7,99 €
Der herzkranke Gabriel will nicht mehr leben und haut von zu Hause ab. Seine herrschsüchtige Mutter und sein Stiefvater machen sich aus unterschiedlichen Beweggründen auf die Suche nach ihm. Immerhin hätte der sechzehnjährige Gabriel bei seiner Volljährigkeit eine große Erbschaft zu machen. Und wenn er gar nicht freiwillig verschwunden wäre? Ein Erpresser meldet sich…
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 577
Veröffentlichungsjahr: 2021
Joan Aiken
Roman
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Diogenes
Für Julius
und die Tenth Street
Kaum war ihm aufgegangen, daß er schon wieder sein Gedächtnis verloren hatte, verspürte der Mann im Taxi den gewohnten fiebrigen Angstschweiß, der an den Füßen begann und sich unkontrollierbar den ganzen Körper hinaufzog, bis er irgendwo oberhalb des Haaransatzes endete. Den gewohnten? Ja, er war sicher, daß es sich keineswegs um eine neue Erfahrung handelte. Sie kam ihm vertraut vor wie ein nicht lange zurückliegender Vorfall; dergleichen mußte sich häufig auch früher schon zugetragen haben.
Das wird aber ganz schön mühsam werden, in diesem Tempo durchs Leben zu zockeln, dachte er und lockerte seine ineinandergekrampften Finger – sie waren äußerst empfindlich und sandten zur Vorwarnung kleine Schmerzensstrahlen in seine Arme hinauf. Er verlagerte die Füße, die er in einer sehr unbequemen Drehung seitlich angewinkelt hatte, auf den Hubbel in der Mitte des Wagenbodens.
Das ist ja wie das Zusammenleben mit einem alten, senil gewordenen Menschen. Wieviel Uhr ist es, Liebes? Das habe ich dir doch vor zehn Minuten schon gesagt; es ist halb vier. Und welchen Tag haben wir heute?
Er blickte aus dem Taxifenster. Offensichtlich Sommer. Die Mädchen trugen Miniröcke, die Männer hatten ihre Jacketts über den Arm geworfen und die Hemden über dem Bauchnabel zusammengeknotet. Alle schlenderten gemächlich, viele schleckten Eis. Und was dort zur Linken messerscharf das Blickfeld durchschnitt, war unverkennbar das Flatiron Building, diese raffinierte und witzige architektonische Dreistigkeit, ein elegantes Kartenhaus, das den Turmspitzen und Rechtecken und nüchternen Hochhausbauten ringsumher eine lange Nase machte.
Blaue Briefkästen, gelbe Taxis. Heiße Dampfschwaden, die aus Löchern im Asphalt aufstiegen, als ob das Taxi ein Thermalgebiet durchführe. Fußgänger: Grün, Rot. Donuts. Vollgespickt mit Nüssen. Fifth Avenue, New York. Wie wunderbar, dich wiederzusehen, New York, dachte er; ihm kam der Präsident in den Sinn, der diesen innigen Gruß für Freunde und Fremde gleicherweise verwendete.
Haben Präsidenten Freunde?
Jetzt lassen wir diesen Unsinn aber lieber bleiben, ja?
Als er seine Aufmerksamkeit wieder dem Wageninneren zuwandte, bemerkte er, daß er einen grauen Anzug trug, sommerleicht. Weißes Hemd. Daß er zwei Taschen bei sich hatte, eine Reisetasche aus Segeltuch und eine andere aus grauem Fiberglas, nicht neu; an beiden hing ein PanAm-Schildchen. Also kehrte er von einer Reise zurück? Oder war er zu Besuch gekommen?
Die Schildchen an den Taschen waren auf den Namen Cook ausgestellt, ebenso – wie ein Blick ergab – sein Reisepaß. Britisch, vielbenutzt.
Eine schwache Stimme – Arzt? Anwalt? Freund? – drang wieder an sein Ohr: »Am besten ist es, alter Knabe, du trägst, solange du unter derartigen Anfällen leidest, immer deinen Paß mit dir herum. Dann können die Leute unschwer herausfinden, wer du bist.«
Doch was nutzt es schon, daß andere Leute wissen, wer ich bin, wenn ich es nicht weiß?
Er schlug den Paß auf und sah das wie gewohnt erschrockene, bebrillte Gesicht mit dunklem Haar, das zu kurz geschnitten wirkte – jetzt fühlte es sich viel länger an, seit der Aufnahme mußte es um mehrere Zentimeter gewachsen sein. Mr. Thomas Cook.
Na, so was. Sieh mal einer an. Wollen wir uns diesen Mr. Cook doch mal näher beschauen.
Er spürte, wie sich seine Gesichtsmuskeln zu einem gezwungenen Lächeln strafften, der flüchtigen gesellschaftlichen Anerkennung eines bis zum Überdruß vertrauten Scherzes. So runzelte er statt dessen die Stirn und blätterte die Seite um. Geburtsort und Geburtsdatum: Stadtteil Rumbury, 1933.
Beruf: Biologe.
Biologe, wie?
Wenn du eine wissenschaftliche Ausbildung absolviert hast, mein Guter, warum steckst du dann immer wieder in dieser Klemme, kannst du mir das mal verraten?
Der Taxifahrer drehte sich um und richtete durch die Öffnung in der kugelsicheren Trennwand eine kurze Frage an ihn.
»Wie meinen Sie?«
»Welche Seite?« wiederholte der Fahrer geduldig. »Fifth Avenue, Tenth Street, haben Sie gesagt. Welche Seite?«
Welche Seite? Welche Seite? Ja, welche Seite denn?
Der Mann namens Thomas Cook geriet aufs neue in Panik.
»Oh – die rechte Seite«, sagte er endlich – nach, wie ihm schien, fünf Minuten fieberhaften, ergebnislosen Grübelns. Der Fahrer blickte sich wieder um, verdutzt. Aber wieso erwarten wir eigentlich, daß Geist und Körper stets in Blitzesschnelle funktionieren, daß wir Aktennotizen aufs Papier werfen können wie die Leute im Film, daß wir das Wechselgeld richtig abgezählt aus der Tasche ziehen, wie Computer Zahlenkolonnen addieren, mitsamt Gepäck leichtfüßig in und aus Taxis springen (auch wenn uns Arme und Beine verflucht weh dabei tun) – und weder einen Gedanken noch eine Geste zuviel aufwenden? Tiere funktionieren anders, jedenfalls meistens; Tiere erhalten sich ihre Energie, Tiere sind in jeder ihrer Bewegungen langsam und bedächtig, außer wenn man sie jagt.
Genau das ist der Unterschied, natürlich. Wir werden gejagt!
Wir leben im Dschungel, man pirscht sich an uns heran, und dementsprechend müssen wir uns verhalten.
Aber wer ist der Jäger, der unbekannte Faktor, der Feind, dessen heißen Atem wir dicht im Nacken verspüren, so daß wir uns nicht umzudrehen wagen? Ich stand wie einer, dem im Wald auf dunklem Pfade graut; der immer, immer vorwärts eilt und nimmer rückwärts schaut. Er weiß, ein Feind ist hinter ihm; sein Herz schlägt bang und laut.
Na bitte! Das ging doch wie geschmiert. Weshalb dann nicht mein Name?
Mit einem eleganten Schlenker steuerte der Fahrer den Wagen an die Bordsteinkante. Thomas kramte nach Münzen und Scheinen und legte sie in den Schlitz. Der Fahrer nahm sie auf seiner Seite der Trennwand entgegen, warf einen freudlosen Blick darauf, nickte kurz bestätigend und wartete. Thomas stemmte sich mit seinen Taschen mühsam aus dem Wagen und blieb ratlos an der Ecke stehen. Er wünschte sich Mut, den Fahrer, der noch nicht weitergefahren war, sondern ihn immer noch neugierig musterte, zu fragen: »Welche Adresse hatte ich Ihnen beim Einsteigen genannt?«
Schließlich werden Menschen so gut wie jeden Tag von leichten Gedächtnisstörungen heimgesucht, dafür braucht man sich doch nicht zu schämen, das ist doch nichts Ungewöhnliches. Mach schon, frag ihn. Sei kein Frosch. Doch nach einem weiteren langen, forschenden Blick wandte der Mann sich um, jagte sein gelbes Taxi in weitem Bogen in das Verkehrsgewühl und brauste davon. Da fährt er nun und nimmt meine Adresse mit; verwünscht, was fange ich jetzt bloß an?
Aber als er endlich zaghaft um die Ecke bog und die Tenth Street in Augenschein nahm, schien sie eine vage vertraute, vage tröstliche Atmosphäre darzubieten, ein unbestimmbares Gefühl des Willkommens und der Heimkehr, als ob sich eine Form, eine Schablone in seinem Kopf, über die äußere Anlage der Häuser gestülpt hätte: verschiedene Schattierungen von weichem Ockergelb, Rot und Rosa, schmiedeeiserne Geländer, Ranken laubreicher Kletterpflanzen, Mülleimer, abgestellte Wagen. Platanen, Akazien, Götterbäume.
Ich werde ganz langsam weitergehen, dachte er. Wer zwei schwere Taschen zu tragen hat, läuft schließlich immer langsam, besonders wenn ihn seine Arme so schmerzen wie mich – ich werde ganz langsam weitergehen, und vielleicht wird mir mit einem Mal etwas einfallen.
Breiter, alter Bürgersteig, rissig und ausgebessert. Zwei, drei Leute in der Ferne. Eleganter rötlichbrauner Sandstein, neunzehntes Jahrhundert.
Er hielt an und starrte ziellos auf ein winziges, mit einer Hecke eingefaßtes grünes Rasenstück, auf dem eine schläfrige Katze alle Glieder in der Sonne streckte wie ein zum Trocknen ausgelegtes Handtuch.
Darüber hing ein Vogelbauer; der Wellensittich darin schien ihn mit derselben wachen Neugier zu beäugen wie der Taxifahrer – nicht teilnahmsvoll, sondern gleichgültig.
Wie ruhig ich bin, wie unglaublich ruhig. Da ist ja eine Telefonzelle am Ende der Straße; wenn ich an der Ecke angelangt bin und mich immer noch nicht erinnern kann, laufe ich zurück und rufe den erstbesten Arzt im Telefonbuch an.
Plötzlich stieß der Wellensittich zwei Töne aus, schrill, spöttisch. Ätsch! Ätsch!
I’ll drive the van, with our things in it
You walk be’ind with the old cock-linnet
– But I dillied and dallied
Dallied and dillied
And I can’t find my way ’ome.
Das war der ärgste Alptraum der Kindheit: das Bekannte unbekannt, das Vertraute fremd geworden. Heiligabend – wieso verfalle ich darauf, daß ich Heiligabend nach Hause komme?
Wieder ging ihm ein Vers durch den Kopf, aus noch früherer Zeit, noch erschreckender. Der handelte von dem armen, alten Mann, der sich vorstellt, den Kopf zu verlieren:
Ich möcht für tausend Taler nicht,
daß mir der Kopf ab wäre:
sonst lief ich mit dem Rumpf herum
und wüßt nicht, wo ich wäre.
Die Leute schrien all und blieben stehn:
Ei guck mal den! Ei guck mal den!
Immer wenn sie’s gesungen hat, bin ich in Tränen ausgebrochen. Nach Hause zu kommen und alles verfremdet vorzufinden; oder nach Hause zu kommen, und keiner erkennt einen wieder – was wäre schlimmer?
Wie entsetzlich, einem Menschen die Identität zu stehlen. Der allerschlimmste Diebstahl.
Aber hier, dachte Thomas Cook und blieb stehen, hier war endlich etwas wirklich Vertrautes: eine Reihe zerbeulter, unordentlich überquellender Mülleimer, ein verbogenes Geländer, eine rissige Treppe. In seinem Gedächtnis war jeder Riß fein säuberlich an seinem Platz. Glücklicherweise wissen wenigstens unsere Füße, wohin wir laufen, selbst wenn unsere Gedanken auf einer anderen Ebene wandern.
Als er die Treppe hinaufstieg, mußte er an die Geschichte denken, die Bo ihm erzählt hatte – wie einen lustigen Witz erzählt hatte –, die Geschichte von dem Mann in der Druckerei, der sich weigerte, der Gewerkschaft beizutreten, so daß die anderen ihn boykottierten, und zwar nicht nur, indem sie ihm aus dem Weg gingen, sondern indem sie konsequent so taten, als ob er überhaupt nicht existiere. Sie strichen seinen Namen aus allen Listen, sahen durch ihn hindurch, bis der arme Teufel am Ende einen regelrechten Nervenzusammenbruch erlitt und Angst hatte, nach Hause zu gehen. In den frühen Morgenstunden wurde er aufgelesen, wie er am Battersea Embankment umherirrte und weinte, er sei das schwarze Schaf von Little Bo Peep und habe sein Schwänzchen verloren. Wieviel davon entsprach der Wahrheit, und wieviel war phantasievolle Erfindung? Jedenfalls war es genau die Art von Streich, den Bo selbst gern spielen würde, den sich auszudenken und in die Tat umzusetzen er durchaus fähig war; Bo hatte einen entschieden sadistischen Charakterzug.
Er war gescheit, unterhaltsam, aber so richtig als Freund vorstellen konnte man ihn sich nicht. Eigentlich habe ich ihn nie gemocht. Ihm getraut schon gar nicht, nichts als Erleichterung verspürt, als die Verbindung mit ihm abbrach. Aber wie kam es dazu?
Indem er aus seiner kurzen Phase von Vergeßlichkeit ebenso rasch herausschlüpfte, wie er hineingeschlüpft war, trat Thomas Cook durch die offene Haustür und fingerte langsam an einem ziemlich großen Schlüsselbund herum, bis er den kleinen Schlüssel gefunden hatte, der in den Briefkasten paßte. Der Kasten war vollgepfropft mit Rechnungen, Broschüren, Werbeprospekten, die sich über Monate angesammelt hatten. Ungeduldig öffnete er den Reißverschluß seiner Segeltuchtasche und stopfte die Umschläge und Reklamezettel zu seinen Kleidern; zuzuziehen brauchte er ihn nicht. Als er den nächsten Schlüssel hervorsuchte und die Zwischentür aufschloß, befiel ihn ein mattes Unbehagen – hatte er sich nicht eben noch etwas in Erinnerung rufen wollen, was war das nur? Etwas Wichtiges – womit, mit wem hatte es noch wieder zu tun? Gerade eben hatte er es doch noch mit Händen greifen können, kurz vor der Erinnerung an Bo. Oder kurz danach?
Zu oft passierte ihm das inzwischen: ein wesentliches Bindeglied entglitt ihm, bevor er es festhaken konnte.
Wie immer sah er auf dem Marmortisch in der Eingangshalle nach Post, aber für ihn war keine dabei. Da stand er nun und betrachtete sich im Flurspiegel: dünn, übermüdet; buschiges, dunkelgraues Haar. Ein Professor, mochte man meinen; eine Art Gelehrter.
Langsam stieg er die erste der vier Treppen empor. Jede Stufe neigte sich seitlich, und dauernd schlug die Tasche in seiner Rechten, die Segeltuchtasche, gegen das Geländer; er mußte das Gefälle ausgleichen, indem er sich nach links beugte. Die Luft im Treppenhaus war stickig vor Hitze – alte, gut erhaltene Luft, Sommerlese, in Holz gereift. Altes, heißes, gesprungenes Holz, alte, stark verschmutzte Farbe. Nach der zweiten Treppe mußte er sich ausruhen, nach der dritten wieder. Die letzte Treppe war noch schmaler, auf den schwarz gestrichenen Stufen lag eine dicke Staubschicht. In den letzten ein, zwei Wochen waren nur wenige Menschen so hoch gestiegen. War ihnen auch nicht zu verübeln.
Auf so engem Raum mit zwei Taschen zu hantieren erwies sich, wie immer, als schwierig; er ließ die Segeltuchtasche am Fuß der Treppe zurück, und mit der leichteren Last nahm er jeweils zwei der verbleibenden zwölf Stufen auf einmal. Der Aufstieg schmerzte in den Knien; er mußte ihn so schnell wie möglich hinter sich bringen.
In der Hand hielt er noch immer, unbequem unter den Koffergriff gekeilt, die Schlüssel; er fand das richtige Paar und schloß mühsam die beiden Türschlösser auf, erst das Zylinderschloß, dann das Einsteckschloß. Das Apartment war mit einer zusätzlichen Sperrvorrichtung gesichert, einer Stange, die an der Rückseite der Tür befestigt war und im Boden hakte, so daß sich die Tür nur bis zu einem gewissen Punkt öffnen ließ. Er schob den Arm durch den schmalen Spalt, griff nach innen und entriegelte die Stange. Das löste einen stechenden Schmerz aus. Vor sich vernahm er zu seiner völligen Verblüffung den Klang von Stimmen: mehrere Männer- und Frauenstimmen.
Sein Herz machte einen großen Satz. Gabriel, und wer noch? Einerlei – wer immer es war, ganz gewiß war Gabriel einer davon. Nicht einen Augenblick hatte er erwartet, daß Gabriel hier sein könnte. Erleichterung, Hoffnung, Freude durchströmte ihn. Hinzu kam das ungewohnte schiere Glücksgefühl, nach etlichen Jahren der Rückkehr in eine leere Wohnung zu Hause Gesellschaft vorzufinden. Sein ganzes Wesen weitete sich vor Wonne, während er die Treppe hinuntersprang, um die zweite Tasche aufzuheben.
Natürlich würde Gabriel nicht im Traum daran denken, herauszukommen, um ihn zu begrüßen. Das taten sie doch nie, dieses lässige junge Gemüse. Gabriel würde auf dem Fußboden hocken und ihm in gespielter Unbekümmertheit den Rücken zukehren …
Die Stimmen um die Ecke schienen dem Höhepunkt eines Streits zuzustreben.
»Meine Herrschaften! So beruhigen Sie ihn doch endlich! Ich gehe!«
»Ivan Petrovic, ich verlange, daß Sie schweigen! Hören Sie?«
»Ich schweige nicht. Halt, ich bin noch nicht fertig! Du hast mein Leben zerstört!«
Was zum Teufel ging hier vor? Thomas stellte die zweite Tasche in der winzigen Diele ab und ging die erste holen. Er hob die Stange der Sperrvorrichtung hoch und lehnte sie in ihren gewohnten Winkel.
»Ich reise augenblicklich ab aus dieser Hölle! Ich kann es nicht länger ertragen!« schrie eine Frau.
Und ein Mann rief: »Mein Leben ist verpfuscht! Wenn ich normal gelebt hätte, dann hätte ein Schopenhauer aus mir werden können, ein Dostoevskij … Was erzähle ich da! Ich verliere den Verstand … Matuška, ich bin verzweifelt! Matuška!«
Das war doch nicht Gabriel?
An Schlaf- und Badezimmertür vorbei, die beide offenstanden, schritt Thomas um die Ecke in das türlose Atelierzimmer.
»Hallo? Ich habe gar niemanden erwartet …«, setzte er an, doch dann brach er ab. Gabriel war nicht da. Es war überhaupt niemand da. Das Zimmer war leer. Auf dem Plattenteller drehte sich eine Schallplatte.
»Gabriel? Bist du hier?«
Völlig überrumpelt, machte Thomas kehrt, um in der kleinen Küche und im Badezimmer nachzusehen; dabei wußte er schon im voraus, daß seine Suche vergeblich sein würde. An den offenstehenden Türen war er bereits vorbeigekommen. Die Zimmer waren sichtlich leer.
»Gabriel!« Aber Rufen war zwecklos, und er hielt jäh inne, peinlich berührt vom Klang seiner Stimme. Die aufgezeichneten Stimmen beachteten ihn nicht und fuhren mit ihren Beteuerungen fort. Niemand hielt sich in dem kleinen Apartment auf, niemand außer ihm.
Konnte sich der Junge hinausgestohlen haben, während Thomas die Sperrvorrichtung entriegelte? Konnte er sich im Badezimmer versteckt haben und an Thomas vorbeigeschossen sein, als dieser eintrat? Nein, unmöglich. Er hatte doch in der Türöffnung gestanden, während er die Stange aus der Halterung löste, und um die Ecke bis ins Wohnzimmer waren es nur mehr vier Schritte.
Gabriel war nicht da. Fußboden, Couch, Tisch, Bücherregale waren von einer acht Monate alten Staubschicht überzogen. Auf dem Tisch lag die New York Times vom vergangenen Februar, vergilbt und altertümlich wie ein ägyptischer Papyrus. Fenster und Dachluke waren geschlossen und verriegelt – Thomas prüfte sie nach –, die Luft hier oben war so abgestanden wie schal gewordenes Bier, sie war zum Schneiden vor Hitze, ohne jeden Geruch von Menschen.
Du hast uns allein gelassen, verkündeten die Bücher, die Möbel, die brüchigen, verstaubten, ausgebleichten Vorhänge. Du hast uns eingesperrt, hast uns verlassen; wir sind nicht bereit, dich willkommen zu heißen.
Jemand sagte: »Ich bin nicht böse, aber ihr werdet zugeben, sein Benehmen ist zumindest merkwürdig.«
Jemand anders wimmerte: »Njanecka! Njanecka!«
Die Platte. Wer hatte nur diese Schallplatte aufgelegt?
Der dritte Akt von Onkel Vanja wirbelte seinem verzweifelten Ende entgegen, mit Revolverschüssen, Geschrei und Tränen und gegenseitigen Beschuldigungen. Thomas hob den Tonarm und nahm die Platte ab. Die Tonarmklemme war eingehakt, so daß die Platte jedesmal, wenn sie zu Ende war, automatisch wieder von vorne zu spielen begann. Er löste die Klemme und fragte sich geistesabwesend, wie oft die Szene wohl in diesem Zimmer – in der Welt? – gespielt worden war – wie oft Vanja und Sonja ihre Enttäuschung, ihre Zurückweisung, ihren Liebeskummer durchlitten hatten. Sie ist nicht hübsch. Was erzähle ich da! Ich verliere den Verstand … Der arme Vanja war eine der liebenswertesten Bühnenfiguren, die je geschaffen worden waren – wenn er seine Höllenqualen erleidet, leiden Menschen in jedem Erdenwinkel mit.
Ich hatte Talent, ich war klug, kühn. Aber wer liebt mich?
In der Tat, wer? Oder vielmehr, wer haßt mich? Haßt mich so sehr, daß er mir einen solchen Streich spielt?
Der Fristzettel auf der Plattenhülle besagte, daß sie Eigentum der Städtischen Bücherei New York war. Schön, dann konnte er sie morgen zurückgeben und herausfinden, wer sie ausgeliehen hatte. Wer besaß einen Schlüssel zu seiner Wohnung, wer konnte nach Belieben kommen und gehen, schöngeistige Bomben legen und die staubige Leere so zurücklassen wie die zerschlissenen Sitzpolster eines mutwillig zerstörten Eisenbahnwaggons? Wer hat sich wie ein Einbrecher eingeschlichen und ist mit dem Hackbeil auf meinen Seelenfrieden losgegangen? Habe ich nicht schon genügend Scherereien? Könnte es Gabriel gewesen sein? Aber nein doch, Gabriel, dieses sanftmütige Kind, dieser scheue, rücksichtsvolle Junge, würde eher auf dem Scheiterhaufen sterben als einen derartigen Eingriff in die Privatsphäre eines anderen vornehmen.
Seine Gedanken kreisten kalt um dieses Wort: sterben, und glitten wieder ab in die Vergangenheit: Gabriel, wie er sich, halb im Spaß, halb im Ernst, über die Kirchenglocken beschwerte: Was für ein gräßlicher Lärm! Sonst darf doch auch niemand in der ganzen Stadt am Sonntagmorgen mit voller Lautstärke Reklame machen. Ich plärre ja Gott mit meinem Radio auch nicht die Ohren voll. Und eine noch frühere Erinnerung: Gabriel im Alter von elf Jahren auf einer Fahrt nach Cornwall. Thomas, abgemattet, hatte kurz angehalten, um ein Nickerchen zu machen; als er erwachte, war Gabriel nicht im Wagen, obwohl es in Strömen goß. Es war ziemlich bald nach ihrer ersten Begegnung gewesen, ziemlich bald nach der Sache mit dem Bein … Aber noch bevor Thomas Zeit hatte, sich Sorgen zu machen, kehrte der Junge zurück. Er hatte unter einer Gruppe Eiben weiter weg Schutz gesucht; zögernd erklärte er: »Du hast im Schlaf gesprochen. Wenn ich sitzen geblieben wäre und dir zugehört hätte, wäre ich mir vorgekommen wie ein Lauscher an der Wand, da habe ich einen Spaziergang gemacht.« Seine Haare und seine Jacke waren durchnäßt, und Thomas, der ihn grob ausschimpfte, einen Pullover fand und die Autoheizung anstellte, fühlte sich von Scham überwältigt, als ob seine ganze Seele in eine tiefe, sengende Röte getaucht sei; denn er hätte allzu gern gewußt, was der Junge gehört hatte, aber er traute sich nicht zu fragen, das stürzte ihn in noch größere Beschämung; und es machte die Sache nicht besser, daß Gabriel mit jenem unschuldigen, vertrauensvollen Lächeln, das kaum mehr war als ein Aufleuchten der Augen, beruhigend hinzusetzte: »Keine Sorge, ich bin gegangen, bevor du etwas wirklich Schlimmes verraten hast.«
Erinnerungen verdrängen – wenn schon sein Gedächtnis ganze Brocken seiner Geschichte dem Vergessen überantwortete, Herrgott noch mal, weshalb konnte es dann nicht einige der schmerzlicheren Momente auslöschen – von denen gab’s doch viele – das wäre wenigstens ein logisches Verhaltensmuster – statt ihn immer diesem zermürbenden willkürlichen Verlust des Erinnerungsvermögens auszusetzen? … Thomas ging in das stickige kleine Badezimmer. Seine Arme und sein Rücken taten ihm inzwischen so entsetzlich weh, daß alle seine Körperfunktionen nur auf das eine Ziel ausgerichtet waren: schleunigst etwas aufzutreiben, was seine Schmerzen linderte. Hatte er in der Hausapotheke bei seinem letzten Besuch Schmerzmittel dagelassen? Oder mußte er sich etwa bücken, sich schmerzgeplagt niederknien und mit unerträglich empfindlichen Händen im Durcheinander der prall gepackten Taschen herumwühlen?
Zu seiner großen Erleichterung fand er ein fast volles Fläschchen Paracetamol-Tabletten. Als er die Tür des Wandschränkchens öffnete, huschten zwei große, blaßbraune Küchenschaben heraus, aber mit denen konnte er sich jetzt nicht aufhalten; außerdem war die Flasche sowieso fest zugeschraubt. Er ließ Wasser in den Ausguß laufen, bis der erste rostige Strahl sich geklärt hatte, dann wusch er flüchtig den schmutzigen Plastikbecher aus und spülte mit einem Schluck lauwarmen Wassers eine Handvoll Tabletten hinunter.
Jetzt ging es ihm schon besser. Sein Mund schmeckte immer noch wie eine Schlammbank, seine durchgeschwitzten Kleider klebten ihm am Leib, seine Schuhe fühlten sich an, als wären sie voller Sand, aber er war zu erschöpft, um sich in diesem Augenblick mit derlei Kleinigkeiten abzugeben oder mit der staubigen Unordnung des Wohnzimmers. Er fand sogar eine Art Genugtuung in dem Gefühl, daß alles zusammenstimmte, daß seine Lage innerlich und äußerlich wie aus einem Guß war. Als er sich auf der alten braunen Samtcouch ausstreckte, hatte er kein schlechtes Gewissen, weil seine Schuhe sie mit transatlantischem Schmutz befleckten; dankbar ließ er sich in ihre muffige Tiefe sinken. Als er seinen Kopf auf die verschossenen roten Kissen bettete, stieg eine Wolke alten Staubs, trocken wie Schnupftabak, auf. Unter seinem Rücken, aus dem der Schmerz allmählich schwand, zerknitterte die vergilbte New York Times vom letzten Dezember. Mit einigem Glück würden ihm zwei Stunden Schlaf eine Zeitlang etwas Linderung verschaffen.
Wenn nicht, wäre die Suche nach Gabriel nicht etwa schwierig; sie wäre unmöglich.
Als er eben die Augen schloß, läutete das Telefon.
Noah hatte es gut, dachte Thomas, als er sich mühsam aufsetzte und dabei versuchte, seine schmerzenden Hände zu schonen; auf seiner Arche gab’s kein Telefon.
Das Telefon stand auf dem Fensterbrett auf der anderen Seite des Zimmers, halb verdeckt von abgenutzten rostfarbenen Rupfenvorhängen. Davor stand ein mit verstaubtem Geschirr beladener Tisch; außerdem ein großer Flechtkorb, vollgepackt mit Büchern. Es war kein Durchkommen. Fluchend zerrte und schob Thomas die Sachen aus dem Weg. Vor lauter Hast stellte er sich so ungeschickt an, daß er das Telefon von dem schmalen Fensterbrett stieß. Es fiel zu Boden. Seine Beine versagten ihm den Dienst, und er mußte sich auf die schmutzigen Dielen setzen, um den Hörer abzunehmen.
»Hallo? Hallo, wer ist da? Gabriel, bist du’s?«
Aber am anderen Ende der Leitung blieb alles stumm.
»Hallo? Gabriel?«
Keine Antwort. Vielleicht war das Telefon beschädigt worden. Er legte den Hörer auf die Gabel, dann, nach einem Augenblick, nahm er ihn wieder ab und horchte. Nein, es schien durchaus zu funktionieren; er konnte das Freizeichen hören.
Vielleicht hatte sich jemand verwählt. Wenn nicht, würde der Betreffende es noch einmal versuchen.
Für den Fall, daß es sich doch um Gabriel handelte, zog er in einer Anstrengung, die seiner Schulter und seinem Rücken einen fast vernehmlichen Schmerzensschrei entlockte, die alte Couch quer durchs Zimmer und legte sich dicht neben dem Fensterbrett hin, so daß er den Hörer, sobald es klingelte, sofort abnehmen konnte.
Es läutete jedoch nicht mehr, und dankbar glitt sein Bewußtsein der Auflösung entgegen. Zuerst schwinden einem die Sinne, dachte er verschwommen; die Wörte verlieren sich zuletzt; ist das nicht seltsam; die Wörter beginnen im Gehirn herumzugaloppieren und bedeutungsleer zu rasseln wie eine ungeschäkelte Ankerkette, wie ein Motor im Leerlauf; während ich in der untersten Schicht meines Gehirns diese mehr oder weniger zusammenhängenden Gedankengänge entwickle, rast obendrüber eine wirre Sprache, ein endloses Fließband unzusammenhängender Vokabeln ratternd immer weiter. Gestörte Tonfrequenzen, so erinnerte er sich, hatte ihm der alte Fernsehmechaniker in der Sixth Avenue gesagt: Ihr Gerät hat gestörte Tonfrequenzen. Gestörte Tonfrequenzen sind nicht einmal das Ärgste, Onkel Vanja; ich habe ein gestörtes Leben, das ist mein Problem.
Ich würde gern wissen, was Gabriel mitgekriegt hat, damals im Auto.
Er ließ sich tiefer in das staubige braune Samtpolster sinken; und schlief ein.
Als er wieder erwachte, war es Spätnachmittag. Die rosaroten und ockergelben Fassaden auf der anderen Straßenseite, in den Glanz der untergehenden Sonne getaucht, warfen warme Lichtreflexe an seine Zimmerdecke – ein gelbliches Rosa. Die Stimmen von Kindern auf dem Heimweg zum Abendessen drangen schwach vom Gehsteig herauf. Über ihm schwebte, wie eine Biene brummend, ein Hubschrauber. Alles schien still, wohlwollend und alltäglich.
Vorsichtig bewegte Thomas den Kopf; dann stemmte er sich mit äußerster Behutsamkeit auf einem Ellbogen in die Höhe. Keine Schmerzen. Für den Augenblick war der Dämon von ihm gewichen. Er erhob sich, ging umher, hob die Arme in Schulterhöhe, beugte sich vor. Immer noch keine Schmerzen.
Dieser Aufschub, der ihm wirklich wie die Vertreibung eines bösen Geistes vorkam, kam so unverhofft, daß Thomas von unbegründeter Heiterkeit erfüllt wurde.
Ich werde Gabriel schon finden, dachte er und stellte sich unter die Brause. Von dem köstlich heißen Wasser ließ er sich beruhigen und entspannen, wieder und wieder ließ er es über Schultern, Arme und Rücken laufen; es müßte doch einfach sein, weshalb denn nicht? Es mußte genügend Leute geben, die er fragen konnte. Beginnen werde ich mit der alten Mrs. Baird, die wohnt nur einen Block weiter. Ich könnte sie anrufen, aber es wird leichter sein, einfach hinzugehen. Alte Damen trauen dem Telefon nicht.
Sauberes Hemd – Hose – Jackett – Schlüssel – Geld, und ich kann mich auf den Weg machen.
Aber jetzt hatte er Hunger. In Nick’s Pie ’n Pizza aß er einen Hamburger, dann lief er die breite, schäbige Sixth Avenue mit ihren kleinen Geschäften, ihren Waschsalons, Buchhandlungen, Reinigungen und Drugstores hinauf, vorbei am Spirituosengeschäft, dessen Schaufenster immer noch mit gräßlichen Porzellanfiguren vollgestellt waren, am Zeitungsladen, an der Konditorei und dem kleinen griechischen Restaurant, das immer leer war; vielleicht handelte es sich in Wahrheit um einen Treffpunkt der Mafia.
Vielleicht, dachte er, treffe ich Gabriel bei seiner Großmutter an: behaglich untergebracht, über alle Einwände erhaben.
Als er jedoch die Klingel des schönen alten Sandsteinhäuschens in der Twelfth Street betätigte und wartend dastand, verflüchtigte sich sein ungewohnter Optimismus ebenso unbegründeterweise, wie er sich eingestellt hatte. Zunächst einmal dauerte es schon entmutigend lange, bis sich überhaupt jemand bequemte, die Tür zu öffnen.
Unruhig ging Thomas auf der Treppe hin und her und kam sich wie auf dem Präsentierteller vor. Er bemerkte einen hochgewachsenen, hageren Mann mit gelblichweißem Haarschopf, der sich trotz kritischen Blicks und straff gehaltener Hundeleine von den Verrichtungen seines ebenso schlaksigen, aber eleganteren Barsoi distanzieren zu wollen schien, welcher seinen Darm langsam in die Gosse entleerte. Der Mann schaute über die Straße und bemerkte, daß Thomas ihn beobachtete; sein kalter Blick löste sich sofort, und ungeduldig gab er der Hundeleine einen Ruck. Das Tier, das sich darin gestört sah, an seinem Häufchen zu schnüffeln, knurrte übellaunig, und Thomas, der sich gerügt fühlte, wandte hastig den Blick ab und kehrte sich wieder der Tür zu, hinter der er in diesem Augenblick den Klang von Schritten vernahm. Schließlich, nach längerem Klirren, tat die Tür sich auf.
Da stand die alte Mrs. Baird und stützte sich auf einen Stock aus Rosenholz. Mein Gott, wie alt sie aussieht, dachte er. Aber wie konnte es anders sein: August war Mitte Siebzig, als er starb, dann mußte die alte Hannah, seine Mutter, mindestens Mitte Neunzig sein. Ebensogut mochte sie hundert zählen: eine winzige, gebeugte Gestalt, die zu ihm aufsah, eingehüllt in eine Strickjacke, das schlohweiße Haar zu einem Dutt zusammengesteckt, die Haut verrunzelt und fleckig wie ein regendurchtränktes Blatt, das in den Boden eines herbstlichen Waldes getreten wird. Aber Wangen, Nase und Kinn, die kantig vorsprangen, zeugten noch immer von Intelligenz und Kraft – jetzt, wo die gerundeten Linien der Jugend sie nicht mehr verdecken konnten, sogar noch deutlicher. Kluge, graue Augen, die tief in großen, dreieckigen, violett verfärbten, knochigen Höhlen saßen, musterten Thomas mit einer Klarheit, die sich, soweit er erkennen konnte, seit seinem letzten Besuch nicht vermindert hatte.
»Bitte? Wer sind Sie?« fragte sie, hielt mit einer fleckigen Klaue die Tür offen und reckte den Kopf vor wie eine bejahrte Möwe. Er bemerkte den Schimmer weißen Flaums auf Wange und Kiefer. »Wer immer Sie sind, Sie sollten wissen, daß ich nachmittags keinen Besuch empfange; Hattie ist auf dem Markt, und ich halte Siesta. Es kommt mir ungelegen.«
»Das war mir entfallen; bitte, verzeihen Sie mir«, sagte Thomas demütig; zugleich war er erleichtert, daß Hattie, die beinahe so alt sein mußte wie ihre Herrin, nicht gestorben war, sondern noch immer ihren Dienst versah. »Erinnern Sie sich noch an mich? Thomas Cook? Ich bin der Verleger Ihres Sohnes.«
»Unfug«, sagte die alte Dame in scharfem Ton. »Mein Sohn hat bereits einen Verleger. Alle seine Bücher sind bei einer überaus angesehenen Verlagsanstalt herausgekommen, bei Crusoe & Selkirk. Die publizieren seine Bücher schon seit dem Ersten Weltkrieg – wie Sie ihn sicherlich nennen. Ich nenne ihn den Großen Krieg.«
»Ganz recht, Mrs. Baird. Ich bin Verlagsleiter bei Crusoe & Selkirk. Erinnern Sie sich, ich hatte Sie letztes Jahr wegen der Illustrationen für die Gesammelten Briefe aufgesucht? Und das Jahr davor wegen der Biographie?«
»Illustrationen?« fragte sie argwöhnisch. »Nein, daran erinnere ich mich nicht. Was habe ich mit Illustrationen zu schaffen? Ich bin keine Künstlerin. Ich verstehe von solchen Dingen nichts.«
»Fotos, Familienfotos. Sie hatten sich freundlicherweise bereit erklärt, sie uns zur Verfügung zu stellen. Und wenn Sie sich erinnern, damals, als ich Sie wegen der Biographie besucht habe, war ich mit Bella verheiratet …«
»Bella? Wer ist das?«
Sein Mut sank noch mehr. Ihr Gedächtnis und meines zusammengenommen, dachte er, da sollten wir in der Lage sein, ohne größeren Aufwand das gesamte zwanzigste Jahrhundert zu vergessen.
In diesem Augenblick jedoch schien irgend etwas an seinem Äußeren der alten Dame plötzlich eine Assoziation einzugeben, denn sie zog die Tür weiter auf und äußerte: »In dieser Zugluft auf der Türschwelle zu stehen bekommt mir gar nicht. Es gibt keinen Grund, weshalb Sie nicht hereinkommen können. Hattie wird bald zurückkommen, sie wird uns Tee kochen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Ma’am«, sagte er erleichtert.
Sie wandte sich, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, um und ging, gestützt auf ihren Stock, in einem mühsamen und schleppenden Schlurfschritt voraus durch die winzige Diele in das Doppelzimmer, das sich von der Vorderseite des Hauses bis zur Rückseite erstreckte und zu beiden Seiten Fenster hatte, auf die Straße hinaus wie auch auf einen kleinen, überwucherten Garten. Das Zimmer war noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte: ziemlich dunkel, aber durchaus nicht unfreundlich. Die Anordnung des dichtgedrängten Mobiliars ließ vermuten, daß während der vergangenen fünfzig Jahre nichts umgestellt oder hinzugefügt worden war. Da waren mit Borten besetzte Teppichvorleger, abgewetzte Korbstühle, Tische, in kunterbuntem Durcheinander vollgestellt mit japanischen Netsuken, Brillenfutteralen, Zeitungen, Broschüren und vergilbenden Postkarten. Blinde Spiegel verschluckten das Licht. Die Bände auf den Bücherborden hatten nichts von dem Überschwang farbenfroh ausgestatteter zeitgenössischer Verlagsproduktion; sie waren solide, aber altbacken eingebunden, sollten haltbar sein, nicht attraktiv, die Buchdeckel in dem groben, tweedähnlichen Gewebe, das man während der ersten zwanzig Jahre des Jahrhunderts bevorzugt hatte. August Bairds Werke, die ein ganzes Regal ausmachten, stellten die einzige Ausnahme dar; wie Thomas mit raschem Blick bemerkte, war jeder einzelne Titel vorhanden, jedes Taschenbuch, jede Neuauflage, Anthologie und Übersetzung, und sie sahen abgegriffen aus, als ob sie häufig in Gebrauch wären.
Die Bilder an den Wänden waren alles Fotos, meist von August selbst, in jedem Lebensalter. Von der dunkelgrau gestreiften Tapete ließ er aus Dutzenden verschiedener Posituren seinen gelassenen, leicht vorwurfsvollen Blick auf Thomas ruhen, der sich, sobald er der alten Dame wieder in ihren Schaukelstuhl geholfen hatte, nervös auf einem kleinen, knarrenden Rohrstuhl niederließ.
Wieder musterte sie Thomas mit einem finsteren durchdringenden Blick – nicht unähnlich dem ihres Sohnes –, den er erwiderte. Er fand, daß sie wie ein Wahrzeichen wirkte, ein Überbleibsel aus den zwanziger oder dreißiger Jahren. Die karierte Ginganbluse, die sie trug, der lange Tweedrock mit Kellerfalten, der ihr bis über die Waden ging, erinnerten an Schnappschüsse von Mitgliedern des Bloomsbury-Kreises mit Pfeifen und Spazierstöcken, aufgenommen in den Gärten ihrer Wochenendhäuschen. Mrs. Baird hatte auffallend stämmige Beine für eine so gebrechliche alte Dame, unförmig, kerzengerade wie die Beine eines Küchentischs; ihre Strümpfe waren aus gerippter grauer Wolle, ihre Schuhe schwarze Schnürhalbschuhe. Er fragte sich, wo in New York sie heutzutage derartige Kleider auftrieb. Vielleicht bestellte sie sie in London oder Boston. Vielleicht verfügte sie noch immer über ein Kundenkreditkonto bei Harrod’s oder den Army & Navy Stores? Mrs. Baird, aus Edinburgh gebürtig, war, als ihr Sohn in Harvard eine Professorenstelle angetreten hatte, nach Amerika gezogen; der American Way of Life hatte ihr zugesagt, sie hatte Wurzeln geschlagen und war auch nach seiner Rückkehr nach England dort geblieben.
»Nun?« sagte sie wieder und hängte ihren Stock an das hohe Kamingitter aus Messing, das eine staubige Rizinuspflanze in dem feuerlosen Kamin einzäunte. »Sind Sie wegen weiterer Fotos gekommen? Für eine neue Biographie, ist es das? Was ist mit Bodonis? Hat sie sich nicht gut verkauft?«
Sie hatte eine energische, fast schneidende Art zu reden, die, zusammen mit der mädchenhaften karierten Kattunbluse, entwaffnend vor Augen führte, wie sie mit vierzig, mit dreißig gewesen sein mußte: eine emanzipierte Frau, lange bevor Emanzipation zum Schlagwort wurde, ein gleichberechtigter Kopf, lange bevor Gleichberechtigung als erstrebenswert galt.
»Nein, Mrs. Baird, nein, danke, die Fotos, die Sie uns für die Bücher geliehen hatten, waren genau das, was wir brauchten; das ist alles erledigt«, sagte Thomas. Er bemerkte, daß der Band, von dem die Rede war, auf dem kleinen Chippendale-Tisch neben ihrem Stuhl lag, mit einer weiteren Brille als Lesezeichen. »Nein, diesmal bin ich aus einem ganz anderen Grund nach Amerika gekommen, ich arbeite nicht an einem von Augusts Büchern. Ich bin auf der Suche nach Gabriel – ich nehme an, Sie wissen nicht zufällig, wo er sich zur Zeit aufhält?«
»Gabriel«, sagte sie unbestimmt.
»Gabriel – Ihr Enkel, Augusts Sohn. Ich hätte gern gewußt, ob Sie ihn kürzlich gesehen haben? Ob er bei Ihnen zu Besuch gewesen ist? Wie ich höre, ist er schon das ganze Jahr über hier.«
»Gabriel«, murmelte sie gedankenverloren. »Lassen Sie mich nachdenken, wer sind wohl seine Eltern? Bin ich ihm schon einmal begegnet?«
»Ihr Enkel.«
»Mein Enkel? Habe ich einen Enkel?«
»Augusts Sohn«, wiederholte Thomas. »Übrigens ist er mein Stiefsohn.«
»Wer war seine Mutter? Berengaria?«
»Nein, Mrs. Baird.« Berengaria, August Bairds erste Frau, war 1930 gestorben. Thomas merkte, wie er rapide die Herrschaft über das Gespräch verlor. Außerdem rührte er an eine weitere Komplikation, die bestimmt nur noch mehr Verwirrung schaffen würde, wenn er sie weiter verfolgte. So sagte er einfach: »Gabriels Mutter war Augusts zweite Frau, Bella Farragut. Sie erinnern sich an Bella?«
»Ach, Bella – warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« In ihre dreieckigen, zugekniffenen Augen trat jäh ein Funke reiner Gehässigkeit. »Du liebe Zeit, ja, es ist schon lange her, daß ich an die arme Bella gedacht habe. Nicht gerade eine Dame, habe ich August immer gesagt. Ich war ziemlich überrascht, als er beschloß, sie zu heiraten. Verstehen Sie, was ich meine? Weshalb sollte er? Sie hatte etwas leicht Ordinäres: wie eine Empfangsdame in einem Hotel. In einem guten Hotel. Aber nicht aus der obersten Schublade, wie wir zu sagen pflegten. Haben Sie jemals auf ihre Schuhe geachtet? Wie die eines Dienstmädchens. Daran erkennt man sie. Ach du liebe Güte, ja, Bella. Sie hat mich immer sehr amüsiert. Ist sie in letzter Zeit in Amerika gewesen?«
»Weiß ich wirklich nicht«, sagte Thomas leicht verlegen. »Aber was ich fragen wollte …«
»Ich habe sie bei mir immer ›Bella, das Bunny‹ genannt«, sagte die alte Mrs. Baird unvermutet. »Haben Sie schon mal ein ziemlich vulgäres Magazin namens Playboy gesehen? Mein Sohn hat mir von Zeit zu Zeit eine Ausgabe mitgebracht – ein sehr unterhaltsames Magazin. Ja, Bella – hatte sie denn Kinder?«
»Ja, Gabriel, erinnern Sie sich? Ich hätte gern gewußt, ob er zufällig …«
»Ach, Gabriel«, sagte sie und bediente sich genau desselben Tonfalls wie zuvor, als sie sich auf Bella besonnen hatte. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Der liebe Junge. Natürlich habe ich Gabriel sehr gern. Vor wenigen Minuten noch habe ich mir ein Foto von ihm angeschaut – kurz bevor Sie geklingelt haben. Wo habe ich es nur hingelegt? Ich hab’s, bestimmt markiert es eine Stelle in meinem Wittgenstein. Ach, reichen Sie mir doch bitte mal den Tractatus herüber, ja?«
Thomas fiel auf, daß auf jedem Tisch im Zimmer mindestens drei Bücher mit Lesezeichen lagen; wahrscheinlich war es so, daß die alte Dame sich von Stuhl zu Stuhl und von Buch zu Buch bewegte und ihren Lesestoff je nach Laune oder Tageszeit variierte. Er zog das Stück Fotopapier aus dem Wittgenstein hervor und erblickte Gabriel, im Alter von zwölf Jahren, wie er mit sorgenvoller Miene dastand und eine Katze an die Schulter preßte, vor der Haustür zu Nr. 38, Wanborough Parkside, London S.E. 22.
Beim Anblick des jungen, verletzlichen Gesichts zerfraß die vertraute Mischung von Schuld und Angst sein Herz.
»Ja, das ist Gabriel«, sagte die alte Dame voller Genugtuung. »Ist der Junge nicht ein kleiner Engel? Jetzt ist er natürlich größer. Mal überlegen, wie alt ist er an seinem letzten Geburtstag geworden?«
»Sechzehn, deswegen ist es so wichtig für mich, daß ich ihn finde. In letzter Zeit haben Sie ihn also nicht gesehen, Ma’am?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, seit August ihn bei seinem letzten Besuch mitbrachte; das dürfte etwa vier Jahre vor seinem Tod gewesen sein. Sie sind allein gekommen; Bella ist woandershin gefahren. Du liebe Güte, in welchem Jahr mag das gewesen sein? War das in demselben Jahr, als ihm der Nobelpreis verliehen wurde? Ich weiß, Gabriel war gerade alt genug, allein mit der U-Bahn zu fahren – das hat ihm großen Spaß gemacht. Ich dachte, er wäre zu jung, aber August sagte, er sei durchaus imstande, sich um sich selbst zu kümmern – und er hatte vollkommen recht.«
»Schreibt er Ihnen, Mrs. Baird? Bekommen Sie Briefe von ihm?« fragte Thomas, ohne sich viel Hoffnung zu machen.
»Seiner eigenen Mutter? Aber natürlich tut er das. Was für eine alberne Frage«, sagte Mrs. Baird scharf. »Er schreibt mir jede Woche. Aber das müßten Sie doch am besten wissen – Sie selbst haben doch voriges Jahr seine Briefe veröffentlicht.«
»Nicht August, Mrs. Baird – Gabriel«, sagte Thomas und dachte, dem Himmel sei Dank, wenigstens ist sie nicht taub.
»Ach, Gabriel. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Ihre scharfen alten Augen wurden milder. »Ja, er schreibt mir. Er schreibt wunderschöne Briefe. Irgendwo habe ich eine ganze Sammlung davon. Ich werde Sie Ihnen ein andermal heraussuchen.«
»Wenn Sie die letzten möglicherweise jetzt finden – oder mir sagen könnten, wo ich nachschauen soll …«, setzte Thomas an, in dem entsetzlich hoffnungslosen Gefühl, daß Zeit vergeudet wurde, daß Zeit verstrich, verrann wie die Flüssigkeit des Lebens selbst, zu Staub trocknete, unwiderruflich verloren.
»Aus San Francisco ist einer gekommen, der fing so an: ›Oma, stell dir nur vor, ich schreibe dir aus einer Opiumhöhle‹, und einen hat er auf einem Felsen an den Niagara-Fällen geschrieben und einen anderen im Grand Canyon. Wunderbar komische, lebhafte, anschauliche Briefe, oft ganze Seiten lang. Er ist ein braver Junge, daß er seiner alten Oma so schreibt …«
Die Haustür fiel ins Schloß.
»Wer ist das?« sagte eine zweite scharfe alte Stimme, Neuengland statt Edinburgh, aber Thomas bemerkte, daß die beiden Akzente, sicherlich aufgrund des langen Zusammenlebens, einander ähnlicher geworden waren und sich inzwischen überlagerten. »Wer ist da drin und ermüdet Mrs. Baird?«
Mit mürrischem Gesichtsausdruck kam Hattie ins Zimmer hereingestampft. Sie trug eine auffällige Toque aus gehäkelter Wolle, die mit großen braunen Pailletten bestickt war, und schleppte zwei braune Packpapiertüten mit Lebensmitteln.
»Ach, Sie sind’s«, sagte sie, als sie Thomas erkannte. »Ihr Besuch paßt jetzt aber gar nicht, in fünf Minuten kommt der Arzt, um ihr das Knie zu punktieren, vorher müssen wir sie nach oben bringen und ihr die Strümpfe ausziehen, überhaupt hätte sie ruhen müssen …«
»Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er schuldbewußt. »Mir liegt nur so sehr daran, Gabriel zu finden …«
»Dann müssen Sie eben ein andermal wiederkommen, sie kann sich momentan nicht um Sie kümmern. Hier ist Gabriel jedenfalls nicht, das sehen Sie ja. Und Dr. Warmflash wird jeden Augenblick klingeln …«
»Sie wissen nicht zufällig, wo sie Gabriels Briefe aufbewahrt?« murmelte Thomas, während sie ihn in die kleine Diele abdrängte. »Sie hat gesagt, ich darf sie sehen. Es ist wirklich wichtig, Hattie, es geht um sein Herzleiden …«
»Wahrscheinlich sind sie übers ganze Haus verstreut«, sagte Hattie grimmig. »Einer in jedem Buch, das sie im Lauf der letzten sechs Monate gelesen hat. Ich muß sie erst suchen. Ich werde Ihnen Bescheid geben. Wo wohnen Sie? Haben Sie immer noch die kleine Wohnung in der Tenth Street, die Sie sich für die Arbeit an Mr. Augusts Briefen gemietet hatten? Ich habe mir die Nummer aufnotiert, ich rufe Sie Donnerstag oder Freitag an, wenn ich mich umgesehen habe. Morgen ist Reinemachtag, und am Mittwoch muß ich los und am Grab meiner Schwester in North Salem Blumen niederlegen.«
»Bitte, Hattie, es ist wirklich dringend. Wir müssen Gabriel einfach finden, ohne jeden weiteren Verzug. Sie wissen von seinem Herzleiden?«
»Pah! Er ist erst sechzehn, er wird’s überstehen«, sagte Hattie derb und schob Thomas zur Tür hinaus. »Was glauben Sie denn, wie alt ich bin? Neunundachtzig und springlebendig wie ein Eselhase. Worum muß ein Sechzehnjähriger sich schon sorgen?«
»Genau das ist die …«, wollte er sagen, aber da schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu; es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Treppe hinunterzugehen und das Feld zu räumen. Eben fuhr eine große glänzende Limousine mit Chauffeur vor. Thomas hoffte, daß es sich nicht um Mr. Warmflashs Wagen handelte, sonst stünden seine Aktien bei Hattie noch schlechter.
Als er zur Sixth Avenue ging, senkte sich wieder der Schmerz auf ihn herab wie ein Raubvogel, der auf einem günstig gelegenen Dachgesims auf ihn gewartet hatte.
Er verspürte nur noch den Wunsch, zur Wohnung zurückzugelangen und zwei Najdolene-Tabletten zu schlucken; seit er die letzten eingenommen hatte, waren bestimmt acht Stunden verstrichen, das ginge also durchaus. Aber zunächst einmal mußte er ein paar Lebensmittel einholen, Milch und Kaffee, Seife und etwas zu trinken; die Küche in seiner Wohnung enthielt keinerlei Vorräte außer ein paar staubigen Tütchen mit Kräutern.
Die Dämmerung war eingebrochen: eine milde New Yorker Abenddämmerung, die sich ausnahm wie eine sanfte Segnung für die Fußgänger, die die breiten Trottoirs entlangbummelten. Bald wäre es an der Zeit, in Deckung zu gehen, ein jeder auf dem Weg in sein eigenes Höhlenversteck, auf der Hut zu sein vor Straßenräubern und Vergewaltigern – aber noch war es nicht soweit. Im Augenblick verbanden sich das zärtlich-bleiche Licht und die unsaubere, hemdsärmelige Straße noch zu einer besinnlichen Harmonie. New York, dachte Thomas, ist wie das Land der Zukunft in H.G. Wells’ Zeitmaschine: bei Tage ein sonnenbeschienenes paradiesisches Spielzeugland; wohingegen allnächtlich die Horden der fleischfressenden Morlocks aus ihren unterirdischen Verliesen hervorbrechen, um durch die Stadt zu streifen und wahllos über die reizenden kleinen Sonnenmenschen herzufallen, die sich so zivilisiert dünken.
Jeder Luxus, den das Herz begehrt.
Er ging zu Kormendi’s, froh darüber, daß der Laden allem Anschein nach immer noch florierte. Und kein Wunder, bot er doch eine üppige Fülle erstklassiger Nahrungsmittel aus aller Herren Ländern, zu ebenso üppigen Preisen. Als er die Glastür aufdrückte und eintrat, schlug die vollklimatisierte Atmosphäre eisig kalt an seine zusammenzuckenden Muskeln. Er fand einen Einkaufswagen und schritt auf der Suche nach Milch rasch die Tiefkühlboxen ab; die Berge von Halvah, Baclava, Earl Grey, Camembert, ungesüßten Keksen und anderen ausländischen Delikatessen überging er.
Gerade hatte er einen Karton entrahmter Milch gewählt, als er eine Person auf sich zukommen sah, die nichts ahnte von seiner Nähe, wurde doch ihre ganze Aufmerksamkeit von den beiden Fünf-Liter-Packungen Eiscreme, der Pekannußpastete und der Tüte mit französischem Feingebäck beansprucht, die sie auf den Armen balancierte: seine Ex-Frau Bella Farragut. Bella Baird. Bella Cook.
Er war so perplex, daß er seinen Karton Milch fallen ließ. Der knickte zwar ein beim Aufprall, zerbarst aber glücklicherweise nicht.
»Bella! Was zum Teufel treibst du hier? Ich dachte, du hättest gesagt, du könntest dich erst in drei Wochen in England losmachen?«
Er war gar nicht erfreut, sie zu sehen, und gab sich keine Mühe, so zu klingen, als ob.
Bella sah verlegen aus, aber, wie er meinte, nicht so sehr, weil sie sich schämte, bei einem Täuschungsmanöver ertappt worden zu sein, sondern eher, weil er sie mit all den Kohlehydraten in den Armen angetroffen hatte. Ihre säuglingsglatte Haut verfärbte sich leicht rosa; ihre Augen fixierten ihn mit dem geraden Blick der eingefleischten Lügnerin. Sie fing auf der Stelle hastig zu sprechen an, so als ob es durchaus nichts Außergewöhnliches wäre, daß sie sich hier in einem Delikatessengeschäft in Greenwich Village begegneten.
»Tja, verstehst du, der olle Charcraft hat mir geraten loszugondeln – er wußte ja, wie besorgt ich war wegen Gabriel –, und das Design für die Kaffeeleute hab ich viel schneller hingekriegt als erwartet, und der olle Pankhurst hat jemand aufgetan, der das Haus in Parkside mieten und gleich einziehen wollte …«
»Wann bist du angekommen?« schnitt er ihr das Wort ab.
»Tja, äh, gestern – eine Frau, die ich von der Theatergruppe Wanborough her kenne, hat’s geschafft, mich in ein Charterflugzeug zu mogeln – sie hatte vorgehabt, ihre Schwester in Detroit zu besuchen, und konnte nicht loskommen …«
Das war typisch Bella, dachte er, immer hatte sie eine Freundin an der Hand, die ihr mit einer kleinen Mauschelei zu ihrem Vorteil gefällig war.
Er sagte bissig: »Dann hätte ich also gar nicht zu kommen brauchen. Es war verdammt schwierig, ausgerechnet jetzt wegzukommen, wo in wenigen Wochen die Frankfurter Buchmesse stattfindet. Warum hast du mich nicht angerufen und mir gesagt, daß du selber kommst?«
Ihre Lippen schürzten sich vorwurfsvoll; sie schlug die großen blauen Augen auf, so weit es nur ging. Sie waren von einem merkwürdig irisierenden Farbton, zwischen Schieferblau und Grau; früher einmal hatte er sie sehr schön gefunden.
»Aber Liebling! Ich wußte doch bis zur letzten Minute nicht, daß ich den Platz im Flugzeug kriegen würde! Und außerdem liebst du doch Gabriel – wolltest du denn nicht kommen? Du weißt doch wohl, wie wichtig es ist, ihn zu finden? Sorgst du dich denn gar nicht um ihn?«
»Natürlich sorge ich mich«, sagte er gereizt.
Auch das sah Bella ähnlich: Immer weckte sie in ihrem Gegenüber das Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung, beschwor ein Gerangel von moralischen Behauptungen und Gegenbehauptungen herauf, schuf ein magnetisches Feld, in dem die Eisenspäne heftig zwischen Nord- und Südpol hin und her stoben und in dem Bella, dieser Ausbund an Tugend, jeden Fitzel Recht und Gerechtigkeit auf sich zog.
»Du bist immer so gut mit Gabriel umgegangen«, sagte sie jetzt tadelnd, »weil du die Fähigkeit besitzt, ruhig zu bleiben, du überwältigst ihn nicht mit einem Übermaß an Fürsorge und Liebe, so wie Bo und ich; ich habe dafür gesorgt, daß du verstehst, warum du hier sein mußt. Natürlich – wenn du nicht bleiben willst, wenn du nicht helfen willst, ihn zu finden und zu überreden …«
»Das ist keine Frage des Wollens«, fauchte er. »Es ist eine Frage des Müssens. Ist es notwendig oder nicht?«
»Du weißt, daß es notwendig ist; es ist lebensnotwendig!« Ihre Stimme bebte; ihre Augen blitzten; sie sah aus wie die Jungfrau von Orléans. »Hör zu: Der Junge wird sterben, wenn wir ihn nicht in den nächsten sechs Wochen finden und ihn davon überzeugen, daß er sich dieser Operation unterziehen muß – verstehst du denn das nicht? Vielleicht haben wir sogar weniger als sechs Wochen Zeit. Läßt dich das völlig kalt? Hast du nicht ein Fitzelchen Mitleid in dir?«
»Ja doch, ich verstehe sehr wohl – um Himmels willen, Bella! Laß doch das theatralische Getue!« Er senkte die Stimme; zwei Studentinnen und eine Frau mit einem Einkaufswagen voll gefrorener Pizza starrten neugierig zu ihnen herüber. »Hast du alle deine Einkäufe erledigt? Dann laß uns gehen und ein Plätzchen finden, wo wir ruhig miteinander reden können. Und bitte sei so gut und beruhige dich.«
»Na schön«, willigte sie, plötzlich sanftmütig, ein und wartete am Kassenstand, während er rasch Eier, Butter, Seife und Kaffee zusammensuchte. Dort blieb sie stehen, bis er sich zu ihr gesellte, erst dann legte sie ihre eigenen Einkäufe auf das Förderband neben der Registrierkasse; offensichtlich erhoffte sie sich, daß er auch dafür aufkäme. Aber er fand ein sauertöpfisches Vergnügen darin, ihren Plan zu durchkreuzen, indem er zum mittleren Gang zurückkehrte, um Brot zu holen, das er vergessen hatte, so daß sie, gedrängt von der Schlange hinter ihr, durchgehen und selbst bezahlen mußte. Er hatte nicht vor, Bella mit einem Vorrat an Speiseeis für drei Wochen zu versorgen; erst recht nicht, da sie ihn gezwungen hatte, nach Amerika zu kommen, und das bestimmt für nichts und wieder nichts.
»Nun denn«, sagte er, als er sie am Haupteingang wieder eingeholt hatte. Da stand sie, biß sich auf die Lippe und starrte durch die großen Glastüren auf die dämmrige Straße. »Wo wohnst du? Sollen wir zu dir gehen?«
»O nein, ich wohne bei Angie Wasserman in der Fourteenth Street, nein, die Wohnung eignet sich zum Reden gar nicht. Wie steht’s mit dir, wohnst du bei der ollen Mrs. Baird?«
»Natürlich nicht – wie kommst du denn darauf?« In der Tat, wie kam sie darauf? Die alte Mrs. Baird hatte niemals Besucher, die bei ihr im Haus übernachteten, es sei denn, es handelte sich um engste Familienangehörige. Auch Bella war, soviel er wußte, nie eingeladen worden, dort zu übernachten, selbst während ihrer Ehe mit August nicht.
»Ich bin in der Wohnung in der Tenth Street«, sagte er.
»Ach was«, sagte sie arglos, »hast du das Apartment immer noch? Wußte ich gar nicht.«
»Crusoe & Selkirk haben es für fünf Jahre gemietet. Von Zeit zu Zeit kommen andere Angestellte dort unter, wenn sie die Zweigstelle in New York besuchen.«
»Also, sollen wir dorthin fahren und miteinander sprechen?«
»Nein, es lohnt sich nicht; soviel gibt’s nun auch wieder nicht zu bereden.« In Wahrheit verspürte er bei der Vorstellung, daß Bella die Wohnung betrat, einen heftigen Widerwillen; seine Abneigung dagegen, daß sie die verstaubte Verwahrlosung und die unbequeme Einrichtung zu Gesicht bekam, war nur einer von mehreren Umständen, die dazu beitrugen. »Außerdem«, fügte er hinzu, »würdest du mit der Last nicht vier Treppen steigen wollen. Da können wir genausogut auch hier hineingehen und einen Kaffee trinken.«
Er ging ihr in Nick’s Pie ’n Pizza voraus.
»Ach, Tom – fällt dir nichts Besseres ein? Das ist doch wirklich ein mieser Schuppen.«
»Du wirst schon nicht umkommen.«
Mieser Schuppen war einer von Bellas Ausdrücken, die ihn noch stets geärgert hatten. Sie hatte die seltsame Angewohnheit, sich an veralteten Slang zu klammern und ihn mit dem fröhlichen Selbstvertrauen einer Person zu verwenden, die sich einbildet, mit dem flotten Jargon der Zeitgenossen durchaus mithalten zu können.
»Eigentlich muß ich sowieso nach Haus«, sagte sie wehleidig. »Meine Eiscreme wird schmelzen.«
»Doch nicht innerhalb von fünf Minuten, Himmel noch mal! Möchtest du Tee oder Kaffee?«
Das sah ihr ähnlich, sich vor einer fremden Menschenmenge hochdramatisch auszulassen über die Notwendigkeit, Gabriel zu finden, nur um fünf Minuten später einen Rückzieher zu machen und sich um ihre Eiscreme zu sorgen.
»Tee. Ohne Milch und Zucker. Ich bin wieder mal auf Diät«, sagte sie geziert und ließ sich in eine der rotgepolsterten Nischen gleiten, die die Illusion von Ungestörtheit hervorriefen.
Als er mit zwei Bechern Tee zurückkam, hatte sie aus einem Umschlag in ihrer Handtasche eine Handvoll Dias hervorgeholt und reichte sie ihm über den Tisch.
»Schau her, das sind die Entwürfe, die ich für das Coffee Centre gemacht habe. Gefallen sie dir? Der olle Charcraft war richtig angetan davon; er sagt, sie erinnern ein bißchen an Klee. Was meinst du?«
Thomas nahm sie skeptisch auf; das Werk von Klee bewunderte er schon einmal gar nicht. Er unterdrückte die Bemerkung, dies sei ein merkwürdiger Augenblick, ihn nach seiner Meinung zu ihren Arbeiten zu fragen, und betrachtete die Dias – Designs für Stoffe: Handtücher, Geschirrtücher, Tischwäsche und Küchentapeten. Daneben gab es auch einige Teller und Tassen.
»Sehr gut«, fällte er schließlich sein Urteil. Ihre Miene erhellte sich zu dem Lächeln eines Kindes, das nach Lob lechzt. Er gab ihr die Bilder wieder zurück. Jedesmal überraschte sie ihn ein wenig damit, daß ihre Arbeiten besser ausfielen, als er erwartete. Sie konnte kleine Bäume und Häuser und Landschaften zeichnen, kleine Pflanzen und Boote, Vögel und Fische, die, wenn auch nicht sonderlich originell, doch eine angenehme Frische und eine ganz eigene Fröhlichkeit besaßen. Und hin und wieder kriegte sie – wie beiläufig – ein Design hin, das wirklich originell, überdurchschnittlich gut schien. Obwohl sie zu eigentlicher Hingabe und Forschung nicht imstande war, hatte sie sich eine erfolgreiche freiberufliche Existenz aufgebaut, mit Verbindungen zu einem halben Dutzend Firmen, und sie hätte ihr Einkommen verdreifachen können, wenn sie schwerer gearbeitet hätte – aber weshalb sollte sie? Gus hatte ihr eine Leibrente ausgesetzt, die für einen komfortablen Lebensunterhalt sorgte. Zuweilen fragte Thomas sich, was sie überhaupt bewog, so viel zu arbeiten. Vielleicht damit sie bei Bo weiter gute Karten hatte?
»Und was treibst du so?« erkundigte sie sich großmütig.
»Ich leite Crusoe & Selkirk. Schreibe ein Buch über Mollusken. Wenn ich Zeit habe.«
»Mollusken!« Sie schüttelte sich. »Wie dröge! Und wie geht’s deiner entsetzlichen Arthritis? Wie steht’s damit?«
»Nicht zum besten«, erwiderte er kurz angebunden.
»Du solltest dich mehr um dich kümmern, weißt du? Oder willst du so enden wie deine Mutter?«
»Davon weißt du nichts«, versetzte er schneidend.
»Nur was du mir erzählt hast, Liebling«, sagte Bella, zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch aus. Sie hielt ihm einen Vortrag über Akupunktur, Zen und eine aus Apfelessig und Honig bestehende Diät.
»Laß uns wieder über Gabriel reden, ja?« schlug er vor.
»Nur zu, Liebling. Wo hast du bisher gesucht?«
»Nirgendwo, außer bei der alten Hannah. Herrgott, Bella! Ich bin erst heute morgen angekommen.«
»Ach ja. Ich bin so vergeßlich.«
Ich bin vergeßlich, dachte Thomas, aber wenn es sich vermeiden ließ, hatte er nicht die Absicht, Bella seine Anfälle von Amnesie zu gestehen. Eine solche Waffe würde er dem lässigen kleinen Biest nur ungern in die Hände legen.
Er versuchte sie kühl-sachlich zu mustern. Gus hatte sie geheiratet, als sie fünfundzwanzig war; damals mußte sie bezaubernd hübsch gewesen sein. Denn selbst jetzt – er rechnete im Kopf nach: Gabriel wurde bald sechzehn, dann mußte sie ungefähr einundvierzig sein –, selbst jetzt konnte man sie mühelos auf wenig mehr als dreißig schätzen. Ihre delikate rosaweiße Haut besaß jene Glätte und jenen Glanz, die sich Gesundheit, gesichertem Einkommen und einem sorgenfreien Leben verdanken; ihr kleines, rundes Gesicht ruhte wie eine Kirsche auf dem langstieligen Hals; das weiche, dunkle Haar hatte sie zu einem sehr kleidsamen Nackenknoten zusammengeschlungen. Sie trug ein wunderbar geschnittenes graues Baumwollkleid mit schwarzen Biesen – vorweggenommene Trauer? dachte er lieblos – und hätte, ihrem äußeren Erscheinungsbild nach, geradewegs aus den Seiten eines Romans von Henry James herausspaziert sein können. In anderer Hinsicht auch.
»Du siehst aus wie eine Perserkatze«, sagte Thomas und meinte es durchaus nicht als Kompliment.
Allerdings faßte sie es als solches auf.
»Liebster Thomas! Wie reizend, dich wiederzusehen!«
Das paßt aber kaum zu dem, was du mir letztesmal an den Kopf geworfen hast, Süße, dachte er und erinnerte sich, wie sie geschrien hatte: Raus! Ist mir ganz gleich, ob ich dich nie wiedersehe, solange ich lebe. Ich hoffe, du verreckst an deiner blöden Krankheit! Sollte sie das vergessen haben?
Ein lächelnder Seitenblick aus ihren schieferblauen Augen überzeugte ihn vom Gegenteil.
»So, jetzt erzähl mir aber alles, was du über Gabriel weißt«, sagte er schroff.
»Aber Liebling, nichts! Nicht mehr, als was ich dir am Telefon gesagt habe, als ich dich so verzweifelt anrief und dich bat, hierherzukommen und ihn ausfindig zu machen.«
»Weswegen hast du mich ausgerechnet da angerufen?«
»Weil der olle Moncrieff gesagt hat, wir müssen ihn finden.«
»Wann ist er in die Staaten gekommen?«
»Im Januar, nachdem er seine Sprachkurse in London abgeschlossen hatte. Er hatte eine Liste mit Kontaktpersonen hier, die Wassermans und die Bradshaws, und der olle Moncrieff hatte ihm den Namen eines Herzspezialisten in New York genannt, zu dem er gehen könnte, wenn er auch nur die leisesten Beschwerden hätte, ein Dr. Tsihiffeley, aber der hat nichts von ihm gehört, und von den anderen auch niemand …«
»Und du – hast du von ihm gehört? Hat er dir geschrieben?«
»Liebling, ich hab’s dir doch gesagt. Nur diesen einen, ziemlich seltsamen Brief Ende April, in dem er schrieb, er müßte nachdenken, und ich würde lange Zeit nichts mehr von ihm hören.«
»Hast du ihn dabei?«
»Nein, ich habe ihn verloren, Liebling, ich weiß einfach nicht, was aus ihm geworden ist, es ist zum Verrücktwerden«, sagte Bella und starrte geistesabwesend auf ihre schöne schwarze, kalbslederne Handtasche. Ich möchte fünf Dollar wetten, daß er da drin ist, dachte Thomas. »Ich habe überall danach gesucht, bevor ich hierhergeflogen bin, aber er ist nirgendwo aufgetaucht. Vielleicht hat ihn sich dieser ungezogene Bo irgendwann in die Tasche gesteckt, als ich ihm den Brief gezeigt habe, und du weißt ja, in was für einem Chaos der lebt. Aber es stand sowieso nichts von Belang darin – er enthielt auch keine Adresse.«
»War er handgeschrieben?«
»Nein, getippt; übrigens sehr gut getippt.«
»Poststempel?«
»San Francisco. Aber das war im April, und jetzt ist es schon fast September – inzwischen könnte er sonstwo sein.«
»Zum Beispiel wieder in England.«
»Das möchte ich bezweifeln, Liebling. Er schrieb, ihm gefällt’s in Amerika, und er möchte so lange bleiben, wie’s geht. Hast du denn überhaupt nichts von ihm gehört?« fragte sie unschuldig.
Thomas schüttelte den Kopf, und ein Funken des Triumphs trat in ihre weit aufgerissenen schieferblauen Augen. Sie hatte Gabriels Zuneigung zu seinem Stiefvater stets heftig übelgenommen – zum Beispiel jene Schach-Spaziergänge – wie sie die gehaßt hatte! Bald nach ihrer Heirat hatte Thomas erkannt, daß man Bellas etwas dürftige und launenhafte mütterliche Regungen unfehlbar dadurch anregen konnte, daß man viel Wesens um Gabriel machte; doch das war eine unaufrichtige Verhaltensweise, über die er sich sehr ärgerte, als er sich dabei ertappte, wie er sie, fast unbewußt, selbst übernahm. Danach versuchte er einen mittleren Kurs zu steuern zwischen dem Risiko, allzuviel Interesse an Gabriel zu bekunden und dadurch Bella gegen sich aufzubringen, und dem anderen Extrem: eine Brüskheit vorzutäuschen, die den Jungen womöglich verwirrte oder schmerzte.
»Nein, wir korrespondieren nicht miteinander«, sagte er. »Aber willst du damit sagen, daß du von April bis jetzt gebraucht hast, bevor du dir um ihn Sorgen gemacht hast?«
»Aber Liebling, was hätte ich denn tun sollen? Schließlich ist Gabriel immer vernünftig gewesen, und ich habe immer fest damit gerechnet, daß er wieder auftaucht. Aber dann hat mir der olle Moncrieff letzten Monat geschrieben, daß Gabriel im Oktober mit seinem kleinen Eingriff dran ist und daß er in der Cavendish-Klinik ein Bett für ihn gebucht hat – und er wollte, daß Gabriel um diese Zeit wegen einer Vorsorgeuntersuchung zu ihm kommt, weißt du? – dann hat er mich angerufen, und da erst habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen.«
»Wußte Sir John Moncrieff, daß Gabriel nach Amerika geflogen ist?«
»Aber ja, er hat ihm doch die Reise mehr oder weniger nahegelegt. Eine Sommertour, um wieder fit zu werden – genau das, was Gabriel braucht, hat er gesagt. Er und der olle Manresa haben sich darüber beraten, sie haben eine Menge Röntgenaufnahmen gemacht und entschieden, daß Gabriel bis zum Herbst völlig in Ordnung sein würde. Schließlich kann man einen sechzehnjährigen Jungen nicht gut in eine Kiste einsperren, Liebling.«
»Das möchte ich meinen«, pflichtete Thomas bei und erinnerte sich daran, wie er sich unvernünftigerweise immer über Bellas Angewohnheit geärgert hatte, jeden, den sie oberhalb einer gewissen sozialen Rangstufe wußte, als »ollen« Soundso zu bezeichnen; besagter Manresa war Lord Manresa of Keele, aller Wahrscheinlichkeit nach der beste Herzchirurg der Welt. Ihre zehnjährige Ehe mit August Baird, sollte man meinen, hätte sie von kleinen gesellschaftlichen Ambitionen dieser Art kurieren müssen; hatte sie aber nicht.
Zum womöglich zehntausendsten Mal ertappte sich Thomas bei der Frage: Warum nur hat August sie je geheiratet?
»Liebling, ich muß mich sputen«, sagte sie und drückte ihre erst halb aufgerauchte Zigarette aus. »Danke für den göttlichen Tee. Jetzt bleiben wir aber in Kontakt, ja? Ich werde alle meine Verbindungen nutzen, und du versuchst es mit deinen, und wenn du irgendeinen Gedankenblitz hast, laß es mich wissen. Ach übrigens, ich habe mich mit dem ollen Sam Schillenbach in Verbindung gesetzt, hast du den je kennengelernt? Das war ein Kumpan von Gus in Harvard, jetzt ist er Direktor der NYBS, eine von diesen riesigen Sendeanstalten, oder sie gehört ihm oder so ähnlich – der wird im Fernsehen und im Rundfunk einen Notruf ausstrahlen, ich werde persönlich auftreten und die Leute bitten, nach Gabriel Ausschau zu halten. Sohn von Nobelpreisträger