlassung aus dem Gefängnis verdanke, wie Sie mir mitteilten. Ich frage mich, ob dieser Eintrag nicht einen Irrtum darstellt, ob er eine Ergebenheit vermuten läßt und eine Gesinnung, die von mir unwidersprochen zu lassen, zweckgemäße Hochstapelei wäre.
Ich erinnere mich an einen Besucher im Frühjahr. Die Klingel über meiner Wohnungstür schrillte, als hätte sie sich bereits mit dem Unbekannten vor der Türe verbündet. Nur Vertreter und Leute, die für Kollekten einziehen, pflegen am Abend bei mir zu läuten. Wenige meiner Untergebenen kennen meine Privatadresse. Der Mann vor der Türe stellte sich als Vertreter einer Firma für Kassenschränke vor. Ehe ich abwehrte, daß ich mein Gehalt den Monat über auf mir trage, nichts auf die Seite lege und über kein Vermögen verfüge, war er bereits im Gang meiner Wohnung, drückte die kunstlederne Mappe gegen seinen Bauch und stöhnte, ihm sei übel. Ich bot ihm auf dem zweiten Fauteuil Platz an. Da verlangte er ein Glas Wasser. Als ich es ihm holte, lehnte er an dem Tisch, auf dem meine Korrespondenz lag; es waren Prospekte von Firmen darauf, die mit Abwasser zu tun hatten. Er bat, einen Augenblick hinausgehen zu dürfen. Ich zeigte ihm die Türe, doch kam er vorher noch einmal zurück und nahm die Mappe mit. Ich setzte mich an einen Tisch und legte meine Patience weiter. Ich hörte, wie er die Türe zum Badezimmer öffnete und ohne einzutreten schloß, und dann hörte ich, wie er in das andere Zimmer trat. Ich wußte, daß er bald zurückkehren würde; denn in meinem Schlafzimmer stehen lediglich ein Bett, ein Nachttisch und eine Lampe. Als ich für eine schwarze Dame einen roten Buben suchte, stand er wieder hinter mir; ich hatte die Patience »Harfe« gelegt, die den Spieler durch ihre Anmut erfreut und dadurch, daß sie meistens aufgeht.
Bevor ich an jenem Abend ins Bett ging, stellte ich fest, daß mein Nachttisch durchsucht worden war. Dort bewahre ich alle Papiere auf, die jemals auf meine Person ausgestellt wurden. Dort liegt mein Geburtsschein, aus dem hervorgeht, daß ich der legitime Sohn eines Ehepaares bin, ein Schein bestätigt, daß man mich nach katholischem Ritus auf den Namen eines Heiligen und eines alleinstehenden Onkels getauft hatte. Dort stapeln sich die Schulzeugnisse, die Auskunft geben, in welchen Fächern ich unterrichtet worden bin und mit welchem Zensurenerfolg. Ein Diplom erinnert daran, daß ich Abendschulen besuchte. Mein Paß liegt dort, mit einer Photographie, die schon nicht mehr auf mein Gesicht zutraf, als sie eingeklebt wurde. Ein rotes Büchlein findet man; darin sind die Tage aufgezeichnet, an denen ich in Uniform dem Vaterlande diente. Und vor allem bewahre ich dort meine einstige Ernennung zum Inspektor der Abwässer auf, ebenso legte ich da Ihren Brief hinein, mit dem Sie mich aufforderten, dieses Gutachten zu schreiben. Sollte ich jemals verschwinden, gibt diese Schublade genügend Auskunft darüber, daß ich kein anonymes Wesen war.
Ich wunderte mich damals, was man in dieser Schublade finden konnte, das für meinen Besucher von Bedeutung hätte sein können. Alte Rechnungen liegen noch darin, Einzahlungsscheine, ungültige Fahrkarten, Postquittungen, ein Adressenbuch, das nie nachgeführt wurde. Es dauerte, bis ich den kartonierten Umschlag in die Hand nahm, auf dem »Negative« geschrieben stand. Der Umschlag war leer. Der Mann hatte in Eile gearbeitet und die beiden Aufnahmen nicht einmal näher betrachtet. Ich leide an chronischem Stirnhöhlenkatarrh; der Besucher vom Sicherheitsdienst hatte die Röntgenaufnahmen meines Kopfes an sich genommen.
Daß mein Name in der Kartothek des Sicherheitsdienstes aufgeführt wurde, war mir unbekannt, bis Sie es mir sagten. Es wundert mich, daß ein Sicherheitsdienst seine heimliche Aktivität für einen Inspektor der Abwässer aufwendet. Nun möchte ich aber, was meine Person betrifft, nicht verschweigen, daß es Polizeiakten über mich gibt; ich leugnete es einmal; aber ich gab es zu, als man mich bei den Abwässern anstellte, ich kam freiwillig darauf zurück, als man mich zum Inspektor der Abwässer ernannte, ich verheimliche es auch jetzt nicht, obwohl ich vermute, daß dieser Besuch weniger mit meinen persönlichen Taten zusammenhängt als vor allem mit meiner Arbeit und meinem Dienst.
Einmal, meine Herren, bin ich geflohen, obwohl mein Weggehen weder heimlich noch plötzlich, sondern vorbereitet und vor aller Augen sich vollzog. Ich arbeitete damals noch nicht bei den Abwässern, sondern war in einem Privatbetrieb angestellt. Ich kündigte meine Stelle termingerecht, ich war auf Wunsch sogar eine Woche länger im Dienstvertrag geblieben. Ich hatte mein Mietzimmer vorschriftsgemäß aufgegeben und eine Woche Hotel nicht gescheut. Ich hatte das Radio und den elektrischen Rasierapparat, die ich auf Teilzahlung erworben hatte, den Firmen zurückerstattet. Ich hatte auf der Einwohnerkontrolle vorgesprochen, auf jenem Büro, dessen Beamter für alle zuständig ist, deren Nachnamen mit dem gleichen Buchstaben wie der meine beginnen. Doch der Mann in der weißen Schürze verlangte von mir eine Quittung für die bezahlten Steuern des laufenden Jahres. Hätte ich mich losgekauft, hätte ich kein Geld mehr für meine Flucht gehabt. Also meldete ich mich nicht ab; ich führte eine Adresse, an der ich nicht wohnte. Denn an einem Junimorgen verließ ich die Stadt; nicht bei Nacht und Nebel, wie später ein Polizeiwachtmeister mit Berufsromantik schrieb.
Mit der Straßenbahn fuhr ich an die Peripherie. Dorthin, wo Schrebergärten sich das Land aufteilen, wo sich Hütten aus Abbruchholz und Dachpappe hinter Holunder und Beerenbüsche ducken; Königskerzen trieben Wucher auf dem noch nicht gepflasterten Trottoir, ein Baugespann skizzierte ein Haus in die Luft, Arbeiter rissen den Straßenbelag auf und legten einen Graben. Es war die Wiese vor dem Schwesterholz, wohin der Kanal führt, über den sich in den letzten Tagen so viele retten wollten, jene Wiese, auf der ich später das Klärwerk bauen sollte und wo ich vor einigen Tagen die Toten aufbahrte, die wir aus dem Kanal trugen.
Als ich im Winter zurückkehrte, wollte man wissen, weswegen ich weggegangen sei und was ich getrieben habe und vor allem, was meine Rückkehr bedeute. Der eine der beiden Männer, die morgens um sechs Uhr an meine Hotelzimmertüre klopften, packte prüfend meine Sachen in den Koffer und forderte mich verständnisvoll auf, besser gleich zu gestehen. Ich hatte die Meldevorschrift vernachlässigt, ich hatte einen besonderen Militär-Schulungskurs für meinen Jahrgang versäumt; von seiten unserer Stadt lag eine Forderung vor; meine einstige Zimmervermieterin hatte mich auf Schadenersatz für zwei Brandstellen auf der Kommode eingeklagt und für einen Fleck im Teppich. Der Polizeiwachtmeister suchte nach einem Grund für mein Untertauchen, indem er von einer Deckadresse sprach. Er legte mir dar, der Mensch brauche eine Adresse, ohne Adresse sei er nicht erfaßbar, auf einen anständigen Menschen aber dürfe man greifen. Als ich ihm erwiderte, mich habe niemand gesucht, bestand er darauf, daß der anständige Mensch auch dann eine Adresse führe, wenn ihn niemand suche; meine Herren, seitdem ich bei den Abwässern arbeite, führe ich eine gültige Adresse.