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Er war berühmt, nur wußte dies niemand. Aber er hatte noch ein ganzes Leben vor sich. Philipp, zwischen Schulabschluß und Berufsausbildung stehend, von der Großen Bühne träumend, jobbt einen Sommer lang als Bademeister. Philipps erste Saison in einer Zürcher Seebadeanstalt, in der sich die Figuren unserer Gesellschaft programmreiche Blöße geben, ist auch die Saison einer zarten Liebe.
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Seitenzahl: 489
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hugo Loetscher
roman
Diogenes
ER WAR BERÜHMT, NUR WUSSTE DIES NIEMAND. Aber er hatte noch ein ganzes Leben vor sich. Im Augenblick quälte ihn die Sorge, wie es mit der Miete läuft.
Er erlebte nicht zum erstenmal eine Krise. Als Theatermann hatte er Defizite erwirtschaftet. Und dies in kürzester Zeit. Insofern nahm er es mit renommierten Häusern auf, auch wenn er nie den Vorteil eines Schauspielhausdirektors genoß, die Revolution, die er inszenierte, mit öffentlichen Geldern subventionieren zu lassen.
In seiner Notlage war er einmal mit der Kasse auf und davon. Bei seinem Einmannbetrieb hatte er sich um die Skandale selber zu kümmern. Die Szene ›Buchhalter brennt durch‹ ließ er sich nicht entgehen. Die Augen hinter einer dunklen Brille versteckt, den Mantelkragen hochgestellt, in eine Einkaufstüte verpackt das Zigarrenkistchen mit dem verräterischen Klimpern – er wechselte dreimal das Taxi auf der Flucht zum Bahnhof. Am Schalter murmelte er: »Einmal einfach zweite Klasse.« Als der Beamte sich erkundigte: »Wohin?«, wandte er sich ab. Er setzte sich auf einen Betonklotz, mehr Sperriegel als Bank. Am sichersten war, sich dort zu verstecken, wo einen niemand vermutete, mitten in der Bahnhofshalle unter der Tafel ›Treffpunkt‹.
Was, wenn der, der eben hinter der aufgeschlagenen Zeitung hochsah und der betont unauffällig dastand, als arbeite er für den Schweizerischen Geheimdienst – was, wenn der Regenmantel-Typ ein Detektiv ist und ihn in der nächsten Minute verhaftet? Oder besser: Was, wenn er ausgeschrieben wäre, auf den Leuchttafeln sein Name auftaucht, und überall, wo sonst Reiseziele angegeben werden, ›Philipp‹ zu lesen ist und wenn per Lautsprecher auf jedem Bahnsteig pausenlos sein Signalement durchgegeben wird.
Vielleicht war es sein Schicksal, als Verbrecher berühmt zu werden. Müßte er es in dem Fall mit denen aufnehmen, die am heutigen Tag Schlagzeilen machten? Da war der, welcher Leichen zerstückelte und sie abgepackt im Eisschrank aufbewahrte. Oder der gute Onkel, der auf dem Schulhof vergiftete Bonbons verteilte und von Dealern beseitigt worden war. Wo sollte er, der bei der Musterung zurückgestellt worden war, das Sturmgewehr hernehmen, um im Supermarkt auf Leute und Regale zu schießen?
Es war nicht einfach, das Bisherige zu übertreffen. Die einheimische Kriminalität hatte den Anschluß ans internationale Niveau geschafft. Die gute alte Alpenzeit mit Inzest und Inzucht war vorbei. Er mußte, wenn schon, anderes bieten als die Vorfahren, die, es war einmal, sich damit zufriedengaben, Milch mit Wasser zu verdünnen, Grenzsteine zu versetzen oder Erbangelegenheiten durch Jagdunfälle zu regeln.
Abwechslungsreich und breit war die Spannweite von Korruption, die sich in Verwaltung und Politik anbot. Aber es wäre ihm zu monoton vorgekommen, sich als Beamter im Bauamt von Lohnklasse zu Lohnklasse hochzudienen, um ans happige Schmiergeld zu kommen: hier eine Bewilligung erteilen, dort eine Einsprache abblocken und zwischendurch Sondergenehmigungen herausmogeln.
Wenn er ans letzte Schulhalbjahr dachte, hatte er nicht ohne Eifer bei Alternativprogrammen mitgemacht, die sie für den Fall entwarfen, daß sie die Examen nicht bestanden: Da hatten sie auf dem Pausenplatz Groß-Coup bei einer Groß-Bank gebüffelt. Allerdings hatte er sich schon damals gefragt, was er für den Rest des Lebens an einem karibischen Swimmingpool sollte. War dieses Drehbuch nicht längst geschrieben? Inbegriffen das Inserat im Kontaktanzeiger: Gesucht Frau zum Pferdestehlen und für Banküberfall. Diskretion zugesichert. Bild wird umgehend zurückgeschickt.
Jedenfalls nicht ein Verbrechen verüben, dessen Urheber nie ausfindig gemacht wird. Kam man ihm nicht auf die Spur, wie sollte die Welt erfahren, daß er, Philipp, es war, der den genialen Streich vollbrachte. Nicht erwischt werden hieß noch lange nicht ein intelligenter Täter sein.
Das war die Tragödie aller Berühmten. Man war auf Echo angewiesen. Das war nicht sehr ermutigend, wenn er sich in seiner näheren und weiteren Umgebung umsah und feststellte, wofür einer Applaus erhielt. Berühmt für sich allein, das wäre leichter zu bewerkstelligen.
Was aber, wenn er dem Ruhm zuliebe zur Gegenseite überginge? Unter den berühmten Zeitgenossen hatten manche die Front gewechselt, einige die Gesinnung mehr als einmal; dies hatte ihrem Ansehen nicht geschadet, sondern war ihnen förderlich gewesen. Was, wenn er die böse Tat nicht begeht, sondern ahndet, nicht als Gejagter unterwegs ist, sondern als Jäger, der in Kauf nimmt, in der Billigstklasse zu fliegen, während der Gesuchte sich in der ersten bei Champagner und Kaviar lümmelt. Ausgerüstet mit Lupe und dem Set für Fingerabdrücke, in alter Fahndermanier, jedoch angeschlossen ans internationale Funknetz, und im Gepäck die Einschleus-Garderobe: Lumpen und Frack, um sich dem Verbrechermilieu entsprechend einzukleiden. Ein Kriminaler, dem man seine Mission nicht ansieht, der zivil herumsteht, zum Beispiel im Zürcher Hauptbahnhof, wie der Kerl, der vor ihm noch immer in der Zeitung blättert und der trotz einem kurzen Blick über den Zeitungsrand nicht zur spontanen Erkenntnis gelangt: Der da vorn auf dem Zementwürfel, mit seinem Zigarrenkistchen, mit Sonnenbrille und hochgestelltem Mantelkragen, ist das nicht der berühmt-berüchtigte Philipp?
Vorläufig hielt es Philipp mehr mit der Gerechtigkeit, die auf der Bühne spielt, als mit der, welche man im Gerichtsaal aufführt. Er hatte es stets bedauert, daß hierzulande die Richter nicht mit Barett und im Talar auftreten und sich keine Perücke aufsetzen und sich daher nicht theatergerecht kleiden. Er war jederzeit bereit, ad interim als Ausstattungschef der Rechtsprechung den juristischen Fundus zu erweitern. Weshalb sollte ein Richter bei Ehescheidung das gleiche Grau tragen wie bei Totschlag? Für Hochstapelei zum Beispiel stellte sich Philipp etwas dezent Kariertes vor und für Subventionsschwindel etwas Hemdsärmeliges.
Auf was es auch hinauslief, am Ende bot sich noch immer die Möglichkeit von Memoiren. Offen blieb, unter welchen Bedingungen er sie verfassen wird. Das Schicksal mancher Berühmter vor Augen, mußte er ein tristes Ende einkalkulieren. Es gab Berühmte, die waren in einem Massengrab verscharrt worden. Solche Gefahr drohte heute kaum. Die Bestattung war durchs Sozialamt gesichert, wenn auch im Reihengrab. Und wo stand geschrieben, daß Philipp zu dem Typ gehörte, der erst verhungern muß, bevor er Anerkennung findet. Es war auch nicht richtig, daß alle, die Ruhm erlangten, jung starben, weil die Götter sie als Lieblinge früh heimholten. Philipp war durchaus willens, ein Alterswerk vorzulegen. Wenn es so weiterging wie bis jetzt und immer mehr Leute anfingen zu spinnen und die Gesellschaft selber zur offenen Anstalt wurde, war das Irrenhaus weniger zu fürchten. Warum sollte er nicht seine Lebensgeschichte vom Ohrenfauteuil aus diktieren, wenn es sein mußte, im Rollstuhl, vielleicht mit regelmäßiger Kalzium-Zufuhr fürs Erinnerungsvermögen?
Vorläufig ging es darum, etwas zu erleben, an das zu erinnern sich lohnte.
Philipp sah auf die Uhr. Die Zeit verfloß nicht; sie hüpfte über ihm auf dem Megazifferblatt von Strich zu Strich. Das Rundherum schien die Zeiger zu ermüden. Sie legten nach jeder vollendeten Minute eine Verschnaufpause ein.
Vorläufig saß er unterm ›Treffpunkt‹ und sah zu, wie auf der Anzeigetafel für die Abfahrten die oberste Informationszeile im Dunkeln verschwand und wie mit Geklapper die unteren Linien nachrückten, bis auch sie ganz oben anlangten; war ihre Stunde und Minute gekommen, kippten sie nach hinten, es drängten Zahlen und Buchstaben nach, deren Zug noch nicht abgefahren war.
Philipp zählte nach, was in der Kasse lag. Es hätte für mehr als eine Wurst gereicht. Mit einem Hotdog gab er sich zufrieden. Kauend sah er sich um. Als er den Blick hob, entdeckte er vor einem Perron über dem Prellbock das Poster.
Ein junger Mann zeigte einem fröhlichen Mädchengesicht sein kariesfreies Lächeln, da er den zuckerlosen Kaugummi seines Lebens gefunden hatte. So einnehmend wie sein Altersgenosse auf dem Plakat war Philipp auch imstand zu strahlen; gäbe er sich Mühe, müßten sie die Plakate höher hängen, damit nicht ganze Schulklassen von Teenagern hinaufkletterten, um sich ein Fetzchen von seinem Abbild wegzureißen. Fußgänger würden auf den Zebrastreifen erstarren, kein Autofahrer und schon gar keine Autofahrerin auf Vorfahrt und Spurenwechsel achten. Ein Fluidum von Stau, Kollision und Auffahrunfällen. Und er weit oben über allem Hupen, unter sich die Sirenen der Ambulanz und die Blaulichter der Polizei.
Da fiel ihm sein einstiger Mitschüler Joe ein. Der hatte gleich nach der Matura bei seinem Bruder eine Stelle angetreten, in einer Firma der Werbebranche, die auch ein Büro für Vermittlung von Gesichtern unterhielt. Hatte Joe ihm nicht einmal, als sie sich zufällig trafen, den Nachsatz hingeworfen: Er solle sich bei Gelegenheit melden? An die Adresse erinnerte Philipp sich nicht, er wußte jedoch, wo ungefähr die Villa lag, die sie umgebaut hatten, Jugendstil mit Backsteintürmchen am Zürichberg. Statt weiter durchzubrennen, ließ Philipp Würstchenstand und Bahnhofshalle hinter sich und begab sich auf die Suche nach der ›Face Casting AG‹.
Im Vestibül hatten sich Mondgesichter versammelt, Köpfe in Form einer Birne und andere mehr wie Kürbisse. Quadratschädel und schiefer Mundwinkel. Bleichgepudert, sonnenverbrannt und voll Sommersprossen. Sie schauten aus Mandelaugen und Schlitzaugen, über Tränensäcke hinweg und zwischen Krähenfüßen durch. Neben Knollen und Haken ein Himmelfahrtsriecher. Gesichter mit Vollbart, Fransen und Schmachtlocken, die Brauen wegrasiert und die Schädel geschoren. Denkerstirn und Doppelkinn. Einer trug als Gallionsfigur eine Warze, ein anderer zeigte als Spezialität eine Hasenscharte, und einem dritten lief quer über die Wange die Narbe von einer Wunde, an der ein Jung-Arzt geübt hatte.
Philipp verdrückte sich in eine Ecke. Von dort holte ihn die Sekretärin. Sie trug seine Personalien ein unter der Rubrik ›Gesichter, die nach nichts aussehen‹. Ein solches war gefragt, als Begleiter eines populären Käses: ein stilisierter Laib mit stilisierten Löchern. Durch eines sah Philipp als Jedermann in die Welt. Wie eine Maus, die nascht. Joe führte es vor, und Philipp, als Theatermann ein einfühlsamer Nager, ahmte es nach; er piepste so natürlich, daß der Team-Kater auf der Registratur erwachte, sich duckte und lauerte.
Er begegnete sich zuerst hinter dem früheren Zeughaus, an einem Ort, wo er sonst kaum vorbeikam; er war auf sich aufmerksam geworden, weil er einem Hund nachschaute, der einem gelblichen Zottelbär glich und sein Bein an einer Plakatwand hob.
Philipp begann die Sightseeing-Tour seines Konterfeis dort, wo alles angefangen hatte. Wo einst einer wegen eines Kaugummis glücklich lächelte, sah nun er, Philipp, durch ein Käseloch in die Bahnhofshalle. Gleich zweimal vor einem Perron, die Prellböcke im Rücken. Er stellte sich diskret daneben. Die meisten eilten daran vorbei. Erstaunlich, daß eine Riesenleinwand für Slapstickszenen aus Stummfilmen benutzt wurde: Badenixen kniffen ihre Knie zusammen und schäkerten lautlos. Da stand es im Untergeschoß, im Shopville, schon besser um die Plakatinformation, obwohl sich Philipp fragte, was die Blondine solle, die sich auf einer Matratze räkelte, und war es zwingend, daß eine Gebirgskette die Fläche von drei Plakaten beanspruchte, die Berner Alpen nahmen schon in Natur viel Platz weg. Von weitem erblickte er das Hungergesicht; neben dem Spendenaufruf in Schwarzweiß wäre ein Käseplakat nicht deplazierter gewesen als die Frau, die für die Übersommerung von Pelzen warb. Der Rundgang am Wartesaal und an den Toiletten vorbei brachte nichts Neues, als ob die Welt nur Mineralwasser und Unterhosen benötigte.
Als er unterm Bahnhofsportal die Stufen hinabstieg, blieb er einen Moment stehen, umgeben von einem Chor fluchender Taxichauffeure. Er sah zu einem Berühmten hoch, der mitten auf einer Verkehrsinsel in untadeligem Gehrock von einem Sockel heruntersah, ein Eisenbahnkönig, der völlig gebannt den Blick nicht von Rolltreppen, Zebrastreifen, Ampeln und Tramschienen ließ. Er zeigte keine Ermüdung, obwohl er seit dem letzten Jahrhundert da oben stand. Sollte Philipp die Möglichkeit haben, bei seinem Denkmal mitzubestimmen, würde er, ob Bronze oder Stein, eine Sitzgelegenheit vorziehen. Während er sinnierte, setzte sich eine Taube dem Standbild auf den Kopf; sie ließ etwas fallen, und der Berühmte weinte eine weiße Träne.
Sicher, ein Plakat war kein Denkmal. Immerhin – er war für vier Wochen öffentlich in Erscheinung getreten. In Weltformat und vierfarbig. Zum ersten Mal hatte er Kartonrollen gekauft, um Plakate zu verschicken, eines sicher nach Berlin. Wenn jemand davon Kenntnis nehmen mußte, war es Lotty. Und ihr jetziger Freund, der Pfannkuchen.
Die ›Face Casting AG‹ bot nicht den Verdienst, den er sich erhofft hatte. Jedes Mal, wenn er vorsprach, bedauerte Joe: Im Moment sei anderes gefragt, besser, wenn er vorher anrufe. Bei jedem Telefonat wurde er auf später vertröstet. Wieder einmal in der Klemme, fragte sich Philipp: Ob später nicht jetzt sei. Er mußte liquidieren; er machte die Erfahrung, daß Liquidieren kostet. Nicht einmal sich Ruinieren war umsonst.
Die Sekretärin fuchtelte mit den Händen, sie irrte von Büro zu Büro und nahm Philipp kaum zur Kenntnis, doch sie erinnerte sich dunkel: »Ach ja, Käseunion.« Er verdrückte sich auf den Stuhl, von wo ihn schon einmal das Glück geholt hatte. Gerade als Philipp sich anschickte, unverrichteter Dinge zur Tür hinauszuschleichen, stolperte Joe herein, seine Jacke nachschleifend, er stützte sich auf einen blonden Schönling, der sich seinerseits an ihm festhielt. Beide lallten ein heiteres Hali-Halo und gaben sich amerikanisch »hi«. Die haben bei der Vorbesprechung wieder gesoffen – die Sekretärin griff sich an den Kopf: Die Kameraleute kosten so oder so. Das blondlockige Model ließ sich auf einen Sessel fallen und war nicht mehr wachzurütteln.
Da zerrte Joe Philipp ins Studio und forderte ihn auf, die Jeans herunterzulassen. Erst als die Sekretärin die Badehose hinhielt, griff Philipp nach Knopf und Reißverschluß. Eine schwarze Badehose, auf der linken Seite unten ein gelber Laubfrosch, der zum Sprung über die Geschlechtspartie ansetzt und sich hinten auf der rechten Backe niederläßt. Zwei Aufnahmen – eine von vorn und eine von hinten. Die Visagistin bat ihn, die Schenkel zu spreizen; sie bronzierte die Innenseite bis zu den Kniekehlen; dann verhalf sie dem Nabel mit schwarzer Tusche zu Profil und Charakter und kämmte die Härchen um die Brustwarzen. Als Philipp mit gespreizten Fingern durch seine Frisur fuhr, wurde ihm bedeutet: Oberhalb des Halses komme nichts aufs Bild, Kopf sei nicht gefragt, eventuell noch Adamsapfel.
Nach dem ersten Kontrollblick durch die Kamera, stöhnte der Photograph: Da unten sei alles eine einzige Sauce. Der Vertreter der Firma ›David und Apoll‹ zog Philipp in eine Ecke. Als er ihm den Schwanz mit Gaze umwickelte, spürte Philipp, daß er gerne und noch lange weitergewickelt hätte; daß er für die Prozedur eine Brille aufsetzte, ärgerte ihn. Sie klebten das gewickelte Würstchen mit Leukoplast in Schräglage fest. Der Photograph bat, ein klein wenig mit Watte nachzupolstern, und zeigte sich begeistert. Dank dem Einfallicht von rechts modulierten sich Schatten, in Andeutung und nicht zuviel – mit dem Ding könne sich jedermann identifizieren.
ZOG PHILIPP AM MORGEN DEN VORHANG, trat vor dem Fenster das Wetter auf; dieses fand statt, auch wenn Philipp den Vorhang nicht zur Seite schob. Auch ohne ihn zu betätigen, wußte er, was sich draußen tat. Das Radio informierte zusätzlich über das, was ihn nicht interessierte – wo man in Europa schwitzen würde und wo einem zum Regenschirm geraten wurde.
Der Vorhang, über den Philipp verfügte, hing an tauben Messingringen, eine Gardine mit einem Schwanenmuster; wegen der eingenähten Falten waren manche der Tiere um Schnabel und Bürzel gekommen. Bei diffusem Licht schwammen die Vögel auf verblaßtem Blau, der Vorhang verwandelte sich in einen See; kam Wind auf, kräuselte sich der Stoff, und er bauschte sich zu stürmischen Wogen. Am Ufer des bedruckten Baumwollsees, einem Saum mit loser Naht, hatte Philipp die Geliebte über die Vergänglichkeit der Wellen klagen lassen.
Der Vorhang hing über einem schmalen Fenster. Philipp hatte es vergittert, als der gefangene Held an Joghurtbechern und Aluminiumdosen vorbei ein Stück Himmel suchte, den die Wäschestangen und Fernsehantennen auf der Zinne des Nachbarhauses verstellten. Und bei Bedarf hatte Philipp den Sims zum pompösen Balkon umgebaut, als der Potentat sein Wort ans Volk richtete, das sich vier Stockwerke tiefer im Hinterhof zwischen Kinderwagen, geparkten Motorrädern und Mülltonnen drängte.
Das Zimmer ließ sich vielseitig nutzen. Das Ofenrohr hatte er als Kanone vor dem Regierungspalast auffahren lassen; die Lacher waren ihm sicher, als die Kugel direkt vor der Mündung zu Boden kullerte. Am gleichen Ofenrohr hatte sich einer der Verschworenen über den Abgrund gehangelt. Noch waren von seinem Sturz auf dem Inlaid Blutspuren zu sehen, mit dem wohligen Geruch von Bohnerwachs.
Hinter der Kommode waren die Verliese. Aus Moder und Schimmel stiegen Klagen und Wehklagen empor. Auch der Schrei des Poeten. Der hatte unter der Folter geschwiegen; als er nach der Befragung auf dem Rundgang im Gefängnishof sah, wie sie seinen Genossen mit Elektroschocks zugerichtet hatten, blieb er nicht länger stumm. Dort unten, neben dem Doppelstecker, auch ein Riß in der Mauer, der bröckelnde Eingang zu einer Grotte oder Höhle, wo Vertriebene Unterschlupf fanden und wo Kisten mit Goldmünzen und Truhen voll Schmuck lagen für den Fall, daß in einem späteren Stück ein Schatzsucher vorgesehen war.
Für die Verfolgungen hatte Philipp die Stehlampe eingesetzt. Dabei war er einmal mit der Glühbirne zu nahe an den Lampenschirm gekommen, sie hatte den Stoff angesengt. Philipp wurde bewußt, daß er in seinem Theater auch die Rolle des Feuerwehrmannes zu übernehmen hatte. Es sei denn, er wollte berühmt werden, indem er ein renommiertes Haus anzündete.
Mit einer Stehlampe allein war für die Beleuchtung nicht auszukommen. Sollte der Rebell in der Schlucht zwischen Fauteuil und Sportsack seine Aufrufe im Schein einer Kerze schreiben, die flackert, sobald Philipp als Inspizient den Strahler auf Ventilationsgebläse umstellt? Oder wirkte es lebensnaher, wenn der Aufständische seinen Liebeszettel im maroden Licht einer Taschenlampe kritzelt, die er beim geringsten Laut auslöscht, so daß die Zuschauer im Dunkeln mitfiebern, was sich tut, wobei sich raffinierterweise nichts tut – vielleicht, wie der Tonmeister in ihm vorschlug: der verlorene Ruf eines Käuzchens?
Im großen und ganzen gab sich Philipp zufrieden mit dem, was er an Requisiten und Kulissen mitgemietet hatte. So brauchbar sein Einzimmertheater war, es lag ungünstig. Am Ende eines Flurs. Gleich daneben befand sich die Toilette. Als sein Rebell an die Ausgebeuteten appellierte, hatte er gegen die Wasserspülung anzukämpfen; sein letztes vielzitiertes Wort, sein verzweifeltes »Was soll’s«, ging unter, weil die Vermieterin nebenan an der Kette zog.
Philipp lehnte sich zurück, das Knie gegen die Tischplatte gestemmt, zur Konzentration an einem Bleistift knabbernd. Er schaukelte auf den Hinterbeinen des Stuhls.
Von dieser wackeligen Position aus hatte er als Regisseur auf einer natürlichen Sprechsituation beharrt: Vor einem Waschbecken sollte der Hauptdarsteller, den Rasierpinsel in der Hand, sein Spiegelbild ansprechen: »Gehörst du mir? Gehör ich dir?« Vom gleichen wackelnden Stuhl aus hatte Philipp die junge Naive zur Schminke zurückgeschickt; ihr Gesicht war so weiß gepudert, daß sie bei der Schreckensnachricht nicht erbleichte. Wippend hatte Philipp auch souffliert: »Kapiert – nicht kopiert, kaaaaaapiert.«
Von hier aus hatte er der Premiere entgegengefiebert von ›Der Rebell und der Diktator‹, ein, wie er es nannte, »vielleicht historisches Stück aus jüngster Zeit«. In seinem Theater gab es nur Uraufführungen, und dies war die erste. Erwartungsvoll war er dagesessen – als Direktor in der Loge und als Fan auf dem Klappsitz, da alle Plätze ausverkauft waren. Nur der Platz für Lotty blieb leer.
Einmalig der stumme Auftritt im Regierungskabinett. An der Wand, neben einer flächendeckenden Weltkarte, das Fahndungsplakat des Rebellen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Philipps Konterfei aufweist. Der Diktator wühlt in einer Schatulle; er zieht ein Bündel Banknoten hervor, zeigt auf die Belohnungssumme unter dem ›Gesucht wird‹ und hält die Geldscheine dem Publikum hin; unter den Zuschauern findet sich kein Verräter und keine Verräterin. Der Diktator schleicht um das Poster, brüsk dreht er sich um, er wagt nicht, dem Bild den Rücken zu kehren, und ballt die Faust. Bis er nach dem Taschenmesser greift, die Ahle aufklappt und mit ihr die Augen des Rebellen aussticht. Der Diktator erstarrt: Blut spritzt auf seine Brust, was technisch nur halb gelöst war. Der Diktator stürzt von der Bühne. Sein Schrei schreckt den Wachoffizier auf. Der, ebenfalls herbeistürzend, erblickt die zerstochenen Augen: »In diesem Land blutet das Papier«, und er wendet sich ans Publikum: »Wenn ich Diktator wär …« – worauf der Schlußvorhang fällt.
Nichts als schnöde Bemerkungen hörte Philipp, als er im Foyer bei der Garderobe anstand, die hinter der Türe angebracht war und von wo er, dem Andrang Rechnung tragend, Pyjama und Trainingsanzug weggehängt hatte.
Da Philipp auch für das Echo in der Presse sorgte, schrieb er den Verriß selber: Warum der Offizier nicht sage, was er täte, wäre er Diktator, ein solches Kneifen klammere jede Zukunftsperspektive aus, der scheiternde Rebell habe mit seinem »Was soll’s« am Schluß auch schon die Rezension von Stück und Aufführung verfaßt. Unter sechs Zeitungsspalten Hohn und Häme tat er es nicht.
Nachdem Philipp die Kritik gelesen hatte, ließ er sich einen Abend lang vollaufen. Am andern Morgen frühstückte er Tabletten und schrieb danach einen Leserbrief an sich: »Warum sollte ein Diktator nicht zu einem schweizerischen Soldatenmesser kommen, dieses weltweit anerkannte Nutzprodukt fällt nicht unter das Waffenausfuhrverbot, zudem sei eine Diktatur selten ein Krisengebiet, da dort Krisen unterdrückt würden.« Er begann seinen Leserbrief von neuem. Um jede redaktionelle Kürzung zu verunmöglichen, beschränkte er sich auf einen Satz: »Über einen jungen hoffnungsvollen Mann fällt man nicht auf fahrlässige Weise her.«
Wieder einmal auf seinem Wackelstuhl, spielte Philipp mit dem Stapel von Heften, Zeitungen, Ausschnitten und Notizen. Er zog ein Wachstuchheft hervor. Er fuhr mit dem Handrücken über den Deckel, als ließe sich die Ringspur einer Kaffeetasse wegwischen. Er blätterte in dem Heft ›Mein letztes Jahrzehnt‹. Sein nächstes Projekt: ein Welttheater mit lokaler Beteiligung. Hier trat auf, wer ihm seit seinem zehnten Lebensjahr bis heute begegnet war. Imposant schon das Verzeichnis der Personen, die er gestrichen hatte. Viele verdienten nicht, dank ihm auf die Bühne zu kommen, nicht einmal als Halunken und Panduren. Auch nicht der Altbackene, der Lehrer, der ihn beinahe hätte durchfallen lassen, nun war es an ihm, Philipp, durchfallen zu lassen. Vom Stück selber lagen erst einige Zeilen Entwurf vor. Hingegen hatte Philipp die Applausordnung festgelegt, die genaue Reihenfolge, in der er vor den Vorhang treten wird.
Philipp riß einen Brief auf. Wie der Umschlag verhieß, war darin Post von der Krankenkasse, die sich hartnäckig an ihn erinnerte. Er heftete die Mahnung neben andere Rechnungen an die Wand. Dort hingen der Ausleihschein der Bibliothek und der Abholschein für die Chemische Reinigung, eine Postkarte, die einzige, die Lotty aus Berlin geschickt hatte; neben ihrem goldenen Engel auf einer Siegersäule ein Prospekt für Heimvideo. Er zerriß das Kuvert und ließ die Fetzen in eine Kartonschachtel schneien; sie diente ihm als Archiv für Kassiber, Slogans, Todesurteile und Liebesbriefe.
Erst jetzt knüpfte Philipp das Paket auf. Er tat es mit einer Sorgfalt, die ihn an die Christbaumstimmung seiner Mutter erinnerte (»die Schnur kann man nächste Weihnachten wieder verwenden«). Er nahm aus dem Paket die Badehose und ein Frottiertuch. Auf ihm setzte ebenfalls ein gelber Laubfrosch zum Sprung an, von der unteren Ecke links in die obere rechts. Das Badetuch war für die Aufnahme nicht verwendet worden, aber es bildete mit der Hose ein Ensemble – ein Zusatzhonorar mit dem Kompliment der Firma, wie der Vertreter von ›David und Apoll‹ beim Überreichen bemerkt hatte. Philipp hängte die Hose an den Zeigefinger und ließ sie wirbeln. Er sah zur Decke. Die bräunlichen Wasserflecken hatten als Sternbilder seinem jungen Helden aus dem Stück, das durchgefallen war, auf der Suche nach einem Asyl die Route von der einen Zimmerecke in die nächste gewiesen. Philipp spekulierte, was für einen Weg die Zeichen ihm wahrsagten.
DER ÜBERSEEKOFFER STAND AUF EINER SEITENFLÄCHE, die beiden Flügel aufgeklappt. Links das Abteil mit den Schubladen, als Griffe Seidenbändchen, rissig verblichenes Rosa, zum Teil mit Reißnägeln fixiert. Schubladen mit allem drin, was sich an Socken, T-Shirts, Unterhosen und sonst an Wäsche hineinstopfen ließ. Das oberste Fach halboffen. Büroklammern und nicht ganz ausgequetschte Tuben, Zündholzbriefchen mit dem Firmenaufdruck von Bars und Restaurants, eine angebrochene Packung Präservative und in Plastik geschweißte Batterien.
Unter den Requisiten für Theater und Alltag ein schweizerisches Militärmesser: eine Ahle, mit der ein Diktator einem Rebellen die Augen ausstach und mit der Philipp die Fingernägel putzte oder in einen Gürtel ein Loch bohrte; ein Schraubenzieher, mit dessen Hilfe Philipp einem Stecker zu Kontakt verhalf und den er einem Hungerleider auslieh, um einen Supermarkt zu knacken. Und natürlich die Klingen, die große als Stichwaffe, Richtschwert und Wurstverteiler, und zusätzlich die kleine für den Dolch im Gewand und um einen Briefumschlag aufzuschneiden; zudem ein Dosenöffner für alle Eventualitäten des Ernstfalls.
Das andere Abteil mit dem Messingtäfelchen der Londoner Firma ›especially made for …‹. Für wen, war nicht mehr zu entziffern. Die Messingstange angelaufen, als Kleiderbügel ein zurechtgebogener Draht aus der Chemischen Reinigung. Eine Jacke, darüber die Krawatte gehängt, für ewige Zeiten geknüpft, da Philipp allein nie einen neuen Knoten fertiggekriegt hätte. Und die Hose mit Bügelfalten. Die hatte er zum letzten Mal bei der Beerdigung seiner Großmutter getragen.
Philipp tastete mit den rechten Fingerspitzen der Innenseite entlang, bis er mitten im verblichenen Lilienmuster den Druckknopf spürte. Er betätigte ihn, so daß sich das Hölzchen verschieben ließ, und er löste den Sperrhaken. Der Verkäufer im Brockenhaus hatte ihm das technische Sesam-öffne-dich mehrmals vorgeführt. Das Türchen sprang auf. Philipp langte ins Geheimfach. Er hatte sich anfänglich geschworen, nichts darin zu deponieren; er hatte sich ausgemalt, was für ein verdattertes Gesicht ein Dieb macht, der bis zu diesem Fach vorstößt und nichts findet. Aber andererseits könnte der Dieb am Ende meinen, er, Philipp, der Besitzer, habe von diesem Versteck keine Ahnung gehabt. Daher wollte er zunächst einen Zettel hineinlegen mit einem ›Ätsch‹ und einer Explosion von Ausrufezeichen. Statt dessen deponierte er ein loses Papier, das noch immer drin lag, wie er sich eben vergewisserte. Das war sein Geheimnis: ein unbeschriebenes Blatt mit seinem Namenszug.
Nachdem Philipp das Geheimfach wieder geschlossen hatte, nahm er aus der Utensilienschublade ein rotes Samtsäcklein und ließ es in Kopfhöhe baumeln. Darin der Modeschmuck, den Lotty zurückgelassen, auch die Kette, die er bei einer Umarmung kaputtgerissen hatte. Er hatte versprochen, sie reparieren zu lassen. Das Löten kostete mehr als eine ähnliche neue. Langsam ließ Philipp die Metallplättchen durch die Finger gleiten, die gestanzten Ahornblätter schienen von der Wärme abzugeben, die sie einst von Lottys Haut empfangen hatten.
Er hatte ihr vorgeschlagen, auf Hochzeitsreise zu gehen. Ob man dafür nicht vorher heiraten müsse, gab Lotty zu bedenken. Philipp dachte an eine Simulations-Hochzeitsreise. Ach so, Lotty zögerte einen Moment: Wir tun so, als ob wir miteinander schlafen. Dem widersprach Philipp; er habe an Teil-Simulation gedacht. Und wieso überhaupt Indien? Philipp zeigte auf einen Kleber des Überseekoffers: Ein Mann mit Turban und dahinter der Taj Mahal, eine wahnsinnige Liebesgeschichte. Lotty wollte Genaueres erfahren. Philipp wußte nur, daß etwas schiefgelaufen war. Deswegen müsse man nicht nach Indien. Andererseits war Lotty bereit, bei einer Freundin die Adresse eines Gurus einzuholen, von dem diese ein Curryrezept und eine Atemtechnik nach Hause gebracht hatte. Philipp gab zu bedenken: Mit einem solchen Überseekoffer buche man nicht beim Studentischen Reisedienst, das sei ein Kabinenkoffer, ein Kabinenkoffer gehöre in eine Kabine, und eine Kabine gebe es auf einem Schiff, was heißt Schiff, auf einem Ozeanriesen, mit eignem Orchester, das intoniere ›Näher mein Gott zu dir‹, wenn das Schiff untergeht und sie beide eng umschlungen in den Fluten versinken, beim Ertrinken spiele das Orchester vorher, das sei der Unterschied zur Erdbestattung, dort könne eine Kapelle auch hinterher noch vor dem Zuschaufeln am Grab den Abschiedsmarsch blasen. Lotty wunderte sich: Was für eine lumpige Schiffahrtsgesellschaft, die nicht einmal Rettungsboote und Schwimmgürtel bereithielt. Philipp zeigte auf ihre Sandalen: Wir werden am Tisch des Kapitäns essen, dafür müssen wir uns umziehen. Es sei nicht notwendig, Bridge zu lernen, ›Eile mit Weile‹ täte es auch, auf einer so langen Fahrt sei es gut, wenn man was zum Würfeln habe. Lotty verzog das Gesicht: Es werde ihr übel. Das komme vom hohen Seegang. Lotty widersprach: Sie sei nicht seekrank, ihr sei schlecht wegen dem, was Philipp daherquatsche. Er wiegte sie in seinen Armen – unter einem Palmendach würden sie das Ende der Monsunzeit abwarten. Lotty zog es vor, einen Regenmantel mitzunehmen. Und zum Frühstück eine Bauchtänzerin. In dem Moment verlor Lotty jede Übelkeit: Was soll eine Bauchtänzerin auf einer Hochzeitsreise? Philipp konzedierte ihr im Gegenrecht einen Fakir, einen jungen und nicht allzu ausgemergelten, mit dem könne sie sich vegetarisch austoben; wenn es sein müsse, liege auch ein Schlangenbeschwörer drin, aber der darf nicht seinen Korb mit ins Schlafzimmer bringen.
Sie waren nicht nach Indien gefahren, sondern unter die Decke gekrochen. Lotty meinte, die Matratze sei die beste Vorbereitung auf ein indisches Nagelbett.
Philipp erwähnte Indien nicht mehr. Lotty drohte zur Kompensation mit Wanderferien im Wallis und zeichnete unheimliche Zickzacklinien in die Luft: von Grat zu Grat, Gletscher hinauf und Geröllhalden hinunter, und sie lachte: »Wenn’s sein muß, fahr ich mit dir nach Jenseits, aber rudern mußt du.«
Philipp ließ es sich nicht nehmen, nach wie vor mit dem Überseekoffer als Guide auf Reisen zu gehen, schon gar nicht, nachdem Lotty sich nach Berlin abgesetzt hatte, wegen der Ausbildung, wie sie sagte, aber sicher nur, um dort ihren Pfannkuchen wiederzusehen.
Der Koffer war beklebt mit Etiketten. Selbst die Bambusrippen der Verstärkung und die Metalleisten waren nicht frei. Ovale und quadratische Kleber, mit Bildern und Schriftzeichen, von denen Philipp nicht wußte, in welche sprachliche Himmelsrichtung sie wiesen. Kleber mit Zacken, abgerieben und einige frisch, als wäre der Koffer erst gestern gelandet. Zwischen den Klebern sah eine Domkuppel hervor oder ein Flamingo oder eine Wappenblume. Palace, Miramar, Raffles und Bellevue. Neben den Klebern der Hotels solche von Schiffahrtslinien und Eisenbahnen wie jener von Rangoon nach Mandalay und der von Mombasa nach Nairobi. Stoomboot Maatschappij, Cunard und London Chatam. Zollnummern und all das, was bezeugte, daß es ein britischer Koffer war, in einem Empire herumgekommen, am Ende bis zum Trödler.
In der untersten Schublade lagen drei Kügelchen, die hatte Philipp miterworben, Kampfer, um die Erinnerungen des Koffers vor Mottenfraß zu schützen.
Nicht nur ein Inder mit Turban stand zur Begrüßung bereit. Ein Chinese mit Flachhut und einem Zopf, der bis zum Boden reichte, machte einen Kotau. Daneben lehnte ein Schwarzer auf nur einem Bein gegen einen Speer. Einige Eingeborene im Bastrock und mit Nasenringen trugen das Gepäck und Emballageballen auf den Köpfen, ihnen voran der Häuptling mit dem Buschmesser. Philipp sah sich bereits in einer Sänfte, über den andern thronend. Da erschrak er und nahm den Tropenhelm ab – wie rasch er sich von Requisiten eine Rolle aufzwingen ließ.
Und dennoch – Philipp stützte sich auf diesen Koffer, wenn er Afrikanisches zum Besten gab, gestreift wie ein Tiger und hoch hinaus wie eine Giraffe. Er, ein schweizerischer Mitteleuropäer, Demokrat, konfrontiert mit dem König der Wüste. Hier der Löwe und dort Philipp, Mähne gegen Wuschelkopf, animalisches Brüllen und aufgeklärtes Davonlaufen.
Sicher, auch Tierfänger wurden berühmt. Doch wenn es irgendwie ginge, wollte er nie dank Ketten, Käfigen und Gittern berühmt werden, selbst wenn man wie in der Politik das Fallenstellen und Einsperren delegieren konnte.
Es lockten sonst Etiketten genug. Zum Beispiel mit einer Pyramide. Philipp schleppte sich über eine Düne, natürlich ohne Koffer, zwischen den Fingern rieselnder Sand, und in der flimmernden Ferne die Luftspiegelung einer Eistee-Oase. Weshalb nicht am Rand der Wüste ein Pharaonengrab entdecken, zu dem ihn eine Nilmaus führte? Im Schatten eines Kamels Order erteilend – nein, natürlich nicht als Boss, er selber, eine Schaufel in der Hand, buddelt, Schicht um Schicht abtragend, er, Philipp, der Mumienauswickler, Sir Philip, mit einem Skarabäus auf der Visitenkarte, vorgedrungen zur Geheimkammer einer Totenstätte, darin mehr als ein unbeschriebenes Blatt, alle Wände bemalt, von unten nach oben. Auf dem Grab liegt ein Fluch, doch der kommt erst zur Wirkung, als Philipp seinen Londoner Clubmitgliedern mitteilt, er habe die letzte Hieroglyphe entziffert; tot sinkt er neben einem Chippendale-Sessel zu Boden, in der Hand noch das Whiskyglas mit einem Gift, dem keine Autopsie auf die chemischen Schliche kommt; ein Butler mit einem Schakalgesicht stellt das Servierbrett weg.
Was aber, wenn der Koffer nicht länger wartete, bis Philipp eine der Etiketten als Fahrschein benutzte, sondern von sich aus auf und davon ging, nach Übersee, nach Überland und Überluft. Jenseits aller Horizonte?
Wer weiß, vielleicht war die Erfindung des Jahrhunderts noch nicht gemacht, und warum sollte es nicht Philipp sein, der auf den genialen Einfall kam? Weshalb nicht als Erfinder berühmt werden? Aber nicht einer, der erst, wenn andere das Patent angemeldet haben, merkt, was er erfunden hat. Ein Gepäckstück, das zum Transportmittel wird, ›especially made for Philipp‹. Philipp stopfte Badehose und Frottiertuch hinein, da man nie weiß, wo der Koffer landen wird, und zum Frosch: »Hoffentlich nicht auf einer Bergspitze. Du kommst mit.«
Philipp schaukelte auf den Hinterbeinen des Stuhls, als müßte er den Koffer in Schwingung und Stimmung versetzen. Solcher Beistand war nicht nötig. Gerade darin beruhte seine Jahrhunderterfindung: ein Transportmittel, das keine fremde Hilfe braucht. Philipp machte auf dem Tisch Platz für die langen Nasen der Staudammbarone, der Ölscheichs und der Energiepäpste. Ein Koffer, der weder Benzin noch Kerosin benötigt und auf keinen Strom angewiesen ist, weder auf Wind noch auf Sonnenstrahlen, der nicht von Esel- und nicht von Pferdestärken abhängt und dem weder ein Labrador noch ein Bernhardiner vorgespannt werden muß. Unabhängig von jeder Energie, außer der, die der Mensch selber erzeugt. Kein Ziehen und kein Schleppen, weder Buckeln noch Strampeln, auch nicht Trotten im Kreis. Als Tatkraft ein Herz, das hoch und höher schlägt, bis der Koffer abhebt, und vorn die Meßuhr mit Skala und Zeiger für die Windstärke der Träume und ihrer Turbulenzen.
EIN POCHEN. MEHR EIN KRATZEN. Statt weiter zu tüfteln, wo er am Kabinenkoffer den Rotor anbringen solle, rappelte er sich hoch. Philipp klemmte die abgebrochenen Stuhlbeine unter die Sitzfläche, raffte im Vorbeigehen Slip und Socken vom Boden und stopfte sie unter die Bettdecke. Er war bei seiner Heimkehr auf Zehen ins Zimmer geschlichen. Nicht wie an den Abenden davor; jetzt hatte er Geld. Durch die halboffene Tür hatte Philipp sie wahrgenommen: im Sessel neben dem leeren Drehstuhl vor dem Klavier, der Deckel des Pianos hochgeklappt und die Kerzenstummel in den beiden Haltern angezündet, versunken und vornübergeneigt, in der Hand das blaue Schutztuch für die Tastatur. Der Walzer erklang, leicht angekratzt, aus dem Grammophon. Sie hörte, einmal mehr, ihrem verstorbenen Mann beim Klavierspielen zu.
Sie habe noch Licht bemerkt. Als sie sich nach einer Sitzgelegenheit umsah, komplimentierte Philipp sie zum Bett. Bevor sie Platz nahm, klopfte sie die Kissen zurecht.
Philipp holte aus dem Briefumschlag die Geldscheine. Zwei Hunderter faltete er und steckte sie in die Hemdentasche. Die andern fächerte er wie Spielkarten auf dem Tisch aus. Sie sah ungläubig auf die Banknoten. »Ganz frisch«, Philipp hob einen Schein gegen das Licht: »Nicht selbstgemacht. Ich bin nicht mutig genug, eine falsche Note für eine echte auszugeben, und schon gar nicht fähig, eine zu drucken. Wenn schon, dann jemandem beibringen, seine echte Note sei falsch, so daß er sie wegwirft und man sich getrost nach ihr bücken darf.«
»Alles wird teurer, wer weiß, was wird. Die wollen umbauen. Renovieren täte es auch. Haben Sie gesehen, wer im Parterre eingezogen ist? Negerinnen. Was für unanständige Blusen die Frauen tragen. Die zahlen für ein Zimmer so viel wie wir für die ganze Wohnung. Die bringen Männerbekanntschaften nach Hause. Die ganze Nacht. Die eine hat Kinder. Die sitzen auf der Treppe beim Hauseingang. Ich habe ihnen einen Schokostengel gekauft, die sind es nicht gewohnt, daß man ihnen was schenkt.«
Als sie die Banknoten einsteckte, lockerte sich der Gürtel ihres Morgenrocks; der Schalkragen legte für einen Moment ein schlaffes Stück Busen bloß. Aus dem gesteppten Stoff stieg ein Wölklein Menthol hoch. In die Pfefferminze mischten sich Kamille, Roßkastanie und Arnika. Philipps Nase erinnerte sich an die Tage seiner Kinderkrankheiten, an Lindenblütentee und Kandiszucker, an die Jodtinktur auf dem Finger, in den er sich geschnitten hatte, an die Salbe, die man einmassierte, weil er mit dem Kopf gegen eine Mauer gerannt war, und an die Pflaster, die man auflegte wegen eines Insektenstichs. Als Frau Bauer die Beine übereinanderschlug, hielt sie züchtig-kokett ihren Morgenrockzipfel fest. Als die Frau vom wippenden Bein den Pantoffel verlor, stieg von einem eingewachsenen Nagel ein Hauch Formalin auf. Über dem mütterlich allumsorgenden Geruch, den sie ausströmte, lag ein Puder von zarter Zitronenmelisse.
Sie strich sich übers Haar und prüfte, ob die Lockenwickler hielten. Philipp zeigte auf die Stuhlbeine unter der Sitzfläche: Man könne leimen, die Pfropfen seien nicht abgebrochen.
»Ach was, der Stuhl kommt raus, wenn meine Schwester einzieht.« – »Schwester?« – »Nein«, Frau Bauer winkte mit dem Zeigefinger ab, »nicht die, die einmal zu Besuch da war. Das war die aus Kanada, die mit einem Holzhändler verheiratet ist. Die mit dem Bären auf dem Photo.« Wo er das Photo hingehängt habe? »Hinter die Kommode. Ach, die andere«, meinte Philipp, »die, die ich aus Versehen hereingelassen habe?« – »Nein, die schon gar nicht. Das ist Pamela, die jüngste. Nein, nein. Wir sind unser acht gewesen. Lauter Mädchen. Das war ein Geschnatter am Tisch. Als Mädchen erlernten wir keinen Beruf. Ich habe als junges Ding mal da und mal dort gearbeitet. Gewöhnlich als Verkäuferin. Nein, die, die einzieht, die hat es zu etwas gebracht. Angefangen hat sie in der Spedition. Die hat zeitlebens Kurse besucht. Was habe ich ihr zugeredet: Gönn dir etwas. Auch geheiratet hat sie nicht. Bis eines Tages einer kam und ihr schön tat. Das können Spanier. Als der letzte Franken weg war, war auch dieser Juan weg. Ich mochte nie Männer, die nach etwas anderem riechen als nach sich selbst. Sie verlor ihre Stelle und konnte die Kredite nicht zurückzahlen. Kleinkredite – was die an Zinsen nehmen. Als man die Wohnung räumte, bin ich ihr beigestanden. Das Bett mußte ihr der Betreibungsbeamte lassen. Auch den Tisch. Sogar die Nähmaschine, obgleich meine Schwester sie nie benutzt. Die bringt sie mit. Vielleicht kann sie zwischendurch etwas arbeiten. Die Ärzte wissen nicht, was los ist mit ihren Fingern. Wenn sie nicht bei mir einzieht, bleibt nur das Heim. Obwohl es ein städtisches ist. Da zahlt man für jedes Extra extra. Und betteln bei der Fürsorge, nur das nicht.«
Frau Bauer drehte sich zum Nachttisch. Sie schob die Bücher zu einem ordentlichen Stapel zusammen, die größeren und dicken unten. Sie las einen Titel halblaut: »Im Fernsehen läuft jetzt auch eine Serie über ein Schloß. Der Gutsverwalter spielt sehr echt.« Sie blätterte ein paar Seiten durch: »Was meine Schwester erlebt hat, würde auch ein Buch ergeben. Nur schon, was sich am Telefon tat. Was, wenn der Telefonhörer zu reden begänne.«
Er habe Pech gehabt. Philipp deutete auf die angesengte Stelle der Lampe. »So was kommt vor«, meinte Frau Bauer. »Die Flecken unter dem Ofenrohr auf dem Boden – noch heute weiß ich nicht, was verschüttet worden ist, zunächst hat es nach Blut ausgesehen. Der Zimmerherr war verlegen, ein hochanständiger, noch heute schickt er zu jedem Neujahr eine Karte. Etwas muß passiert sein, auch wenn ich nicht dahinter komme. Und das Loch in der Mauer, das stammt von einem andern. Der wollte einen Nagel einschlagen, um ein Diplom aufzuhängen, schon ist die halbe Wand heruntergekommen. Die Flecken an der Decke, das ist eine Schweinerei. Die sind von denen im oberen Stock, die hatten ein Kind gekriegt, gleich nach der Hochzeit, und die hatten das Baby alleingelassen, obwohl sie es hinterher nicht wahrhaben wollten. Roch es im Treppenhaus, kam’s aus ihrer Wohnung. Jedenfalls ist das Kind mit dem Zuber umgekippt. Tagelang hat es uns auf den Kopf getropft. Ich hatte alle Mühe, meinen Mann davon abzuhalten, vor Gericht zu gehen. Damals hat das Klavier noch hier drin gestanden. Bevor er in einem Radiogeschäft arbeitete, war er Klavierstimmer. Der hätte sich mit Untermietern nie verstanden, wenn ich dran denke, wie jeder im Badezimmer auf seine Art das Rasierzeug und die Toilettensachen hinstellt. Jedem passiert etwas. Einer, ein Welscher, der rauchte wie ein Bürstenbinder. Den Rauch habe ich monatelang nicht aus den Vorhängen gebracht. Die Brandlöcher auf dem Nachttisch, die sind von ihm. Ich habe manchmal überlegt: Was, wenn’s brennt.«
Sie stand mitten im Zimmer und sah sich um, ohne daß ihr Blick irgendwo haften blieb. »Keiner geht, ohne etwas zu hinterlassen – der eine läßt Brandlöcher auf der Kommode zurück, an den andern erinnert ein Loch in der Wand, von einem dritten stammen Flecken auf dem Boden. Und was bleibt von Ihnen, Philipp? Ein Stuhl mit abgebrochenen Beinen? Einer ließ zwei Kisten zurück – die habe ich zu den Sachen meines Sohnes getan, die dieser auch nie abholt.« Sie habe sich erkundigt, nach fünf Jahren dürfe sie die Kisten öffnen, sie frage sich, was drin sei, was wird schon drin sein. »Nur einer« – sie sah aufs Bett –, »einer hat keine Spuren hinterlassen. Ich habe angenommen, er schlafe eben etwas länger. Oft ist er nachts nicht nach Hause gekommen. Ein hübscher Bursche und kräftig. Den Kopf voll Locken. Erst als sie von der Firma anriefen, habe ich nachgeschaut. Was das heute braucht, bis ein Schlosser kommt. Die verrechnen den Weg. Das kostet mehr, als das Schloß aufzusprengen. Ich habe nicht einmal gewußt, ob er Verwandte hat. Er hat nie von Familie gesprochen. Er war immer lustig; es sind oft die Lustigen, die es nicht schaffen. Ganz ruhig hat er da gelegen. Der Große Coup, das Wort hab ich von ihm, ich frage mich noch heute, was er im Schilde führte. Er hat gezwinkert: Sie werden staunen, Frau Bauer. Der hat auch gelesen – wie Sie. Ein Buch über Goldgräber, das besitze ich noch, das lag in der Küche, deswegen haben sie es nicht mitgenommen mit all dem andern Besitz. Was er schluckte, kriegt man in allen Apotheken. Ohne Rezept. Ich habe bei der Auskunft angefragt, wem man telefoniert, wenn sich einer ein Leid antut; die schlugen auch nichts Besseres vor als die Polizei. Alles versiegelten sie. In dem Kuvert war Geld drin. Für mich. Es hat draufgestanden. Er hat alles zurückbezahlt. Auch noch bevor er … Natürlich war es in Ordnung, daß sie das Glas mitnahmen. Fürs Labor. Das kenne ich vom Fernsehen. Ich hätte es gegen die Quittung abholen können. Unter meinem Geschirr will ich nicht ein Glas, aus dem sich einer den Tod holte. Ich habe überlegt, ob ich eine Todesanzeige aufgeben soll. Man kann nicht jemand gehenlassen ohne Inserat. Ich hätte wie beim Tod meines Mannes aus andern Todesanzeigen abschreiben können. Noch Tage danach habe ich die Polizei in der Wohnung gehabt. Einmal sind plötzlich zwei Fremde vor der Tür gestanden, einer ein ganz Unheimlicher, und haben nach irgendwelchen Papieren gefragt, Freunde, behaupteten sie, aber die habe ich nicht hereingelassen. Was man von mir wissen wollte! So ein Spektakel. Ja, Philipp, Sie würden noch staunen, was hier, in diesen vier Wänden, an Theater möglich ist.«
Ob er nicht etwas dalassen dürfe, fragte Philipp in die lange Pause hinein, Bücher, er hole sie später ab. Frau Bauer lachte: Ob er schon wisse, wo er hingehe? Philipp schüttelte den Kopf. Ob er wieder bei der Post arbeite? Philipp verneinte. »Aha, ich kann’s mir vorstellen«, Frau Bauer deutete auf das Käseposter: »Lassen Sie mir dieses Plakat als Andenken? Was im Lauf der Zeit nicht alles zusammenkommt.« Sie erinnere sich genau, wie Philipp und seine Freundin den Überseekoffer die Treppe hinaufbugsierten. Ob er den Zettel gesehen habe? Der Anruf sei von auswärts gekommen, aus Berlin. Ob Lotty im kommunistischen Berlin lebe? Im früheren? Sie hoffe, sie habe die Nummer richtig notiert. Dann langte sie nach der Badehose und dem Frotteetuch, die aus einer Schublade des Überseekoffers heraushingen, rieb den Stoff zwischen den Fingern: »Früher waren die Laubfrösche grün.«
Er wisse nicht recht, was er mit dem Koffer solle: »Mein erstes selbstgekauftes Möbelstück.« Sie könnte ihn brauchen; wenn ihre Schwester einziehe, müsse sie Platz machen im Schrank und die Sachen ihres Mannes irgendwo hintun. »Da sind noch gute Stücke drunter. Einiges habe ich dem Roten Kreuz und der Flüchtlingshilfe gegeben. Ich möchte mich nicht von allem trennen. So lange ist es nicht her, auch wenn’s im Sommer fünf Jahre sind. Ich bin gern bereit, etwas für den Koffer zu bezahlen. Man kann es verrechnen. Es ist mir unangenehm: Die Rechnung fürs Telefon steht noch an. Ich möchte Ihnen den Koffer nicht abluchsen. Wie bringen Sie Ihre Sachen weg?«
Philipp wies auf den Rucksack in der Ecke, auf den Sportsack neben dem Ofen und auf seine Schultasche: »Der Rest kommt in einen Abfallsack.« – »Ich hole Ihnen einen. Mögen Sie eine heiße Schokolade?« Sie entschuldigte sich: »Ich frage immer das gleiche; mein Sohn, der ist viel älter als Sie, der hat vor dem Ins-Bett-Gehen gerne eine Schokolade getrunken.«
Philipp wühlte in der Kartonschachtel. Er hatte den Zettel ohne zu lesen zerrissen, da er angenommen hatte, es sei eine Mahnung. Er fand die Fetzchen und setzte sie zusammen, ihm fehlte noch der Teil mit der letzten Zahl der Telefonnummer. Da stand Frau Bauer bereits wieder vor ihm und hielt ihm zwei Plastiksäcke hin: »Eigentlich für die Müllabfuhr. Fünfunddreißig oder sechzig Liter?« Philipp nahm den kleineren.
DER MANTEL WAR AUF TAILLE GESCHNITTEN. Wegen der Jacke darunter spannte er. Unter dem Veston ein Winterpullover, darunter schaute ein zweiter hervor, eine Borte mit einem Würfelmuster. Die eine Manteltasche stand dick ab, aus der andern ragte etwas Längliches, in Zeitungspapier gewickelt. Um den Hals baumelte eine Krawatte, geknotet, aber nicht festgezogen, und ein Schal, der fast bis zu den Knien reichte.
Philipp sah an sich herunter: »Bitte sehr – Bügelfalten und Lederschuhe. Das trage ich in feierlichen Momenten, bei Adressenwechsel oder Ähnlichem, wie Beerdigungen.« Als er sich nach vorn neigte, rutschte der Sportsack von der Schulter. Mit einem Schwung brachte er ihn in die Hängestellung zurück. In der Hand eine prall gefüllte Einkaufstüte: »Mein Büro.«
»Für eine Prämierung reicht es.« Peter sprach mit dem abwägenden Ernst einer Jurorenstimme.
»Ich trag meine ganze Habe bei mir.« Philipp erhob die Stimme zum Zitat; er holte mit der Rechten aus und bezog Abfallsack und Schultasche, die er neben sich gestellt hatte, in Geste und Sentenz ein. »Du meinst, der habe den Satz erfunden, als er von einem Faß in ein anderes umzog?« – »Der mit dem Faß war ein anderer.« – »Sicher ein Grieche.« Das stand für Peter fest: »Die klopfen Sprüche, die man lernen muß. An mir hast du ein gutes Beispiel dafür, wie unverantwortlich es ist, jemanden von der Schule zu jagen, bevor er ausgelernt hat. Der bringt für alle Zeiten die Fässer durcheinander. Dich haben sie behalten.«
»Sie hatten gegen mich nichts in der Hand. Alle Noten gerade genügend. Bis auf Physik. Und jetzt brauche ich Bedenkzeit. « – »Und falls die Bilanz negativ ausfällt?« – »Eine Sache richte ich: Ich werde zwanzig.« – »Dann darfst du diesen Sommer ins Militär.« – »Siehst du mich als General?«
»Als General schon, aber nicht als Soldat. Ich rede seit Februar mit: wählen und abstimmen. Vögeln durften wir schon lange. Dafür braucht’s keine staatsbürgerliche Reife. Nur davonlaufen – das durften wir nicht. Was hat mich mein Alter gesucht. Er ist gar nicht mein Alter. Soll er seinen Anspruch erst einmal beweisen. Die haben mich in der Frauenklinik verwechselt. Kein Wunder, wenn man gesehen hat, wie die Ankömmlinge sich gleichen, einer verschrumpelter als der andere, die müßte man bügeln, bevor man sie zeigt. Ich fände es ehrlicher, wenn man, was auf die Welt kommt, in einem Saal zusammentäte, auf eine Art Gabentisch. Und draußen vor dem Vorführfenster würfeln die Väter. Auch die Nieten gehen weg. Jede Frau, die ein Kind geboren hat, hat das Recht, etwas mit nach Hause zu nehmen. Bei einer solchen Auslosung der Babys gäbe es später nie mehr die Sätze: ›Was, das soll mein Sohn sein.‹ Oder: ›Dieser Knorz mein Vater?‹ Alle wüßten: ›Würfelpech.‹ Ein paar Augen mehr oder weniger, und die Familienkräche wären genau gleich, nur mit anderer Besetzung. Hab ich dich nicht neulich auf einem Plakat gesehen – oder hast du einen Doppelgänger?«
»Ich gehe vielleicht zum Film.« – »In dem Aufzug kriegst du in jedem Stummfilm eine Rolle.« – »Bei denen zählt nur der Kommerz. Man müßte einfache Filme drehen. Ganz simple. Die Geschichte einer Frau, die sich ein Leben lang abrackert, und dann kommt eines Tages einer, der tut ihr schön. Warum nicht einen Experimentalfilm. Zum Beispiel ›Die Erinnerungen eines Telefonhörers‹.« – »Falls ihr jemanden für einen Porno braucht, empfehle ich mich. Sagt man da auch: Vorsprechen?« – »Es ist alles Porno, was sie machen. Daß ich dich wiedersehe – das ist mindestens zwei Jahre her.«
»Ich habe dich auch nicht an dieser Haltestelle erwartet. Du bist vom See runtergekommen, oder? In diese Proletariergegend verschlägt es mich selten. Man kann sich nicht immer aussuchen, wo man übernachtet. Da ist schon das zweite Taxi, das du vorbeiläßt.« – »Wenn ich wüßte wohin.« Peter zeigte auf die Gleise: »Die eine Linie führt zum Bahnhof. Die andere zum Schlachthof und zum Gaswerk.« – »Ich ziehe den Bahnhof vor.«
»Also, hoppla. Der Achter kommt.« Peter packte den Abfallsack und stemmte ihn das Trittbrett hinauf; dabei stieß er eine Frau beiseite, die sich keuchend mit ihren Markttaschen hineinzwängte und über die Jugend von heute schimpfte. Peter blickte in ihre Einkaufstasche, deutete auf den Weißkohl: Ob sie immer den Ersatzkopf mit sich herumtrage?
Philipp sah sich nervös um: Er habe keine Fahrkarte. »Ich lade dich ein«, mit der Offerte bot ihm Peter sämtliche leeren Plätze an. »Du hast auch keine.« – »Falls du ein schlechtes Gewissen hast, nehme ich es auf mich. Nur das schlechte Gewissen. Nicht die Buße.«
Peter reckte sich, er spannte seine Brust und kratzte am Krokodil seines T-Shirts: »Ich muß es von Zeit zu Zeit streicheln. Sonst wird es unlustig und frißt Passanten. Dann habe ich hinterher Scherereien, wenn es kotzt. Die meisten, die frei herumlaufen, sind schwer verdaulich.« – »Nicht schlecht, deine Jacke.« – »Nappa. Fühl mal. Das war eine sensible Ziege. Der Gürtel ist ebenfalls aus der Boutique. Nicht von einem Hippie, der auf dem Asphalt Schmuck zurechtklopft.« Peter ließ die Schuhspitzen spielen: »Und das hier aerodynamisch. Mit Luftfiltrierung. PU-Schäumung und angepaßtes Fußbett. Apachensohle. Damit schleichst du dich überall an.« – »Weißt du noch, wie wir einfach Turnschuhe trugen?« – »Man bleibt nicht immer sechzehn. Verdammt – wir müssen umsteigen.«
Nachdem sie sich im nächsten Tram eingerichtet hatten, wollte Philipp wissen, weswegen Peter im Abfallkorb wühlte, er habe ihn beobachtet.
»Das ist mein Kiosk. In solchen Kübeln hole ich mir den täglichen Boulevard.« Peter rollte die Zeitung auf und hielt Philipp die Titelseite hin: ›Hund mit zwei Köpfen biß Zwillinge‹. »Und die da«, er schlug die Innenseite auf, »das Nacktphoto mit dem Wichserspruch zum Tag. Ein bißchen vollbusig. Für fünf Tramstationen reicht es. Kurzstreckenjournalismus. Hinterher tue ich die Zeitung wieder in den Eimer. Das Zeug muß zirkulieren.«
Ein Kreischen und Fluchen. Ein Schütteln und Rütteln. Der Kinderwagen auf der hinteren Plattform schlug gegen die Stange, und ein Tamile purzelte über die Schultasche von Philipp. Den hatte es gegen Peter geworfen, der sich die Nase rieb und nach vorn zur Kabine rief: »Dich haben sie zu früh aus der Fahrschule entlassen.«
»Der hat Schwein gehabt.« Philipp sprach vom Motorrad, dessentwillen der Stopp gerissen worden war: »Nicht schlecht, dieser heiße Ofen, 1000 Kubik, weißer Hengst auf schwarzem Tank.« – »Ich würde einen fliegenden Teppich vorziehen«, meinte Peter: »Was machst du sonst, außer umziehen?« – »Ich war zwischendurch weg.« – »Wo am meisten?« – »In Indien und Umgebung.« – »Ist Goa tatsächlich so phantastisch?« – »Ich kann im Moment nicht darüber reden. Es ist noch zu nah. Ich muß es erst noch verarbeiten. Und dann droht zu allem noch Berlin …« – »Suchst du einen Job? Jetzt hätten wir beinahe den Bahnhof verpaßt.«
Beim Hinausklettern blieb Peter am Handgriff hängen, Philipp zerrte ihn frei. Doch dann wäre Philipp beinahe über einen Koffer gestolpert, hätte Peter ihn nicht aufgefangen. Sie kämpften sich zur Rolltreppe durch. Im Shopville bellte Peter den Hund an, den Kantonspolizisten auf ihrem Kontrollgang mitführten: »Immer diese Ausländer. Der deutsche Schäfer hat bestimmt eine Beiß-Lizenz. Frag ihn besser nicht, sonst macht er den Maulkorb auf.« Peter grüßte ein Jüngelchen, das auf dem Geländer neben der Herrentoilette hockte; dieses grinste zurück. Beim Obst- und Gemüsestand stieß Peter mit einem Verkäufer zusammen, der aus Früchten Pyramiden schichtete. Peter half die Äpfel, die auf den Boden gekullert waren, zusammenzulesen. Bei der Absperrung hievten Peter und Philipp einen Kinderwagen über die Pfosten hinweg, bevor sie ihren Plunder auf die Rolltreppe stellten und hinauffuhren.
Oben sah sich Peter gleich beim Taxistand um. »Es gibt immer welche, die den Gepäckkarren stehen lassen. Wenn du ihn brav zurückstellst, kannst du als Belohnung die Münze kassieren.« Den freien Karren, den er entdeckte, schnappte ein Alter weg, der türmte seine Einkaufstaschen drauf, vollgepackt mit Ramsch. Der Alte sah triumphierend auf. Ein struppiges Gesicht, ein erloschener Stumpen hing ihm aus dem Mund, und an den Lippen Schorf. Über dem einen Jochbogen ein dreckiges Leukoplast, das eine blau angelaufene Stelle zur Hälfte abdeckte. Und eine Basketballmütze ›Lonely Stars‹. Ein überlanger Mantel, ein Knopf festgehalten mit einer Sicherheitsnadel. Fleckig war die Hand, mit der der Alte Philipp grüßte, dann stieß er sein Wägelchen an den Schlangen vor den Billettschaltern vorbei, mit schlurfendem Schritt mitten hinein ins Gewühl.
»Der nimmt an, du seist einer von ihnen«, konstatierte Peter, »der könnte mit deinem Abstieg ruhig warten.«
Als Philipp vor einer Plakatwand stehenblieb, wunderte sich Peter: »Seit wann interessierst du dich für eine Rheumaklinik?« – »Ach, das ist eine Wand, wo die Firma, für die ich Modell stehe, gewöhnlich ihre Plakate anbringt. Anscheinend ist es mit meinem nächsten Poster noch nicht soweit. Wo, sagtest du, sind die Schließfächer? Unten im Zwischengeschoß?«
»Die drei Nummern gehören mir. In der obersten Reihe. Da brauchst du dich nicht jedesmal zu bücken, wenn du an den Schrank gehst. Zwei Fächer habe ich auf Vorrat. Die Miete im Monat macht so viel aus wie eine einzige Übernachtung auf einer Ein-Stern-Matratze mit fließend Wasser in der Klosettschüssel. Ein Schließfach tret ich dir ab. Ich wohne gleich nebenan. Geht dir das Salz aus, klopfst du an.«
Peter löste einen Schlüssel von einem Bund, mit dem er klimperte. Philipp wunderte sich, wofür Peter all die Schlüssel brauche. »Andere haben Schlösser, ich habe Schlüssel. Schlüssel, die keine Ahnung haben, wo sich ihr Loch befindet. Wer weiß, vielleicht ist ein Big Boss drunter, ein Dietrich. Ist das hier nicht ein phantastisches Stück?« Er zeigte ein handgeschmiedetes Exemplar: »Manchmal träume ich von dem Schloß, das zu diesem Schlüssel paßt.«
Zuerst leerte Philipp die Manteltaschen. Er stellte das Rasierzeug auf den Boden (»das hab ich zuletzt eingepackt. Auch den Wecker«). Neben Rasierzeug und Weckuhr legte er den Tauchsieder, den er aus dem Zeitungspapier wickelte. Dann schlüpfte er aus dem Mantel und legte den als erstes ins Fach. Er zog den Pullover aus und auch den darunter. Er suchte im Abfallsack. Ein T-Shirt, um einen Transistor geschlungen. Endlich die Jeans, er hielt sie in die Höhe und sah an sich herunter. Er holte den Mantel aus dem Fach, schlüpfte hinein. Er öffnete den Gürtel seiner Bügelfaltenhose. Bevor er die Hose hinunterstreifte, sah er mit einem Kontrollblick nach rechts und links, und er entdeckte Peter. Der hielt die zusammengerollte Boulevardzeitung in der Hand als Zeigestab: Männerstrip in der Bahnhofshalle. Philipp drehte sich um. Hinter ihm hatte sich ein Halbkreis von Neugierigen gebildet. Philipp verhaspelte sich in einem Hosenbein und fing sich gerade noch an der Schließfachwand auf. Die Hose war hinuntergerutscht. Die Krawatte baumelte an ihm; als er sie über den Kopf ziehen wollte, blieb sie an einem Ohr hängen. Um sie zu befreien, benutzte Philipp die Hand, mit der er die Hose festgehalten hatte. Diese rutschte bis auf die Schuhe. Peter forderte die Zuschauer auf, zu applaudieren. Sie taten es. »Ein voller Erfolg.« Peter erkundigte sich, ob er schon einsammeln solle oder ob die Show weitergehe. Die Zuschauer verliefen sich. Peter zog aus der Jackentasche zwei Äpfel, er polierte einen am Ärmel. »Hoffentlich sucht der Verkäufer nicht noch immer nach diesen beiden. Das ist mein Such- und Finderlohn. Der eine Apfel ist für dich. Als Gage. Du hast bestes Volkstheater geboten. Hosenverlieren ist klassisch.« Philipp hatte sich wieder den Schließfächern zugewandt. Er wechselte die Hose. Er zog den Mantel aus, faltete ihn ein zweitesmal, und er tauschte die Lederschuhe gegen Turnschuhe.
Peter, an einem Apfel kauend: »Sehn wir uns heute abend? Im ›Spunten‹, im ehemaligen ›Marocco‹?« Er entdeckte das Frotteetuch mit dem gelben Laubfrosch: »Der gehört mir.« Peter hob das Badetuch in die Höhe. Da sah Philipp an seinem Unterarm die Tätowierung.
»Quak«, machte Peter. Der Frosch ließ sich nicht auf ein Gespräch ein. Das »Quak, quak« verlor sich in der Bahnhofshalle. Eine Taube flatterte auf; sie war unterwegs vom Expreßdienst zum Fundbüro.
»Was schaust du auf meinen Arm?«
»Dein Sonnenaufgang.«
»Woher weißt du, daß dies kein Untergang ist?«
»DAS WAR EIN ABSTURZ!« Konrad hielt die Gabel waagrecht in der Luft, richtete abrupt die Spitzen nach unten und ließ die Hand niedersausen; als sie aufschlug, vibrierte der Tisch.
»Die sind tot.«
Die Mutter schreckte auf: »Wer?«
»Die hier.« Philipp zeigte mit dem Messer auf die Erbsen, die von Konrads Teller gekullert waren: »Die waren nicht angeschnallt.«
»Laß Kony erzählen.« Der Vater umklammerte das Glas, als wolle er es zum ›Prost‹ erheben: »Dein Bruder hat jedenfalls etwas zu berichten.«
Philipp nickte: »Gut, daß wenigstens einer in der Familie Absturz übt.«
»Bord-me-cha-ni-ker.« Der Vater betonte jede Silbe mit andächtigem Akzent.
»Nicht Bordmechaniker.« Konrad korrigierte: »Bei den neuesten Flugzeugtypen braucht es keinen Bordingenieur mehr. Die erledigen alles zu zweit. Hundertmal hab ich euch gesagt, es war ein Test. Wißt ihr, wie viele anstehen?«
»Wenn Kony die Stelle kriegt, gehen wir nach Amerika.« Das sagte der Vater, als verlese er eine Nachricht. Die Mutter hätte lieber eine Cousine im Elsaß besucht, die es nicht mehr lange mache.
»Erhalte ich auch Ermäßigung?« erkundigte sich Philipp. Konrad sah ihn mit breitem Kauen an: »Dafür ist dein Bruder gut genug.«
Die Mutter fand die Bemerkung ungerecht: »Philipp war stets dankbar, wenn du ihm geholfen hast.«
»Klar – kaum ist beim lieben Philipp eine Schraube los, kommt Konrad mit dem Schraubenzieher.« Konrad grinste: »Bei so vielen lockeren Schrauben …« Sein Grinsen verfinsterte sich, denn Philipp zog es vor, statt in einem Flugzeug pilotenlos in einem Überseekoffer zu fliegen.
»Erzähl, wie es mit dem Absturz war.« Der Vater wies gleichzeitig Philipp zurecht: »Und du unterbrichst nicht.«
»Der Absturz interessiert mich mehr, als ihr denkt. So etwas ist in der Schule nie drangekommen.«
»Also«, Konrad begann leicht gequält, »du wirst in einer Kabine festgeschnallt …«
Die Mutter unterbrach: »Wäre es bei einem Absturz nicht gescheiter, sich loszuschnallen?«
»Erzählst du oder ich?« Konrad nahm einen Schluck Bier und leckte sich die Lippen.
»Typisch für Mutter, als ob sie nie fernsehen würde. Und das Flugzeug, das auf ein Wohnviertel herunterfiel?«
»Das war kein Flugzeug«, stellte Konrad richtig, »das war ein Triebwerk.«
»Das Haus war wie abrasiert. Und das Flugzeug im Urwald? Überall lagen sie verstreut. Einige hingen in den Bäumen. Die waren nicht mehr zu erkennen, so verkohlt waren sie. Und erst die, welche in Südamerika abstürzten. Auf einem Gletscher.«
»Wenn Konrad dort notlandet, hat er Glück. Da bleiben die Leichen frisch.« Philipp stellte seinem Bruder das Salz hin: »Menschenfleisch soll süßlich sein. Man weiß nie, wo es ein Luftloch gibt.«
»Und erst die Terroristen. Mit Bomben im Gepäck. Wenn’s nach mir ginge …«
»Wenn es nach dir ginge?« Philipp sah den Vater lauernd an.
»Frag nicht so blöd«, brauste der Vater auf.
»Was ist das, ein Luftloch?« Die Mutter stellte die Schüssel auf den Tisch.
»Was haben Luftlöcher mit Terroristen zu tun?« Der Vater klopfte mit dem leeren Glas: »Man kann nicht ständig vom Tisch aufstehen und hinterher mitreden.«
»Ich habe nachgefüllt.« Sie schöpfte eine Kelle voll auf Konrads Teller, der aufbegehrte: »Warum soll ich Kartoffelstock mögen? Den gibt’s nur, weil Philipp heimgekehrt ist.«
Die Mutter bemerkte, wie der Vater nach dem Salzfaß langte: »Immer mußt du nachsalzen, bevor du probiert hast.«
»Mami, das mit den Luftlöchern stimmt. Stell dir vor, ich, Philipp, stehe unten auf der Erde und gucke Löcher in die Luft, und dann kommt Konrad geflogen und fällt in eines dieser Löcher …«
»Ja«, Konrad nahm den Faden auf: »Ich falle genau in das Käseloch, durch das Philipp schaut.«
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