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Die Schauspielerin Cat bekommt eine Rolle in einer TV-Serie. Bei Außenaufnahmen auf einem Landsitz in Dorset lernt sie den Besitzer kennen. Die beiden verlieben sich, heiraten und machen eine Hochzeitsreise nach Venedig. Die Idylle scheint perfekt. Doch als Cat ihrem Mann sagt, daß sie sich erinnert, ihn vor vielen Jahren als liebevollen Begleiter eines dahinsiechenden Greises gesehen zu haben, ändert er plötzlich sein Verhalten ihr gegenüber. Die Love-Story wird zur Suspense-Story.
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Seitenzahl: 430
Veröffentlichungsjahr: 2021
Joan Aiken
Roman
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann
Diogenes
Gekommen ist das alles folgendermaßen. Ich überspringe erste Gehversuche als Statistin bei einer Randgruppe des Edinburgh Festivals, eine kümmerliche Musical-Nummer in Amsterdam, die Rolle als Hinterteil vom Gestiefelten Kater in Nottingham und einen Pantomimenpart in Papp’s Public Theatre, New York. Danach kam wieder eine stumme Rolle, bei der ich sofort zugriff, als Gespenst in einer Geistergeschichte des BBC-Fernsehens, das einer Geisterharfe einige Töne entlocken muß. Die Rolle bekam ich – man stelle sich das vor! –, weil ich wirklich ein paar Harfengriffe beherrsche. Drei glückliche Jahre lang hatte ich in einem Laienorchester abwechselnd Harfe und Gitarre gespielt, mit kurzen, aber erhebenden Abstechern ans Schlagzeug. Einer aus unserer Gruppe machte später Karriere als Besetzungschef bei Pyramid Television. Eine glückliche Fügung wollte es, daß er sich meiner Harfenkünste erinnerte und mich für das Spukspiel holte. Ich mußte, in schimmerndes Grün gewandet und von einem matten Leuchten umgeben, am Fuße einer Treppe sitzen, graziös eine riesige silberne Harfe schlagen und lässig den Hals drehen und wenden. Das sollte einen Eindruck des Unheimlichen und irgendwie auch der Blindheit vermitteln. »Denk an eine Made, Schätzchen«, hatte mich Harold, der Regisseur, instruiert. »An eine Made oder einen blinden Wurm, der Hunger hat und das Futter wittert, aber nichts sehen kann, einen Wurm, der den Kopf dreht wie einen Radarschirm, um winzigste Spuren des Geruchs in der Luft aufzufangen.« Der gute Harald Flanagan, ein Ire, wie er im Buche steht, war ein Meister der schiefen Bilder. Brav drehte ich – blinde Made oder Radarscanner, mir war es gleich – den Kopf hin und her wie ein Schiedsrichter beim Tennis oder eine sonnenanbetende Narzisse. Die Gespenstergeschichte war ein Reinfall, ein Winterfüllsel, verdientermaßen verrissen und eine Woche später vergessen, in der weitläufigen Nekropole der Fernsehflops verscharrt. Ein Besetzungschef aber mußte wohl meine emsigen Halsverrenkungen gespeichert haben, denn sechs Monate später wurde ich aus heiterem Himmel und zu meinem größten Erstaunen zu Probeaufnahmen gebeten, bei denen es um zwei Bombenrollen in einer dreizehnteiligen Serie ging, ein überaus bühnenwirksames Kostümstück aus dem vorigen Jahrhundert. Rosy und Dodo sollte die Serie heißen. Den ursprünglichen Buchtitel – ein erfundener Ortsname, der sowieso nichts zur Sache tat – hatten sie über Bord geworfen.
Die Rolle, an der ich mich versuchte, war Rosy, die biestige Blondine, die durch ihre Selbstverliebtheit, Hoffart und Verschwendungssucht das Leben ihres gutaussehenden Mannes, eines idealistischen Arztes, zerstört. Echt aasig, diese Rosy, ein süßes, hübsches, gebildetes kleines Luder mit sanften Zügen und hartem Herzen. Äußerlich fallen an ihr zunächst der lange Hals auf und ein Teint wie Milch und Blut.
Alle Frauen meiner Familie (das heißt, meine Mutter, ihre vier Schwestern und ich) haben oder hatten superlange russische Hälse und einen zarten Teint. Damit war die erste Hürde genommen. Nun war zwar die Sache die, daß Rosy in der Serie als Zwanzigjährige zu sehen ist und ich vierunddreißig bin, so daß man fragen könnte, welcher Idiot denn diese Besetzungsliste zusammengestellt hatte, aber da ich allgemein zehn Jahre jünger geschätzt werde, schien sich an dem Widerspruch niemand zu stoßen.
»Sie muß ihre Zähne richten lassen, und sie braucht blaue Kontaktlinsen«, befand die allmächtige Besetzungschefin und beäugte mich wie eine nicht fertig tapezierte Eßecke. Es ist ein sehr eigenartiges, demütigendes Gefühl, einer Musterung unterzogen zu werden, als sei man kein Mensch, sondern ein Gegenstand. Zuerst war ich immer total fertig, ich kam mir – Sklaven mag es früher ähnlich gegangen sein – entselbstet, entpersönlicht, ausgelöscht vor. Heute finde ich den Vorgang eher befreiend. In dieser Hülle, an der sie so eifrig basteln, stecke noch immer ich, Cat Conwil, meiner selbst, meiner Mitmenschen und allem, was um mich her vorgeht, voll bewußt. Die Frau mit der Eisernen Maske. Wenn jemand einen Kreis um dich zieht und dir die Anweisung gibt, ihn nicht zu überschreiten, schenkt dir dieser von fremder Hand gezogene Kreis auf eine bis dahin ungeahnte Weise Klarheit über dich selbst. Es ist, als hätten sie dich in einem abgeschlossenen Zimmer alleingelassen.
Ich erhob keinen Protest gegen die blauen Kontaktlinsen, auch wenn ich mit dem Einsetzen zunächst meine liebe Not hatte. An den ersten Drehtagen hielt ich ständig den ganzen Betrieb auf, bis zu dreißig Beleuchter, Kameraschieber, Aufnahmeleiter, Schauspieler und Maskenbildner krochen auf den Knien im Studio herum und suchten nach einer heruntergefallenen Linse, die, wie sich mit schöner Regelmäßigkeit herausstellte, mir nur hinter den Augapfel gerutscht war. Nach und nach aber beherrschte ich den Trick immer fixer, besonders wenn ich die Linsen mit etwas Spucke schmierte. Die Zahnverschönerung war wohl als echtes Plus anzusehen, zumal dafür großzügigerweise Pyramid TV aufkam. Vor der Behandlung waren meine beiden vorderen Schneidezähne aufeinander zugestrebt wie die eines Bibers. Ich selbst hatte dagegen im Grunde nichts einzuwenden, es wirkte irgendwie harmlos-zutraulich, und das kann zuweilen durchaus von Vorteil sein. Als Schauspielerin aber hat man um so größere Chancen – besonders in der Werbung –, je mehr man äußerlich der Norm entspricht. Man muß das realistisch sehen. Kein Mensch wird auf die Idee kommen, jemanden mit Biberzähnen Reklame für Supadent machen zu lassen.
Daß man mich vom Aussehen her auf Rosy getrimmt hatte, half mir, mich in die Rolle einzuleben. Mein Haar, das von Natur aus aalglatt ist und den Farbton von Aprikosenkonfitüre hat, mußte um mehrere Nuancen aufgehellt werden. In dem Buch ist von kinderhellem Haar die Rede, weder flachsfarben noch gelb. Ich mußte auch ein paar Pfund zunehmen, weil Rosy als eine Nymphe geschildert wird, die man sich im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts nicht als mager, sondern als durchaus kurvenreich vorzustellen hat. Nach und nach trug ich also eine Persönlichkeit zur Schau, die der meinen ganz und gar nicht entsprach. Ich beschäftigte mich in Gedanken soviel wie möglich mit Rosy, mit ihren Beziehungen zu den Eltern, dem Bruder, den Vettern und Nachbarn in der öden Provinzstadt, in der sie lebte, in der all ihre Vorfahren gelebt hatten und in der ihr Vater, Fabrikant in der dritten Generation, Ratsherr war und kurz davor stand, Bürgermeister zu werden. (Wenn ich sage, daß die Stadt öde war, so meine ich das natürlich aus Rosys Sicht, sie strebte nach Höherem). Sie war in ein Pensionat für höhere Töchter gegangen, hatte überraschend gut Klavierspielen gelernt, weil sie sich vorzüglich darauf verstand, anderen Leuten technische Tricks abzugucken, und spielte auch ein bißchen Harfe, so daß mir diese kleine Fertigkeit hier ebenfalls zugute kam. Sie hatte gelernt, wie man damenhaft in eine Kutsche einsteigt und sie wieder verläßt und wie man im Gespräch Gentlemen und älteren Herrschaften artig nach dem Munde redet. Ansonsten hatte sie von nichts eine Ahnung. Die Mädchen ihrer Zeit und ihres Standes lernten weder kochen noch Formulare ausfüllen oder Glühbirnen wechseln – Grundkenntnisse, die Kinder heutzutage bereits im ersten Oberschuljahr erwerben. Sie brauchte sich Gedanken nur über ihre eigene Person zu machen und über die Frage, welchen Eindruck sie bei Männern hinterließ, und war dadurch total narzißtisch geworden.
Ich fand es ausgesprochen faszinierend, mich in Rosy zu verwandeln – sie war so völlig anders als die Person, die das Leben aus mir gemacht hat. Aufgrund verschiedener Umstände, auf die ich, falls notwendig, später noch näher eingehen werde, habe ich wenig Bildung erworben, war aber von jeher darauf angewiesen, auf eigenen Füßen zu stehen und praktisch zu denken. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr habe ich mich allein durchgebracht und noch andere unterstützt. Deshalb empfand ich es als einen geradezu sagenhaften Luxus, daß ich ein üppiges Honorar dafür kassieren konnte, die Rolle einer jungen Frau zu spielen, die zu Hause keine größeren körperlichen Anstrengungen auf sich zu nehmen brauchte, als an einer Klingelschnur zu ziehen, um bei der Zofe eine zweite Portion gebutterten Toast zu bestellen, und im Gespräch ihr Verhalten dem ihrer jeweiligen Gesprächspartner anzupassen. O ja, ich habe es genossen, Rosy zu werden – es war wie ein warmes Bad, in das man eine Riesenladung Badegel gekippt hat, so daß der Schaum wie ein erstarrtes Wellengebirge hochsteht und knistert, wenn man sich in die Wanne legt.
Ganz ungetrübt war die Freude freilich nicht. Ich mußte mir einige Fertigkeiten aneignen, die Rosy bereits beherrschte, unter anderem mußte ich reiten lernen. Tag für Tag zog ich brav zu einer Reitschule am Park, Tag für Tag schleppte ich mich steif und wund nach Hause, meine Beine fühlten sich an wie Rhabarberstangen, die jeden Augenblick durchbrechen können. Im weiteren Verlauf des Drehbuchs, nachdem sie sich ihren gutaussehenden Doktor geangelt hat, reitet nämlich die halsstarrige, selbstsüchtige Rosy, sich über die Weisungen ihres liebenden Gatten hinwegsetzend, mit einem schneidigen Verehrer im bunten Rock aus, stürzt von ihrem feurigen Grauschimmel und hat eine Fehlgeburt.
Endlich aber war auch das geschafft: Ich konnte reiten – sogar im Damensitz! Außerdem mußte ich mich mit Occhi-Arbeiten (sinnigerweise auch Frivolitäten genannt) vertraut machen, weil das die bevorzugte Beschäftigung der jungen Damen jener Zeit war, wenn sie zu Hause saßen und auf den Richtigen warteten.
»Occhi-Arbeiten?« fragte Mascha, meine Mutter. »Du willst lernen, wie man Occhi-Arbeiten macht? Wozu brauchst du denn so was? Ja, sicher kann ich es dir beibringen, das hast du ganz schnell raus. Schau mal in das Nähtischchen, in der obersten Schublade ganz hinten muß das Schiffchen liegen, das deine Tante Tascha mir geschenkt hat.«
Der kleine Nähtisch aus Rosenholz hatte meine Mutter auf allen ihren Wegen begleitet, von der Mietwohnung in die eigene Villa, von einem Pfarrhaus ins andere, durch ihr ganzes Eheleben. Er war ein Hochzeitsgeschenk von Großmutter Conwil gewesen. Als kleines Mädchen faszinierte er mich, weil er von vorn und von hinten genauso aussah, aber die hinteren Schubladen waren nur aufgesetzt. Meine ganze Kindheit hindurch kannte ich keine größere Freude, als in den beiden flachen Fächern herumzuwühlen, sie durcheinanderzubringen und wieder aufzuräumen, in der runden Knopfdose aus Blech zu kramen, die das Bild einer Türkin zierte und in der früher mal Türkischer Honig gewesen war, in das dunkelblaue Ledermäppchen mit Stickutensilien zu schauen, mit der Vogelkopf-Schere zu spielen, mit dem perlenbesetzten Schmirgelball zum Entrosten von Nadeln, mit dem Bandmaß, das aussah wie eine seidene Erdbeere, in der das Band an einer Feder befestigt war und zurückschnellte, wenn man es losließ. Bis zu dem Tag, als ich zu heftig gezogen hatte und es nie wieder in der Erdbeere verschwand.
Erklärt vielleicht die Rolle, die diese Schublade in meinen frühen Jahren spielte, meine spätere zwanghafte Leidenschaft für Büroklammern? War die Schublade mit all diesen kleinen, blinkenden, praktischen Spielereien der Auslöser?
Ich stöberte das Schiffchen auf – eine ovale Schildpattspule von der Länge meines Daumens –, und Mascha brachte mir tatsächlich in einer halben Stunde bei, wie man einfache Schiffchenarbeiten verfertigt. Sie lachte in sich hinein.
»Spaßig, daß du das für deinen Beruf brauchst, wenn man bedenkt, wie sehr dir als Kind Handarbeiten in jeder Form zuwider waren.«
Womit sie natürlich recht hatte. Damals wollte ich unbedingt einen Beruf ergreifen, in dem ich Männern ebenbürtig sein würde. Schiffchenarbeiten und dergleichen Firlefanz? Nein, danke! Vielleicht lag es daran, daß Papa Pfarrer war. Gegenüber der Interessengemeinschaft von Seelsorger und Liebem Gott mußte ich wohl versuchen, mich so gut wie möglich zu behaupten.
Seit Mascha mir an jenem Tag beibrachte, wie man mit einem Schiffchen umgeht, mache ich, so seltsam das klingen mag, ausgesprochen gern Occhi-Arbeiten, es ist eine hervorragende Beschäftigung, finde ich, wenn man gerade dabei ist, sich in eine Rolle einzuleben, kreative Überlegungen anstellen oder einfach nur entspannen will. Das Produkt dieser Fleißarbeit – meterweise schlappe Spitzenkanten, wie sie um die Jahrhundertwende zum Einfassen von Platzdeckchen und als Besatz für Nachthemdkragen üblich war – läßt sich allerdings nur schwer einer praktischen Verwendung zuführen. Wenn man Glück hat, findet man eine Freundin, die so was für ihre Wäsche gebrauchen kann.
Mascha war am Ende der Occhi-Stunde etwas blaß und kurzatmig. Damals lag sie bereits seit fünf Monaten todkrank zu Bett, und der Himmel mochte wissen, wie lange sie sich vorher schon mit ihrer Krankheit durchs Leben und den Tageskreis ihrer Pflichten gequält hatte. Ich merkte, wie sie ein-, zweimal nach Luft schnappte und eine Hand in den Rücken legte.
»Hast du Schmerzen?« fragte ich voller Angst, denn ich wußte, daß jetzt bald Tabletten nicht mehr helfen würden und gespritzt werden mußte. Wie schafft man es, der eigenen Mutter eine Spritze zu geben? Ich habe eine zweijährige Ausbildung als Krankenschwester hinter mir, technisch weiß ich sehr wohl, wie man es macht. Was mir fehlt, ist schlicht und einfach die Courage.
»Nein, nein«, sagte sie, »keine Schmerzen, nur das Rheuma zwickt ein bißchen, kaum der Rede wert.«
Maschas verbissener, lebenslanger Heldenmut, ihr stoisches Hinwegsehen über Schmerzen, widrige Umstände oder Unbequemlichkeiten, ihre grenzenlose Selbstaufopferung und Großzügigkeit – all das mag mit schuld daran sein, daß ich so erbärmlich feige und hypochondrisch geworden bin. Schon bei dem Versuch mir vorzustellen, zu begreifen, was sie während ihrer Krankheit durchgemacht hat, bricht mir der kalte Schweiß aus, Schwindel erfaßt mich, das Gefühl einer nahenden Ohnmacht. Während ich diesen Satz niederschreibe, merke ich, wie meine Hüfte und meine Wirbelsäule anfangen zu schmerzen.
»Na, jetzt weißt du jedenfalls, wie es geht«, meinte sie zufrieden. »Eine sehr nützliche Fertigkeit. Es freut mich sehr, daß ich dir doch noch etwas beibringen kann.«
Und wieder lachte sie leise. Genugtuung schwang in dem Lachen, fast Triumph. Auch ich empfand trotz meiner Niedergeschlagenheit und Besorgnis so etwas wie Selbstzufriedenheit, weil ich ihr diese Freude hatte machen können. Es ist kaum zu glauben, wie egoistisch, wie ichbezogen wir im Umgang mit unseren Eltern sind! Warum habe ich nur so selten nach ihr selbst, nach ihren Empfindungen, ihren Gedanken gefragt? An diesem Tag sprachen wir über die Rolle der Rosy, Mascha hatte wirklich Spaß an dem Thema, denn sie ging gern mit abstrakten Problemen um. Sie hatte in Cambridge studiert, nach Papas Lebenswende aber hatte sie ihre Stellung als Lehrerin aufgeben müssen. Sie habe den Roman, nach dem die Serie entstanden war, in ihrem Bücherregal stehen, sagte sie, ich solle ihn doch mal herausholen, es müsse eine abgegriffene zweibändige Ausgabe sein, die klassische Everyman-Edition. Ob ich mir das Buch nicht ausleihen wollte, fragte sie hoffnungsvoll, zu gern hätte sie mir auch diesen Dienst noch erwiesen. Ich lehnte dankend ab, denn ich hatte mir schon eine (in Erwartung der Fernseh-Publicity aufgelegte) Taschenbuchausgabe gekauft. Kurz darauf nutzte ich eine günstige Gelegenheit, um mich zu verabschieden. Diese Besuche waren immer unheimlich anstrengend, man mußte so heiter sein, so behutsam, so sorglos, so verlogen, mußte Hoffnung und Zuversicht heucheln, die doch völlig unbegründet waren.
Rosy hätte sich bestimmt in einer solchen Situation weit besser bewährt als ich. Es hätte sie nicht belastet, heucheln zu müssen, keine Spur, sie sah keinen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit. Sie wäre nicht müde und kribbelig geworden, sie hätte den ganzen Tag lang bleiben können, lächelnd und heiter, weil es sich eben so gehörte.
Jetzt, viel später, überlege ich, weshalb um alles in der Welt ich damals nie Klartext mit meiner Mutter geredet habe. Warum habe ich nicht gesagt, schau her, ich weiß – du weißt es bestimmt auch –, daß du sterben mußt. Wie stehst du dazu, was für Gefühle bewegen dich, möchtest du darüber reden, was hast du zu dem Thema zu sagen? Wir sind beide intelligente Menschen, es ist wichtig für uns, wir lieben uns, du bist meine Mutter, ich bin deine einzige Tochter, warum können wir in dieser Sache nicht ehrlich miteinander umgehen?
Das Herz blutet mir, wenn ich jetzt an diese heuchlerischen Gespräche zurückdenke. Trost bietet einzig und allein der Gedanke, daß es vielleicht Mascha war, die dieses Klima schuf und uns beiden die Verstellung aufzwang. Sie war eine starke Persönlichkeit. Vielleicht wußte sie, was das Beste für sie war? Oder meinte sie, es sei das Beste für mich? Vielleicht ist Ehrlichkeit ein Luxus, den man sich nicht mehr wünscht, wenn der Tod näherkommt?
»Ich muß gehen«, wiederholte ich, und sie sagte traurig: »Ach, wirklich? Kannst du nicht noch ein bißchen bleiben?«
Sie war nie der Typ der demonstrativ zärtlichen Mutter gewesen, nachdem die Kleinkindphase hinter mir lag, in der man hinfällt und sich wehtut und in den Arm genommen werden muß, damit der Schmerz nachläßt. Jener Zeit hat sie nachgetrauert, glaube ich. Einmal sagte sie wehmütig zu mir: »Kinder werden so schnell groß. Im Nu vergeht die Zeit, man merkt es gar nicht richtig.« Und während ihrer letzten Krankheit hielt sie einen gern bei der Hand, wenn man plaudernd am Bett saß. Oft war es schwer, sehr schwer, sich aus diesem Griff zu lösen.
»Erzähl mir von Fitz«, sagte sie jetzt rasch. »Du hast mir überhaupt noch nichts von Fitz erzählt. Gefällt es ihm nach wie vor in Harvard?«
Leider hatte ich ihr seinen letzten Brief schon bei meinem vorhergehenden Besuch vorgelesen. Fitz ist kein allzu eifriger Korrespondent, dafür sind seine seltenen Briefe eine um so fesselndere Lektüre. »Ich schreibe dir aus einem Kerker«, schrieb er einmal an Mascha, und sie war hingerissen. Ich beschloß, ihn noch heute abend anzurufen und dringend zu bitten, er möge sofort an sie schreiben. Ein Anruf würde sie nur nerven, das wußte ich, daß er sein Geld für ein Telefongespräch aus Übersee vergeudete, würde ihr buchstäblich die Stimme verschlagen.
»Macht nichts«, sagte sie. »Dann liest du mir eben den letzten Brief nochmal vor, den höre ich genauso gern.«
Die innige Bindung zwischen den beiden erweckte fast den Anschein, als gehörten Mascha und Fitz der gleichen Generation an. Vom Gefühl und vom Intellekt her waren sie einander näher als mir. Ich war nie eifersüchtig deswegen – wie denn auch?
Im Gegenteil, mehr als einmal klopfte ich mir anerkennend auf die Schulter, weil ich sie zusammengebracht hatte.
Zu dumm – ich hatte seinen letzten Brief in meiner Wohnung in Notting Hill liegenlassen. Ich müsse nun gehen, wiederholte ich und schaffte es schließlich, meine Hand aus der Umklammerung zu befreien.
»Das Schiffchen behältst du am besten«, sagte sie. »Ich könnte mir denken, daß man sie heutzutage nicht so ohne weiteres bekommt. Und ich glaube kaum, daß ich es nochmal brauche. Seit dem letzten Jahr habe ich eine leichte Arthritis im rechten Unterarm, deshalb hab ich damit aufgehört. Aber so toll, daß du davon Arthritis bekommst, wirst du es wohl kaum treiben.« Und wieder lachte sie leise in sich hinein.
Ich würde das Schiffchen sehr gern behalten, sagte ich. »Wie alt warst du, als Tante Tascha es dir geschenkt hat?«
»Zwölf oder dreizehn, es lag als Weihnachtsgeschenk in meinem Strumpf.«
Sie waren zu fünft gewesen, die Conwil-Schwestern: Tascha, Dolly, Mig, Minka und meine Mutter. Tascha und Dolly, die beiden ältesten, haben nicht geheiratet, aber sie lebten zusammen. Sie waren zu einem Viertel russisch, zu drei Vierteln walisisch. Urgroßmutter Conwil hieß vor ihrer Heirat Uspenski. Mascha war die jüngste und die letzte noch lebende der Schwestern.
»Du kommst doch bald wieder?« Sie hatte sich erneut meiner Hand bemächtigt und hielt sie ganz fest. »Morgen?«
»Ja, weißt du … um zwölf haben wir Probe. Ich will’s versuchen. Aber mit dieser Rolle bin ich ganz schön eingespannt.«
»Ich finde es einfach toll, daß du sie bekommen hast«, sagte sie voller Herzlichkeit und Stolz. »Ich freue mich wahnsinnig darüber.«
Ja, sie freute sich wirklich. Ich wußte, daß sie harmlos-eitel bei den Schwestern damit prahlen würde. Trotzdem schwang in ihrer Stimme eine Spur Wehmut mit, eine leise Enttäuschung, daß ich jetzt so wenig Zeit für sie hatte. Und vermutlich – warum soll ich es abstreiten – nahm ich die Fernsehserie als Vorwand, nicht so oft zu kommen, wie ich hätte kommen können. Denn wie viele Stunden eines Tages kann man in verzweiflungsvollem Gram an einem Krankenbett verbringen? Die Qual hinterläßt Spuren und beeinträchtigt die eigene Arbeit.
Nervös, in die Enge getrieben, sah ich mich in ihrem kleinen Zimmer um. Hätte sie sich in einem Krankenhaus, auf einer großen Station, umgeben von Menschen, wohler gefühlt?
Das lebhafte Getriebe hätte ihr Spaß gemacht, andererseits aber wußte ich, daß sie ihre Privatsphäre genauso dringend brauchte wie frische Luft. Das Zimmer war winzig, es bot gerade eben Platz für Bett, Stuhl, den Nähtisch und ihr Bücherregal (Yeats, Donne, Plato), aber durchs Fenster konnte sie den hübschen Garten sehen, einen Plattenweg, eine Lavendelhecke und die anmutsvolle Würde eines großen Ilex. Das Licht der untergehenden Sonne beschien freundlich ein Stück alte Backsteinmauer. Zu dieser Stunde fand kein Strahl mehr in den dämmerigen Raum, aber die Sonne weckte Mascha vor dem Frühstück, und so hatte sie es, wie sie sagte, am liebsten. Und das Fenster stand trotz aller Bemühungen von Putzfrauen, Schwestern, der Oberin, der Ärzte und Besucher den ganzen Tag lang offen. In dieser Beziehung war meine Mutter Rosy durchaus ähnlich – sie besaß einen eisernen Willen, wenn es darum ging, sich durchzusetzen.
»Wenn du morgen nicht kommen kannst, dann aber bestimmt am Freitag?«
Natürlich würde ich am Freitag kommen, selbstverständlich, sagte ich und beugte mich vor, um die kalte, flaumig weiche Wange zu küssen. Am Freitag hatte sie Geburtstag, und ich hatte mir lange und ergebnislos den Kopf nach einem passenden Geschenk zerbrochen. Was schenkt man einem Menschen, der an der Schwelle des Todes steht? Schließlich kaufte ich ihr ein Schultertuch, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, es ihr zu überreichen, denn Donnerstag nacht starb sie.
Inzwischen weiß ich, daß viele Leute kurz vor ihrem Geburtstag sterben.
Danach trieben mich wochenlang, monatelang zwei unterschiedliche Beklemmungen um. Die eine ging tief, die andere war eher eine Bagatelle. Ich hatte bei diesem letzten Besuch noch etwas sagen, sie noch etwas fragen wollen. Was konnte es gewesen sein? Und ich quälte mich mit dem Gedanken an ihre zwielichtumflossene Gestalt, die Erinnerung an das letzte Bild von ihr, das ich mitnahm: Wie sie sich in dem Zimmer, in dem sich die Schatten drängten, ergeben in die hochgetürmten Kissen zurücksinken ließ, den Kopf aber in einer scheußlich unbequemen Stellung so verdrehte, daß sie auch noch den letzten, den allerletzten Blick auf mich erhaschen konnte, während ich davonging.
Vorher, solange sie noch hatte aufstehen und im Sessel sitzen können, hatte sie immer darauf bestanden, daß man vor dem Abschiednehmen den Sessel ans Fenster rückte, damit sie hinaussehen und winken konnte, während man durch den Garten zum Tor ging. Durch die Scheibe sahen ihre Augen aus wie die Hände schiffbrüchiger Matrosen, die sich flehend aus dem Wasser streckten.
»Wenn du möchtest, komme ich zur Beerdigung zurück«, sagte Fitz sofort, als ich ihn anrief, um ihm zu sagen, daß Mascha tot war. »Ich kann mich für heute abend auf die Warteliste setzen lassen.«
»Unsinn, Schatz, das ist doch sinnlos. Nur um dir in irgendeinem abscheulichen Krematorium ein paar nichtssagende Worte anzuhören? Mascha wäre entsetzt über eine solche Geld- und Zeitverschwendung. Wir sehen uns ja, wenn du Ende Mai zurückkommst.«
Ich mühte mich nach Kräften um einen festen, nüchternen Ton. Der Mai schien Lichtjahre entfernt.
»Es wäre ein Verbrechen, dich aus der Arbeit herauszureißen, mit der du gerade erst angefangen hast. Und bei mir ist alles in Ordnung, ehrlich. Die Rolle hält mich in Atem.« Von der Rolle wußte er aus meinen Briefen.
»Wenigstens ein kleiner Trost«, sagte er. »Ist bei dir auch wirklich alles in Ordnung?« Das klang noch immer skeptisch und liebevoll-besorgt. Wer das Glück hat, einen Fitz in seinem Leben zu wissen, sollte Jahr für Jahr barfuß nach Compostela pilgern und dem lieben Gott Dank dafür sagen. Hin und wieder frage ich mich tatsächlich, womit ich ihn verdient habe. Im Grunde hat Mascha ihn mir geschenkt.
»Ist denn wenigstens jemand da, der dir bei der Beerdigung zur Seite steht?«
Papa war letztes Jahr gestorben, die vier älteren Conwil-Schwestern schon vorher. Angehörige wollten mir nicht einfallen. Aber Hunderte von Leuten hatten Mascha liebgehabt, nur waren viele von ihnen arm, krank oder alt und würden vielleicht gar nicht kommen können.
»Bestimmt sind eine Menge Leute da«, sagte ich. »Und die Asche bringe ich nach Dorset und verstreue sie im Garten von Yetford, da, wo die Blausterne standen, unter der großen Zeder. Das wäre ihr sicher recht, es war ihr Lieblingsplatz.«
»Stimmt, sie hat immer davon erzählt. Und du meinst nicht, daß es den Dickinsons was ausmacht? Daß sie Angst haben, sie könnte bei ihnen herumspuken?«
»Er als Pfarrer dürfte mit solch seichtem Gespensterglauben gar nichts im Sinn haben. Und überhaupt … jeder kann sich nur freuen, wenn Mascha bei ihm herumspukt.« Ich wischte mir eine Träne von der rechten Wange und versuchte zu lachen, aber es klang recht zitterig.
»Na gut, meine Alte, wenn du meinst …«, sagte Fitz. »Ein Jammer, daß du dich jetzt nicht freimachen und zu mir kommen kannst.«
»Finde ich auch. Die Rolle –«
»Ja, ja, ich weiß. Hoffentlich zahlen sie dir wenigstens einen Haufen Geld dafür.«
»Doch, es ist ganz ordentlich. Und wenn sie Wiederholungen senden und die Serie ins Ausland verkaufen, kommt später noch was nach.«
»Das hör ich gern. Wenn ich wieder da bin, kaufen wir einen Peugeot und machen damit Europa unsicher.«
»Toll, du …«
»Ißt du auch genug und so weiter?«
»Muß ich ja, schon wegen –«
»– wegen der Rolle, ich weiß. Also gib gut auf dich acht, hörst du?«
»Du auch«, würgte ich.
»Jetzt muß ich aber los. Vorlesung.«
»Ich freu mich auf die Fahrt im Peugeot –« rief ich, aber er hatte schon aufgelegt.
Als ich Fitz wiedersah, war ich verheiratet. Mit James Tybold, Lord Fortuneswell.
In den ersten drei Folgen trägt Rosy – als unverheiratete Tochter des Hauses – ihr Haar sehr schlicht, wie es bei jungen Damen aus der Provinz Mitte des vorigen Jahrhunderts üblich war. Straff nach hinten gekämmt oder mit seitlichen Korkenzieherlöckchen und einem kleinen Lockentuff hinten. Kein Problem, das konnte ich mir selber machen, nur hin und wieder brachten sie in der Maske wieder etwas Ordnung in die Ringellocken.
Im zweiten Teil der Geschichte aber hat Rosy ihren Doktor erobert, sie ist erfolgreich verheiratet und tonangebend in Kleinstadtmodefragen, trägt maßgeschneiderte blaue Schleiergewänder und ist stets kunstvoll frisiert. Dafür, daß ich es auch war, sollte Maître Jules Pascal in der Brook Street sorgen. Höchsteigenhändig schnitt, stylte, wusch, legte und trocknete er mein Haar, wellte hier, zupfte da und gab dann mit triumphierender Geste das Ergebnis seiner Bemühungen zur Besichtigung frei. Ich erstarrte zu Eis, als mein entsetzter Blick das Bild im Spiegel erfaßte.
»Das bin doch nie im Leben ich!«
»Jetzt schon, Madame«, bemerkte Maître Jules und betrachtete bewundernd die Rokokoschnörkel meiner neuen Frisur.
»Aber das ist ja scheußlich! Das halte ich nicht aus! So kann ich nicht unter die Leute! Ich sehe aus wie ein Stück Buttercremetorte!«
»Aber, aber, Madame«, schalt er mit seinem aufgesetzten französischen Akzent. »Dies ist ganz ’errlisch, au contraire, sehr kleidsam. Madame sehen nicht aus im geringsten wie ein’ Buttercremetorte, ganz im Gegenteil, sehr modisch, ’inreißend chic, absolument comme il faut.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß die im Studio damit einverstanden sind«, murrte ich, an meinem Schlangengelock zerrend, und beschloß, bei nächster Gelegenheit den Kopf unter die Dusche zu halten und die silbrig federnden Kringel zu zerstören. Ich kam mir vor wie eine Weihnachtsdekoration in der Oxford Street.
»Sie werden sein ’ingerissen«, prophezeite Maître Jules, und natürlich hatte er recht. Schlimmer noch, ich war genötigt, fünf Folgen lang mit diesem peinlichen Kopfputz zu leben. Mehrmals setzte ich aufbegehrend das Werk des Meisters unter Wasser, aber ebensogut hätte ich versuchen können, eine Plastik von Henry Moore unter der Dusche wegzuschwemmen. Maître Pascals Kreation war gegen Wasser und Shampoo gleichermaßen gefeit und kehrte mit unverminderter Sprungkraft in die von ihm gegossene Form zurück.
Ich nehme an, daß es Spionen und Kriminellen zur Gewohnheit wird, inkognito zu leben, ständig unter falscher Flagge zu segeln, mit einer Identität herumzulaufen, die nicht die ihre ist. Vielleicht verliert man nach Jahren der Tarnung seine ursprüngliche Gestalt, sein ursprüngliches Aussehen aus den Augen, oder sie bedeuten einem nichts mehr. Wir leben in einer Welt, in der alles ständig in Fluß ist, und sind wohl sowieso nur zu etwa siebzig Prozent unser eigenes Werk, Abbild und Imago, aus unserem Grundmaterial Körper und unter Zuhilfenahme von Lack und Farbe und gewebten Stoffen hergestellt – im Grunde nur eine Collage.
Das dumme war, daß ich mich an diese von mir selbst geschaffene Hülle gewöhnt hatte, mich darin wohl fühlte und sie akzeptierte. Ständig in einer Verkleidung herumzulaufen verunsicherte mich doch sehr. Wenn ich im Spiegel einer Bar, in Schaufensterscheiben, in meinem Badezimmerspiegel in Notting Hill das Bild dieser spektakulären Fremden sah, hielt ich sie im ersten Augenblick regelmäßig für eine Unbekannte und suchte verstört nach meinem eigenen verlorenen Spiegelbild. Immer wieder war es ein Schock, ähnlich jenem unseligen Augenblick auf Schloß Dracula, da der arme Jonathan zum ersten Mal bemerkt, daß sein zuvorkommender, wenn auch etwas wunderlicher Gastgeber sich in der Scheibe nicht spiegelt. Ich hatte das Gefühl, als habe man mir mein wirkliches Ich weggezaubert und mir statt dessen ein schillerndes außerirdisches Wesen untergeschoben. In diesem Gefühl wurde ich immer wieder bestärkt, wenn mich Bekannte auf der Straße oder Kollegen in den Räumen von Pyramid TV nicht wiedererkannten. Selbst wenn ich sie ansprach, dauerte es eine Weile, bis ihnen ein Licht aufging.
»Du lieber Himmel, was hast du nur angestellt, Cat, ich hab dich überhaupt nicht erkannt.«
Zweifelnd-verlegene Reaktionen, deutliche Unsicherheit, ob ich Bewunderung oder Mitgefühl erwartete.
»Es ist wegen Rosy, von selbst wäre ich nie auf so was gekommen.«
»Ach so, dann ist ja alles klar. Unheimlich, diese Veränderung hätte ich nie für möglich gehalten.«
Ein furchtsamer Blick, als könnten jeden Augenblick Reißzähne in meinen Mundwinkeln erscheinen.
Ich habe von Natur aus zwei Grübchen, die ich normalerweise so wenig wie möglich in Erscheinung treten lasse. Schon immer fand ich Grübchen gräßlich geziert, Gespreiztheiten dieser Art liegen mir ganz und gar nicht. Rosy aber machte von ihren Grübchen viel und gern Gebrauch. Lächeln sah man sie nur selten, weil das fürchterliche Geschöpf erstens nicht die Spur von Humor besaß und zweitens niemand ihr ein Lächeln wert war, am allerwenigsten ihr unglücklicher Ehemann – nachdem sie ihn endgültig festgenagelt hatte. »Auf ihren anmutigen Zügen lag ein gutartiger Ausdruck, aber kein Lächeln«, heißt es an einer Stelle über sie. Igitt! Als ob sie den Preis ihres Lächelns nach Sekunden berechnet. Und so übte ich mich denn privat darin, meinen Kopf auf dem langen Hals hin- und herzuwenden und meinen Mitmenschen – vor allem jenen männlichen Geschlechts – andeutungsweise meine Grübchen zu zeigen. Es war hochinteressant zu beobachten, wie anders die Reaktion auf diese Technik ausfiel, als wenn ich mich ganz normal benommen hätte. Schon die neue Frisur bescherte mir reihenweise ebenso unerwartete wie unerwünschte Begegnungen mit Unbekannten. Männer sprachen mich in Bussen und Bahnen an, fragten, ob sie mich nicht im Fernsehen gesehen hätten, wollten mich im Pub auf einen Drink einladen. Ich war fasziniert und verstört zugleich von diesem anderen Ich, das ich unfreiwillig übernommen hatte, und fragte mich (beklommen und umgetrieben von abergläubischen Ängsten), ob Rosy nach und nach wohl ganz von mir Besitz ergreifen würde. Bei Plato steht irgendwo etwas Derartiges, Mascha hat es mir mal erzählt.
Wenn Mascha noch lebte … Aber sie war nicht mehr da.
Anfangs hatte ich Rosy ganz objektiv gesehen und mich nur so weit wie möglich in sie einzuleben versucht. Dann wurde sie mir verhaßt, weil ich sie so gut kannte, weil sie so niederschmetternd erfolgreich war. Und zum Schluß tat sie mir leid, weil dies arme, eigensüchtig-oberflächliche Ding nie zufrieden war, sich, wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau, immer das wünschte, was sie nicht hatte, und dabei noch einem anständigen Mann das Leben kaputtmachte. Da aber stand sie mir schon wieder näher – wie eine gute alte Bekannte, an die man sich mit all ihren Schwächen gewöhnt hat.
Es gab viele Gründe für die Besessenheit, mit der ich mich auf die Rolle warf. Es war meine erste große Chance. Etwas in dieser Größenordnung hatte ich noch nie gemacht, und ich sah darin eine aufregende Herausforderung. Auch die anderen Schauspieler – alle so viel prominenter, routinierter, professioneller als ich – gaben mir Auftrieb. Es war wie bei einem Match gegen Tennisgrößen: Das eigene Spiel kann dabei nur besser werden.
Mit zwei Kollegen verstand ich mich besonders gut. Nol Domingo spielte den Will, eine Art zweiten Helden in der verwikkelten Handlung. Er war schwul, so daß der Umgang mit ihm komplikationslos war, ein gutaussehender, südländischer Typ, schlagfertig, privat sehr unterhaltend und ein hervorragender Schauspieler. Er brachte lange Theatererfahrung mit, hatte am National Theatre Shaw und Shakespeare gespielt, dies war seine dritte oder vierte große Fernsehrolle. Ich lernte viel von ihm in den Szenen, in denen er mit mir flirten und mich dann zornig zurückweisen mußte. Meine zweite große Stütze war Sophie Pitt, eine nicht mehr ganz junge Schauspielerin mit einer guten Nebenrolle als aristokratisch versnobte Pfarrersfrau mit scharfer Zunge. Sie hatte dieses phantastische Flair der verlebten Tragödin, das so gut zu der Rolle paßte, und während der wochenlangen Proben bekamen wir die größte Hochachtung vor ihrem hervorragenden, nie in den Vordergrund drängenden Spiel und ihrem gütig-gescheiten Wesen. Sie verstand es, die Gruppe zusammenzuhalten, aus einer zusammengewürfelten Schar, die nur hin und wieder, in unregelmäßigen Abständen, zusammenkam, eine Gemeinschaft zu machen. Die Handlung von Rosy und Dodo lehnt sich an den Roman Middlemarch von George Eliot an, eine gemächlich erzählte Geschichte über die standesbewußte viktorianische Provinzgesellschaft, in der Landadel und Handeltreibende ebensowenig miteinander verkehrten wie Handeltreibende und freie Berufe – oder freie Berufe und Landadel, es sei denn, man hätte diese in beratender Funktion zugezogen. Aufgrund dieser Konstellation verläuft die Handlung eine ganze Weile innerhalb mehrerer geschlossener Gruppen, die erst im letzten Viertel der Geschichte zueinander finden. Nur eine Figur, mein Mann, der Doktor – wohlgeboren, aber nicht mit Wohlstand gesegnet – bewegt sich ungehindert in allen drei Bereichen und sorgt für die Querverbindungen zwischen ihnen. Besagten Ehemann spielte ein ziemlich schweigsam-trüber Typ namens Mike Fourways. Mike war ein begabter Schauspieler, unsere Szenen liefen problemlos, aber privat blieb er mir völlig fremd. Man kam einfach nicht an ihn heran. Nur mit einem aus unserer Clique ließ er sich überhaupt in Gespräche ein, mit dem Darsteller, der Dodos Mann spielte. Dieser Kollege war entschieden der Berühmteste unter uns und hatte den Hamlet in allen größeren Städten der Welt gespielt, einschließlich Kathmandu.
So steigerte ich mich also nach Kräften in die Rosy hinein und schrieb muntere Briefe an Fitz – allerdings nicht zu oft und sorgsam darauf bedacht, nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich schreckliche Sehnsucht nach ihm hatte.
Die Dreharbeiten dauerten länger als vorgesehen, teils wegen des Elektrikerstreiks, teils wegen der Jahreszeiten. Die Außenaufnahmen spielten im Winter, Frühjahr und Sommer. Wegen des Streiks ging uns ein Stück Sommer verloren, so daß wir die fehlenden Szenen erst im folgenden Jahr drehen konnten. Benötigt wurden wechselnder ländlicher Hintergrund, eine Farm, eine Dorfkirche und Behausungen jeder Art, vom Herrensitz bis zur bescheidenen Kate. Hierfür hatte Lord Fortuneswell, erst unlängst in den Adelsstand erhoben, mit gewichtiger Stimme im Vorstand von Pyramid TV, stark engagiert in der staatlichen Kunstförderung und Besitzer eines kleinen, aber feinen Verlages, uns freundlicherweise seinen Herrensitz in Dorset zur Verfügung gestellt.
Genaugenommen hätten wir die Außenaufnahmen in den Midlands machen müssen, aber einem geschenkten Herrensitz schaut man nicht ins Maul, und Knoyle Court mit seiner unverbindlichen Queen-Anne-Architektur hätte praktisch überall stehen können und war für unsere Zwecke durchaus geeignet. Der dreißig Morgen große Besitz umfaßte eine Kirche, ein Dörfchen mit Häuslerkaten und zwei Farmen, und über all das konnten wir dank Fortuneswells Großzügigkeit frei verfügen. Die Gartenanlagen mit den hohen Eibenhecken, Plattenwegen und Terrassen paßten sehr gut in unser Konzept. Ich persönlich fand sie zu düster, aber um zweihundertjährige ererbte Eiben gleich zu Dutzenden fällen zu lassen, muß man wohl sehr heldenmütig veranlagt sein. Lord Fortuneswell selbst war nicht zugegen, was uns größeren Komfort und mehr Freizügigkeit bescherte. Er war zu den Antipoden gereist, um Verhandlungen wegen der Übernahme eines Pressekonzerns zu führen, demnach gehörte er zu diesen umtriebigen Managertypen, die ständig Ausschau nach neuen Möglichkeiten zur Mehrung ihrer Millionen halten.
»Wie ist er denn so?« fragte ich Sophie Pitt, die ihn kannte, weil Mein Stichwort, die Erinnerungen aus ihrem Theaterleben, bei seinem Verlag, Obelisk Press, herausgekommen waren.
Sie zog das Kinn ein, das ist so eine Angewohnheit von ihr, und sah tiefsinnig an ihrer langen Nase und den stark geröteten Wangen mit den hohen Backenknochen herunter.
»Sehr unaufdringlich«, sagte sie nachdenklich. »Auf den ersten Blick würde man ihn nie für einen Millionär halten. Er hat etwas Fanatisches an sich – ein fanatischer Landjunker, der sich der Erhaltung der Dachse oder dem Schutz des Kleinen Bläulings verschrieben hat. Zumindest –« fügte Sophie hinzu, der niemand so leicht etwas vormachen kann, »– ist das der Eindruck, auf den er aus ist. Cordsamtanzug, offenes Hemd, Abenteurerstiefel. Er sieht aus wie zweiunddreißig, in Wirklichkeit ist er wohl älter, aber im Vorstand von Pyramid TV gilt er immer noch als Wunderknabe. Wenn man genauer hinsieht, merkt man, daß der Cord erste Qualität ist und die Stiefel handgenäht sind. Er sieht aus, als ob er seine Tage mit der Züchtung seltener Orchideen verbringt.«
»Und wie verbringt er wirklich seine Tage?«
»Mit gezielten Bemühungen, noch mehr Geld zu machen«, sagte Sophie. »Wahrscheinlich würde er dir trotzdem gefallen. Das hat er so an sich.«
Fitz würde ihn auf den ersten Blick durchschauen, dachte ich. Fitz hat eine sehr dezidierte Meinung zu Millionären.
Knoyle Court machte einen durchaus ansprechenden Eindruck: Keine Protzerei mit Chippendale und Romney-Gemälden, sondern gemütlich-rustikales Mobiliar und harmlose Aquarelle aus dem vorigen Jahrhundert, von denen viele die Damen des Hauses selbst gemalt hatten. Ich erfuhr, daß der Besitzer sich dort so gut wie nie aufhielt. Er hatte ein Penthaus in Battersea, ein Chalet in der Schweiz, einen Palazzo in Florenz und eine Jacht. Das Haus in Dorset hatte ihm ein Freund vermacht, es war eine dieser unvermuteten Erbschaften, die immer ausgerechnet Millionären in den Schoß fallen. Hinterließe mir jemand einen Herrensitz in Dorset, so müßte ich mein ganzes Leben umkrempeln, um die Erbschaft anzutreten, aber er hat wahrscheinlich kaum etwas davon gemerkt. Dabei war es ein stattliches Haus, ein Haus mit Charakter, mit dem ich mich durchaus hätte anfreunden können. Außerdem war es nur gut dreißig Kilometer von Yetford entfernt, wo ich den späteren Teil meiner Kindheit verbracht habe. Als einmal vormittags Dodos Szenen gedreht wurden und man mich nicht brauchte, borgte ich mir Sophies Mini-Cooper, unternahm eine wehmütige kleine Pilgerfahrt zu dem großen Pfarrhaus aus dem 19. Jahrhundert, in dem wir gelebt hatten, und sagte noch einmal der Asche meiner Mutter Lebewohl.
Auf der Rückfahrt machte ich den Umweg über Dorchester und hielt am Ludwell Hospital, um mich nach alten Freunden und Feinden zu erkundigen. Aber nach siebzehn Jahren war das Krankenhaus kaum wiederzuerkennen, und das einzige vertraute Gesicht war das von Kerne, dem Pförtner. Die Fluktuation beim Krankenhauspersonal ist enorm, weil die Arbeit so anstrengend ist. Selbst Schwester Coverdale, mein altes Schreckgespenst, war nicht mehr da, sie war zur Oberin einer großen modernen Klinik in Bournemouth avanciert, berichtete Kerne.
»Hunderte von Krankenhausfällen haben die in Bournemouth, weil da immer die alten Schachteln hinziehen, wenn ihre Männer pensioniert werden oder sterben«, erzählte er genüßlich, »deshalb gibt’s dort haufenweise eingebildete Kranke.«
»Na, da ist ja Schwester Coverdale in ihrem Element.« Ich hatte noch ihre Stimme im Ohr, eine Stimme, in der hemmungsloser Zorn zitterte: »Aus Ihnen wird nie eine ordentliche Krankenschwester, Smith, und wenn Sie bis zum Jahr Zweitausend hierbleiben. Also ehrlich, in welchem Beruf Sie überhaupt was werden könnten, ist mir schleierhaft, aber eins steht fest: Mit der Krankenpflege hätten Sie’s nie probieren dürfen.«
Sie meinte meine Auflehnung gegen die strengen Regeln auf der Kinderstation. Kranke Kinder, pflegte Schwester Coverdale zu sagen, brauchen strikte Disziplin, sonst können sie nicht ordnungsgemäß behandelt werden. Vielleicht hatte sie recht. Kinderstationen sind Dressurplätze für Lernschwestern: Wer es dort aushält, kommt überall zurecht. Es stellte sich heraus, daß ich es nicht aushielt. Wegen der aus meiner Sicht unmenschlichen Zustände, der hanebüchen dickfelligen Unbeweglichkeit lief ich mit einer permanenten Wut im Bauch herum. Wenn ich nicht gerade in Ohnmacht fiel.
»Ach je, Smith ist schon wieder umgekippt«, hörte ich mit schöner Regelmäßigkeit, wenn ich auf den hellgrünen Plastikfliesen zwischen Chrombeinen und Gummirädern wieder zu mir kam. Smith nannte ich mich damals, weil sich an Mars-Smith das Personal vermutlich die Zunge verrenkt hätte. Am Theater allerdings ist mit Cathy Smith kein Blumentopf zu gewinnen, da kann man sich gleich Miss Pünktchen-Pünktchen nennen, außerdem hatte ich, als ich mich damals bewarb, in der Schauspielergewerkschaft noch ein halbes Dutzend Namensschwestern, deshalb griff ich für die Bühne auf Maschas Mädchenname zurück und nannte mich Cat Conwil.
Merkwürdigerweise bin ich seither nie wieder ohnmächtig geworden.
So froh ich alles in allem auch über mein Entkommen war – daß ich mich in der Krankenpflege nicht bewährt hatte, tat mir leid und war mir peinlich, denn vom Fach her interessierte sie mich, und die Prüfungen waren kein Problem. Papa wäre wahrscheinlich enttäuscht über mein Versagen gewesen, aber er hatte sich inzwischen in sein eigenes Reich zurückgezogen und die Brücken zu seinen Mitmenschen abgebrochen.
Angefangen hatte es mit dem blamablen Zwischenfall in der Kirche von Yetford. In dem Moment, als er eigentlich mit einem seiner nur um das eigene Ich kreisenden Sermone hätte beginnen sollen, fing er an, sich langsam und ungeschickt seiner klerikalen Insignien zu entledigen. Dann zog er vor den verstörten Augen seiner kleinen Gemeinde Hemd, Hose und das teure Thermohemd aus, ohne das Mascha ihn nie aus dem Haus gehen ließ. Danach die dicken Socken und die lange Thermo-Unterhose. Und dann … nein, kein Wort weiter. Es war zu fatal, zu erschröcklich, zumindest für die Gemeinde. Mascha reagierte glücklicherweise abgeklärt. »Laß doch die Leute reden«, lautete eine ihrer Maximen. Schlimm war es für sie, daß sie sich von dem stillen, geräumigen Pfarrhaus von Yetford und dem Platz mit den Blausternen unter der Zeder trennen mußte. Sie zogen in eine elende kleine Bruchbude am Rande von Reading, finanziert zu einem Teil von einer obskuren Stiftung zur Unterstützung kranker und mittelloser Geistlicher, zum anderen Teil von mir. Papa bekam nichts davon mit. Inzwischen meinte er auf einer einsamen Insel zu leben. »Es ist sehr rücksichtslos, mich just in dem Moment zu rufen«, sagte er aufgebracht, »da ich in die Betrachtung des unendlichen Ozeans vertieft war.« Manchmal schienen es die Bermudas zu sein, manchmal die Ionischen Inseln. Mascha lachte gutmütig darüber, aber ich spürte, wie es sie traf, daß er gerade diesen bizarren Weg der Befreiung gewählt hatte. Sie wäre so gern gereist, hatte sich immer gewünscht, Delphi, Rom, Santiago zu sehen, aber als es ihm noch gut ging, hatte er so viel zu tun gehabt, daß er sich nicht freimachen konnte, und später verboten sich Reisen bei ihren beschränkten Mitteln von selbst.
Mascha verlangte es nach unberührt-wilder Natur. Sie war in den walisischen Bergen aufgewachsen, und deshalb galt ihre Sehnsucht den Rocky Mountains, den Anden, dem Ural, dem Himalaya. Eine der Postkarten, die in ihrer Küche im Messerhalter steckten, zeigte ein Bild des Amerikaners Bierstadt, ein Werk aus dem 19. Jahrhundert, einen majestätisch aufragenden Berg, schneebedeckt und dicht bewaldet (Tascha hatte die Karte von einer ILO-Konferenz in New York mitgebracht). Ich erinnere mich gut an den Stoßseufzer meiner Mutter: »Was meinst du, ob es den überhaupt noch gibt?«
Ich konnte sie gut verstehen. Heutzutage ändert sich alles so schnell. Du kehrst an eine Stätte zurück, die du kennst, und siehe da, sie ist abgerissen und ausgebeint, und über ihrem Grab sind Wolkenkratzer hochgewachsen. Du bist zutiefst verunsichert und hast das Gefühl, so könne es mit allem gehen, was dir lieb und teuer ist. Angenommen, du greifst nach dem Hamlet und mußt feststellen, daß man ihn völlig umgeschrieben hat, ausgeschlachtet und umgebaut wie die Innenstadt von Worcester, daß das eigentliche Stück für immer verloren ist? Welch Alptraum!
»Wenn ich einen Wagen hätte«, flüsterte Mascha sehnsüchtig, »und wenn ich Auto fahren könnte, würde ich mich einfach hineinsetzen und losfahren, immer weiter, ohne anzuhalten …«
Ich glaube, das war das einzige Wort der Auflehnung, das ich je von ihr gehört habe.
Ich wußte – obschon nie darüber gesprochen wurde –, daß sie zutiefst enttäuscht war, als Papa die Medizin an den Nagel hängte und sich der Kirche zuwandte. Nichts war ihr mehr zuwider als Vergeudung. Ich hatte irgendwie die verquere Vorstellung gehabt, durch meine Ausbildung zur Krankenschwester hier vielleicht einen Ausgleich schaffen zu können. (Wer aber kann entscheiden, ob es vor Gott verdienstvoller ist, einen Bentley zu fahren und jeden zweiten Tag einem Patienten den Bauch aufzuschneiden, oder jeden Sonntag vor fünf rheumageplagten alten Weiblein in einer feuchten Dorfkiche eine Predigt zu halten …?) Nach meinem zweiten Krankenhausfiasko zog ich nach London, jobbte im Kaufhaus und stellte fest, daß es kein Problem ist, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Man muß sich nur ins Zeug legen, und das tat ich, weil ich Geld an Mascha schicken mußte. Und dann geriet ich allmählich in Theaterkreise. Ich entdeckte die Möglichkeit, mir ein Zubrot durch Modellstehen in Kunstschulen zu verdienen, eine Freundin am Slade empfahl mich für eine Fernsehwerbung, und abends nahm ich Schauspielunterricht. Seltsamerweise war es vor allem Mascha, die mir dabei den Rücken stärkte. Es fiel schwer zu glauben, daß ausgerechnet meine Mutter – inzwischen dick geworden (sie nährte sich vornehmlich von billigem Pamps, die besten Fleischstücke blieben immer für Papa), derb, verbraucht, mit rundem Babuschka-Gesicht, den zerklüfteten, von Wind und Wetter gegerbten Zügen einer Landfrau – früher einmal den ebenso heißen wie hoffnungslosen Wunsch gehegt hatte, zur Bühne zu gehen. Tatsächlich aber war sie in der studentischen Theatergruppe von Cambridge aktiv gewesen und hielt später theaterwissenschaftliche Vorträge im kirchlichen Frauenkreis, die eigentlich für ihre Zuhörerinnen viel zu hoch, aber mit so viel Humor gewürzt waren, daß die Dorffrauen in hellen Scharen hinströmten.
Ich war ihr Ventil. Sie machte kein Geheimnis daraus, wie begeistert sie war, als ich ins Fernsehen kam, auch wenn ich nur eine Frau spielte, die ihrem skeptischen Ehemann eine Tube Blendweiß-Zahnpaste in die Hand drückt. Mascha, für sich selbst die Bescheidenheit in Person, verzehrte sich in glühendem Ehrgeiz für mich, ihr sehnlichster Wunsch war es, meinen Namen in Leuchtbuchstaben in der Shaftesbury Avenue flimmern zu sehen. Ich meinte, sie solle doch ihre Ambitionen lieber auf Fitz ausrichten, aber dessen dringender Wunsch, eine Abhandlung über die strukturalistischen Elemente bei Heidegger zu schreiben, konnte sie bei aller Liebe zu ihm nur schwer nachvollziehen.
Diese und andere Erinnerungen an Mascha versetzten mich in wehmütige Stimmung, während ich von Dorchester aus zurück nach Knoyle Court fuhr. Es wird Zeit, dachte ich, daß wir mit den Außenaufnahmen fertig werden und in das gesellige Getriebe der Londoner Studios zurückkehren können. Die Leere und Stille der Region gemahnten einen allzu nachdrücklich an Verlust und Verlassenheit, die betörende grüne Landschaftt – und die Landschaft Dorsets ist besonders betörend, die kommaförmigen Kuppen der steilen kleinen Berge beschreiben unsägliche gekippte Winkel, die aussehen wie Wellen und Vulkane bei Hokusai, man könnte meinen, der Allmächtige habe sie an einem seiner besonders kreativen Tage mit der Faust zusammengedrückt – diese bezaubernde Landschaft weckte in mir Demut und Trauer.
Als ich nach Osten, in Richtung Knoyle, abbog, erinnerte mich das scharfe Knattern einer Geschützsalve daran, daß die idyllische Einsamkeit der Gegend hauptsächlich der Army zu verdanken war, die es irgendwie fertiggebracht hatte, ein gewaltiges Areal an Hügelland nördlich der Küste an sich zu ziehen.
DURCHFAHRT FÜR ZIVILFAHRZEUGE GESPERRT verkündeten Schilder auf Nebenstraßen zu meiner Linken, als ich seewärts fuhr, und, noch unmißverständlicher: ACHTUNG! SCHARFE MUNITION! Angeblich gedeiht die Natur in militärischen Sperrzonen besonders üppig, Vögel, Dachse und Wildblumen sind fruchtbar und mehren sich. Vielleicht ist es also gar nicht schlecht, daß der Mensch diesen Küstenstrich nicht mit Glasscherben, Plastik, schmutzigem Papier, rostigen Dosen, Wochenendhäusern und Wohnwagen verschandeln kann. Er hat anderswo schon genug Unheil angerichtet, man sollte dem Verteidigungsministerium dankbar dafür sein, daß es dieses Gebiet vor menschlicher Zerstörungswut bewahrt hat. Mit gepanzerten Fahrzeugen und Schießübungen können Füchse und Primeln offenbar leben, mit dem homo domesticus hingegen nicht.
Ich hielt respektvollen Abstand zu den Warnschildern und fuhr wieder nach Westen, wobei ich die Straße nach Caundle Quay mied. So ein hübscher Name – aber ich war einmal dagewesen, und das reichte. Caundle Quay war von so niederschmetternder Trostlosigkeit, daß die Behauptung des Verteidigungsministers, das ländliche Dorset sei in der Obhut seines Amtes bedeutend besser aufgehoben als in der des homo domesticus, durchaus einleuchtend erschien.
Ursprünglich war Caundle Quay ein aus sieben Häusern und einem Pub bestehender Weiler gewesen, in Stufen an die Zickzackwindungen eines Baches geschmiegt, der sich einen steilen Weg durch die aufgeworfenen Klippen zur See gebahnt hatte. Vor dreißig Jahren aber war ein Spekulant dahergekommen und hatte fünf oder sechs Felder am oberen Ende des Dorfes erworben sowie eine Genehmigung, dort vierhundert Wohnwagen aufzustellen. Seither war der Bach von April bis Oktober mit Müll verstopft, Gras und Steine unten am Wasser sahen wüster aus als die Gehsteige der Oxford Street. Selbst im Winter hingen im Umkreis von einem Kilometer um das Camp herum unverrottbare Reste von Plastik, Gummi und schmutzigen Nylonfetzen wie Girlanden an den Brombeerbüschen und Haselsträuchern.
Ich war vor langer Zeit mal mit Fitz und Mascha hingefahren, weil der Ort auf der Karte irgendwie einladend ausgesehen hatte, aber der Anblick hatte sie so traurig und ihn so wütend gemacht, daß ich jetzt, sobald ich den Namen auf dem Hinweisschild erkannte, schleunigst Gas gab.
Es ist doch eigenartig und im Grunde beängstigend: Seit Jahrtausenden, seit den Dorfgründungen der Eisen- und Bronzezeit, leben Menschen in Dorset und haben in dieser Zeit erstaunlich wenig Schaden angerichtet. Sie haben ein bißchen Erz geschürft, ein paar Waffen geschmiedet und sich gelegentlich gegenseitig umgebracht, sie haben ihr Vieh auf die Weide getrieben, ihre Äkker bestellt, Feldschanzen errichtet, einige wenige Schlachten geschlagen. Das Gleichgewicht von Mensch und Umwelt blieb erhalten, auch als die Römer kamen, auch als Hadrian zum Sturm auf Maiden Castle blasen ließ und das Kastell eroberte. Selbst in den letzten zweitausend Jahren vermochte der langsam verstädternde Mensch wenig gegen die sanft gewellte grüne Landschaft. Erst das Geschöpf des zwanzigsten Jahrhunderts, homo moriturus, homo in articulo mortis, hat in seinen Todeszuckungen so unermeßliche Zerstörungen bewirkt.
Warum ist das so? Was ist das für ein krebsig wuchernder Todeswunsch, der uns zu so schneller, so wahlloser Vermehrung veranlaßt, uns bei unseren Werken und Erfindungen zu diesem hektischen Tempo treibt, zum Expandieren, Kolonisieren, Konsumieren, die Erde mit unseren Behausungen und unseren Abfällen zudeckend?
Mit diesen düsteren Gedanken beschäftigt und sehnsüchtig an die tröstliche Sachlichkeit denkend, mit der Mascha dieses Thema behandelt hätte – oder aber an die kühle Logik von Fitz –, fiel mir plötzlich ein, daß ich ja als eine Art Talisman seinen letzten Brief an Mascha bei mir hatte. Ich hatte Fitz in Cambridge, Massachusetts, angerufen und ihn dringend gebeten, ihr zu schreiben. Er hatte meinen Wunsch erfüllt, aber der Brief war zu spät gekommen. Jetzt trug ich ihn als Glücksbringer mit mir herum, der mich mit beiden verband.
»Geliebte Mascha«, stand da in seiner schönen, klaren Schrift, »ich schreibe dir von einer Bank auf dem Washington Square, ich bin nämlich zum Wochenende per Anhalter nach New York gefahren. Was ich auf dem Washington Square treibe (der noch immer aussieht wie jener Platz, den Henry James einst kannte, es aber nicht mehr ist)? Ich sehe runzelgesichtigen Männern beim Schachspiel an steinernen Tischen zu. Was tut sich sonst noch? So viel, daß man einen vierstündigen Dokumentarfilm bräuchte, um alles nacheinander aufzuzeichnen – und dann wären die ganzen Open-End-Geschichten noch nicht drin. Zwei mordsmäßig dicke Polizisten, mit mordsmäßig dicken Schießprügeln bewaffnet, kurven langsam in einem schweren Schlitten durch die Gegend und beobachten alles und alle. Ein verzweifelter Junkie ohne Geld rennt hysterisch herum und bettelt: ›Smoke? Smoke?‹ Keiner beachtet ihn. Drogenhändler in Jeans und Lederjacke und dunkler Brille sehen über ihn hinweg, sie stehen in einer bedrohlich lässigen Gruppe herum und halten Ausschau nach Kunden. Ein Mann, der Russe sein könnte, mit hellgrauem Haarschopf und Rauschebart, sitzt unter dem steinernen Washington Arch und spielt eine langsame Mazurka auf einem Klavier, dem das Gehäuse fehlt. Wie hat er den Klimperkasten wohl hergeschleppt? Und was ist, falls es anfängt zu regnen? Eine kleine Gruppe steht höflich lauschend um ihn herum. Man kann ihn nur ganz aus der Nähe hören, denn auf der Platzmitte veranstalten zwei mit Lautsprechern hochgerüstete Rockgruppen ein krakeeliges Spektakel. Östlich von ihnen ziehen auf einer kahlen