Die Augen des Mandarin - Hugo Loetscher - E-Book

Die Augen des Mandarin E-Book

Hugo Loetscher

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Beschreibung

»Kann man mit blauen Augen sehen?« Die Frage eines fiktiven Mandarins stimuliert Past, den Ex-Angestellten einer obskuren Kulturstiftung, zu Erinnerungen aus seinem bewegten Leben, entführt ihn noch einmal in fast alle Erdteile und entlockt ihm pointierte Geschichten - in einem berauschenden Nebeneinander der Kontinente, Zeiten und Bilder. Bilanz eines intensiven Blicks, trotz »blaugrüner Augen«. "

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Hugo Loetscher

Die Augen des Mandarin

Diogenes

I

KANN MAN MIT BLAUEN AUGEN SEHEN?

Der Mandarin stellte die Frage, als er zum ersten Mal Barbaren aus Europa begegnete: breitschultrige Kerle, von festem Tritt, Männer mit vollen Bärten, braun und rothaarig, unter ihnen einer blond und dieser blauäugig. Ihn hatte der Mandarin mit schwarzen Augen fixiert. Er richtete einen Fingernagel, der manuelle Arbeit verachtete, auf den Fremden, bevor er sich mit seiner Frage an den Dolmetscher wandte.

 

Kann man mit blaugrünen Augen sehen?

Dies fragte Past. Nicht am Kaiserlichen Hof von Peking, sondern in einer europäischen Stadt wie Zürich. Nicht vor einem Drachenthron einen Kotau machend, sondern zurückgelehnt in seinem Stuhl. Past stellte die Frage gute dreihundert Jahre später. Nicht in einem Reich, das dabei war, seine Mitte zu verlieren, sondern auf einem Kontinent, der seine Zentrallage hinter sich hatte. Past fragte nicht ein Gegenüber, er richtete die Frage an sich selbst.

DASS SEINE AUGEN BLAUGRÜN WAREN, hatte ihm zum ersten Mal ein Schulschatz gesagt; die pummelige Ida hatte gleichzeitig gestanden, sie möge blaugrün nicht. Die Bemerkung hatte Past mitten im Fummeln verwirrt, daß er darüber das Küssen vergaß. Das Mädchen verbreitete daraufhin: Männer mit blaugrünen Augen sind impotent.

Was hätte Past zu seinem Blaugrün sagen sollen. Man hatte ihn wegen seiner Augenfarbe nicht befragt, so wenig wie zu all dem andern, was er sonst bei der Geburt von Natur aus mitbrachte.

Daß die Augenfarbe von Belang ist, hatte er zur Kenntnis genommen, als er, noch nicht ganz volljährig, einen Paß in den Händen hielt. Das erste Exemplar eines Ausweises, dessen Seiten sich mit Stempeln, Visa und Marken füllten, der eines Tages, abgegriffen und abgelaufen, durchstanzt wurde und dem weitere Exemplare folgten, der Deckel rot und eingeprägt ein weißes Kreuz.

Der Paß war eine Urkunde, die er selber in Auftrag gegeben hatte, ein Dokument, das nicht bestätigte, daß er auf die Welt gekommen war, nicht ein Schein, der ihm zwangs einer Taufe Zugehörigkeit attestierte, sondern ein Papier, das erlaubte zu gehen; er hatte die Möglichkeit genutzt.

Er hatte sich gewundert, daß man die Augenfarbe als Merkmal eintrug. Im Verlauf seiner Tätigkeiten hatte Past Pässe und Ausweise zu Gesicht bekommen mit einem ausgesparten Feld für Fingerabdrücke. Als ihm selbst Fingerabdrücke genommen wurden, war es um eine Ermittlung gegangen. Past war damals reichlich überrascht, in was für eine Affäre er wegen seiner Anstellung bei einer Stiftung hineingeschlittert war; selbst zu einer Nacht im Untersuchungsgefängnis hatte es gereicht; er hatte bis jetzt nicht erfahren, wie die Angelegenheit niedergeschlagen wurde. Der Polizist hatte ihm mit schmerzhaftem Druck die Fingerbeeren aufs Stempelkissen gepreßt. Ein sauberer Abdruck, gut lesbar, begutachtete der Beamte die Papillarlinien; nie hätte Past sich in den Rillen, Bogen und Wirbeln erkannt.

Als bei dieser Gelegenheit das Robotbild des obersten Bosses hergestellt wurde, erfuhr er von der Polizeiassistentin: Sie habe zweihundertvierzig Typen europäischer Augenpaare gespeichert und gehe an den Aufbau asiatischer Prototypen; wegen der Zunahme von Asylanten, Touristen und Arbeitern aus Nah- und Fernost sei mit der Unterscheidung von Schlitz- und Mandelaugen nicht länger auszukommen. Past bat hinterher um die Gefälligkeit, ihm mitteleuropäische Beispiele vorzuführen; als es gegen hundert ging, brachen sie die Übung ab. Er hätte nie sagen können, welches Augenpaar für ein Suchbild von ihm paßte; einige unter den angebotenen gefielen ihm durchaus.

In den Paß von Past kam als Merkmal nicht ein Augenpaar, sondern die Augenfarbe.

Logisch, daß Grenzpolizisten und Zollbeamte bei ihren Kontrollen das Foto mit seinem Gesicht verglichen. Verdattert hatte er reagiert, als er zum ersten Mal auf seine Augenfarbe angesprochen worden war. Hinter dem Sehschlitz, durch den er den Paß gereicht hatte, wurde ein schwarzer Vorhang vorgezogen. Past rutschte auf der Holzbank, auf die man ihn verwiesen hatte, hin und her. Ihm gegenüber an der Wand das Porträtfoto des Staatspräsidenten. Ein kaltes Licht, das ihn frieren machte. Da betrat ein zweiter den Warteraum, der erhielt seinen Paß gleich zurück. Past war wieder allein in dem fensterlosen Raum. Nur das Geräusch der Entlüftungsanlage. Er stand auf; er tigerte auf und ab, von einer Kamera verfolgt, durch einen Lautsprecher zum Hinsetzen aufgefordert. Er fuhr zusammen, als ihn die Befehlsstimme eines Volkspolizisten überfiel. Eingeschüchtert nahm er die Brille ab. Die dunklen Gläser hatten ihn verdächtig gemacht. Scharf ging der Blick vom Gesicht in den Paß, wo ein Schwarzweißfoto eingeklebt war, das nicht mit der Vorlage gealtert war. Von dort zurück zum Gesicht: »Blaugrün«. Der Kontrollblick trug Stiefel und verdankte seinen Glanz poliertem Leder.

Wenn schon, hatte sich Past bei Menschen nicht die Augenfarbe gemerkt, sondern den Blick: den guten Blick oder den bösen, einen schweifenden oder zielenden, motzend oder werbend, einen Blick, den er nicht zu sehen brauchte, um ihn zu spüren. Wären Blicke nicht aussagekräftiger, auch wenn sie schwer verständlich blieben, wie einst die seiner Mutter?

Sollte Pasts Kennzeichen etwas sein, das sich kontinuierlich änderte und sich nicht ein für allemal fixieren ließ? Weshalb nicht als Merkmal eintragen: »Blick ins Leere«, oder genauer: »Blaugrüner Blick ins Leere«?

Im Gegensatz zum Blick blieb ihm die Augenfarbe treu. Der Eintrag wurde bei der letzten Paßerneuerung nicht korrigiert wie der für die Haare: »Graumeliert«. Zwar wurde Past bei Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht, und in letzter Zeit öfters: Ihre Augen sind rot. Und dies, weil ein Äderchen geplatzt war. Als seine Augäpfel sich gelb färbten, wurde er gefragt, ob das von einer Gelbsucht herrühre oder ob er modische Kontaktlinsen trage.

Die Farbe, die ihm treu blieb, hätte ihn aufgrund dieser Treue verraten, sofern es auf sie angekommen wäre. Die Farbe hielt an, als die Augen trüber wurden. So trüb, daß sie ohne Krücke das unverblichene Viereck auf der Tapete an der gegenüberliegenden Wand nicht ausgemacht hätten. Dort hatte das Bild gehangen, das jetzt am Boden gegen die Holztruhe lehnte, neben der vordersten Bananenschachtel, in der das Buch lag mit dem Mandarin auf dem Schutzumschlag.

Um sich seiner Augenfarbe zu vergewissern, bräuchte er bloß in einen Spiegel zu schauen; er hatte schon immer ein flüchtiges Verhältnis zu Spiegeln unterhalten. Das schloß nicht aus, daß er Zeit davor verbracht hatte – als Pubertierender, der an einem Mitesser herumdrückte, als Verliebter, der den Scheitel nachzog, oder als Angestellter, der die Krawatte zurechtrückte.

Geblieben war über die Jahrzehnte die tägliche Begutachtung, der Past neuere, wenn auch kaum überraschende Informationen verdankte wie die, daß das Grau sich an den Schläfen ausweitete. Doch der Blick war mehr Routine als Prüfung. Soweit er mit jemandem zusammengelebt hatte, war er oft genug noch unter der Tür darauf aufmerksam gemacht worden: Schaum klebe an seinen Ohren; vor dem Verlassen der Wohnung wurden ihm Schuppen von der Schulter gewischt oder das Revers zurechtgerückt. Solche Kontrolle auf Ordentlichkeit gab es schon längst nicht mehr, so daß er wie an diesem Tag erst am Abend merkte, daß sein Kragen blutbekleckert war, da er sich beim Rasieren geschnitten hatte.

So gleichgültig Past ansonsten Spiegel geworden waren, er hatte für den im Badezimmer in den letzten Wochen zunehmend Mitgefühl aufgebracht. Die Wasserleitung müsse verlegt und saniert werden und ein neuer Spiegel sei längst vonnöten – die Ausführungen des Klempners betrafen einen Umbau, der Past nichts mehr anging. Er hatte gebeten, den alten Spiegel abzumontieren und ihm zur Verfügung zu stellen – nur, wenn er die vollgepackten Schachteln vor sich sah, wußte er schon nicht, wohin mit ihnen und wohin mit den restlichen Möbeln und all dem, was sonst noch einen Teil seiner Habe ausmachte.

Er war dem Spiegel im Badezimmer immer näher gekommen, weil seine Augen schwächer wurden, und er hatte sich beim Spiegel für den Anblick entschuldigt, den er ihm zumutete: die Fettgeschwulst neben dem Adamsapfel, die schwabblige Haut, Tränensäcke und angefressene Zähne, verfleckte Wangen. Past spürte, wie die Rücksichtslosigkeit des Spiegels zugleich seine Wehrlosigkeit war, registrieren zu müssen. Da der Spiegel über keine Lider verfügte, blätterte er an den Rändern ab, und schwarze Flecken fraßen sich in den Silberfond. Past stellte sich eine Frage, die er kaum laut zu äußern gewagt hätte: Gibt es auch für blinde Spiegel weiße Stöcke?

Der Spiegel verlor wie seine Augen an Sehkraft. Doch würden seine Augen nicht bloß erblinden; sie würden brechen, und zwar anders als ein Spiegel, der Sprünge kriegt. Die blaugrünen Augen würden nicht in Scherben zerspringen; sie würden offen ins Leere starren, sofern nicht jemand sie ihrer Untauglichkeit wegen für immer schloß – ins Leere starren, nur daß sich nicht wie jetzt in der dunklen Zimmerecke eine Hand abzeichnete, die aus dem weißen Seidenfutter eines weiten Ärmels zwischen Drachen und Lotus hervorsah. Der Zeigefinger zielte mit zugespitztem Nagel auf seine Augen: Kann man mit blaugrünen Augen sehen?

PAST NAHM DIE BRILLE VON DER NASE und legte sie vor sich auf den Schreibtisch, neben das Medikamentendöschen, zwischen den Aschenbecher und die Bronzefigur, schob das Powerbook zur Seite, stapelte Disketten und stieß dabei an den Telefonapparat, dessen Schnur ins Leere baumelte.

Als Individuum einer hochindustrialisierten Gesellschaft hatte Past nie die Sehkraft besessen, über die seine prähistorischen Vorfahren verfügten, die wegen ihrer zu großen Füße watschelten, sich schwertaten mit dem aufrechten Gang und die im Handhaben von Keule und Knüppel erste Fertigkeit erlangten.

Er hatte ihre Bekanntschaft in der Schule durch Wandbilder gemacht, die vor der Schiefertafel hochgezogen wurden. Der Lehrer, einen Rohrstock in der Hand, hatte die Beschreibung mit dem Scherz begonnen, die Schulpflicht sei ein paar Erdzeitalter später eingeführt worden.

Die Anfänger trugen Fell und richteten sich in Höhlen ein. Im Hintergrund waren einige daran, das Feuer auszuprobieren. Einer sah verdutzt auf seine Hände; er war der erste, der die zivilisatorische Erfahrung machte, daß man sich an dem, was man erfindet, die Finger verbrennt.

Im Vordergrund kämpften einige gegen einen Bären. Eine abgebrochene Speerspitze im Rücken, bäumte sich das Tier auf, holte mit weiten Pranken aus und stürzte sich auf die, welche sich gegen einen Koloß wehrten, der zweimal so groß war wie sie.

Bären waren in dem Land, in dem Past auf die Welt gekommen war, längst ausgerottet und ausgestorben. Gelegentlich erinnerten Funde an die Raubtiere; stieß man bei Grabungsarbeiten in Höhlen auf Knochen, waren die Schädel in Reihen oder im Kreis geordnet, schlossen Wissenschaftler auf einen Ritus. Ob die Vorfahren, wie anderswo, das gefangene Tier um Nachsicht baten, ehe sie es töteten und verzehrten, stand nicht fest.

Der erste Bär, den Past leibhaftig sah, arbeitete in einem Zirkus und redete mit seinem Dompteur russisch; er schlug die Kastagnetten, und die Bärin tanzte einen Zottelflamenco. Nach einem ersten Applaus führten die Bären Familienleben vor. Die Bärin, mit einem Häubchen ausstaffiert, stieß durch die Manege einen Kleinbären, der aus dem Kinderwagen Schnuller und Flasche warf, die die Bärenmutter mit andressierter Geduld auflas. Indessen machte sich Vater Bär an die Arbeit und hopste einen Acht-Minuten-Tag auf dem Trampolin.

Während man diesen Bären nicht füttern durfte, verhielt es sich mit den Bären in der Bundeshauptstadt anders. Dank hochgeschichteter Sandsteinblöcke und einer Kletter- und Scheuertanne sollten sie sich in ihrer Gefängnisgrube heimisch fühlen. Die braunen Mutzen, wie sie hießen, hatten betteln gelernt, was nicht weiter auffiel an einem Ort, wo das Parlament tagte, das landesweit Subventionen verteilte. Applaus ernteten die Kleinen, die sehnsüchtig zur Balustrade des Bärengrabens hinaufsahen und Karotten im Flug auffingen. Brachten die Bärinnen zu viele Junge zur Welt, kamen die überzähligen Nachfahren, noch blind und bevor sie gehen lernten, in die Weinbeize, genau wie Ausgewachsene, die wegen Überalterung oder Unverträglichkeit abgetan wurden. Die Tiere, die man auf Wappen und Fahnen verehrte, wurden in ausgesuchten Restaurants als einheimische Delikatesse serviert.

Den Eisbären seiner Kindertage hingegen hatte Past im Zoo angetroffen, auch wenn es nicht der gleiche war, auf dessen Fell er bei seinem ersten Geburtstag gesetzt worden war. Er hatte an den roten Glasaugen herumgeklaubt, bis ihm der Fotograf einen Klaps auf die Finger gab und er drauflosplärrte. Es brauchte Zeit, bis die Nase geputzt und das Gesicht gewaschen war und der Kleine seinen Trotz aufgab; man wünschte ein fröhliches Kind mit Matrosenmütze, das auf einem Eisbären reitet; er sollte vor Glück strahlen, weil er schon ein Jahr lang auf dieser Erde weilen durfte.

Nein, Past hatte seine Augen nie benötigt, um Bären zu jagen oder gegen sie anzukämpfen.

Allerdings, so war seit kurzem zu hören, waren Bären im Anmarsch, von Österreich und Slowenien her, keine Grenzen respektierend und keine Distanz scheuend. Die schweizerischen Alpen lockten, entvölkerte Täler, wo sich die wilden Huftiere vermehrten, auch appetitliche Schafherden, oft ohne Hirt und Hirtenhund.

Doch es war ein anderes Raubtier, dem Past begegnete: gelb glühende Augen, schwarze Zehen der Vorderläufe, ein Sprung, ein buschiger Schwanz, der die Spur im Neuschnee zu verwischen schien. Ein Fuchs, bei dessen Anblick Past, als sei er gebissen worden, zuerst das Wort »Tollwut« einfiel, doch, wie man ihn später aufklärte: Wenn schon, sei der Fuchsbandwurm gefährlicher, ein Parasit, der an die Leber geht.

Er hatte das Zusammentreffen in guter Erinnerung behalten: ein Tier, des Wildreviers überdrüssig, das sich urban anpaßte, das durch die Stadt irrte, ein Kollege aus der Zunft der Hunde. Er war ihm vor dem Haus begegnet, in dem sich die Stiftung befand und wo er auch seine Wohnung hatte, mitten in der Stadt. Die Schnauze hatte hinter einem Pfosten hervorgeschaut, ein Schnüffeln, als suche der Fuchs eine Fabel, um darin aufzutreten, doch dann nur mehr ein heiseres Bellen, ein Verlassenheitsruf.

Das verhielt sich mit den Tierchen anders, die eines Abends durch die Gasse huschten, ihre nackten Schwänze nachschleifend und pfeifend; sie krochen aus einem Anbau, in dem eine Boutique geplant war, der damals noch einem Gemüseladen als Schuppen für Abfälle diente und von wo diese an einem Wochenende nicht weggeschafft worden waren. Past wurde bewußt: Sie sitzen gleich um die Ecke in den Rohren und Abwässerkanälen: »Die Nager warten auf die nächstbeste Gelegenheit, mit der Hartnäckigkeit und Geduld all jener, auf die schon immer Jagd gemacht wurde.« Sie meldeten sich eines Tages auf unerwartete Weise und wurden alltägliche Begleiter. Nicht auf der Gasse tauchten sie auf, sondern auf einem Bildschirm, nicht leibhaftig, sondern als Informationsfeld: Es geht mit dem Spiel nicht mehr weiter, rats, aus und fertig.

DIE HÖHLEN, DIE PAST KENNENLERNTE, hatten kaum etwas mit jenen zu tun, in denen sich seine Vorfahren eingerichtet hatten.

Seine erste Radtour hatte er in die Zentralschweiz unternommen. Er genoß es, in der Straßenmitte zu fahren; in diesem Kriegsjahr war höchstens gelegentlich ein Auto unterwegs, gewöhnlich an Stelle eines Benzinmotors ein Holzvergaser als Ersatz. Ein schwarzes Militärvelo, für den Ausflug poliert, ohne Übersetzungen, mit Felgenbremse und Satteltasche. Der Gymnasiast radelte in die Urzeit. Zu einem Netz von Höhlen, entstanden aus Klüften und Schichtfugen, zu riesigen Hohlräumen, in denen Wasser seit einer Million Jahren Kalk auflöste und ihn nach draußen schwemmte.

Past suchte das Hölloch auf.

Voll Abenteuermut trug er sich hinterm Eisengitter ins Besucherbuch ein. War dies ein Tor zur Unterwelt? Auf einem verblichenen Plan Namen von Gängen wie Osiris, Orkus und Styx. Der Styx, floß der mit seinem tödlich kalten Wasser im Muotatal und nicht in Arkadien? Ob da unten ein Fährmann wartete, um ihn überzusetzen, und dafür eine Münze verlangte? Er würde ihm die leere Tasche zeigen: Er wolle die Tasche mit Wissen füllen und nicht dorthin gebracht werden, wo man vergißt. Osiris und Orkus, der mit der Tarnkappe und der mit Krummstab und Geißel – saßen der Ägypter und der Grieche am gleichen Tisch und waren sie als Totenrichter zuständig für Älpler, Sennen, Holzer und Wilderer? Was, wenn er, Past, eine Geliebte gehabt hätte, und die starb, und er sich entschloß, sie aus dem Totenreich zurückzuholen. Würde die Batterie der Taschenlampe ausreichen bei seinem Vorstoß durch Blockschutt und Sturzmaterial? Hätte er sich nicht besser mit Seil und Winde ausgerüstet, falls es galt, einen Schacht hinunterzuklettern, und, um der Geliebten beim Aufstieg zu helfen, wären nicht eine Strickleiter dienlicher und ein Brustgeschirr? Er klopfte an den Felsen, als müßte er prüfen, ob das Gestein brüchig sei oder nicht. Er machte erste Schritte. Sollte er ein Lied anstimmen, um all die, die im Lichtlosen leben, gnädig zu stimmen: den Grottenolm, die Spinne, den Laufkäfer, die Assel, den Krabbelwurm und den Gründelkrebs. Hatten diese Wesen überhaupt ein Gehör? Waren die Mächtigen der Unterwelt in diesem Gebirgsstock augenlos? Und wenn nicht, woher bezogen sie ihr Licht? Oder wurde das Totengericht von Blinden gehalten? Past wagte sich vor bis zur Kanzel und brüllte ins Dunkel: »Hallo!« Der Ruf zerschlug sich und wurde zurückgeworfen, über seinen Kopf hinweg und um seine Beine herum. Past drang weiter hinein und wiederholte das Lautgeben. Dank des Widerhalls fühlte er sich weniger allein. Nicht nur die Taschenlampe wies ihm den Weg. Das Echo lockte und verwirrte. Vor ihm eine Finsternis, deren bodenlose Tiefe er mit einem Steinwurf zu messen sich anschickte. Im irrenden Lichtkegel eine Fratze, ein Verwitterungsgebilde, das grinste, von der Gegenwand standen triefende Nasen ab, darüber Löcher, angeordnet wie Augenpaare, aus denen es tropfte. Ein Relief von Schädeln aus Schlieren und Spalten. Ein Zugwind, von irgendwoher, als streiche eine unsichtbare Hand über die Stirn. Ein Flattern, so daß er aufschreckte: Ein Vogel, der sich verflogen hatte, flüchtete von der einen Wand zur andern, vom Schein der Taschenlampe verführt, prallte er gegen das Gewölbe und glitt an dem von der Bergmilch weißen Überzug herunter, nach verzweifeltem Kreisen steuerte er in einen Stollen, tiefer ins Aussichtslose hinein. Past folgte ihm ein Stück weit. Ein fernes Plätschern. Der Stollen endete in einem Kriechgang. Past hatte sich in eine Seitenhöhle verirrt. Er bückte sich, kroch, bis er sich eingeklemmt hatte. Er zwängte sich frei. Er kletterte zurück, tastete sich den Wänden entlang, zwischen den Fingern Moos. Die Hände wurden feucht und kalt und leichenkalt, er rutschte auf losen Steinen und stürzte, er tappte auf den Knien vorwärts. Endlich Zementboden. Der Weg führte ins Helle. Draußen, von der Sonne geblendet, rieb Past sich die Augen.

Ein Mann in einer Sennenkutte begrüßte ihn; er lehnte an einem Heuschlitten. Die engen Drillichhosen in schwarzen Gamaschen; er nahm die Pfeife aus dem Mund und blies Past ein blaues Räuchlein entgegen: »Weit hinein hast du dich nicht gewagt. Bis zur Pagode jedenfalls nicht. Angst vor der Bösen Wand? Hast du die Rohrleiter bemerkt? Interessiert dich die Totenmühle nicht? Auch nicht die Rutschbahn?« Past zeigte auf seinen verknacksten Fuß. Und nach dem nächsten Zug aus der Pfeife: »Komm ein anderes Mal. Es gibt einiges an Stollen und Gängen zu entdecken. Vielleicht findest du einen, der noch keinen Namenhat, und du bestimmst, wie er heißt. Es wäre für immer dein Gang. Besetzt sind Teufelsgabel und Engelburg, Rätselgang und Einsamkeitsecke, ebenso Jammerstollen und Märchenschloß.«

Past sah sich suchend um. Er humpelte bis zur Gaststätte. Auch dort nichts. Während seines Einstiegs in die Unterwelt war ihm das Rad gestohlen worden.

Es dauerte Jahrzehnte, bis er wieder eine Höhle aufsuchte, diesmal eine mit einem unterirdischen See, als Attraktion eine Bootsfahrt, er saß eingeklemmt zwischen Mitgliedern eines schottischen Höhlenklubs. An der Kasse hatte er sich ausgerüstet mit Helm und einem Düsenreiniger für die Karbidlampe; ihr diffuses Licht erhellte die Schlote. Um die Haupthöhle auszuleuchten, brannte der Fährmann ein Magnesiumband ab und erzählte, wie rasch das Wasser stieg; er hatte Forscher zu ihrem Biwak gefahren, ihr Weg lasse sich Station um Station verfolgen, sie hatten bei den einzelnen Stollen an die Wand geschrieben: »Eintritt dann« und »Austritt wann«, bei den nächsten Stollen die gleichen Angaben, wiederum mit den genauen Uhrzeiten, und so weiter und so tiefer, doch dann … Der Fährmann machte halt vor einer Bronzetafel; auf ihr die Namen derer, die nie mehr zurückkehrten und die niemand fand: »Nicht zu vergessen«, gestiftet von John Lethe junior.

Manchmal war es Past, als habe er eine Chance verpaßt. Nach der Veröffentlichung seines Buches Eine Offenbarung und dem ersten Erfolg hatte ihm ein junger Österreicher geschrieben, »dem Traum nach Schatzsucher, der Ausbildung nach patentierter Höhlenführer«. Er hatte der Post einen Karabinerhaken beigelegt, »ein Amulett für den Einstieg in alle Tiefen«. Er bedankte sich für die Tips und bewies damit, daß er das Buch mißverstanden hatte. Verführerisch klang dennoch seine Offerte, auch wenn Past nicht darauf einging: ein begleiteter Besuch wichtiger Schauhöhlen, Höhlenburgen und Einsiedlerhöhlen, Türkenlöcher und Franzosenlöcher zum Unterschlupf vor fremden Truppen. Der Österreicher, auch Skilehrer und Bergführer, bot zusätzlich ein Schelmenloch und als Besonderheit einen prähistorischen Knochenfund mit Spuren einer Fesselung, die vermutlich den Verstorbenen hindern sollte, aus dem Totenreich zurückzukehren.

Zwischendurch hatten Past auch Höhlen neugierig gemacht, die nicht infolge von Erosion entstanden waren, so überraschend zernagtes und angefressenes Gestein sein mochte. Statt dessen Höhlen, welche der Mensch geschaffen hatte, Grotten, in denen die Stalaktiten und Stalagmiten von einem Handwerker entworfen und ausgeführt worden waren, kunstvoll fabrizierte Siterablagerungen in Perlen- oder Traubenform, die die Eingänge schmückten. So spannend die Inneneinrichtung dank Tuffstein, Muscheln und Mosaiken sich ausnehmen mochte, er fand die Nymphen fad, die hier zu Unterkunft und Sockelauftritt gekommen waren; wenn schon, hätte er an Brunnenscherzen und Wasserspielen Spaß gehabt, von denen er nur hörte und die er nie mit eigenen blaugrünen Augen gesehen hatte: eine Dame, die Orgel spielte, und ein Drache, der die Flügel schlug, Grottenautomaten, von Wasser betrieben.

Nachhaltig im Gedächtnis jedenfalls eine Höhle als Tempel und Wallfahrtsort. Dort, auf einer Insel, hatte er einen Shiva getroffen, dessen eine Hälfte männlich und deren andere weiblich war, die eine Hälfte der Haarkrone die des Mannes und die andere die der Frau, die Frauenhälfte mit Lotus und Spiegel und die Manneshälfte mit Dreizack. Beide Geschlechter in einem einzigen Körper vereint, Onanie und Zeugung der gleiche Akt.

Past hatte vor einem Phallus gestanden, einem erigierten Stein, einem Linga, neben jungen Ehepaaren, die um Kindersegen beteten, und neben andern, die sich für den Kindersegen bedankten, unter einem Himmel von Fledermäusen, die, erloschenen Lampen gleich, kopfunter von der Decke hingen.

Er kehrte an den Eingang zurück und erstand ein Blumengebinde und hängte es an den tanzenden Fuß des Standbilds. Im Gedenken an die leibliche Höhle, wo er, geschützt von einer verwundbaren Decke, in einer Fruchtblase vom Embryo zum Fötus herangewachsen war. Jasmin auch in Erinnerung an den Bauch, auf den er einst seine Hand gelegt hatte, um zu spüren, wie sich das bewegte, was sein Sohn werden sollte. Und Blüten für all die Leiber, zu denen seine Zunge mit Küssen Zugang gesucht hatte und in die er mit seinem Penis eingedrungen war, um für die Frist einer Lust Unterkunft zu finden.

DIE EINZIGEN HÖHLENBEWOHNER, denen er direkt ins Gesicht geschaut hatte, waren bereits Mumien gewesen, als er sie kennenlernte. Allerdings nicht solche, die in einer Gruft beigesetzt wurden, wo den Leichen Gestein und Lufttemperatur gnädig sind, unter ihnen als Attraktion die kleinste Mumie der Welt, ein Kind, dessen Rock und Schuhe der Verwesung mitgetrotzt hatten; das Eintrittsgeld wurde für Schutzpatrouillen auf dem Land verwendet. Es war auch nicht die Mumie eines Mächtigen, der von vornherein für den Glassarg hergerichtet wurde, zu dessen Besichtigung Past sich in eine Schlange stellen mußte, vor ihm eine Schulklasse, die nicht zu flüstern wagte, hinter ihm eine Parteidelegation, die sich im Verneigen übte. Ohne Zweifel waren die Mumien imposant, denen man das verderblich Sterbliche wie Hirn und Herz herausgenommen und die man für die Ewigkeit einbalsamiert hatte und die eines Tages eine Katalognummer bekamen, weggeholt aus Grabkammern, fachgerecht aus ihren Bandagen gewickelt, in ihrer ganzen Körperlänge oder in Hockstellung zur Schau gestellt. Einige sahen ihn aus den Augenhöhlen mit Edelsteinen an, die in keinem Grabesdunkel an Glanz verloren hatten.

Aufgesucht hatte er andere, solche, die sich zu Lebzeiten in Höhlen zurückgezogen hatten. Past war in engen, knapp mannshohen Gängen mit den übrigen Besuchern des Klosters an ihnen vorbeigezogen; hier unten hatten sie sich einmauern lassen, mit der Bruderschaft lediglich mit einer Durchreiche für Brot und Wasser verbunden. Nach dem Tod nicht zur Erde zurückgekehrt, aus der ihrem Credo gemäß Gott sie geschaffen hatte. In offnen Särgen lagen die Leichname, manche Kutte bis zum Hals von buntbestickten Tüchern bedeckt, in Zellen und Nischen für Wallfahrer und Touristen zurechtgerückt, die Hände gefaltet wie im Moment des Sterbens, die durchfurchte Haut gegerbt und das Haar von mattem Glanz. Der flackernde Schein der Kerze, mit der Past sich den Weg ausleuchtete, huschte über die ledernen Gesichter, weiße Zähne schimmerten hell in einem lippenlosen Mund, für Momente füllten sich die knöchernen Augenlöcher mit zuckendem Licht.

Diese Mumienbekanntschaft datierte aus der Zeit, als die Stadtverwaltung von Kiew im pädagogischen Zeichen des Atheismus sich mit einer Sonderschau »Höhlen und Mumifizierung« anschickte, mythische Hintergründe durch wissenschaftliche Erklärungen zu widerlegen: An Gottes Statt wirkten Lehm, Sand, Lößboden, konstante Lufttemperatur und daher keine Verwesung.

Erzählte Past von dieser Erfahrung, konnte er hören: Waren Sie noch nie in Kappadozien? Ganze Städte wurden da unterm Boden angelegt. Mehrgeschossig. Ein Labyrinth mit Wohnungen, Ställen und Kapellen. Vulkanische Verwitterung. Allein schon, was die Natur mit dem Tuffstein angestellt hat: Säulen, Pyramiden, Türme, Kegel mit und ohne Pilzhut. Kreationen von Wind und Wasser. Und die bizarre Landschaft fahlrot und violett zugleich oder rosa und gelb.

Einmal mehr wurde ihm klargemacht, was er verpaßt hatte und daß seine Augen Besseres hätten sehen können als das, was sie gesehen hatten. Mit was für Höhlen würde der Mandarin wohl aufwarten?

Doch beim Stichwort Höhle und Höhlenbewohner dachte Past nicht zuletzt an die Schattengestalten in seinem Kopf. Wegen seiner Schädelinsassen hatten ihn stets Menschen interessiert, die von ihrer Brust sprachen, wenn sie von dem redeten, was sich in ihnen abspielte. Bei ihm passierte in der Brust wenig, dafür um so mehr im Kopf, auch was Empfindungen betraf. Der Brustkorb, eingezäunt von Rippen, diente als Zeughaus und Rumpelkammer, als Requisitenraum und Garderobe. Die Auftritte aber fanden in seinem Kopf statt.

Hinter der Stirn tat sich eine Bühne auf, sie war Getto und Gefängnis, Bordell und Stadion, Hundehütte und Obdachlosenheim, Marktplatz und Schulstube. Dies und mehr war zu finden in den Windungen und Lappen eines Hirns. In jedem Augenblick war Geisterstunde. Für den Tänzer wie für den Krüppel. Dort fanden Morde statt und brannten Opfer. Bleiche und weiße Wesen, da im Dunkel lebend, ohne jede Pigmentierung. Lauernd und sprungbereit. Menschenähnliches erwachte, kaum hatte sich Past zur Ruhe gelegt. Schemen warteten eine günstige Phase im Schlafrhythmus ab. Im Schutz geschlossener Augen brachen sie zu Entdeckung und Irrfahrt auf, trieben Hatz und Spiel, mischten und jagten sich, zeugten Monster und vernichteten, was sie geboren und gezeugt hatten. Horror und Gag und Comic strip. Sie ritzten in weichen Grund Bilder und Zeichen. Blutlos die Wunden. Alle Schreie ohne Echo, das Schlagen und Bohren ohne Laut, stumm das Weinen und das Lustgekeuche, vom Zischen der Schlange und vom aufgeschreckten Flattern der Fledermäuse nichts zu vernehmen. Und unter allen, die hier auftauchten und verschwanden, einer, der ein Gesicht wie das von Past trug, ein Verkleidungskünstler, ein Doppel- und Fünffachgänger, einer, der von weit oben hinunterstürzte, ohne irgendwo aufzuschlagen.

Trieben sie es zu bunt, fuhr Past auf und verjagte sie, indem er die Augen öffnete und aus ihnen den Schlaf vertrieb. Schwerelose Wesen verloren ihre Schatten. Schauplatz und Akteure versanken im Dunkel, aus dem sie hochgestiegen waren. Ähnlich den Toten, die beim Öffnen des Sarges mit dem ersten Luftzug zu Staub zerfielen. Nur daß seine Höhlenbewohner hinterher wieder da waren und agierten; es nahm sich aus, als hätten sie die Zwischenzeit genutzt, um sich zu vermehren. Rudel von Unbefugten und Ungerufenen, die sich breitmachten.

Doch Past wußte nur zu gut, behielt er die Augen offen, tat sich vor ihnen, irgendwo und irgendwann, ein Irrwahn auf; schloß er vor Schreck und aus Wehrlosigkeit die blaugrünen Augen, mußte er damit rechnen, daß an Stelle des Wirrwarrs draußen sich ein Wirrwarr im Innern auftat.

NICHT NUR HÖHLENBEWOHNER durfte Past zu seinen Vorfahren zählen, sondern auch Pfahlbauer; sie meldeten sich zu dieser Nachtstunde in Pasts Arbeitszimmer, als sei »Höhle« ein Stichwort; sie benutzten die Assoziation wohl deswegen, weil sie mit den Höhlenbewohnern in der gleichen Lektion vorgekommen waren; sie konnten sich auf nichts anderes berufen als auf Schulstunden.

Beflissene Menschen, die sich mit wenig zufriedengaben. Daß die meisten gichtgeplagt waren, erfuhr Past erst später. Männer lernten Äcker anlegen und Weiden unterhalten, Frauen woben aus Tierhaaren und Pflanzenfasern Stoffe und verzierten die Töpfe vor dem Brennen durch Eindrücken von Schnüren.

Allerdings erhob sich ein Disput, ob am Zürichsee je welche gelebt hatten, die ihre Pfähle ins Wasser rammten und ihre Behausungen im See mit einem Palisadenzaun umgaben, oder ob sie ihre Siedlungen nicht vielmehr am Uferrand anlegten, auf Sandbänken und zwischen Schilfgürteln. In Anerkennung ihrer Forschungen waren Volksschullehrer mit Ehrendoktorwürden ausgezeichnet worden, weil sie »schlüssig bewiesen« hatten, wo sich auf den Seebauten Pferch und Tränke befunden und daß die Frauen ihre Töpfe an Astgabeln aufgehängt hatten.

Von Zeit zu Zeit brachte ein Taucher ein Stück Pfahl ans Licht oder ein Tongefäß. Eine glänzende Scherbe von einem Kochtopf zum Beispiel, an dessen Außenrand Spuren vom Überkochen festzustellen waren; daraus wurde geschlossen: Eine Hausfrau war vor fünftausend Jahren am Herd nicht aufmerksam gewesen.

Unerwartet war das Lehrmodell aus Pappe, Kleister, Sand und Sägemehl lebendig geworden. Das Stück Glas hatte sich nicht in eine Bucht mit klarem Wasser verwandelt. Die Pfähle staken im Schwemmland eines Deltas. Nicht ein Hund aus Papiermache, an seiner Stelle räudige Tiere, die jaulten und bellten; ein Kläffer biß sich den Weg frei, auf drei Beinen humpelnd. Schweine suhlten sich im nassen Müll. Am Ufer kein Schmelzofen, sondern eine Tankstelle. Unter Palmen zwischen Kokosschalen ein aufheulender Motor. Hütten aus Sperrmüll, Kistenholz und glattgeklopften Kanistern, bedeckt mit Wellblech oder Palmblättern, in die Luft hinaus stachen TV-Antennen. Aus irgendwelchen Hütten plärrte Musik.

Zögernd war Past Gil in die Siedlung gefolgt. Auf Stekken Stege und Behausungen, ein Wegsystem mit Plätzen und Kreuzungen, weit ins Niemandsland des Wassers gebaut, das kein Notar einem streitig machte. Das Schlammufer ölig verschmiert. In Tümpeln schaukelnder Abfall. Über allem der Geruch von Fauligem und Exkrementen. Menschen, die nicht Felle trugen, sondern Jeans und T-Shirts, und die nicht darauf stolz waren, die Agraffe erfunden zu haben, und die Lust zu mehr verspürten, als die Töpferscheibe zu drehen.

Sofort liefen zwei Pfahlbauerbuben auf ihn zu; jeder zerrte Past in eine andere Richtung zu seiner »fucky-fucky-Schwester«. Für einen Kaugummi ließen sie von ihrem Zuhältergeschäft ab. Gil verjagte sie und half mit einem Fußtritt nach.

Gil zeigte, wo er aufgewachsen war, im Mündungsdelta des Beberibe. Schwemmboden, weder dem Land noch dem Wasser gehörend, vom Fluß so wenig beansprucht wie vom Meer und beiden gleichgültig. Eine der Elendssiedlungen hieß Milch-Insel.

Gils Vater hatte sich nicht bewegen lassen, von hier wegzuziehen; er hatte in eine Hütte gewechselt, die näher am Kai lag; von dort war es leichter, Strom abzuzapfen für den Fernsehapparat und den Eisschrank, Geschenke seines Sohnes. Hier war man näher an der Brücke, die zwei Stadtteile verband und hinter der Wolkenkratzer und barocke Kirchtürme auftauchten. Von hier war es weniger weit zum Versammlungslokal »Die letzten Tage der Menschheit«.

Gil hatte Past ans Ende eines Stegs geführt. Dort hatten sie sich hingesetzt. Unten im Ebbeschlamm krochen Kinder, halbnackt, eine Plastikschüssel neben sich herschiebend oder eine Blechdose in der Hand, sie sanken ein, schubsten einander, halfen sich gegenseitig aus dem Dreck, krabbelten bäuchlings weiter, bis zu den Haaren verschmiert; sie suchten nach Krebsen, die der Fluß nicht mitnimmt, wenn er sich zurückzieht.

Er sei Krebssucher gewesen, sagte Gil: »Ich trage nach wie vor Schwemmland in meiner Brust, ich nehme es überallhin mit, wer weiß, ob nicht wieder der Moment kommt, um nach Krebsen zu suchen.«

Als sie auf den Bus warteten, machte Gil ein Geständnis, auf das Past nicht weiter einging, obwohl auch er davon hätte reden können, wie sehr er fürchtete, der Verführung toter Augen zu erliegen.

Gil gestand, er hasse Krebse: »Selbst wenn du ihnen das Vorderteil mit dem Kopf wegreißt, schauen sie dich an, obwohl sie vorgeben, in alle Richtungen zu blicken.« Er hatte als Junge in einem Restaurant mitgeholfen, Garnelen herzurichten: Körbe voll Schalen und darüber Augen gestreut, die tun, als hätten sie nichts mit den leeren Hülsen ihrer Körper zu schaffen.

Past erinnerte sich zu dieser nächtlichen Stunde an Gils Bemerkung. War ihm selber nicht schon längst, als seien ihm lediglich Augen geblieben, blaugrüne, die für sich schauten, als ginge der Rest sie nichts an?

WAS EINST DAS SCHULBUCH irgendwelcher Prähistorie zuwies, erlebte er anderswo als trist banale Aktualität – nicht nur mit Gil. Später auch an südostasiatischen Wasserstraßen und Buchten, Steckensiedlungen versteckt in Mangrovensümpfen, bei Fischern, die Seezigeuner hießen. Und eines Tages wurde er selber Pfahlbaubewohner.

Sie war in Tränen ausgebrochen. Als sie sich bückte, um die Minibar zu kontrollieren, hatte er gefragt: »How much?«, dazu eine Dollarnote in der Hand gerieben. Sie stützte sich schluchzend gegen die Wand, es schüttelte den schlanken Körper, den Past eben noch mit geilen Augen eingeschätzt hatte. Als er sie in die Arme schloß, zeigte sie ein verweintes Gesicht. Er sei so direkt gewesen, entschuldigte er sich, weil er nicht gewußt habe, wie gut sie Englisch beherrsche. Er hatte aus einem Zimmermädchen eine Hure gemacht.

Als sie sich am Eßstand beim Foodmarket trafen, gestand sie: Ihr sei gekündigt worden, eine Kollegin habe sie angeschwärzt, sie habe nichts anderes getan, als Seifen, Shampoos und Lotion an sich zu nehmen, die die Gäste nicht benutzten; ihre Familie zu Hause erwarte, daß sie Geld schicke, sie komme aus dem Nordosten, wo sie alle herkämen; mit »alle« meinte sie die Mädchen, die andern, die in den Klubs und Salons, nicht alle hätten wie sie ein laotisches Mondgesicht, das sei nicht so gefragt, weder von den Einheimischen noch von den Farangs, den Fremden. Sie sei die Älteste, von der erwarte man, daß sie für die Eltern und die jüngeren Geschwister sorge.

Sie fuhren auf der Straße der Freundschaft in den Nordosten. Wenige Autos und kaum Laster, hie und da ein Bus. Der Vietnamkrieg war längst zu Ende; die Überlandstraße wurde nicht mehr für Nachschub benutzt, in den amerikanischen Basen, die einst für Operationen in Laos dienten, zerfielen Kasernen und Massagesalons. Die Brücke über den Mekong zum Nachbarstaat Laos stand erst Jahre später, als Past, aus traurigem Anlaß, erneut über die Hügelkette ins Hochplateau von Issan fuhr.

Als Past den Wagen mietete, besorgte er sich eine Straßenkarte wegen eines Abstechers nach Phranomwan. Das liegt am Weg, aber Puy hatte noch nie diese Abzweigung genommen. Sie wußte von ihrer Arbeit im Hotel, was für ausgefallene Dinge Ausländer zu sehen wünschten. Sie war freudig erregt: Sie werde mit Past ihr Land kennenlernen; ohne ihn hätte sie nie in Bangkok den Tempel der Morgenröte aufgesucht und nie die Statue des europäischen Kapitäns kennengelernt und all die andern ausländischen Figuren, die so komisch sind, nie hätte sie den Mut gehabt, in einem Buddha bis in den Kopf hinaufzusteigen – was für ein ungewohnter Blick auf die goldenen Chedis von Bangkok. Doch, doch, in Chiang Mai war sie einmal, mit ihrer Schulklasse, oben auf dem Hügel im Wat Phrathat Doi, von wo sie ein Amulett nach Hause brachte, aber auch den Palast Phu Ping habe sie besucht, seither wisse sie, wie der König wohnt. Noch so gern erklärte sie, was jeweils auf Wandmalereien abgebildet war, auch wenn nicht immer klar wurde, weshalb eine Schlange den Rücken einer Harfe bildete und der Klangkörper zwei menschliche Augen aufwies oder weswegen Waffen sich in Lotusblüten verwandelten: »Aber hier, schau, an der Tempelmauer, die Familie, die den Vater in der Einsiedelei wiedertrifft, was die für Freude haben, auch wenn du es vielleicht nicht bemerkst, den Menschen ist es nicht erlaubt, Gefühle auszudrücken, aber weiter oben die Affen, die dürfen das, deswegen sind Affen so menschlich.«

In Phranomwan lag der Parkplatz vor einem modernen goldleuchtenden Klosterbau. Die Buddhas im Tempelturm trugen safrangelbe Schärpen, auch der Elefantengott war geschmückt. Zum ersten Mal besorgte Past in einem Tempel auch für sich Räucherstäbchen. Puy kniete nieder und machte vor, wie man mit den glimmenden Stäbchen in den gefalteten Händen wippt und sie zum Weiterglühen in ein Sandbecken steckt. Mühe hatte Past mit den Goldplättchen; schon beim Auspacken klebten sie ihm an den Fingern, so daß nur mehr Staub für die Buddhastatue übrigblieb. Mit Kerzen war er seit seiner Meßdienerzeit gewohnt umzugehen. Auch das Würfeln gelang ihm, nachdem er abgeschaut hatte, wie man den Orakelbecher mit gefalteten Händen bis vor die Stirn hochhebt, an etwas denkt, das man nicht aussprechen darf, und die Würfel schüttelt, bevor man sie mit einem Wurf auf den Boden streut. Puy las von einem Zettelchen ab, was ihn an Zukunft für die Anzahl der gewürfelten Augen erwartete. Zwischen den Steinquadern im Freien hingen Jasmingebinde. Während sie an einer zerfallenden Fassade vorbeikletterten, ertönte aus dem nahen Kloster der Tempelgong. Ihm antwortete ein Hahn.

Der Himmel hing schwer und lastend. Tief die Wolken, seit Wochen. Schwül die Luft und beklemmend der Atem. Klatschnaß das Hemd. Keine Bewegung ohne Schweißausbruch. Die Klimaanlage im Wagen funktionierte nicht. Sie fuhren an Feldern vorbei, die ausgetrocknet waren. Rissiger Boden, so weit das Auge reichte. Bäume auf Erdhügeln, nicht größer als ein Wurzelpaket, von den Bauern beim Bestellen und Ebnen der Felder belassen, um nicht den Schutzgeist, der im Baum wohnt, von seiner Stätte zu vertreiben; ansonsten nimmt er aus einem Boden, der schon karg genug ist, alles Fruchtbare mit.

Sie hielten am Straßenrand. Ein Halbwüchsiger versuchte, einen Wasserbüffel, der mitten auf dem Fahrweg lag, zum Aufstehen zu bewegen; er hieb auf ihn ein, versetzte ihm Tritte, er bettelte und beschwor das Tier. Der Büffel brüllte, reckte sich kurz hoch, bevor er zusammensackte und, den Asphalt leckend, vor Durst verendete. Der Junge hockte sich auf den Kadaver: Er getraue sich nicht nach Hause, der Büffel gehöre dem Landbesitzer, das Viehhüten sei Teil des Pachtzinses, und der Junge lief quer in die Felder hinein.

Als sie von der Hauptstraße weg über einen Erdweg auf ihr Ziel zusteuerten, nahm Past die Pfostenbauten eines Dorfes wahr. Die Häuser nicht über Wasser, sondern über der Erde. Wegen der Tiere und Tierchen, erklärte Puy, nein, vor Elefanten bräuchten sie keine Angst zu haben und Tiger kämen nur noch in Geschichten vor; Puy hatte einen in einem Film über einen Nationalpark gesehen.

Der Holzbau stand auf Pfählen inmitten von Mangobäumen. Unter dem Haus auf der Abstellfläche das Wrack von einem Pick-up, mit dem Puys Vater in den Tod gefahren war. Kisten und irgendwelche Plastikbehälter, ein Eisschrank, der funktionieren würde, wenn man ihn reparierte. Puy führte Past ums Haus: weitbauchige, irdene Gefäße, bis zum Rand eingegraben, mit Abläufen, die vom Dach das Regenwasser in die Behälter leiteten. Die Reservoirs waren leer wie die Regentonnen, die nicht in den Boden eingelassen waren. Am langen Hebel eines Reismörsers vorbei, kletterten sie die Brettertreppe hinauf ins Haus. Puy drehte sich um und lehrte ihn das Sprichwort: »Wer drei Stufen hinuntersteigt, ist nicht länger geborgen.«

Sie stiegen alle Stufen hinunter. Am Abend begleitete er Puy, ihre Geschwister und Nichten und Neffen zur Zapfstelle, wo es aus dem Ziehbrunnen nichts zu schöpfen gab. Dort fuhr der Zisternenwagen vor. Puy stritt um eine höhere Zuteilung von Wasser: Sie sei zurückgekehrt, die Familie sei um einen Fremden größer geworden. Ein junger Mann grüßte verlegen, schlich davon, nachdem er Past vorgestellt worden war – Nimit, der habe ihr jeweils geholfen, die Kanister zu tragen, was hätten sie als Burschen und Mädchen einander beim abendlichen Wasserholen angespritzt.

Puys Mutter hatte ein Moskitonetz ausgeliehen für Past und Puy. Ihre nackten Körper klebten vor Schweiß aneinander noch vor jeder Liebesanstrengung. Past wollte ihr schwarzes Haar liebkosen, im letzten Moment erinnerte er sich: Nicht über den Kopf streicheln, dort ist der Sitz der Seele. Wie Puy einmal sagte: Säße die Seele in der Brust, wäre sie blind, im Kopf hat die Seele Augen – ob es Seelen mit blaugrünen Augen gab?

Und mitten im Kuß ein Donnerschlag. Ein geplatzter Himmel. Aus den zerrissenen Wolken goß es. Der Regensturm hämmerte aufs Dach. Ein wild gewordener Wind rüttelte an den Wänden. Past erhob sich und sah hinaus. Die Erde kochte und stieß Dampf ab. Im nächtlichen Regen sprangen Kinder herum, hüpften und tanzten, die meisten nackt, sie legten den Kopf in den Nacken, ließen den Regen übers Gesicht laufen und tranken Wasser mit jeder Pore.

Past legte sich wieder zu Puy. Das Hausgerüst ächzte. Was, wenn die Pfähle brechen? Dann wird das Haus ein Schiff. Vielleicht trägt die Überschwemmung uns und unser Hausboot südwärts zur Mutter aller Wasser nach Bangkok und dort durch die Klongs und durch die wieder zu Kanälen gewordenen Straßen zum Delta und bis zum Golf, an Piratenschiffen und Flüchtlingsbooten vorbei, weit weg, bis dorthin, wo du herkommst. Sie zeichnete Routen mit ihrem Finger auf seine Brust. Draußen schlugen die Bambusstauden aneinander, eine melodiöse Sturmmusik, die dickeren Stämme mischten ihre dunklen Töne mit den hellen und höheren Klängen der dünnen Bambusrohre.

»Kao«, hatte sie geflüstert, bevor sie in den Schlaf fiel. Past wußte damals nicht, daß das Wort »Reis« bedeutet und auch die Bezeichnung für »essen« ist. Als Puy den Sohn gebar, hätte Past ihn gerne »Kao« genannt. Doch dieses Wort durfte nicht einem einzelnen Menschen gehören. Puy gab dem Jungen den Kosenamen »Regen«, Fon. In den wenigen Lebensmomenten, da Past mit sich einig war, pflegte er zu sagen: »Als der Regen kam, habe ich ein Reisfeld gezeugt.«

PAST WAR EBENSO BEUNRUHIGT WIE AMÜSIERT, wohin die Frage des Mandarins ihn entführte – zu Höhlenbewohnern und Pfahlbauern, zu solchen von heute und jenen von einst, in private Jahre und in Erdzeitalter. Nun interessierten ihn Anfänge, und zwar jeglicher Art, und dies nicht erst, seit es auf ein Ende zuging. Wenn er sich zu Spekulationen verführen ließ, mochte dies damit zusammenhängen, daß er aus Berufsgründen großräumig ansprechbar war, allerdings eher auf Jahrhunderte als gleich auf Erdzeitalter.

Er hatte anhand von Tafeln Erdzeitalter unterscheiden gelernt. Doch zusammengekriegt hätte er sie kaum mehr, schon gar nicht in der richtigen Reihenfolge. Und war doch einst mit »genügend« ausgezeichnet worden in der Prüfung, für die er gebüffelt hatte: Was folgte auf was? Das jüngere sicher dem älteren und das Unterkarbon dem Oberkarbon? Weswegen mußte man sich das Holozän merken: Irgendwann war es aus gewesen mit Riesenfarnen und Teerteichen, die Böden bedeckten sich mit einem Grünteppich; es wuchsen Bäume, wie Past sie antraf und benennen lernte, ob Birke oder Föhre.

Im Grunde ließ ihn jegliches Hintereinander gleichgültig. Mehr als Abfolgen beschäftigten ihn Nebeneinander und Gleichzeitigkeit.

Glücklicherweise war es bei den Erdzeitaltern nie auf ein paar Millionen Jahre mehr oder weniger angekommen. Im Gegensatz zu den Schlachten, deren Daten sie als Schüler auswendig lernten. Bei den vaterländischen Helden war auf Jahr und Tag festgelegt, wann sie gefallen waren oder wo und wann zum Sieg geblasen worden war; wie hätte man sonst Gedenktage feiern und Jahreszahlen auf Denkmalsockel setzen können.

Wozu Festreden, wenn in ihnen das gleiche gesagt wurde wie beim letzten Mal, als es auch schon überholt war? Weshalb sollten Frauen mitfeiern, wenn sie beim historischen Anlaß selber ausgeschlossen gewesen waren? War der, welcher auf einem Schlachtfeld Verwundete verband, homosexuell und ein Bankrotteur? An welchem Ort und welchem Tag müßten Scheiterhaufen angezündet werden im Gedenken an den läuternden Feuertod von Hexen?

Stets kamen neue Dokumente zum Vorschein, derentwegen man der Historie besser in einer Trauerminute gedachte als mit einem Feuerwerk. Das ging den Kollegen anderer Nationen nicht besser.

Und dementsprechend wurde auch diskutiert. Der Mandarin hätte sich noch gewundert, wie es im Aufenthaltsraum der Stiftung zugehen konnte, vor allem, wenn auswärtige Mitarbeiter zu Besuch oder für den Rapport da waren; da hätte er nicht nur nach blaugrünen Augen fragen können, sondern nach solchen ganz anderer Färbung und Tönung.

Der Aufenthaltsraum, den einige mensa nannten, andere Kantine und dritte Besenkasten, war der Treff für Kaffee- und Zigarettenpausen, der Ort für Klatsch und Tratsch, wo Interna und News verhandelt wurden: »Seit wann sind die nicht mehr zusammen?« – »Hat es nicht geheißen, er habe geerbt?« – »Wer fusioniert als nächster?«

Da wurde der Österreicher gefragt: Wie jubelt man auf dem Heldenplatz, ohne hinterher dabeigewesen zu sein? Weil einer mit einer Italienerin verheiratet war, hätte er den Unterschied zwischen der sizilianischen und der neapolitanischen Mafia erklären sollen und deren connection zur Vatikanbank. Am meisten bekam Miss Loyleen ab, allein deshalb, weil sie Amerikanerin war; zu ihren Pflichten gehörte es, die Spesenrechnungen gegenzuzeichnen, so daß sie bei Beanstandungen nicht selten zu hören kriegte: Und wie steht’s mit den Negern in Gottes eignem Land?

Nicht alle verhielten sich so cool wie James. Er war in einem Londoner Cockney-Viertel auf die Welt gekommen, gestritten und gespielt hatte er mit Dunkelhäutigen aus den Antillen und aus Pakistan, aufgewachsen war er, als sich die Teens und Twens in der Carnaby Street einkleideten. Er schwärmte für den britischen Ausverkauf: »Als Großbritannien von einem Empire auf eine Europa vorgelagerte Insel umstieg, nahm Great Britain das gelbe Unterseeboot, die Beatles spielten Bordmusik.« Past teilte seine musikalische Vorliebe. James war verantwortlich für die amerikanische Fassung der englischen Texte.

Andererseits war Monsignore Ignacio noch immer überzeugt, Spanien, hinter den gottgewollten Pyrenäen, sei das letzte Bollwerk des Christentums gegen den Kommunismus, selbst als es die Sowjetunion nicht mehr gab. Es trafen sich recht viele zum Amen, als Monsignore sein Büro bezog und den Computer segnete; vorbeugend trieb er den Teufel aus: »Retro, Satanas-Virus, weiche.«

Er verstand sich nicht schlecht mit dem Mitarbeiter aus Thüringen, der aus einem Land stammte, das einst das Lieblingskind der Mutter des Sozialismus gewesen war. Der sprach nicht von Erstkommunion, sondern von Jugendweihe; er hatte als Jugendlicher nicht schwarze Hemden getragen, sondern rote; die beiden konnten Erinnerungen an Jugendlager austauschen; sie hatten die gleichen Schiffer- und Weberknoten geübt und beim Fahnenappell strammgestanden. Einiges war Past aus seiner kurzen Pfadfinderzeit durchaus bekannt, auch er hatte sich per Orientierungslauf und Schnitzeljagd durch heimatliches Gelände gepirscht.

Aber im Gegensatz zu Past blieben die beiden dem Ungarn gegenüber reserviert; das mochte schon damit zusammenhängen, daß er die Frauen zur Begrüßung (»echt Donau-Stil«) die Hand küßte; sie behaupteten, sein Lächeln sei süß wie Rosenpaprika. Nun blieb Imre Nasc auch nicht lange in der Stiftung; seine Erfahrung mit ihr hatte ihm zu Hause zu einem Posten verholfen; er gehörte zu den Initianten, welche am Rand von Budapest einen Antipropagandapark einrichteten: einen Freiluft-Abstellraum der Geschichte, mit Standbildern, die die Glanz-und-Gloria-Zeit des Kommunismus verkörperten, aus dem ganzen Land hierhergebracht zur permanenten Götterdämmerung der Revolution. Imre hatte Past eingeladen; dieser hätte beinahe die Zufahrt verpaßt, doch dann endlich tauchten Marx und Engels in verschiedenen Größen hinter einem Maschendraht auf, Generäle und Kommissare, Helden und Heldinnen der Arbeit, manche Skulptur lädiert, beim Sturz vom Sockel zu Schaden gekommen, da fehlte eine Nase, dort war ein Unterschenkel weg, mit erhobener Hand wiesen sie andern Abgedankten den Weg ins Gehege, über ihnen ein Roter Stern mit angeschlagenen Zacken.

Einen anderen Park behielt Past stärker im Gedächtnis, genauer einen Garten. Davon hatte er bei seiner Rückkehr in der Stiftung nicht berichtet. Wenn schon, war sicher der Mandarin an der Erfahrung interessiert: Was sieht man mit blaugrünen Augen, wenn man sie schließt?

Past hatte im Stadtwäldchen auf einer Arkadenbank gesessen und zugeschaut, wie im Thermalfreibad Männer, bis zu den Achseln im Wasser stehend, Schach spielten. Läufer und Dame verschwanden im Dampf, und aus den Schwaden tauchten König und Bauern auf, über allem ein diesiger Dunst, verwehter Nebel. Von ferne die Tingeltangelmusik eines Karussells und aus dem nahen Zirkus ein gedämpftes Brüllen, dann ein Tusch. Als er weiterschlenderte, kam er unerwartet zum »Garten der Blinden«. Vor dem Tor ein Hund, der Führbügel ragte in die Luft. Neben ihm am Boden ein Langstock. Als Sehendem wurde Past der Zutritt verwehrt, er zwängte sein Gesicht zwischen die Gitterstäbe: Ein Blinder neigte sich zu einer Rose und horchte an ihrer Blüte. Noch nie hatte Past den Klang von Rosenblättern vernommen; im Moment seiner Entdeckung genierte er sich für seine Neugierde. Er schloß die Augen, griff in den Strauch vor ihm, hielt einen Zweig fest, strich über ein Blatt, rieb daran, streichelte es, die glatte Fläche mußte Glanz besitzen, er spürte auf den Fingerbeeren eine haarige Unterseite und das Klebrige eines Stiels und fragte sich, ob seine blaugrünen Augen je das Blatt einer Pflanze mit soviel Zärtlichkeit zur Kenntnis genommen hatten.

Wie stehen wir da vor der Geschichte? Mit dem Satz hatte ihn Friedo von Katzbach begrüßt, als er vom Budapest-Trip zurückgekehrt war. Rasch waren Katzbachs Bedenken grundsätzlich – ob jemand den Aschenbecher in den Papierkorb leerte oder eine Sekretärin über sexuelle Belästigung klagte, und mit vollem Recht sicher, als die Stiftungsräume versiegelt wurden: Wie stehen wir da vor der Geschichte?

Katzbach, ein Bundesdeutscher, der uneheliche Sohn eines französischen Besatzungsoffiziers, hatte als Komparatist den literarischen Ehebruch à la française, à la russe, à la portugaise und à l’allemande studiert. Er zeigte summa cum laude auf, wie ähnlich, unabhängig von Epoche und Kultur, Männer und Frauen einander hintergingen, auch wenn Ausstattung und Milieu unterschiedlich sein konnten und es einen Unterschied ausmachte, ob sich die Verführung in einer Kutsche hinter vorgezogenen Vorhängen abspielte oder zwischen Papierwänden vor einem schwarzlackierten Paravent, ob sich eine Frau hinterher vor den Zug warf oder ob sie wegen Ehebruchs in die Sklaverei verkauft wurde. Katzbach hatte die Thematik geöffnet, nicht nur geographisch nach Asien und Afrika hin. Seine Ehebruchkommentare spielten im Irdischen wie im Himmlischen. War es Ehebruch, wenn Indra von einem Prinzen dessen Gemahlin als Geschenk verlangte? Wer konnte wie David den Ehemann der Frau, die er begehrte, an die Front schicken, so daß er nicht eine Ehefrau, sondern eine Witwe beschlief. Und wer näherte sich schon wie der griechische Obergott den Frauen als Stier oder Schwan, war das ein indirekter Beweis ehelichen Respekts, der Gattin selber nicht animalisch beikommen zu wollen?

Skepsis rief Katzbach hervor, als man vernahm, daß er der literarischen Komparatistik eine politische folgen lassen wolle: »Vergleichende Politologie unter besonderer Berücksichtigung des Genozids«, ausgehend von einer Gegenüberstellung der Stalin-Lager und der Nazi-KZs.