An einem dieser stillen Tage - Olaf Hauke - E-Book

An einem dieser stillen Tage E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Die Trennung von seiner Frau hat den Komponisten Andreas Jahn völlig aus der Bahn geworfen. Sie hat ihn mit seinem langjährigen Manager betrogen und für Chris, den künftigen Schwiegersohn von Andreas, hat es den Eindruck, als wären die beiden dabei, den Komponisten auch finanziell in den Ruin zu treiben. So hat Chris nicht nur die Aufgabe, die Betrügereien zu beweisen, er muss auch dafür sorgen, dass Andreas nicht völlig den Lebensmut verliert. Die Ideen, die er hat, sind allerdings reichlich unkonventionell...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Ende

An einem dieser stillen Tage

Olaf Hauke

2021

Copyright 2021

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover: G. Altmann

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

„Ich habe dich gewarnt. Noch hast du die Chance, zurück zum Wagen zu gehen und dort auf mich zu warten.“

Chris schüttelte den Kopf, rollte die Augen und tippte sich an die Stirn. „In letzter Zeit neigst du ein wenig dazu, die Drama-Queen zu spielen“, stellte er trocken fest und folgte Zoe, die die Treppe mit ausgewählt langsamen Schritten in den zweiten Stock empor stieg. Vermutlich hatte sie viel mehr Angst vor dem, was sie dort oben erwarten würde als er.

Er verschwieg ihr, dass er sich, nachdem sie bereits in den letzten Tagen immer wieder düstere Andeutungen über den Zustand ihres Vaters gemacht hatte, eine ältere Jeans angezogen und Gummihandschuhe eingesteckt hatte. Auch sie trug eine einfache, schwarze Jeans und einen Sweater, den sie normalerweise an einem faulen Sonntag trug, wenn sie gemeinsam vor dem Fernseher auf dem Sofa lagen und sich irgendwelche Filme ansahen.

Seit fast einem Jahr waren die beiden nun ein Paar, doch ihren Vater hatte Chris nie kennengelernt. Sie hatte auch kaum über ihre Familie gesprochen, obwohl sie, so vermutete es zumindest Chris, eine tiefe Liebe für ihren Vater empfinden musste. Er hatte von sich aus einige Male gefragt, doch in der Regel nur ausweichende Antworten erhalten. Schließlich hatte er es aufgegeben und die Entscheidung gefällt, dass sie ihm alles erzählen würde, wenn sie fand, dass die Zeit dazu gekommen war.

Und dann, vor wenigen Tagen, hatte sie erklärt, dass sie sich Sorgen um ihren Vater machen würde. Eine genauere Erklärung hatte sie nicht gegeben, aber das war nicht ihre Art. Sie war in Frankfurt zu einem Shooting gewesen, sie hatten sich am Abend per Video unterhalten.

Sofort hatte Chris sich bereit erklärt, nach ihm zu sehen, doch seine Freundin hatte nur energisch mit dem Kopf geschüttelt und erklärt, dass sie ihn nach ihrer Rückkehr, wenn sie einige Tage frei wäre, aufsuchen würde. Chris musste zugeben, dass er nicht locker gelassen hatte, bis sie sich eher zähneknirschend bereit erklärt hatte, ihn als Begleitung zu akzeptieren.

Nach ihren einsilbigen Schilderungen hatte Chris mit einem abgestürzten Trinker gerechnet, der in den schlechten Ecken der Stadt zu Hause war. Zoe war in ihrem Beruf als Model überaus erfolgreich, vielleicht hatte das Geld die beiden getrennt.

Doch die kurze Fahrt hatte in der Südstadt geendet, in einer Tiefgarage eines teuren Appartement-Hauses. Sie hätten auch mit einem Fahrstuhl nach oben fahren können, doch Zoe hatte zunächst einen ziemlich überfüllten Briefkasten geleert und danach die Treppe genommen. Das Haus machte einen gepflegten, luxuriösen Eindruck. Es hatte sogar eine Art Hausmeister oder Sicherheitsmenschen gegeben, der Zoe freundlich gegrüßt hatte.

Nein, das hier war mit Sicherheit keine Absteige, in der ein Trinker sein bescheidenes Leben fristete.

Chris formulierte in seinem Kopf einige Fragen, doch ein Blick in Zoes Augen verriet ihm, dass es besser war, den Mund zu halten. Ihre vollen Lippen waren schmal geworden, ihre Schultern spannten sich, die aufrechte, sportliche Haltung war leicht in sich zusammengesunken.

Im zweiten Stock bog sie ohne eine Erklärung nach rechts ab und lief mit noch zögerlicheren Schritten einen hellen, breiten Flur entlang. Die Türen lagen in weitem Abstand voneinander und ließen vermuten, dass die Wohnungen dahinter groß und geräumig waren.

Möglicherweise hatte sie für ihren Vater hier eine Wohnung angemietet? Von ihren Einkünften hätte sie es sich leisten können, daran hatte Chris nicht den geringsten Zweifel. Ihre Finanzen hatte sie bisher selbst geregelt, wie in anderen Dingen war sie sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht.

Niemand war zu sehen, alles wirkte ruhig und entspannt. Vermutlich waren die meisten Bewohner jetzt am späten Vormittag bei irgendeiner gut bezahlten Arbeit.

Auch Chris hätte um diese Zeit ein Gespräch mit einem Mandanten gehabt, doch er war zu neugierig gewesen und hatte seine Sekretärin gebeten, den Termin zu verschieben. Er war gut genug im Geschäft um sich diesen Freiraum nehmen zu können.

Um ein Haar hätte er Zoes schlanke, hoch gewachsene Gestalt umgelaufen, denn sie war unvermittelt vor einer Tür stehengeblieben und hatte einen Schlüssel aus der Hosentasche gezogen.

Chris konnte sehen, wie sich ihr Kiefer ganz leicht bewegte, so, als würde sie unhörbar mit sich selbst sprechen. Seit ihrer Rückkehr aus Frankfurt wirkte sie angespannt und in sich gekehrt. Sie war nie eine Plaudertasche gewesen, aber ihr Schweigen hatte sich seit ihrer Offenbarung über ihren Vater noch verstärkt. Chris hatte bemerkt, dass sie mehrmals in der Nacht wach gewesen war, doch er hatte nicht weiter nachgefragt.

„Hier ist es“, sagte Zoe und ließ ihren Worten einen leichten Seufzer folgen. Chris nickte nur und trat instinktiv einen Schritt zurück, so als würde im nächsten Moment ein bissiger Hund durch die geöffnete Tür springen. Sie schob mit ihren langen, schlanken Fingern den Schlüssel in das Schloss und brauchte tatsächlich zwei Anläufe, bis sie ihn herumgedreht hatte.

Es knackte, die Tür sprang leise auf. Chris spürte, wie die Nervosität nach seinem Kopf griff und ihn fest umklammerte. Was zum Teufel würde ihn hier erwarten.

„Bringen wir es hinter uns“, stellte Zoe trocken fest und drückte die Tür auf.

Kapitel 2

Die ersten Dinge, die Chris durch die offene Tür bemerkte, waren der kahle, weiß gestrichene Flur und die warme, säuerliche Luft, die ihm entgegen schlug. Instinktiv hielt er den Atem an und drehte den Kopf leicht zur Seite. Zoe schenkte ihm keine Beachtung. Er hatte den Eindruck als würde sie die Luft anhalten und mit zwei entschlossenen Schritten die Wohnung betreten.

Ehe er ihr folgen konnte, war sie im Inneren verschwunden.

„Oh mein Gott“, hörte er von drinnen ihren Ausruf. Für einen Moment kam ihm das Bild eines toten Mannes in den Sinn, der in seinem Erbrochenen reglos auf dem Bett lag und an die Decke starrte. Hastig folgte er ihr, nahm die Tür, die links von dem kleinen, kahlen Flur abzweigte und stand in einem völlig vermüllten Schlafzimmer.

Der Mann auf dem ungemachten Bett sah zwar aus, als hätte er sich irgendwann in den letzten Stunden übergeben, aber er machte einen lebendigen, wenn auch müden und geistesabwesenden Eindruck. Zoe war inzwischen durch den Raum geeilt, hatte die Vorhänge beiseite gerissen und das Fenster geöffnet. Kalte Frühlingsluft drang ins Innere des muffigen Raumes.

„Bist du verrückt geworden?“ beschwerte sich ihr Vater mit brüchiger Stimme und riss die Arme hoch, um sich vor der einfallenden Sonne zu schützen. Er stieß ein eigentümliches Röcheln aus und sank in sich zusammen wie ein Vampir in einem schlechten Horror-Film.

Zoe drehte sich um, ihre grünen, großen Augen funkelten. Mit einem Mal war das Grübeln der letzten Tage aus ihnen verschwunden und einer trotzigen Kampfeslust gewichen. Vielleicht hatte auch sie einen Moment daran gedacht, dass sie ihren Vater hier leblos vorfinden würde?

„Darf ich vorstellen – mein Vater!“ Ihre Stimme zerschnitt den Raum wie ein frisch geschärftes Messer und ließ den Mann auf dem Bett noch mehr in sich zusammensinken. Er stieß lediglich ein Grunzen aus, das man mit etwas Fantasie als eine Art Begrüßung werten konnte.

Chris wollte etwas entgegnen, doch niemand schien Interesse an ihm zu haben. Zoe bückte sich und hob zwei leere Flaschen auf. Der Teppich machte den Eindruck, als wäre er seit Monaten nicht mehr abgesaugt oder anders gereinigt worden. Auch die anderen Möbel zeigten eine dicke Schicht an Staub und klebrigem Schmutz. Chris bemerkte allerdings sofort, dass sie vor einigen Jahren bestimmt nicht billig gewesen sein mussten. Und damals, so überlegte er sofort, hatte Zoe noch kein Geld verdient.

Der Mann auf dem Bett sah auf und schaute Chris aus müden, rot geäderten Augen an. Er war unrasiert, hatte erstaunlich volle, dunkle Haare, durch die sich einzelne silberne Fäden zogen. Vermutlich wäre er ein attraktiver Mann gewesen, wenn er nicht all die Flaschen geleert hätte, die sich im Raum verteilt hatten.

Für eine Sekunde bildete sich Chris ein, das Gesicht zu kennen, aber dabei konnte es sich nur um einen Irrtum handeln. Es war ein Trinker, der sich die Wohnung nicht leisten konnte, sondern von seiner Tochter unterstützt wurde, die sich auch ein wenig für ihn schämte.

„Ich habe einige Müllsäcke dabei, dort werde ich den gröbsten Dreck entsorgen“, sagte Zoe, wobei Chris nicht wusste, ob sie mit ihm oder ihrem Vater sprach. Doch der war nach wie vor damit beschäftigt, sich vor dem Sonnenlicht zu verstecken. In den hellen Lichtstrahlen tanzte der Staub, immerhin besserte sich die Qualität der Luft im Raum zusehends.

Chris nahm einen der Säcke entgegen und ging mechanisch nach nebenan. Das Wohnzimmer war in zwei Räume geteilt mit einem hübsch gemauerten Durchgang. An den Wänden hingen einige geschmackvolle Bilder. Chris trat näher und betrachtete sie. Er war kein Experte, aber er sah sofort, dass es sich um Radierungen handelte, die man hinter teurem Museumsglas vor dem Licht schützte. Chris war sich spontan sicher, dass es sich um Originale handelte.

Die Möbel waren mit einer Staubschicht überzogen, aber sie machten keinen kaputten Eindruck. Auch die Elektrogeräte waren teuer und, sobald man den Staub von ihnen entfernte, machten einen modernen Eindruck. In einer Ladestation entdeckte Chris ein Mobiltelefon der neuesten Generation, das aufgeregt mit grünem Blinken verkündete, neue Nachrichten bereitzuhalten.

Chris fand auch hier einige Flaschen, doch selbst die Spirituosen waren nicht billig gewesen. Immerhin ging Zoes Vater stilvoll seinen Weg in den Abgrund, dachte Chris.

Er warf sie in den Müllsack und stieß auf einer Anrichte neben zwei hübschen, afrikanisch wirkenden Statuetten auf einen Haufen Post, der achtlos und ungeöffnet abgelegt worden war. Offenbar machte sich Zoes Vater schon länger nicht mehr die Mühe, an ihn adressierte Briefe zu öffnen.

Eher beiläufig überflog Chris einen großen Umschlag. Er war davon ausgegangen, irgendein Inkassounternehmen oder eine Firma als Absender zu lesen. Umso verwunderter blieben seine Augen an der geschwungenen Schrift über der Adresse von Zoes Vater hängen.

„Das ist von einem Musik-Verlag“, meinte Chris zu Zoe, die ebenfalls ins Wohnzimmer kam, einen vollgestopften Sack in der Hand.

Mit einem Brummen griff Zoe den Umschlag und riss ihn auf, obwohl er nicht an sie gerichtet war. Sie zog ein kleines Bündel Unterlagen hervor.

„Es ist ein Vertrag, den er unterschreiben sollte“, sagte sie mit einem Kopfschütteln.

Chris konnte ihr nicht folgen.

„Ein Vertrag?“

Zoe machte ein wütendes Geräusch und legte die Papiere achtlos beiseite. Sie zögerte einen Augenblick, dann sah sie Chris nachdenklich an. „Ich weiß, dass der Zeitpunkt ein wenig verrückt ist – aber hast du das ernst gemeint mit der Verlobung?“

Chris zuckte zusammen. Sofort verkrampfte sich sein Magen, sein Mund trocknete schlagartig aus. Verdammt, dachte er, warum muss sie mir ausgerechnet jetzt einen Korb geben? Er brachte lediglich ein Nicken zustande. Wie konnte er jetzt sein Gesicht wahren? Was sollte er sagen? Sollte er kühl bleiben, möglichst schnell den Rückzug antreten?

„Ich habe deine Frage damals nicht beantwortet.“ Sie sah ihn ruhig an, ihre schmalen Lippen zuckten leicht. „Ja, Chris, ja, ich könnte mir gut vorstellen, dich zu heiraten“, sagte sie ohne jede Vorwarnung.

Chris glaubte für einen Moment, dass sein Herz stehenbleiben würde. Er schnappte leicht dümmlich nach Luft und verharrte eine Sekunde ängstlich in der Erwartung, dass nun ein ‚aber’ folgen würde. Doch es folgte nicht, es kam tatsächlich nicht.

Sie zauberte für einen Moment ein Lächeln auf ihr schönes Gesicht, Chris trat auf sie zu und küsste sie. Er war noch immer wie betäubt von ihren Worten. Längst hatte er es aufgegeben, auf eine Antwort zu hoffen, noch dazu eine, die so positiv und überraschend kam.

Schon nach wenigen Sekunden löste sie sich von ihm und streichelte ihm noch einmal über den Kopf. „Ich wollte wenigstens mit der Antwort warten, bis du meinen Vater gesehen hast“, stellte sie fest und wirkte jetzt schon wieder ruhig und beherrscht.

War daher die Anspannung gekommen? Hatte sie erst seine Reaktion auf ihren Vater abgewartet um ihm dann ihr Ja zu schenken?

„Dein Vater scheint etwas Unterstützung zu brauchen“, stellte Chris fest und hörte selbst, wie albern seine Worte klangen. „Du hast ihm zwar diese Wohnung besorgt, aber ... “

Zoe sah ihn einen Moment irritiert an, dann fing sie schlagartig und aus vollem Halse an zu lachen.

„Du meinst, ich bezahle hierfür?“ Sie sah sich um, griff nach einigen der ungeöffneten Briefe. Schnell schien sie die Passenden gefunden zu haben und riss sie ziemlich respektlos auf.

„Zoe, das sind immerhin Briefe an deinen Vater, die kannst du nicht so einfach ... “ Chris griff mechanisch nach dem Schreiben, das ihm das Model mit hochgezogenen Augenbrauen reichte.

„Das ist eine Abrechnung für deinen Vater, die ... mein Gott, das sind Tantiemen!“

Chris war für einen Moment sprachlos. „Das sind über zehntausend Euro“, brachte er heiser hervor. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er ging mit schnellen Schritten nach nebenan und starrte auf den Mann, der noch immer auf dem Bett saß, aber sich immerhin inzwischen aufgerichtet hatte.

„Andreas Jahn“, sagte er und bekam den Mund nicht mehr zu. „Sie sind Andreas Jahn, DER Andreas Jahn! Zoe Jahn – Andreas Jahn!“ Dreimal musste er sich wiederholen, ehe er die Worte begriff.

Kapitel 3

„Ich habe nicht mal auf das Klingelschild geachtet, ich ... hatte ja keine Ahnung.“

Chris hatte sich neben den Mann auf das Bett gesetzt, denn er hatte das Gefühl, sich unmöglich weiter auf den Beinen halten zu können. Sein Blick wanderte zwischen Andreas Jahn und Zoe, die im Türrahmen lehnte, hin und her. Er fasste sich an die Stirn und massierte sie.

„Und Sie sind ... ?“ fragte Andreas Jahn und kratzte sich am Kinn. Er sah seine Tochter an und nickte in Richtung Fenster. Aber sie schüttelte nur stumm den Kopf. Seine Stimme war rau, sie klang, als wäre sie lange nicht benutzt worden. Er wirkte fremd in seiner eigenen Wohnung.

„Chris ... Chris Brenner. Ich bin ... ich bin der Freund Ihrer Tochter, Herr Jahn. Sie hat gerade ... ich meine, wir wollen ... meine Herren, das ist alles ein bisschen viel auf einmal.“

Zoe trat an das Fenster und schloss es. „Er wollte sagen, dass er nicht ahnte, wer mein Vater ist. Ach ja, und dass ich seinen Heiratsantrag angenommen habe.“

Die Worte schienen nur langsam in das Bewusstsein des Mannes auf dem Bett zu dringen. „Ach, dann sind Sie so etwas wie mein künftiger Schwiegersohn, nicht wahr? In diesem Fall – ich heiße Andreas!“ Er gähnte, schien für einen Moment versucht, sich wieder auf das Bett zu legen. Ein drohender Blick seiner energischen Tochter hielt ihn davon ab.

Er wartete die Antwort von Chris nicht ab, sondern stemmte sich vom Bett hoch und verließ das Schlafzimmer. Wenige Augenblicke später konnte man hören, wie eine Tür ins Schloss fiel, danach folgten dezente Würge-Geräusche.

„Es geht ihm tatsächlich nicht gut“, sagte Chris gedehnt, noch immer unter dem Bann der letzten Minuten stehend.

Zoe stieß einen langgezogenen Seufzer aus. „Hast du in den letzten Monaten etwas von Andreas Jahn gehört? Gab es neue Soundtracks oder etwas in der Art?“

Chris zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ich bin da nicht so auf dem Laufenden. Aber du weißt, dass ich mehrere Playlists mit deinem Vater habe. Oh Mann, es liefen doch immer seine Lieder, wenn wir ... “

Zoe zuckte mit den Schultern. „Ich bin ein wenig aus der Art geschlagen, ich bin völlig unmusikalisch.“

„Ich weiß, ich sitze manchmal neben dir im Auto, wenn du einen Song im Radio mitsingst, wenn man es Singen nennen kann.“

Zoe verzog ihr hübsches Gesicht. „Ich kann eigentlich hervorragend singen, du hast nur ein schlechtes Gehör. Aber im Ernst: Ich weiß häufig nicht, welche Songs von ihm sind, obwohl ich die älteren Sachen natürlich alle kenne. Ich habe manchmal im Arbeitszimmer gespielt, während er komponierte.“

„Du bist ja auch ein Verrückter, der solche Sachen hört. Der breiten Masse ist mein Vater unbekannt – was vielleicht ganz gut so ist.“

„Was hast du eigentlich gedacht, wenn ich von ihm erzählt habe?“ Chris überlegte, ob er sauer darüber sein sollte, dass Zoe ihm nie gesagt hatte, wer ihr Vater war, auch als er von ihm geschwärmt hatte. Aber die Situation erschlug ihn derart, dass er davon Abstand nahm.

Zoe trat neben ihm, legte ihre kühle Hand in seinen Nacken und lächelte. „Ach weißt du, du hast hunderte von diesen Musikern, von denen du erzählst. Ich weiß, dass Musik deine heimliche Leidenschaft ist. Du hast alleine drei Plattenspieler. Insofern ist es wenig überraschend, dass du meinen Vater kennst. Aber von hundert Leuten auf der Straße würden ihn kaum mehr als einer oder zwei als den Komponisten und Songwriter Andreas Jahn erkennen.“

„Aber er hat die Musik für Kommissar Müller komponiert!“

„Er wird nur im Abspann erwähnt“, wandte Zoe sofort ein. „Ja, ich hätte es eher sagen sollen, ich habe einfach den richtigen Zeitpunkt verpasst. Aber es war mir wichtig, dass du ihn siehst, ehe ich dir das Ja-Wort gebe.“

Chris stand auf und nahm sie in den Arm. Er hatte die wundervollste Frau der Welt in seinen Armen, egal, wer er Vater war. Doch er konnte nicht umhin, ein gewisses Hochgefühl bei dem Gedanken an den Namen des Mannes zu finden, dessen Musik er immer gerne gehört hatte.

Sie gab ihm einen Kuss. „Du bist also nicht sauer, weil ich dir meinen Vater verschwiegen habe?“

Chris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Nun ja, nach dieser Überraschung kann ich dir kaum böse sein. Allerdings wäre ich auf deine Mutter gespannt. Welche Prominente kommt da wohl zum Vorschein? Tina Turner?“

„Die Frau ist achtzig und dunkelhäutig, das weiß sogar ich!“

Chris hatte mit seiner Albernheit die Spannung aus der Situation nehmen können. Er sah sich um und wurde wieder ernster. „Es scheint ihm allerdings nicht sonderlich gut zu gehen“, meinte er.

„Seit der Trennung von Mutter hat er sich mehr und mehr hierher zurückgezogen. Ich fürchte, dass er nur noch trinkt und alten Erinnerungen nachhängt. Hier gibt es nicht mal mehr ein Klavier, an dem er Musik machen könnte. In den letzten Monaten ist es zunehmend schlimmer geworden, heute ist noch ein echt guter Tag.“

Darüber hatte Chris noch gar nicht nachgedacht. Die Wohnung wirkte, abgesehen von der Unordnung, alten Pizza-Kartons und leeren Flaschen, Tüten mit irgendwelchem Müll und ungeöffneten Briefen, seltsam steril, eher wie ein Hotelzimmer als ein Heim.

Zoe schien seine Gedanken zu erraten. „Die Wohnung hier war früher für Gäste gedacht, für Musiker, die einige Wochen in der Stadt waren und sich entweder kein Hotel leisten konnten oder die Zimmer dort hassten. Hier waren sie nah an der City, konnten kommen und gehen wann sie wollten.“

„Dann wohnt dein Vater hier eigentlich nicht?“

„Ja, es gibt ein Haus, das ein Stück außerhalb liegt und seit einem Jahr quasi in eine Art Dornröschen-Schlaf gefallen ist. Nur eine Haushälterin kümmert sich um alles.“

Sie hörten die Spülung der Toilette im Badezimmer, danach ein leises Rauschen in der Wasserleitung.

„Ich muss mich um Vater kümmern“, sagte Zoe entschlossen und sah Chris sanft in die Augen.

„Das soll wohl eine Art netter Rauswurf sein“, kommentierte der. „Ich habe allerdings wirklich noch einige Termine, die kaum einen Aufschub dulden. Ich werde heute Abend hier vorbeikommen, okay?“

„Ruf besser vorher an, ja? Sei so lieb.“

Chris nickte, küsste sie noch einmal und überlegte, ob er einen Abschiedsgruß hinter die noch immer geschlossene Badezimmertür schicken sollte. Er hob die Hand, entschied sich dann jedoch dagegen und ließ Zoe mit ihrem Vater allein.

Sein Kopf schwirrte von all den Eindrücken und Ereignissen, die er aus der Wohnung mitnahm. Nie hätte er erwartet, dass eine einzige Stunde an einem Vormittag sein Leben derart verändern würde. Er nahm die Treppe nach unten, sah wieder den Hausmeister, der ihn, da er ihn mit Zoe gesehen hatte, freundlich grüßte. „Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen“, sagte er routiniert.

„Ein herrlicher Tag, finden Sie nicht“, brach es aus Chris hervor. Der Mann sah ihn leicht irritiert an und nickte zögernd. Chris jedoch hatte ihn bereits passiert und den Ausgang erreicht.

„Ja wirklich, ein herrlicher Tag!“

Kapitel 4

Andreas kam aus dem Badezimmer und sah sich müde um. Seine Schultern hingen tief, das Licht, das durch die schmutzigen Fenster brach, schmerzte in den Augen.

„Na, hat dein Freund schon den Rückzug angetreten?“ fragte er mit spröder Stimme. Auch ein Räuspern schaffte es nicht, die Stimmbänder zu reinigen. In seinem Kopf herrschte noch immer dieser dumpfe Schwindel nach, ein klebriger, zäher Nebel, der jeden Gedanken umhüllte und überlagerte. Zoe marschierte in Richtung der Fenster und riss sie auch in diesem Zimmer mit einem unbarmherzigen Ruck auf. Andreas wäre am liebsten zurück ins Bad geflüchtet, doch seine Tochter war schneller und versperrte ihm den Weg.

„Er hat noch Termine. Und Chris und ich werden übrigens heiraten!“

Der Stolz in ihrer Stimme war unüberhörbar. Sie strahlte ihren Vater an, für einen Moment verlor das elende Gefühl in Andreas all seine Bedeutung. Er musste lächeln und richtete sich ein Stück auf.

„Und er hat den Vater der künftigen Braut nicht vorher gefragt?“

Zoe lachte ihn mit funkelnden, weißen Zähnen an. „Der Vater der Braut war über die Klo-Schüssel gebeugt und sieht aus wie ein überfahrener Hirsch.“

Andreas merkte, wie sein Kopf von einem Schwindel erfasst wurde. Zoe sprang hinzu und führte ihm zum einzigen freien Sessel im Raum. „Wann hast du zuletzt etwas gegessen?“ fragte sie besorgt.

Andreas dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, dass er keine Ahnung hatte. Seine Tochter brummte etwas, ging in die Küche. Er hörte ihren kleinen, spitzen, angewiderten Aufschrei.

„Das Zeug in deinem Kühlschrank kannst du unmöglich essen“, stellte sie energisch fest und kam, ihr Mobiltelefon am Ohr, zurück ins Zimmer.

„Mein Gott, das Übliche,“ hörte er sie sagen und fühlte dabei, wie sich eine sanfte Schläfrigkeit über sein Hirn legte. „Milch, Obst, ein wenig Käse, Brot, Wurst – was man halt so braucht! So schwer kann das doch nicht sein, oder?“

Mit einem Augenrollen beendete sie das Gespräch. „Und jetzt marschierst du ins Bad, rasierst dir diesen widerlichen, grauen Flaum aus dem Gesicht, duscht dich und – hast du überhaupt frische Klamotten?“

Sie stapfte ins Schlafzimmer, wieder folgte der unvermeidliche Aufschrei. Doch sie schien etwas zu finden, was sie beruhigte und kam mit Kleidung auf dem Arm zurück.

„Wie heißt diese nette, kleine Frau, die sich um das Haus kümmert? Ach ja, Anni. Die werde ich herholen, während du wieder einen Menschen aus dir machst. Und lass dir nicht einfallen, hier im Sessel ein Nickerchen zu halten. Das ist jetzt vorbei!“

Energische Arme schoben ihn in die Höhe, um ein Haar hätte Andreas das Gleichgewicht verloren. Als er halbwegs zur Besinnung kam, hatte er weißen Schaum im Gesicht und einen Rasierer in der Hand. Mechanisch kratzte er sich damit über die Wange. Immer wieder hatte er in den letzten Monaten diese Aussetzer, fand sich plötzlich bei einer Tätigkeit und hatte nicht die geringste Ahnung, wie es dazu hatte kommen können.

Ohne Vorwarnung kam Zoe ins Bad, er brummte einen leisen Protest. „Du bist mein Vater, stell dich nicht so an“, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Raum für Diskussionen ließ. „Anni kommt heute Nachmittag. Sie hat eine Rolle Müllsäcke dabei, ich habe sie ungefähr auf das vorbereitet, was sie erwartet.“

Dabei schob sie den Duschvorhang beiseite und warf einen Blick in die Dusche. Sie rümpfte deutlich die Nase, gab jedoch keinen Kommentar von sich. Andreas fühlte sich in seiner Nacktheit hilflos und verletzlich.

„Du bist größer als ich“, stellte er unvermittelt fest. Zoe drehte sich halb um, sah ihn einen Moment verwundert an.

„In der Schule haben sie mich damit aufgezogen, ich war größer als die meisten Jungen. Sogar die Lehrer haben mich geärgert, einen Freund fand ich sowieso nicht. Ich weiß noch, wie mal der Sportlehrer sagte: Zoe braucht nicht springen, die kann breitbeinig über den Bock steigen. Das habe ich bis heute nicht vergessen.“

Ein düsterer Schatten flog über ihr Gesicht, Andreas war völlig überrascht von der Traurigkeit, die man fast mit den Händen greifen konnte. Zoe sah ihn mit ihren großen, grünen Augen an.

„Aber alles hat seine zwei Seiten: Heute bin ich gut im Geschäft und verdiene vermutlich mehr als sie alle. Und ich habe einen Mann, der mich so liebt wie ich bin.“

Andreas nickte. „Das ist gut, mein Schatz, das ist gut“, brachte er mühsam hervor und stellte sich ohne einen weiteren Protest unter die Dusche. Wenigstens ließ sie ihn jetzt allein.

Obwohl ihm einige Male erneut schwindlig wurde, schaffte er es, sich einzuseifen und anschließend abzuspülen. Nachdem er die Dusche verlassen und sich abgetrocknet hatte, hatte er sogar das dringende Bedürfnis, sich die Zähne zu säubern.

Andreas sah in das müde, eingefallene Gesicht, in dem die kantigen Schatten die Oberhand gewonnen hatten. Wie lange hatte er sich hier eingeschlossen? Eine Woche, einen Monat oder ein Jahr? Er fühlte sich ein wenig besser, doch noch immer hatte er keine sonderliche Lust darauf, andere Menschen zu sehen oder auch nur vor die Tür zu gehen.

Vielleicht hatte er sich wirklich ein bisschen zu sehr gehen lassen nach seiner Flucht aus dem Haus. Doch die Wände hatten gedroht, zusammenzustürzen und ihn unter sich zu begraben. Alles hatte nach ihr gerochen, in jedem Glas hatte er ihr Gesicht gesehen, in jedem Raum ihren Duft gerochen.

Er hatte sich immer wieder an den Flügel gesetzt, war jedoch kaum in der Lage gewesen, eine Tonleiter fehlerfrei zu spielen. An eine Melodie, an eine neue Komposition war nicht mal im Traum zu denken. In den Jahren zuvor hatten ihn die Ideen nur angesprungen, hatten hinter jeder Ecke gelauert. Doch jetzt war sein Kopf leer, weil sein Herz tot war.

Daran würde auch Zoe nichts ändern. So sehr er sich über ihren überfallartigen Besuch, ihre bevorstehende Hochzeit auch freute, so sehr war er sich im Klaren, dass es an seiner Lage, an seinem leeren Herzen nichts ändern würde. Irgendwann würde sie es begreifen und ihn in Ruhe lassen. In der Zwischenzeit musste er sie ertragen wie Schnee im Winter oder Glückwünsche zu seinem Geburtstag.

Er rang sich ein Lächeln ab und prüfte es im Spiegel. So ähnlich hatte er auf dieser merkwürdigen Preisverleihung ausgesehen, als er die Pressefotos hatte machen müssen, weil sein Manager ihn gescheucht hatte. Hatte er damals eigentlich gewonnen oder nicht? Andreas stellte zu seinem Schrecken fest, dass er es vergessen hatte. Dabei ging es ihm nicht um den Preis, solche Dinge waren ihm immer herzlich egal gewesen, sie zählten nur für die Umwelt.

Andreas nahm ein Rasierwasser und rieb es über seine Wangen, eher aus alter Erinnerung denn aus einem inneren Bedürfnis.

Wenn er überhaupt etwas aus dem Haus vermisste, dann war es das Musikzimmer, seinen Flügel, die anderen Instrumente. Er hatte immer wieder mit elektronischen Klängen experimentiert, nun waren sie nur graue Schatten seiner Erinnerung.

Er zuckte zusammen als die Klingel anschlug. Aber Zoe schien die Tür bereits zu öffnen, er hörte ihre Stimme, eine kurze Diskussion, dann fiel sie zurück ins Schloss. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass er nicht nur Hilfe brauchte, sondern sie auch annehmen musste.

Kapitel 5

Als Andreas endlich allein war, fühlte er sie völlig erschöpft. Obwohl er die meiste Zeit über gesessen hatte, hatte er Schwierigkeiten, sich aufrecht auf den Beinen zu halten und suchte immer wieder den Halt an irgendwelchen Möbelstücken.

Seine Tochter hatte ganze Arbeit geleistet, natürlich unterstützt von der Reinigungskraft, die normalerweise bei ihm im Hause arbeitete. Alle Räume waren von Unrat befreit, die Möbel zeigten keinen pelzigen Belag mehr, wie Zoe es genannt hatte, der Kühlschrank war voller Lebensmittel. Leider gab es nicht mal eine Flasche Bier in der ganzen Wohnung. Merkwürdig, dachte er, dabei bin ich mir sicher, dass ich diesen Geschmack nicht mal besonders mag.

Andreas kämpfte mit sich, ob er den Gang in einen der nahegelegenen Supermärkte auf sich nehmen sollte, doch seine Sohlen brannten und fühlten sich an, als hätte man sie mit Blei gefüllt.

Er hatte den Schnaps nie besonders gemocht, doch die Belohnung am Grunde einer jeden Flasche war das Vergessen gewesen, das es gratis dazu gab und das auf keinem Etikett vermerkt worden war. Obwohl er vermutete, dass er es in den letzten Monaten übertrieben hatte, war er sich sicher, nicht vom Alkohol abhängig zu sein. Aber glaubten das nicht alle Abhängigen?

Immerhin, er hatte saubere Fingernägel und Zoe hatte ihm angedroht, ihn in den nächsten Tagen zu einem Friseur zu schleppen. War er tatsächlich zu einem kleinen Kind mutiert, das man selbst für solche einfachen Dinge an die Hand nehmen musste?

Sie hatte sogar Teile seiner Post geöffnet. Er hatte es zu spät gemerkt und protestiert, doch als Antwort hatte sie ihm nur einige Schreiben unter die Nase gehalten, die er längst hätte beantworten müssen. Früher hatte das Justus erledigt – ausgerechnet Justus!

Andreas ließ sich in einem Sessel nieder und starrte auf die Dächer der gegenüberliegenden Straßenseite. Er hatte sich immer wieder erheben wollen, doch seit Anke ihn verlassen hatte, schien es, als wäre mit ihr jede Freude, jeder Lebensmut durch die Tür gegangen.

Andreas hatte die Post beiseite gelegt, um sich wenigstens einen Rest Stolz zu bewahren. Zoe mochte seine Tochter sein, aber wenn sie schon seine Verträge und Konten durchging, fühlte er sich vollkommen entmündigt. Wobei er sich eingestehen musste, dass er von diesen Dingen tatsächlich keine Ahnung hatte.

Nach einer Weile hatte er es geschafft und sämtliche Schreiben aus den Umschlägen befreit. Dabei hatte er einen Haufen mit Werbung und seiner Meinung nach unwichtigen Schreiben beiseite geräumt. Er würde jemanden anrufen und ihn um Unterstützung bitten. Ohnehin ging er irgendwie davon aus, dass er keineswegs pleite war, obwohl Geld in seinen Gedanken nie eine größere Rolle gespielt hatte. Nein, die Briefe mussten nur von jemandem gesichtet werden, der mehr davon verstand als er.

Andreas unterdrückte ein Gähnen. Er haderte mit dem Gedanken, sich ins Bett fallen zu lassen. Der Tag war in seinen Augen anstrengend genug gewesen. Doch gerade als er sich erhob, durchschnitt das Läuten der Türglocke die herrliche Stille, nach der er sich den ganzen Tag derart gesehnt hatte.

Mein Gott, Zoe kommt zurück, schoss es ihm augenblicklich durch den Kopf. Aber sofort begriff er, dass sie einen Schlüssel zu der Wohnung hatte. Und nach ihrem Benehmen während des Tages wurde ihm sofort klar, dass sie sich kaum damit aufhalten würde, die Klingel zu drücken und zu warten.

Andreas schlurfte zur Tür und bemühte sich, eine aufrechte Position einzunehmen. Er öffnete und brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er dem jungen Mann gegenüberstand, der am Morgen seine Tochter begleitet hatte und offenbar im Begriff war, Zoe sogar zu heiraten.

„Entschuldigen Sie,“ meinte Andreas müde, „ich habe Ihren Namen vergessen.“ Er ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich schlaff in den ersten Sessel fallen.

Erst jetzt betrachtete er den jungen Mann, der offenbar zu schüchtern war, einfach Platz zu nehmen. Er war bestimmt eins neunzig groß, passte zwar von der Größe zu Zoe, machte ansonsten jedoch einen ganz anderen Eindruck als seine Tochter. Er trug ein dunkelgrünes Sakko, dazu ein farblich abgestimmtes Hemd mit Krawatte. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner dunklen Hose mit sauberer Bügelfalte.

„Chris“, sagte er und fing plötzlich an zu grinsen. „Ich kann es nach wie vor nicht fassen, dass ausgerechnet Sie der Vater von Zoe sind. Wissen Sie, dass ich einige Playlists habe, in denen Titel von Ihnen auftauchen? Ich habe sie ihr vorgespielt, aber sie hat nie auch nur einen Ton gesagt.“

Andreas überlegte, was genau eine Playlist war, aber er wagte es nicht, den jungen Mann zu fragen. Allerdings war der Gedanke, dass Zoe die Titel von ihm gehört hatte, nicht ohne eine gewisse Komik. Bestimmt hatte der junge Mann mehrfach den Namen von Andreas erwähnt und Zoe hatte es geschafft, dabei keine Miene zu verziehen. Doch irgendwie passte das zu seiner Tochter.

Andreas musste schmunzeln. „Ja,“ meinte er und nickte. „Ja, das ist wirklich komisch, ich gebe es zu. Aber zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass Zoe nicht sonderlich musikalisch ist, sie kennt bestimmt viele meiner Titel gar nicht.“ Ein Lächeln der Erinnerung huschte über sein Gesicht. „Als sie kleiner war, habe ich ihr einige Male Sachen auf dem Flügel vorgespielt. Sie fand es natürlich immer toll, aber vielleicht lag das auch an der Schokolade, die sie bekam.

---ENDE DER LESEPROBE---