9,99 €
Für den Immunen ist die Welt seit frühster Kindheit ein Theater. Seine Erzähl- und Beobachtungsgabe benützt er dennoch, um sich gegen Brutalität und Heuchelei zu ›immunisieren‹. Wie sollte man die Welt sonst ertragen? In der selbstkritischen Beschäftigung mit dem Ich gibt Hugo Loetscher in einer Fülle von Geschichten den Blick frei auf die Epoche, in der dieses Ich sich formte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 674
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hugo Loetscher
Roman
Diogenes
Das Theater konnte beginnen. Er lag in seinem Zuschauerraum, inmitten von Kissen, allein und strampelnd, vor sich die erste Bühne, den Ausschnitt eines ovalen Halbrunds, das die gekräuselten Vorhänge eines Stubenwagens abschlossen. Es waren seine ersten Vorhänge, die über einem Geschehen hochgingen.
Es gab zwei Hauptfiguren, die man sich merken mußte; die mit dem langen Haar, die war ganz wichtig, und jene mit dem Schnurrbart. Sie traten zur Hauptsache von rechts und von links auf, gelegentlich auch in der Mitte. Sie umarmten sich und zeigten mit ausgestreckten Fingern in den Stubenwagen: »Die Nase hat er von mir, aber den Mund von dir.« Sie schienen über ihn zu verfügen und sich anbiedern zu wollen. Beugten sie sich über ihn, wechselten sie ihr Deutsch; sie sagten »Dulli«, »Dalli« und »Dada«, das war die erste Bühnensprache, die er vernahm.
Auf dieser Bühne jenseits der Vorhänge gab es zwei Requisiten, die es ihm angetan hatten, eine Brust und eine Flasche. So verschieden die Brust und ihr Double, die Flasche, waren, sie besaßen etwas Gemeinsames: Sog man daran, kam etwas heraus, wobei die Temperatur der Brustmilch ausgeglichener war.
Dem Säugling gefiel die Vorstellung. Er brauchte nur zu weinen oder zu schreien, schon traten die Akteure auf, von rechts oder von links.
Er hatte anfänglich zu diesen Auftritten gebeten, wann immer er mochte. Aber die draußen schienen nicht bereit, zu jeder Stunde mitwirken zu wollen. Sie machten sich zusehends rarer; die beiden waren stärker. Wo vorerst die Darbietungen alle zwei Stunden stattgefunden hatten, gab es sie nur noch alle vier Stunden und am Ende nur noch vier Mal am Tag. Natürlich traten die Akteure auch zwischendurch auf, wobei sie oft Fremde mitbrachten. Er machte seine Fäuste; er weigerte sich, jederzeit ihrem Theater beizuwohnen.
Das Stück, das sie boten, blieb sich gleich, obwohl sie es mit weiteren Requisiten anreicherten. Sie hängten eine Glocke über ihn und gaben ihm eine Rassel in die Hand. Sie steckten ihm auch ein Gummiding in den Mund, das sich wie eine Brustspitze anfühlte; aber so sehr man daran lutschte, es kam nichts heraus.
Das mochte er sich nicht gefallen lassen; es blieb nur eines übrig, sich Zähne wachsen zu lassen.
Was hier en suite geboten wurde, wiederholte sich so oft, daß er nach dreizehn Monaten schrie, man möge das Stück absetzen. Sie hatten ihn immer wieder und immer regelmäßiger aus dem Stubenwagen geholt; sie hatten ihn herumgetragen und herumgezeigt. Aber er wollte endlich mit eigenem Programm auftreten. Er richtete sich auf und begann zu krabbeln, bis sie ihn draußen ließen und auf den Boden setzten.
Die Welt auf der Bühne bestand zunächst aus lauter Beinen, aus solchen, welche keine Schuhe anhatten, die gehörten den Tischen und Stühlen, und dann aus solchen, welche Schuhe trugen, die taten nicht so weh, stieß man den Kopf daran.
So saß er nun auf dem Boden und erblickte zwei Tatzen. Er schrie und schlug auf den Teppich. Er wollte, daß beide auftraten und ihm etwas vorführten, aber sie bewegten sich nicht, so sehr er auch kreischte.
Er machte eine wichtige Bühnenerfahrung: Es gab hier Dinge, die sich nicht zu einem bemühten, sondern zu denen man hingehen mußte, wollte man sie auftreten lassen. Er tat es dem Hund nach und kroch zu den Tatzen des Klaviers.
Auf dieser Bühne jenseits der Vorhänge kam er zu seinem ersten großen Auftritt. Er lernte bald das Stichwort »Gagag«. Sie hatten ihn gewickelt, was lästig war beim Herumkriechen. Er wollte den Panzer ablegen, daher merkte er sich sein Stichwort; kaum stammelte er »Gagag«, liefen sie und brachten ein neues Requisit, ein rundes Gefäß, das sie Töpfchen nannten. Er saß darauf und die andern standen herum und warteten, bis er fertig war. Da kroch er herunter, gab acht, daß er nichts umwarf, und stellte sich strahlend und erschöpft daneben. Beide Zuschauer applaudierten: Was für ein sauberes Kind, ein kluger Junge. Er war ein Star und schätzte den Applaus.
Aber eines Tages erlebte er seinen Durchfall. Er hatte schon längst nicht mehr bloß »Gagag« gesagt, sondern holte selber das Töpfchen. Sein Auftritt verlor zusehends an Interesse. Sie schienen es als selbstverständlich zu nehmen und taten, als ob Hunderte das Töpfchen benutzten. Da ging er aufs Ganze. Er wollte die Gunst zurückgewinnen. Die andern saßen in der Küche beim Essen. Er schleppte sein Töpfchen herzu, setzte sich darauf und strampelte mit den Beinen. Als er fertig war, hob er sein Töpfchen auf den Tisch. Aber das Publikum sprang auf, rief »Pfui« und »Du Stinker«. Vor Schreck fiel das Töpfchen zu Boden; er hatte zum ersten Mal versagt.
Sie sperrten ihn in ein völlig fremdes Dekor. In einem kleinen, fast dunklen Raum, wo das größte Versatzstück ein Thron war, und dies, nachdem sie ihn entthront hatten. Er mußte sich daran klammern, daß er nicht in den Schlund fiel, die Hosen wie eine Kette um die Knöchel. Unter ihm tat sich ein Abgrund auf, alle Wasser donnerten durch die Wände, als er vor Verzweiflung nach der Kette griff.
Die gleichen, die dir applaudieren, so hielt er seinen ersten Monolog, die gleichen, die dir zujubeln, die schimpfen und lachen dich aus. Fürs gleiche Stück. Und dabei warst du diesmal nicht schlechter als sonst.
Als Töpfchenhasser schlich er in die Stube. Um sein Engagement gebracht, spielte er mit seinen Zehen, dabei stieß er an den Stuhl, der vor dem Fenster stand. Er sah hoch, kletterte auf den Stuhl und entdeckte, was er schon oft gesehen hatte, die beiden Vorhänge vor den Fensterscheiben. Er schob sie beiseite und öffnete das Fenster. Was er sah, war zunächst ein Nichts, das ihn schwindeln ließ, dann senkte er seinen Kopf und schaute auf eine neue Bühne.
Da traten sie auf, sehr viele, aus allen Ecken und Richtungen, standen herum und rannten, fuhren in Wagen, die man nicht wie seinen schieben mußte. Sie verschwanden um die Ecke, und ganz andere kamen hervor.
Er weinte und plärrte, er gab wieder einmal den Einsatz. Die unten wollten nichts von ihm wissen. Wenn er nach dem Hund ein Bauklötzchen warf, hatte der reagiert. Warum sollte es nicht gleich sein mit denen da unten, weshalb sollte er nicht nach den Akteuren schmeißen. Das war vielleicht der einzige Weg, damit sie ihm das Theater boten, das er sich wünschte. Er machte sich an die Nähmaschine und plünderte die Knöpfe, selbst die großen blauen reuten ihn nicht. Doch traf er damit von seinem Fenstersims aus niemand. Auch der Speichel, den er im Mund zusammenlaufen ließ, fand kein Ziel. Der Wind trug die Spucke fort. Es blieb nur eines übrig, er mußte selber hinunter gehen. Wenn sie ihm nichts vorspielen wollten, griff er selbst ins Spiel ein.
Es war ihm nur nicht klar, ob sie alle das gleiche Stück spielten. Hatten sie erst damit begonnen oder war er viel zu spät gekommen? Dann war ihm wieder, als ob sie überhaupt nichts anderes als die große Pause boten.
Bei einem so weitläufigen Schauplatz von Straßen, Hinterhöfen und Gassen war er geradezu froh, daß es abgesteckte Spielplätze gab. Da war einer mit Brettern umgeben. Es war verboten, den Sand, der darin lag, hinauszutragen. Man benutzte eine kleine Schaufel, um im Sand zu graben und die Hügel festzuklopfen; man durfte damit nicht auf den Kopf des Mitspielers schlagen. Wer kein Eimerchen mitbrachte, dem rann alles durch die Finger. Wer keine Förmchen besaß, mußte selber schauen, wie er zu seinem Kuchen kam. Sie spielten »Mein, aber nicht dein«.
Sie spielten auch Gewinner und Verlierer. Es kam immer wieder aufs gleiche Stück hinaus, ob sie nach Regeln um einen Fußball stritten oder in der Küche würfelten. Rannten sie, rief einer: »Ich war vor dir beim Baum.« Fuhren sie Schlitten, schrie ein anderer: »Ich werde dich überholen.« Einer wurde Erster, und mindestens einer hatte das Nachsehen. Es hieß, verlieren sei nichts Besonderes, es sei nur ein Spiel, und es hieß gleichzeitig, man müsse verlieren lernen, das sei wichtig für später.
Bei so viel Theater überraschte es ihn, als eines Tages das Fräulein im Kindergarten sagte, sie würden Theater spielen, für Erwachsene, für die Eltern. Es sei richtiges Theater; beim richtigen Theater dürfe einer nur sagen, was zu seiner Rolle gehöre, und er dürfe nicht zu spät kommen.
Das Fräulein ließ sie aussuchen: Sie könnten Schneewittchen und die sieben Zwerge spielen, auch Dornröschen sei möglich oder Hänsel und Gretel. Aber sie einigten sich auf Rotkäppchen wegen des Wolfes. Als das Fräulein ihn fragte, was er spielen wolle, meinte er, Zwerge und Wölfe würden ihm schon gefallen, aber er würde lieber etwas spielen, was es noch nicht gebe. Er sah den Proben zu, unentschlossen, ob er bereuen solle, daß er nicht der Wolf war und nicht einmal ein Waldgeist, der heulte. Das Fräulein stand auf einer Bank und befestigte eine Stange, an welcher ein schwerer Stoff mit Messing-Ringen hing, der Vorhang. Da sprang der Junge auf und fragte, ob er nicht mitspielen dürfe, er wolle den Vorhang ziehen. Alle lachten ihn aus, das sei keine Rolle, das sei blöd, den Vorhangzieher sehe man gar nicht. Er aber dachte daran, etwas aus der Rolle des Vorhangziehers zu machen, und übte.
Als die Eltern dasaßen und schon unruhig wurden, zog er auf das vereinbarte Zeichen den Vorhang. Rotkäppchens Großmutter strickte und erzählte und blieb beim Wort »Kuchen« zum ersten Mal stecken. Es klopfte, schwer und »bumbum«. Die Großmutter sah zur Tür und fragte, wer denn komme, obwohl sie es genau wußte, sie hatten es geprobt. Die Tür ging langsam auf, man hörte ein schreckliches Knurren, worauf er den Vorhang zog.
Erwartungsvolle Stille, bis man hinter dem Vorhang ein Poltern und Fallen hörte. Der Wolf schrie, er sei noch gar nicht drangekommen, und stürzte sich auf den Vorhangzieher; dabei stieß er an die Großmutter, die vom Stuhl fiel. Da zog er von neuem den Vorhang auf.
Die Großmutter hatte sich im Strickzeug verfangen. Inzwischen zeigte sich auch Rotkäppchen, das wissen wollte, warum es nicht weitergehe und wann die Großmutter gefressen werde. Das Fräulein hakte dem Wolf den Pelz zu, mit dem er am Stuhl hängen geblieben war. Die Zuschauer kicherten und lachten. Der Wolf begann zu weinen. Als ihn die Zuschauer trösteten, legte er erst recht los, so daß Rotkäppchen seinen Korb stehen ließ und zu seiner Mutter im Saal lief. Darauf zog der Vorhangzieher den Vorhang zu.
Für eine Woche saß er in einer Ecke, mit dem Rücken zu den andern. Er durfte nicht im Ringelreihen mitmachen und nicht im Sandkasten am Gotthard weiterbauen. Er hatte sich überlegt, ob er nicht besser krank würde, war dann aber doch hingegangen. Über einen neuen Zeichenblock gebeugt, vor sich eine Schachtel mit frisch gespitzten Bleistiften, hielt er wieder einen stummen Monolog:
Ein Wolf, der die Großmutter nicht frißt, ist einmal etwas anderes. Wie blöd der Wolf geweint hatte, das war besser gewesen als alles, was sie geprobt hatten. Sie hatten behauptet, der Vorhangzieher sei keine Rolle, aber er hatte eine daraus gemacht; alle hatten von ihm gesprochen. Das mußte man sich merken. Man konnte auch zu seinem Auftritt kommen, wenn man nicht in Erscheinung trat. Nun nannten sie ihn einen Spielverderber, dabei hatten alle mitgemacht, auch die Eltern.
Unauffällig ging das Theater indessen weiter. Zumal sie den Text von den Großen übernahmen, auch wenn sie eigne Worte erfanden und an einer Geheimsprache herumlaborierten.
So streckten sie eines Tages die Arme aus und brummten als Flugzeuge, die Abessinier bombardierten. Das war etwas anderes als Indianer zu jagen, die man quälen durfte und die ihrerseits einen an den Marterpfahl fesselten. Natürlich schossen sie nach wie vor als Polizisten auf Gangster, und nach wie vor galten die als gute Gangster, die davonkamen und die Zunge herausstreckten.
Aber eines Tages führten sie richtig Krieg. Auch er marschierte mit, obwohl ihn die Großen nicht mitmachen lassen wollten. Die Zwölf- und Dreizehnjährigen spielten sonst nicht mit den kleinen Knöpfen, die erst in die zweite und dritte Klasse gingen. Die Großen waren Generäle und Oberste, aber sie brauchten Soldaten, denen sie befehlen konnten. Daher waren sie einverstanden, daß auch die Kleinen mitspielen durften, aber denen war nicht erlaubt, auf ihre Holzsäbel Abziehbilder zu kleben. Da die Kleinen einwilligten, kam eine Armee zustande, die in den Krieg zog.
Er wurde an die vorderste Front der Teppichklopfstange geschickt. So sehr er sich auch duckte, der Stein traf ihn am Kopf. Gerade als er wegrennen wollte, erinnerte er sich, daß, wer getroffen wird, stirbt, und daß er versprochen hatte, voll und ganz mitzumachen. Also setzte er zum Sterben an. Er besaß eine Sammlung von Indianerbildern aus Waschmittelpackungen. Er stemmte die Arme in die Hüften, stöhnte, geiferte, griff mit der Rechten in die Luft, schrie auf, den Blick zum Himmel der Balkone und der aufgehängten Wäsche gerichtet, dann sank er in die Knie und verschied, lag auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt, ein toter Soldat im Hinterhof.
Er war so gut gestorben, daß beide kriegführenden Parteien dem Sterben zugeschaut hatten und den Krieg unterbrachen. Sie baten ihn, aufzustehen und noch einmal zu sterben. Er willigte ein, aber nur, wenn sie ihm nicht noch einmal einen Stein an den Kopf warfen.
Also starb er noch einmal. Nur, daß er diesmal acht gab, sich nicht wieder die Knie aufzuschürfen. Nach seinem zweiten Tod wollten beide Parteien einen haben, der so gut stirbt. Er sagte aber, er mache nicht mehr mit, er sei gestorben und damit sei der Krieg zu Ende, zudem sei er zweimal gestorben, für jede Partei einmal, das genüge. Da wurden beide Parteien wütend auf ihn und jagten den, der Anlaß zum Waffenstillstand gewesen war.
Wieder einmal saß er nach einem Auftritt allein da. Nicht auf dem Narrenthron in einer Toilette und nicht in einer Strafecke, sondern im Freien auf einem Mäuerchen. Er stocherte mit seinem Holzschwert und führte einen Monolog:
Das Sicherste, um am Krieg nicht teilzunehmen, war, gleich anfangs zu fallen. Ferner hatte sich gezeigt, daß man beim zweiten Mal besser stirbt. Vielleicht mußte man einfach ganz oft sterben, bis es so langweilig wird, daß es zum Schluß einem selber nicht mehr auffällt.
Er gewöhnte sich ans Theater; es kam ihm allmählich wie Alltag vor. Nur heiraten mochte er nicht. Die Mädchen wollten an allen freien Mittwochnachmittagen heiraten, weil sie für ihre Puppen Väter wünschten. Die Jungens klärten sie auf, man brauche nicht zu heiraten, um Kinder zu haben. Aber die Mädchen heulten drauflos und drohten, sie würden nach Hause gehen und alles der Mutter erzählen. Dabei stand fest: Peter hatte keinen Vater, und dennoch hatte ihn die Mutter gekriegt. Also gerieten sie aneinander, ob Peter ein »unehrliches« oder ein »uneheliches« Kind sei. Am Ende willigten die Buben ein, nur um Ruhe zu haben. Lediglich er mochte sich nicht entscheiden. Wenn er Pia heiratete, hatte die zwar die schönsten Zöpfe, aber dann wird ihm Erika nicht mehr erlauben, auf dem Fahrrad ihres größeren Bruders zu fahren, am liebsten hätte er sowieso Sonja genommen, die wartete im Milchladen immer, bis sie an der Reihe war. Er konnte der Entscheidung nur ausweichen, indem er sich als Pfarrer zur Verfügung stellte und alle Jungen und Mädchen verheiratete. Aber als sie verheiratet waren, hatte er nichts mehr zu tun; sie hänselten ihn, und taufen wollten sie auch noch nicht, weil man nicht gleich nach der Hochzeit Kinder bekam.
Er saß da. Er ging nicht mit den Männern zur Arbeit, um die Hütte fertig zu bauen. Er sah zu, wie eine der jungverheirateten Frauenmädchen das Leintuch ausschüttelte, das sie eben noch als Brautschleier benutzt hatte. Da kam ihm die Idee, wie er sich wieder einschalten konnte. Wenn die Männer auf Arbeit waren, erschien der Staubsaugervertreter, von dem es hieß, er bleibe so lange in den Wohnungen bei den Frauen. Er klopfte bei einem der Mädchen an, die machte einen Knicks und wollte wissen, was der Pfarrer wünsche; er aber korrigierte, er sei nicht mehr Pfarrer, sondern Staubsaugervertreter. Sie bat ihn herein, er drückte sie gleich an sich und sagte, er wolle einen Kuß geben, aber auf den Bauch. Sie begann laut zu kichern, so daß alle Männer von der Arbeit nach Hause liefen und wissen wollten, was los sei. Er erklärte, es sei ungehörig, zu heiraten und den Frauen keinen Staubsauger zu kaufen, sie sollten an die Arbeit zurück, damit Geld für einen Staubsauger da sei. So verbrachte er einen lustigen Nachmittag allein mit den Mädchen als Staubsaugervertreter.
Nur Vreni hatte nicht geheiratet. Sie saß auf der Bank, allein und stumm, nicht einmal zuschauen tat sie. Als er fragte, warum sie nicht mitspiele, sagte sie, sie spiele schon lange mit, sie sei eine Witwe, aber nicht wie die großen, sie fange als Witwe an. Sie war die einzige, die in diesem Alter bereits die Fingernägel lang trug; sie spreizte die Hände und krallte sie in die Luft. Sie heiße gar nicht Vreni, und als er wissen wollte, wie denn, meinte sie: »Rat’ mal.«
Der Junge hockte sich vor die Bank und betrachtete das Mädchen. Der Auftritt gehörte ihr. Sie kauerte sich hin wie ein Tier; aber das Gesicht stammte von einem Mädchen. Sie kämmt auch die Brauen, stellte der Junge fest; wie gemalt lagen die Brauen über ihren Augen, und ebenso unbeweglich und streng die Lippen, als wären sie nicht aus Fleisch; aber sie waren doch zu weich, als daß sie aus Stein gewesen sein könnten. Sie hatte die Arme übereinandergelegt; es zeichneten sich Brüste ab. Er wunderte sich, daß dieses Tier mit Turnschuhen Füße und keine Tatzen hatte. Ihr Rock war hochgerutscht; ihr Unterrock fiel mit weichen Rüschen in zwei Bogen herunter. Der Junge spürte Scheu: Dieser Unterrock, diese Rüschen, das hatte er doch schon einmal gesehen. Von neuem entdeckte er zwei Vorhänge.
Hereinspaziert, meine Damen und Herren, hereinspaziert! Wollen Sie etwas Zusammenhangloses sehen, das doch zusammenkommt? Wollen Sie der unterhaltsamen Entwicklung beiwohnen, wie einer zur Bühne drängte und im Restaurant nebenan sein eigenes Theater auftat? Dann, meine Damen und Herren, sind Sie richtig. Genau das bieten wir, und wir bieten es jetzt und nur hier.
Hier drin ist der Plüsch so rot wie in den besten Häusern, das Polster so abgeschabt wie in ehrwürdigen Sälen, die Subventionen hoch und teuer die Stars. Doch heute zeigen wir etwas Besonderes. Hören Sie zu, und Sie verbringen den Abend mit uns.
Oder wollen Sie den Immunen als Statisten verpassen? Die Kasse ist gleich links und die Garderobe dahinter.
Vor dem Schwarzen Brett in der Eingangshalle eines Gymnasiums fing es an. Inmitten von Stundenplan-Änderungen und Rektorats-Mitteilungen: »Gesucht Gymnasiasten«.
Erleben Sie den Immunen als Volk und Gefolge, als was er anfing und worüber er nie hinausgekommen ist – auch wenn es für einmal zum Auftritt als Solist reichte, unfreiwillig, wie Sie sehen werden.
Als Gymnasiast mit höherer Bildung brachte er beste Voraussetzungen mit für die Komparserie. Er konnte an den Proben teilnehmen, weil er zum Mittagessen nicht nach Hause fuhr und sich vor den Lektionen der Randstunden drückte – einmal mehr steht am Anfang einer Karriere das Schuleschwänzen.
Was zögern Sie also, meine Damen und Herren. Soviel Massenszenen auf einmal werden nirgendwo sonst offeriert.
Sie werden den Immunen als Volk durch die Jahrhunderte begleiten. Sie schauen zu, wie er in Athen leidet, weil die Pest die Stadt heimsucht. Sie sind dabei, wie er auf dem Forum Romanum die Faust erhebt. Und wenn Sie ihn als Goten und Langobarden vermissen, dann nur, weil bisher kein Poet sich die Mühe machte, auch diese Völker vom Feuerwehrmann rechts zum Feuerwehrmann links wandern zu lassen. Aber als Germanen haben wir ihn wieder, denn er zieht zur Lure mit dem Ger in die Schlacht.
Wo immer der Immune als Statist auftrat, wir bieten davon so viele Szenen, wie die Bretter ertragen und der Fundus hergibt.
Sie sehen ihn nicht nur im Fell, in der Toga oder mit einem Mäanderband am griechischen Kleid. Sie erhalten Einblick in eine Wirtsstube, wo er während des Bauernkrieges mit der protestantischen Sache sympathisiert. Sie zittern mit in einem Kontor, wo er als Weber von einem emporgekommenen Weber verhöhnt wird. Sie unterhalten sich beim Verladen eines Schiffes: der Immune als Kuli, der einen Sack schleppt, und hinter den Kulissen wird er doppelt laufen müssen für den weiteren Auftritt, doch buckelt er beim zweiten Mal eine Kiste.
Auch ein Theater hat ein Budget. Auch hier wird am Volk gespart. Dafür zeigen wir Volk aller Art.
Aber nicht nur Volk erleben Sie, sondern auch Gefolge.
Sie sehen den Immunen, wie er hinterm Tisch sitzt, ein dürrer Beamter, der dankbar an Urteilen kritzelt. Oder wie er mit Würdenträgern der Inquisition zum Scheiterhaufen schreitet. Und wie er als Höfling seinen König vor der Guillotine wieder trifft.
Auch das nur eine Auswahl, meine Damen und Herren. Und diese nicht ohne Höhepunkt. Wir zeigen den Immunen am gleichen Abend als Volk und Gefolge, und zwar in ein und demselben Stück. In einem bedeutenden Schauspiel, in unserem Nationaldrama, im »Wilhelm Tell«. Operngläser sind bei den Platzanweiserinnen zu mieten.
Geben Sie acht, meine Damen und Herren, der vierte von rechts außen, der wird er sein. Er, der mitschwören wird, wenn ein anderer den Satz vorspricht: »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.« Er gehört zum Volk von Schwyz, das von rechts oben über die Pappberge kommt, in einem Wind, der Sie frieren macht, der sich aber legt, wie auch der See aufhört zu toben, sobald der erste zu reden ansetzt. Und ein bißchen später, bei uns schon in der übernächsten Szene, sehen Sie den gleichen Immunen im Gefolge des Tyrannen. Ein spannender Moment: Trifft der Held den Apfel oder nicht. Der Immune hält ein Burgfräulein an der Hand, und beide sind froh, daß die Soldaten im Kettenhemd mit ihren Lanzen dem Volk den Weg absperren.
Und wenn Sie sich ob eines solchen Wechsels und Wandels wundern – im Vertrauen, meine Damen und Herren: Auf welcher Seite einer steht, hängt nicht zuletzt auch davon ab, was für Kostüme passen. Und an Kostümen fehlt es uns nicht.
Aber was preisen wir diese Bühne an. Sie wissen selber, was dies für ein Schauspielhaus ist. Hinter diesen Türen wurde gegen Faschismus und Diktatur gekämpft. Emigrantentheater, Juden ohne Paß, aber mit Diktion, Freiheit mit Aufenthaltsbewilligung, die von Stempel zu Stempel verlängert werden mußte.
Auf einer solchen Bühne werden Sie den Immunen sehen. Zwar sind die großen Künstler längst in ein zerbombtes Deutschland zurückgekehrt. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Die Besatzung wird diskreter. Die Nazis bald wieder lauter, und die Zweiteilung perfekter. Die Währungsreform hat stattgefunden, die Remilitarisierung ist im Gange – und schon tritt unser Immuner als Fackelträger im »Sommernachtstraum« auf.
Profitieren Sie vom Augenblick, meine Damen und Herren, kommen Sie jetzt herein, ehe es mit der großen Erinnerung vorbei ist. Zwar hält der Ruhm noch an. Aber eines Tages bespricht hier ein Kabarettist die Verträge, und Groß-Aktionäre lassen sich den Bühnenhimmel erklären, über den sie per Anteilschein verfügen.
Kommen Sie jetzt herein, meine Damen und Herren. Leisten Sie sich den Immunen, wie er für Northumberland kämpft, das ihm egal ist, und wie er über eine Bühne gezerrt wird in einer Revolution, die nur zum Teil die seine wurde.
Nur keine Bedenken, weil er nicht Text vorträgt. Sie werden seine Stimme dennoch hören, ganz abgesehen davon, daß dem, der keinen Text hat, nicht eine Zeile gestrichen werden kann. Sie werden hören, wie er murrt; er hat als Volk das Murren geübt, den Barbararabarbara-Aufstand.
Aber wenn Sie befürchten, meine Damen und Herren, Volk und Gefolge sei nicht abendfüllend, wir haben auch an die Verwöhnten unter Ihnen gedacht. Sie werden den Immunen als schnurrenden Meerkater in der Walpurgisnacht erleben. Sie werden ihm als Troll begegnen, dem die Nase unters Kinn wächst. Wir haben an Einlagen gedacht: Als Gespenst führen wir den Immunen vor.
Aber wenn Sie wüßten, wie ahnungslos dieser Immune begann!
Kam er und meinte, einer, der um zwanzig nach acht schreit: »Brennt sie nieder die Paläste«, müsse auch wissen, warum um Viertel vor zehn das Haus in Flammen aufgeht, auch wenn es andere sind, die das Feuer legen, und nochmals andere, die sich ans Löschen machen, sofern sich das Löschen noch lohnt.
Er meinte, als Statist erhalte er ein Textbuch, um nachzulesen, in was für einem Stück er auftritt. Er gehörte zu denen, die das ganze Stück kennen wollen und auf Zusammenhang aus sind. Er bot damit einen der besten Lacher – und zwar hinter den Kulissen. Kommen Sie, lachen Sie mit.
Der Immune war für einen kurzen Moment Solist: als komischer Junger.
All das bieten wir und noch mehr. In Ihrer Eintrittskarte ist ein Gratisgetränk inbegriffen. Bewahren Sie den Coupon auf. Sie können ihn im Restaurant nebenan einlösen. Und dieses Restaurant ist mehr als irgendein Theatercafé.
Natürlich findet sich in ihm der Künstlertisch – mit den Bühnenarbeitern und Beleuchtern und unter ihnen die Schülerinnen und Schüler vom benachbarten Bühnenstudio: sie, die müde dreinschauen ob all dem Ruhm, der sie erwartet, und die jetzt schon gleichgültig sind ob all der Skandale, die sie einmal heraufbeschwören werden.
Auch hier tritt Ophelia auf – ohne Handrequisit, aber noch mit Wahnsinn im Auge. Tut sie Zucker in den Tee, ist’s, als verteile sie Rosmarin für die Treue. Und fährt sie zur Aufnahme ins Radiostudio, bittet sie um eine Kutsche, obwohl sie ein Taxi besteigt.
Da offerierte einer noch eben sein Königreich für ein Pferd. Und wenn er hinterher im Restaurant nach seinem Mantel sucht, meint die Hand, das verlorene Reich könnte am Kleiderhaken hängen.
Und die lange Hagere, die im Zugwind der offenen Tür fröstelt, es schüttelt sie, weil sie vor einer Maria Angst hat, die sie köpfen lassen wird; aber vorerst bestellt sie noch einen Theater-Kaffee – für Künstler zehn Rappen billiger.
In diesem Restaurant finden Sie auch den Immunen. Sie können mit ihm seine Neugierde teilen: Was machen die Figuren, wenn ihr Auftritt vorbei ist? Hier sah er zu, wie Heldinnen und Helden, die nicht mögen, daß man sie in einer Garderobe zurückläßt, sich an jene klammern, die ihnen Körper gaben, und die Heroinen und Heroen jenen auflauern, die ihnen zu Geste und Stimme verhelfen.
Aber nicht das ist der Grund, weshalb der Immune hier sitzt. Ihn interessierten immer weniger die Figuren, die für ihren Auftritt Schminke und Scheinwerfer brauchen, die für ihre Existenz auf einen Frisör und einen Schneider angewiesen sind. Nein – er sitzt in diesem Restaurant, weil er hier sein eignes Theater auftat: das demokratische Theater des anonymen Stolperns.
In diesem Theater können auch Sie mitmachen, unbesehen des Alters und des Geschlechts, der Herkunft, Bildung und Rasse, Menschen wie Sie und ein Mensch wie ich. Jeder spielt mit.
Und wenn der Immune seine Akteure nicht bezahlt, spricht das nicht dagegen, daß er ein guter Direktor ist.
Für sein Theater sparte er schon den Ausstattungschef, weil er gar keinen brauchte. Denn jeder bringt als Kostüm mit, was er auf dem Leib trägt. Und der Immune benötigte auch keinen Bühnenbildner. Den Aufbau besorgte ihm ein Architekt, der Gaststätten umbaut und der auch das Theater-Café renovierte. Der hatte einen neuen Eingang entworfen: Zwei Glasflügel und, wie Sie selber feststellen werden, drei vier Schritte weiter eine Stufe.
Über diese Stufe stolperte der Immune eines Tages. Und als er stolperte, kam ihm der Einfall, ein eignes Theater aufzutun. So finden wir ihn an einem Tischchen neben dem Eingang. Von dort schaut er zu, was den andern zum Stolpern alles einfällt.
Haben Sie gesehen, der erste ist schon gestolpert. Beinahe hätten Sie es verpaßt. Jetzt steht er da, betreten, er blickt zu Boden: der ist doch eben. Er weiß schon lange, daß da eine Stufe sein muß, aber er will es noch nicht glauben, bis er hinschaut und die Stufe entdeckt, von der er schon längst wußte. Wir haben den Auftritt des Verdutzten, der erstaunt ist, daß es auf der Welt so etwas wie Stufen gibt.
Die Stufe, meine Damen und Herren, ist eine Rampe, und alle, die auftreten, kommen über diese Rampe.
Schauen Sie mit dem Immunen dem zu, der beleidigt ist. Denn der Architekt hat diese Stufe nur gebaut, um ihn zu treffen, um ihn bloßzustellen. Es ist immer das gleiche: zuhause, im Büro und jetzt auch hier. Dabei wollte er nur rasch einen Kaffee trinken; sonst geht er um diese Zeit nie in ein Lokal, das kann er sich gar nicht gestatten. Aber kaum gönnt er sich was, kommt’s schief heraus. Eine so hohe Stufe; er hebt für einen Augenblick den Fuß und prüft ihn, voll überraschter Dankbarkeit, wie glimpflich alles abgelaufen ist. Diesmal noch.
Sie merken selber, meine Damen und Herren, da stolpert einer nicht einfach ins Lokal. Da stolpert einer aus der Einsamkeit mitten ins Gespräch. Er setzt sich auch gleich nach dem Stolpern an den Nebentisch: Sonst spürt er seinen Fuß nur bei Föhn. Aber seit dem Arbeitsunfall ist das anders. Auch seine Schwester doktort schon lange herum. Von Spezialist zu Spezialist. Das soll er Ihnen besser selber erzählen. Beachten Sie, wie glücklich der ist, daß er stolperte. Das schuf Kontakt.
Meine Damen und Herren, wir bieten Ihnen eine Stufe, die mitspielt, obwohl sie unbeweglich bleibt und nicht von der Stelle weicht; sie wird höher und tiefer, je nachdem, wer darüber stolpert.
Schauen Sie dem Nächsten zu. Zu Tode erschrocken und ängstlich dreht er sich um. Er bückt sich, ohne daß er kurzsichtig ist. Er betrachtet die Stufe genau, er mißt mit den Augen das Gummiband, welches die Stufe abschließt; er widmet seine Aufmerksamkeit der Breite dieser Stufe. Sie gehört von nun an zu seinem Leben. Es ist eine der zärtlichsten Stufen, die er je in seinem Leben angetroffen hat.
Also hereinspaziert, meine Damen und Herren, dann sehen Sie auch den Hüpfer. Den, der »hoppla« sagt. Der nichts Außergewöhnliches daran findet, daß er stolpert. So hüpft er gleich nochmals, gibt ein Stolpern als Dreingabe. Er macht klar, es wäre viel besser, nur zu hüpfen; so tänzelt er, schon bereit, über die nächsten Stufen hinwegzutanzen. Viel besser als hüpfen und tänzeln wäre natürlich fliegen.
Aber warum zähle ich Ihnen auf, meine Damen und Herren, was Sie selbst anschauen können. Wollen Sie nicht hereinkommen und auch jenen sehen, der gar nicht merkt, daß er stolpert. Wie der Betrunkene: da fliegt die Glastür auf. Schon lehnt er schief an der Türe, hält sich an der Wand und schaut, ob jedermann bemerkt, wie aufrecht er steht. Dann wagt er den ersten Schritt und fällt mit dem ganzen Gewicht auf den einen Fuß, kommt zur Stufe und torkelt darüber – was soll ihm eine Stufe, da er schon auf ebener Erde stolpert.
Aber es könnte ja sein, meine Damen und Herren, daß einer hereinkommt, den Schritt in seiner Länge so angelegt, daß er über die Stufe hinwegschreitet, als sei sie gar nicht vorhanden, einer, der ohne Schaden und Schwierigkeiten darüber hinwegkommt. An ihm zeigen wir noch etwas. An ihm zeigen wir, wie der Immune ins Spiel eingreift:
Ihn nämlich, ihn fixiert der Immune, so daß der andere unsicher wird. Er weiß nicht, wozu der forschende Blick und die auskundschaftenden Augen. Er bleibt stehen, ist neugierig und schaut seinerseits den Immunen an. Der aber fährt blitzschnell mit den Augen von der Person weg zur Stufe und fixiert diese. Und diesem Blick folgt der, welcher nicht stolperte, und dabei stolpert er in Gedanken und wird bleich.
Nun sieht er die Stufe, sie wächst vor ihm, wird ungeheuer groß, zu einer Gefahr, die er nicht bemerkt hat. Sofort schaut er auf seine Füße, ob sie nicht jetzt vor einer andern oder ähnlichen Gefahr stehen. Er könnte ja direkt in den Abgrund schreiten. Und er, der über die Stufe hinwegschritt, als wäre sie nicht vorhanden, wird in Zukunft dort Stufen suchen, wo es keine gibt.
Hereinspaziert, meine Damen und Herren, die Sache geht gleich los. Sie werden am Schluß nicht auf Ihren Händen sitzen bleiben. Verpassen Sie die Vorstellung, erleben Sie den Immunen erst wieder, wie er an der Besetzung eines Theaters teilnimmt – aber das, meine Damen und Herren, das ist ein anderes Stück.
Sie möchten, daß ich mitspiele? Bitte sehr. Ich habe es versucht. Am guten Willen allein fehlte es nicht. Aber als ich mich selber fragte, ob ich mitspielen soll, war ich schon längst mit von der Partie. Als ich davonlief und ausbrach, rannte ich vor einer Sache davon, bei der ich bereits mitgemacht hatte. Die Komplizenschaft begann mit dem Tag, als ich auf die Welt kam.
Nun kann ich mir denken, der Intellektuelle liegt Ihnen nicht so sehr. Aber als Intellektueller habe ich es versucht. Er gefiel mir selber auch nicht immer, aufgeben wollte ich ihn nicht. Zudem konnte ich den Intellektuellen eher richten als den Mechaniker, obwohl – von der Herkunft her lag der Mechaniker durchaus drin.
Wie möchten Sie mich also haben?
Nun müssen Sie bedenken, ich gehöre zu jener Generation, die nach 1945 glaubte, jetzt fängt der Frieden an. Wie wenig das der Fall war, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Wir meinten, nach der Niederlage der faschistischen Diktaturen beginne das Zeitalter der Demokratie. Am Tag des Kriegsendes rannten wir in der Schulpause zum Kiosk und kauften die Extrablätter, wir standen herum und diskutierten. Wir waren zweimal jung, einmal vom Jahrgang her, und erst noch, weil die Weltgeschichte jung war.
Soll ich Ihnen als hoffnungsvoller junger Mann kommen? Als solchen habe ich mich eingestellt, das darf ich sagen. Ich war voller Hoffnungen. Aber es zeigte sich bald, daß die Hoffnungen, die ich hatte, nicht die gleichen waren wie jene, die andere auf mich setzten. Das wurde uns allen im Laufe der Zeit immer klarer.
Gut, wenn der junge hoffnungsvolle Mann nicht richtig war, schauen wir, was sonst noch drin liegt.
Denn zum Beispiel: Was fange ich mit dem Mann in mir an? Hoffnungsvoller Twen ist auch nicht alles. Nicht nur, weil man jedes Jahr einen Geburtstag hat und dies alle Jahre rascher. Vielleicht möchten Sie mich als virile Erscheinung. Als Kerl oder Typ oder wie immer Sie das nennen. Hart, aber nicht erbarmungslos. Wenn Sie meinen, hänge ich den Colt für Sie um und reite »bis zum bitteren Ende des Regenbogens«. In der Ferne die Sierra Madre, wohin das Wasser aus der Büffeltasche kaum reicht. John, der Verräter, weist mir den Weg. Ich habe es meiner Mutter neben dem Planwagen versprochen. Also bleibe ich im Sattel. Den hat mir Pearson geschenkt; sie haben ihn erschossen, als er sich nach Spuren bückte.
Ich bin ein Schnappschuß-Schütze. Ich ziehe blitzschnell. Ich hatte nie was übrig für die Anschlag-Schützen, die sorgfältig zielen. Ich habe auch nie mein Bowie-Messer für den Kampf gebraucht. Meine Ehrenhändel trage ich anders aus. Ich benutze das Messer zum Schlachten und Essen, ich beschneide damit die Hufe, und manchmal benutze ich es auch fürs Zaunpfahl-Setzen. Für das, worum es mir geht, habe ich eine single action army, Kaliber 45.
Und wenn ich ein paar hundert Meter ins Canyon stürze, oder der Balkon bricht unter mir zusammen und ich falle in den brennenden Stall, oder wenn ich auf dem fahrenden Zug von Waggon zu Waggon springen muß – dann nehme ich dafür ein Double. Auch ein Double muß leben. Wozu gibt es den stuntman und wozu hat er seine Tricks? Also lasse ich mich vom Pferd über Stock und Stein schleifen, ohne daß es mir was ausmacht. Ich muß mich schließlich für den nächsten Auftritt erhalten, das bin ich schon Ihnen schuldig. Sie wollen doch bestimmt einen intakten Helden, ich bin bereit, intakt zu bleiben. So abwegig finde ich das nicht, ein Double einzusetzen. Ich komme in meinem Fall mit einem einzigen aus. Ich bin nicht ein General, der Armeen als Double einsetzt, ich bin kein Politiker, der ganze Völker für seine Freiheit braucht, und kein Unternehmer, der Belegschaften als Double arbeiten läßt.
Aber eben, ich habe mir nicht den Colt in den Gurt gesteckt, sondern eine Schreibmaschine vor mich hingestellt und konnte sie nicht einmal mit allen zehn Fingern bedienen.
Oder soll ich Ihnen als Romeo kommen? Und wenn ja, wie wünschen Sie meine Frisur? Lasse ich die Haare wachsen, hängen mir die Locken bis zu den Lippen. Und wenn Sie möchten, daß ich Gitarre spiele – es gibt jetzt Fernkurse, da kann man zuhause vor dem Bildschirm üben. Aber ich bringe vielleicht besser einige LP’s mit, die legen wir auf, so lange, bis draußen die, welche von der Nachtarbeit heimkehren, jene grüßen, die zur Frühschicht gehen.
Nur eines müssen Sie verstehen, die Tragödie mag ich nicht. Ungern jedenfalls. Wozu ein Doppelselbstmord, nur weil die Post nicht richtig funktionierte. Wäre der Brief rechtzeitig in Verona eingetroffen, hätte Julia kein Gift nehmen und Romeo sich hinterher nicht erdolchen müssen. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig die öffentlichen Dienste sind. Bei uns in der Schweiz verhindert schon die ordentliche Postzustellung die Tragödien.
Vielleicht wollen Sie mich als einen ganz andern Helden? Als einen, der im Kampf der Produktion, der Verteilung und des Konsums steht. Ich hätte durchaus das Zeug zum business-man. Ich eigne mich als Manager. Ich spüre es deutlich, ich habe etwas von einer Führungskraft in mir. Soll ich Ihnen als jemand kommen, der ausgesprochen kooperationsfähig ist?
Ich würde natürlich nicht als etablierter Problemlöser auftreten. Der Informationsfluß soll nicht nur von oben nach unten, sondern auch umgekehrt fließen. Es geht um die Freiheit am Arbeitsplatz. Da könnte ich aufbauend mitwirken. Nur mit Anordnungsbefugnissen, doch stets für die Rückfrage da. Weit weg von allen Autoritäten, aber mit einer dynamischen Auffassung vom Betrieb.
Meine Intelligenz wurde geprüft, unter anderem mit der Uhr. Wobei es sich natürlich um angewandte Intelligenz handelte. Was nützt es, klug zu sein und sich seinen Untergebenen nicht mitteilen zu können? Der Führungsanspruch ergibt sich ja nicht zuletzt aus der Fähigkeit, sich der allgemeinen Denkweise anzupassen.
Ich erhielt den Tip, was ich anstreichen mußte beim Test. Ich habe nicht übertrieben. Man muß gewisse Schwächen eingestehen, so jedenfalls, daß man sich in jedem Spannungsfeld behauptet. Es ergab sich bei der Prüfung ein Mann, der es versteht, Mißerfolge zu übersehen und Erfolge hervorzuheben, auch die der andern. Völlig Partner-zentriert und team-bezogen, sich der Sachzwänge bewußt, aber ihnen nicht ausgeliefert. Mit aller gesunden Skepsis gegen Schreibtisch-Mentalität, dafür umso sicherer in der Branchenkenntnis.
Es ging natürlich nicht zuletzt um die Belastbarkeit meiner Person, um die psychische, physische und intellektuelle. Bei dieser Gratwanderung zwischen Leistungsanspruch, kontinuierlicher Überprüfung und Selbstkontrolle braucht es eine bestimmte Zerreißfestigkeit. So wurde auch meine Vitalität getestet; es leuchtet ein, als Führungskraft darf ich weder eine vegetative noch zentralnervöse noch intellektuelle Labilität mitbringen. Und Belastbarkeit mußte mich doch interessieren.
Ich hatte mein Chefbureau. Was habe ich Sitzungen vorbereitet und mitimprovisiert! O ja, ich war ein Mann, der seine Spesen selbst prüfte. Ich habe nicht alle Briefe unterschrieben, die ich diktierte, da »nach Diktat verreist«. Ich kenne es: »Ich muß leider unterbrechen, ich habe London auf der andern Leitung.«
Wie man’s macht, war mir weniger ein Problem, vielmehr die Frage, wozu und überhaupt. Ganz abgesehen davon frage ich mich, wozu der Karrierestreß, wenn ich anderseits die Fähigkeit habe, ohne Arbeit auszukommen?
Ich würde mich dann eher aufs Gesellschaftliche verlegen. Nicht wie ein Playboy. Mir liegt nichts an Klatschspalten, und was die fashionablen Orte betrifft – das Hochgebirge finde ich dumm und das Meer stur. Ich würde mich lieber meinen Freunden und Bekannten widmen, im kleinen Kreis. Ein paar Tage bei der alten von Hertenstein verbringen. Aber das dürfte sich jetzt eh geben, nachdem ich öfters in Mailand zu tun habe. Die guten tschechischen Hemdenmacher sterben alle aus. Glücklicherweise habe ich jetzt einen kleinen Schneider hinter der Piazza del Duomo.
Ich würde natürlich viel lesen. Vor allem Biographisches. Es überrascht mich immer wieder, wie oft es vorkommt, daß ein Leben Stoff für ein paar hundert Seiten hergibt. Auch Historisches hab ich nicht ungern. Man denkt da in größerer Dimension und verausgabt sich nicht im Kleingeld der Tagesaktualität. Doch würde ich auch Briefe schreiben. Von Hand, versteht sich. Ich frage mich manchmal, ob die Leute später einmal ihre gesammelten Telefongespräche herausgeben wollen. Ich würde bestimmt sammeln, hatte stets eine Vorliebe für Auktionskataloge. Dabei habe ich kein enges Verhältnis zum Besitz. Die Möglichkeiten machen mir mehr Spaß als das Haben. Ohne gewisse curiosité kann ich nicht leben. Aber wozu ich mich auch immer entscheiden werde, es wird etwas sein, an dem ich mich delektiere.
Sie sehen, wir könnten durchaus auf diese Weise angenehme Stunden verbringen. Was das Leben ohne direkte Arbeit betrifft, müßte ich keinen Kurs besuchen und keinen Test bestehen. Oder möchten Sie doch lieber einen haben, der seinen Sinn fürs Allgemeine kultiviert? Dem die Gesellschaft und unser aller Wohl am Herzen liegt? Einer, der sich in den Dienst der Sache stellt, der sich unseres Landes annimmt? Und dies im kleinen Bereich, wenn es sein muß, schon in der Gemeinde? Was heißt da »schon«, gerade in der Gemeinde!
Ich habe das Zeug zum politischen Redner. Natürlich nicht zum üblichen schweizerischen Festredner. Der hat ja keine Ahnung, wie man richtig atmet. Der ist viel zu sehr ergriffen von sich und seinem Auftrag. Kaum hat er »liebe Miteidgenossen« gesagt, ist der ganze Krampf schon da. Er hat eben so viel zu sagen und möchte alles auf einmal sagen. Das gibt den berühmten Druck auf den Kehlkopf, eine Spannung in den Stimmlippen. Ehe er das erste Mal »Vaterland« gebraucht, schnappt er schon ins Falsett. Alles wird in Kopflage vorgebracht, stimmlich, meine ich. Es fehlt die Balance zwischen Brustkorb und Zwerchfell. So spricht er immer einen Ton zu hoch, was heißt einen Ton, eine ganze Oktave.
Wenn ich in die Politik ginge, würde ich vorher Atemübungen machen. Ich legte mich zuhause mit dem Rücken aufs Sofa, ein paar Telefonbücher auf der Brust zum Beschweren und ein paar Lexika. Die müßte ich mir doch kaufen, wenn ich in die Politik ginge. Dann hielte ich den Atem an und entwickelte so allmählich einen Atemumfang, ich würde nicht schon heiser, ehe ich von der Zukunft zu sprechen begänne. Das ist doch alles lernbar. Ich würde mich vorbereiten. Ich brächte Erfahrungen mit.
Bitte sehr, ich war im Verbandswesen tätig. Ich weiß, wie wichtig eine Geschäftsordnung ist. Man muß sie nur genau kennen, vor allem, wenn es um einen Punkt der Tagesordnung geht, der einem nicht paßt. Es versteht sich, daß die vertraulichen Gespräche entscheidend sind: unter uns Gegnern sind wir uns einig, aber wie erkläre ich es den eigenen Leuten?
Ich würde mir durchaus Verhandlungen und Absprachen zutrauen: ich gebe den Ringfinger und du den Daumen, dann opfern wir die katholische Hand gegen den protestantischen Fuß, und die Juden müssen was anderes als die Vorhaut auf den Tisch legen, wir tauschen die liberale Rippe gegen die sozialistische Faust und handeln mit der bäuerlichen Hosenbodenscholle. Und wenn wir alle Krüppel sind, beschließen wir in voller Übereinstimmung Subventionen für Rollstuhl, Krücke und Blindenhund.
Wie man’s macht, das ist tatsächlich nicht die Frage. Richten könnte ich es schon mit etwas Glück, den Umständen und, wenn es sein muß, mit etwas Beziehungen. Aber ich weiß, daß es schief herauskäme, selbst wenn ich eine Zeitlang mitspielen würde. Einmal mehr. Ich weiß, ich würde stolpern. Dann zahlt es sich aus, daß ich Fallübungen gemacht habe.
Schauen Sie, die Grundlage aller Akrobatik beruht darin, einem die Angst vor dem Fall zu nehmen. Oder um es anders zu sagen: man muß eine Liebe zum Boden entwickeln. Man muß aus dem Boden, der ein Gegner ist, einen Freund machen, etwas, dem man sich gerne nähert und dem man sich gerne auf alle Arten nähert.
Da ich mit dem Fall rechnen muß, habe ich also meine Angst vor dem Boden verloren. Ich versuchte, ein Teil dieses Bodens zu werden. Dabei stürze ich natürlich nicht Gesicht voran oder rücklings. Damit das nicht geschieht, neige ich mich dem Boden zu, nähere mich ihm, allmählich. Mit dem Fuß zuerst, dann mit den Fesseln, dann mit dem Unterschenkel und immer gerade aufwärts, schön der Reihe nach, kein Glied und keinen Körperteil vergessend, vom Knie über den Oberschenkel bis zum Kopf. Wenn ich stürze, kommen nicht zuerst die Hände dran, sondern die Arme. Wenn man das übt, kann man ganze Treppen hinunterstürzen, ohne daß es zu nennenswerten Prellungen oder Schürfwunden kommt; ganze Etagen und ganze Karrieren können Sie auf diese Weise hinunterfallen, vom obersten Stock, am Portier vorbei, direkt auf die Straße.
Nur eben, das muß ich zugeben, manchmal merkte ich erst hinterher, daß ich gefallen war. Ich hatte den Moment verpaßt, meine Kunst als Akrobat einzusetzen. Ich habe den Boden als Freund verloren, er erwies sich als klassischer Menschenfeind.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: