7,99 €
Riesenfalter und dreieckige Risse in einem grünen Himmel… ein unsichtbarer Tempeltiger, der Menschen verspeist… ein verkannter Schriftsteller, der noch aus dem Jenseits eigene Publicity betreibt… Eine Reihe gruseliger, romantischer und phantastischer Erzählungen, mit der gewohnt sicheren Hand und dem makabren Sinn für Humor geschrieben, die man an Joan Aiken so schätzt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2022
Joan Aiken
Geschichten
Aus dem Englischen von Irene Holicki
Diogenes
»Diese Nähmaschine hält Ihnen mehr als sechzig Jahre ohne Reparatur und Wartung«, sagte Henry Dulge und warf einen schnellen Blick auf die Hausfrau. Bis dahin ist sie bestimmt über hundertzwanzig, dachte er. »Die Maschine ist rostfrei, unkompliziert in der Bedienung und vollkommen isoliert. Fünf Pfund als Anzahlung und einhundertacht-und-vierzig Raten zu neunundneunzigeinhalb. Ich lasse sie Ihnen eine Woche zur Probe da, ja? Oder wollen Sie gleich unterschreiben? Hier ist der Vertrag …«
»Das ist wirklich nett von Ihnen«, sagte sie unsicher. »Aber in der Anzeige, die ich gesehen – und auf die ich geschrieben habe – stand –«
»Natürlich sind Kundendienst und Reparaturen in den ersten zwei Monaten kostenlos, was nicht heißen soll, daß das bei einer O-Sew-matic erforderlich wäre, ha, ha!«
»In Ihrer Anzeige stand aber, Sie hätten generalüberholte Modelle für acht Pfund zu verkaufen«, beharrte sie schüchtern.
Seine Miene veränderte sich. »Na ja, sicher, wenn Sie so etwas haben wollen – Wir hatten nur ein paar davon, aber ich kann Ihnen versichern, meine Dame, die Dinger sind Schrott, nichts als Schrott! So eine Maschine würden Sie nur ein paar Tage lang benutzen, und dann würden Sie mich anflehen, sie Ihnen gegen eine O-Sew-matic umzutauschen. Mit diesem Supermodell dagegen können Sie alle Kleider für Ihre Kinder selbst nähen, und außerdem Gardinen, Steppdecken, sie ist wirklich traumhaft leicht zu bedienen –«
»Haben Sie denn keine von den Maschinen für acht Pfund in Ihrem Wagen, damit ich sie mir einmal ansehen könnte?« fragte sie bittend.
Er zögerte. Aber es goß in Strömen, und sie machte den Eindruck, als ließe sie sich leicht unter Druck setzen – ein blasses, aufgeschwemmtes Frauchen mit einer Frisur wie eine zerzauste Bambuspalme. »Nein, leider nicht«, fauchte er. »Die letzte habe ich an eines von diesen dummen, alten Weibern verkauft, die sich jeden Schund andrehen lassen. Wenn Sie vernünftig sind, Gnädigste, dann befolgen Sie meinen Rat, Sie werden es nie bereuen –«
Sie war schwankend geworden. »Nun ja – ich möchte wirklich gern mit den Winterhemden meines Mannes vorankommen –«
Er reichte ihr den Stift.
In diesem kritischen Augenblick kam ihr Mann nach Hause, mit einer Bierfahne und mit knurrendem Magen.
»Was zum Henker ist denn hier los?« grollte er und erfaßte die ganze Situation mit einem Blick – den Stift in ihrer Hand, den Vertrag mit dem vielen Kleingedruckten, die verführerisch glitzernde O-Sew-matic. Der streitbare Henry Dulge wurde plötzlich erstaunlich liebenswürdig.
»Ich habe Ihrer verehrten Frau Gemahlin soeben erklärt –«
Sie warf ihrem Mann ein erschrockenes, flehentliches Lächeln zu, aber der fackelte nicht lange.
»Raus mit Ihnen! Und nehmen Sie Ihre verdammte Maschine mit. In meinem Haus wird nichts auf Raten abgestottert. Raus!«
Der Regen trommelte gegen das Fenster. Henry Dulge war kein Feigling. Er raffte sich zu einem letzten Versuch auf – aber der Ehemann kam so drohend auf ihn zu, daß er alle Hoffnung fahren ließ, die O-Sew-matic ergriff und mit einem zornigen Auflachen mitleidig sagte: »Ich fürchte, Sie werden das noch sehr, sehr bedauern, meine Gnädigste. Ein solches Angebot bekommt man nicht oft.« Damit ging er, und der Wind schlug die Tür hinter ihm zu.
Das Wasser rann über die Aluminiumhaube der O-Sew-matic, und er rieb sie fluchend trocken, ehe er in der regennassen Dämmerung davonfuhr. Sein Ärger über den entgangenen Verkauf, der sich so vielversprechend angelassen hatte, war so groß, daß er sich nicht, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, ein Hotel für die Nacht suchte, sondern geradewegs durch die Stadt hindurch und auf der Küstenstraße weiter in Richtung Crowbridge fuhr.
Der Regen wirbelte in dichten Schwaden durch das Scheinwerferlicht und spritzte auf der kiesbestreuten Straße hoch auf. In Abständen von einer halben Meile warnten beleuchtete Schilder am Straßenrand: BEI SPRINGFLUT IST DIESE STRASSE ZUR FLUTZEIT UNPASSIERBAR.
Dulge hatte keine Ahnung, ob gerade Spring- oder Nippflut war, auf jeden Fall befand sich das Meer beruhigend weit draußen – nur gelegentlich, wenn sich die Straße in Windungen auf eine Klippe hinaufzog, sah er weit rechts flüchtig bedrohliche Wogenkämme dahinpeitschen.
Er überholte einen einsam dahinstapfenden Fußgänger, ein Landstreicher, seinem Bündel und seinem zerlumpten Mantel nach zu urteilen, und fuhr voller Schadenfreude so dicht an den Mann heran, daß er ihn mit Schlamm und Sand überschüttete. Der Bursche war sowieso völlig durchnäßt, da kam es auf ein bißchen mehr nicht an.
Zehn Meilen weiter sah er einen zweiten Passanten vor sich, diesmal war es ein Mädchen. Sie trug ein dunkles Regencape, aber die Scheinwerfer erfaßten das weiße Kopftuch, das sie um ihr Haar gebunden hatte. Der Kavalier in Henry Dulge meldete sich, er hielt neben ihr an und öffnete die Tür.
»Herein mit Ihnen, kleine Nixe«, sagte er gönnerhaft. Sie schien zuerst erschrocken, aber dann bedankte sie sich und setzte sich ruhig neben ihn. Erfreut über diesen Glücksfall ließ er die Kupplung kommen: das Mädchen war einsame Klasse, hätte jede Schönheitskonkurrenz gewinnen können, nur ein bißchen verfroren sah sie aus, kein Wunder in dieser Nässe und Kälte – was zum Teufel hatte sie zu dieser Zeit allein und zu Fuß auf der Küstenstraße zu suchen? – aber die Figur war prima, soweit er sehen konnte, und das Gesicht mit dem straff zurückgekämmten, hellblonden Haar und der hohen Stirn wirkte sehr distinguiert.
»Wissen Sie nicht, daß es hier gefährlich ist?« fragte er. »Wenn nun die Flut reinkommt und so ein hübsches Mädchen einfach davonspült?«
»Ach, ich gehe oft hier spazieren«, antwortete sie unbekümmert. »Wenn man sich mit den Gezeiten auskennt, besteht keine Gefahr.«
»Leben Sie in Crowbridge?«
»Ja, ich habe dort ein Haus.«
»Ganz allein?«
Sie nickte. Seine Augen wurden groß. Das hörte sich ja unglaublich verheißungsvoll an.
»Dann geht es Ihnen wie mir, ich bin ein armer Junggeselle, der keine Menschenseele in der Stadt kennt. Wie wär’s, wenn Sie mich ein bißchen aufheitern? Wollen Sie nicht im Ship mit mir essen?«
»Sie sind sehr nett«, sagte sie, »aber ich esse nie in Gasthäusern.«
»Dann könnten Sie mich doch zu sich einladen? Mit Fremden soll man doch Mitleid haben, nicht wahr?«
Sie sah ihn merkwürdig an. »Ich lade niemals Gäste ein. Wer meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen will, muß den Weg selbst finden.«
Sie hatten die kleine Hafenstadt Crowbridge erreicht und fuhren die Hauptstraße entlang auf das Zentrum zu. Im zuckenden Licht der heftig schwankenden Straßenlaternen waren Tudorgiebel und Ziegelmauerwerk zu erkennen.
»Den Weg werde ich schon finden, mein Schatz, keine Sorge. Wie heißen Sie? Und wo ist Ihr Haus?«
»Ich wohne ganz in der Nähe«, sagte sie. »Wären Sie vielleicht so freundlich, mich jetzt abzusetzen?«
»Ach, Schätzchen, wer wird denn so abweisend sein. Trinken Sie wenigstens einen Kleinen mit mir im Ship, das hilft gegen die Nässe.«
»Danke, nein, ich –«
Aber er fuhr einfach weiter. Bei der Ampel mußte er freilich anhalten, und zu seinem Ärger gelang es ihr, aus dem Wagen zu schlüpfen – der Himmel wußte, wie sie das machte, er war nämlich sicher, daß er die Tür verriegelt hatte, und sie ließ sich ohnehin verdammt schwer öffnen. Ehe er noch ein Wort oder einen Fluch herausbrachte, war sie schon draußen, und er sah nur noch ihr Kopftuch in der dunklen Regennacht flattern. Die Ampel sprang auf Grün, und während er das raffinierte Frauenzimmer noch aus tiefster Seele beschimpfte, drängte ihn wütendes Hupen von hinten zum Weiterfahren. Aber Crowbridge war schließlich eine kleine Stadt; vielleicht konnte ihm im Gasthaus jemand sagen, wer sie war.
Er ging geradewegs an die Bar und trank schnell hintereinander drei Doppelte, um die Erinnerung an das Geschäft hinunterzuspülen, das ihm durch die Lappen gegangen, und an die Mitfahrerin, die ihm entschlüpft war. Dann fragte er nach einem Zimmer für die Nacht.
»Bedaure, Sir. Wir sind leider voll belegt.«
»Belegt? Im Oktober? Sind Sie verrückt?«
»Im Augenblick findet die Jahreskonferenz der NAFFU statt, Sir. Die wird immer in Crowbridge abgehalten. Ich fürchte, Sie werden in der ganzen Stadt kein Zimmer finden. Ich weiß genau, daß sie im Crown and the George auch ausgebucht sind, die haben schon Gäste zu uns geschickt.«
»Beim heiligen Pete! Gibt es denn gar keine Möglichkeit, in dieser Stadt ein Bett zu kriegen – privat, in einer Pension, irgendwo?« Er wandte sich an die anderen Gäste an der Bar. »Hat denn keiner von den Herren eine Idee? Bis Castlegate sind es noch dreißig Meilen.«
Sie zögerten. »Zwischen hier und Castlegate ist die Straße überschwemmt«, warf der Barkeeper ein. »Ich glaube, Sie würden gar nicht durchkommen.«
»Nun ja«, sagte ein Mann nach einer Pause, »im alten Dormer House könnte er schlafen.«
»Was ist das?« Henry faßte wieder Hoffnung. »Ein Wohnheim?«
»Nein, ein Privathaus. Es steht sogar leer – soll abgerissen werden. Morgen fangen die Arbeiten an. Der Stadtrat will es schon seit Jahren weghaben, aber man konnte nichts unternehmen, bis der letzte aus der Familie tot war, und vor ein paar Monaten war es dann so weit – eine alte Dame mit dreiundneunzig Jahren. Eigentlich ein geschichtsträchtiger Bau. Irgendeine Organisation hat gegen den Abriß protestiert, aber das Haus ragt direkt in eine Kreuzung hinein, und dadurch ist diese Ecke sehr gefährlich.«
»Na ja, einige von den alten Häusern müssen eben weg; man kann sie nicht alle erhalten«, stimmte Henry zu. »Aber wenn es leersteht, dann kann ich dort doch wohl nicht übernachten? Ich schlafe nicht gerne auf den nackten Dielen.«
»Sehen Sie, genau das ist der springende Punkt. Das alte Dormer ist sozusagen berühmt – haben Sie wirklich noch nie davon gehört?«
»Nein, nie.«
»Es ist Tradition, daß jeder, der um ein Nachtquartier bittet, von der Familie – Hardisty hießen die Leute, das Haus gehörte seit der Zeit der ersten Königin Elizabeth den Hardistys – aufgenommen wird und kostenlos Feuerholz und Bettzeug bekommt. Eine Klausel im Testament der alten Dame, jener Miss Hardisty, die vor kurzem gestorben ist, verfügt, daß dieser Brauch bis zum Abriß beibehalten werden soll.«
»Feuer und Bettzeug umsonst? Klingt zu schön, um wahr zu sein! Vielleicht ist meine Pechsträhne damit zu Ende. Wäre ja auch langsam Zeit.«
»Da ist noch etwas.«
»Nämlich?«
»Jeder, der bis acht Uhr am nächsten Morgen dort bleibt, hat Anspruch auf tausend Pfund aus dem Nachlaß.«
»Tausend Pfund? Wofür halten Sie mich eigentlich? Auf solche Märchen falle ich nicht herein!«
Aber alle Männer an der Bar versicherten ihm, das sei die reine Wahrheit. Und sie schienen es ernst zu meinen. Henry musterte die Gesichter und fing an, ihnen zu glauben.
»Und bisher hat sich noch niemand gemeldet?«
»Kein einziger. Dort geht nämlich ein Geist um.«
»Ein Geist? Was für ein Geist?« Henry machte ein skeptisches Gesicht. »Den Geist möchte ich sehen, der mich aus einem kostenlosen Bett vertreibt und es fertigbringt, daß ich mir einen Tausender entgehen lasse.«
»Jemand aus der Familie geht dort um, ein Mädchen namens Bess Hardisty, sie lebte zur Zeit der ersten Elizabeth. Man erzählt sich, daß ihr junger Mann sich in die Königin verliebte. Er war so vernarrt in sie, daß er auf und davon ging, Bess vergaß, übers Meer segelte, um Indien zu entdecken, und nie mehr wiederkehrte. Sie wurde eine vergrämte, verbitterte alte Jungfer, erreichte ein hohes Alter und wurde schließlich als Hexe verbrannt. Seither können nur noch Mitglieder der Familie im Haus schlafen – sie schickt den Leuten schreckliche Träume.«
Henry lachte schallend. »Wenn sie es schafft, mir einen Alptraum zu schicken, dann alle Achtung! Na, das ist doch ein Klacks. Kann ich hier was zu essen bekommen?« fragte er den Barmann.
»Aber ja, Sir, das läßt sich einrichten.«
»Gut, dann esse ich jetzt, und danach sagen Sie mir, wie ich zu dem Haus komme. Übrigens«, fiel ihm plötzlich ein, »kennen Sie vielleicht ein Mädchen, das hier ganz allein lebt, sehr hübsches Ding, etwa fünfundzwanzig, mit hellblondem Haar?«
»Nein, Sir, wüßte nicht, wer das sein sollte«, sagte der Barmann. »Aber ich bin noch nicht lange hier.« Auch die anderen Männer schüttelten die Köpfe. Warfen einige Henry vielleicht merkwürdige Blicke zu? Wahrscheinlich lag es am Hunger, daß er sich einbildete, sie seien plötzlich ganz blaß und entfernt, als sähe er sie wie durch eine Glaswand. Die Sache mit dem Mädchen würde er weiterverfolgen, wenn er anständig gegessen hatte.
Das Dinner im Ship war ausgezeichnet, aber es zog sich sehr lange hin. Als Henry an die Bar zurückkehrte, war fast schon Sperrstunde, und mittlerweile war er rechtschaffen müde. Die Männer, die zuvor hiergewesen waren, waren bereits gegangen, und der Barmann wirkte zerstreut. Warum sollte er sich noch um das Mädchen kümmern? Wenn sie fort war, war sie eben fort, es hatte keinen Sinn, ihr nachzujammern. Er trank ziemlich schnell noch zwei Gläser, stellte seinen Wagen auf dem städtischen Parkplatz ab und schlug die Richtung ein, die der Barmann ihm gewiesen hatte.
Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber es war immer noch zu dunkel, um das alte Dormer House genauer betrachten zu können, und er hatte auch keine Lust, sich lange aufzuhalten. Er stieß die schwere Tür auf und stieg die Treppe hinauf. Kein elektrisches Licht, aber er hatte die starke Taschenlampe aus dem Wagen mitgenommen, und von oben konnte er den Schein eines lodernden Feuers sehen und das angenehme Knistern hören.
Die ersten Räume, in die er hineinschaute, waren leer, man hatte die Möbel bereits fortgeschafft, aber als er dem Feuerschein folgte, fand er ein großes, prächtiges Schlafzimmer mit einem Teppich, mehreren Stühlen und einem Himmelbett mit einem Baldachin aus blauer Seide. Es roch köstlich nach Apfelholz und Lavendel. Henry stellte seinen nassen Koffer mit einem zufriedenen Knurren auf den Teppich und prüfte die Matratze.
»Die ist auf jeden Fall besser als im alten Ship«, sagte er befriedigt zu sich selbst. »Ich möchte wetten, daß Königin Elizabeth darauf nie geschlafen hat.«
Abgesehen von ihm selbst schien sich niemand im Haus aufzuhalten. Er entkleidete sich gemächlich vor dem prasselnden Feuer, legte aus einem Korb noch ein paar Scheite nach, verriegelte die Tür und ging ins Bett. Es war sogar warm – man hätte fast denken können, eines von diesen elisabethanischen Geräten – wie hießen sie doch noch? – Wärmepfannen, sei eben erst herausgenommen worden.
Und als er schon mehr als zur Hälfte in die Nebel des Schlafes eingetaucht war, schlangen sich zwei warme Arme um seinen Hals, und eine Stimme murmelte ihm sanft ins Ohr: »Hast du etwa gedacht, du würdest mich nicht wiedersehen? Ich wußte doch, daß du den Weg hierher finden würdest.«
»Bist du das, Schätzchen?« murmelte Henry schläfrig. »Meine Pechsträhne ist offenbar wirklich zu Ende. Aber wie bist du hereingekommen? Ich hätte schwören können, daß das Haus leer war.«
»Ich war bereits da. Verstehst du denn nicht? Ich wohne hier …«
Sie war hinter ihm her. Sie kam immer näher. Hundert, fünfhundert Leute, meist Frauen, beobachteten ihn mit haßerfüllten Augen, feuerten sie jubelnd an, und sie raste hinter ihm die Straße entlang, ihr großes Schwungrad sprühte blaue Funken, als es herumwirbelte, die riesige Nadel fraß sich unaufhaltsam auf ihn zu, durchstach den Straßenteer, als wäre es Käse. Jetzt war sie auf gleicher Höhe mit ihm, und er war wie gelähmt, konnte sich nicht rühren, und die Nadel schwebte über ihm, vibrierte, stand kurz vor dem schrecklichen Stoß nach unten, der ihn vom Gehirn bis zu den Lenden durchbohren, ihn an das Bett heften würde wie einen Schmetterling –
Er erwachte schwitzend, schreiend, mit den Laken kämpfend. Unwillkürlich drehte er sich um, um bei seiner Bettgenossin Trost zu suchen, aber sie war nicht mehr da. Spürte er zwischen den Laken etwas Hartes, Eiskaltes? Er schoß aus dem Bett, als habe er darin eine Schlange entdeckt. Der Alptraum ließ ihn noch immer nicht los, hastig und an allen Gliedern zitternd begann er sich anzuziehen. Alle anderen Überlegungen gingen unter in dem Wunsch, von hier wegzukommen. Immer wieder blickte er sorgenvoll zur Decke, als erwarte er, daß die große, blitzende Nadel heruntergesaust kam, um ihn aufzuspießen. Das Feuer brannte hell, aber das Porträt an der Wand, das Porträt des goldhaarigen Mädchens mit dem spröden Lächeln über der Halskrause, bemerkte er nicht. Er übersah auch die Kleidungsstücke, die unordentlich über einen Stuhl geworfen waren, die Brokatröcke, die kleinen Schuhe mit den eckigen Spitzen und den edelsteinbesetzten Schnallen. Mit bebenden Händen entriegelte er die Tür, stolperte die Treppe hinunter und rannte wie gehetzt zum Parkplatz. Der Regen hatte aufgehört, aber welke Blätter huschten wie Wolfsrudel hinter ihm her die Straße entlang, und der Wind schüttelte ihn und zerrte an ihm. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, es war die stillste Stunde der Nacht.
Mitten auf der Straße nach Castlegate stand ein Schild: ÜBERSCHWEMMUNG. UNPASSIERBAR. Er kehrte um und fuhr auf der Küstenstraße zurück nach Trowchester. Die Flut hatte fast ihren Höchststand erreicht; er konnte die Wellen tosen hören wie tausend Nähmaschinen, warf nervös einen Blick in den Rückspiegel und erwartete fast, sie unaufhaltsam hinter sich herkommen und die Meilen in sich hineinfressen zu sehen. Ein teuflischer Traum. Wenn ihm so etwas noch öfter passierte, konnte er seinen Beruf an den Nagel hängen.
Als er den Blick wieder vor sich auf die Straße richtete, bemerkte er, daß das Mädchen neben ihm im Wagen saß.
Er keuchte etwas Unverständliches. Seine Hände rutschten zitternd über das Lenkrad.
»Du hast doch wohl nicht geglaubt, daß ich allein zurückbleiben würde?« fragte sie. »Ich komme mit dir. Morgen reißen sie mein Haus ab, und dann habe ich keine Bleibe mehr. Es war ein Glück für mich, daß du mich heute abend besucht hast. Jetzt kann ich mit dir kommen und in deinem Haus wohnen.«
»Nein – nein!« stieß er hervor. »Ich habe eine Frau – Kinder –«
Er trat das Gaspedal durch, und der Wagen schoß die alte, gewundene Küstenstraße entlang auf eine Klippe zu. Auf der anderen Seite der Klippe gab es jedoch keine Straße mehr, nur noch die Wellen mit den weißen Kämmen, die gegen das Dunkel der Nacht ankämpften und knirschend wie tausend Nähmaschinen gegen das Kiesufer prallten. Sanft glitt der Wagen zwischen die Wogenkämme und verschwand.
Etwa zur gleichen Zeit nahmen in Crowbridge zwei Polizisten einen Landstreicher ins Verhör.
»Wir möchten uns den Ranzen da mal ansehen«, sagte der eine, der dem Mann wegen seiner zerlumpten Kleidung und seines verdächtig schweren Ranzens mißtraute.
»Dagegen verwahre ich mich«, erklärte der Landstreicher würdevoll. »Eben fängt es wieder zu regnen an, und ich möchte nicht, daß alle meine Sachen naß werden.«
»Dann müssen Sie mit auf die Wache.«
Der Mann ging willig mit. Er hatte blaue Augen und ein wettergegerbtes Gesicht, sein Alter war schwer zu schätzen, er hätte irgendwo zwischen vierzig und siebzig sein können. Als man den Ranzen auf der Polizeiwache öffnete, stellte sich heraus, daß er handbeschriebene Blätter und eine Reihe von Büchern enthielt.
»Russisch«, flüsterte einer der Polizisten. »Vielleicht ist er sogar ein Spion, Sergeant?«
»Das ist griechisch, Sie ungebildeter Dummkopf«, erklärte der Sergeant, der einmal auf Kreta gewesen war. »Schön, Sie können gehen, aber seien Sie nächstes Mal etwas entgegenkommender.«
»Es schüttet jetzt wie aus Kübeln«, sagte der Landstreicher freundlich. »Ich könnte wohl nicht zufällig in einer Zelle übernachten?«
»Tut mir leid, Kumpel, alle Zellen sind voll mit Gewerkschaftsmitgliedern, die ihren Rausch ausschlafen.«
»Zum alten Dormer House könnte er gehen«, sagte der Polizist.
»Wo ist das?« wollte der Landstreicher wissen.
Der Sergeant meinte unsicher: »Nun ja, was soll schon passieren?«
Und dann erklärten sie ihm, wie man dorthin gelangte.
Es regnete wieder sehr heftig. Der Landstreicher beeilte sich, ins Haus zu kommen, aber dann betrat er, anstatt gleich nach oben zu gehen, die große Küche mit dem Steinfußboden und dem massiven Tisch und zog sich einen Stuhl heran. Er holte ein Blatt Papier, einen Bleistift und ein Stück Käse aus der Tasche und begann zu schreiben. Es ging langsam voran, vieles strich er wieder durch, von Zeit zu Zeit biß er zerstreut in seinen Käse.
Nach etwa einer halben Stunde fuhr er heftig zusammen, weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß ihm jemand über die Schulter schaute.
»Sapperlot, haben Sie mich aber erschreckt«, rief er. »Ich habe Sie gar nicht reinkommen hören.«
»Kommst du nicht hinauf ans Feuer?« wiederholte sie.
»Gern, Miss, sehr freundlich von Ihnen. Ich möchte das hier nur noch zu Ende bringen.«
Er schrieb noch zehn Minuten lang weiter, dann folgte er ihr nach oben in das Zimmer mit dem Himmelbett. Das Bett war frisch bezogen, und im Kamin hüpften die Flammen. »Hübsch ist es hier«, sagte er und sah sich anerkennend um. Dann setzte er sich ans Feuer.
»Möchtest du nicht zu Bett gehen?« fragte sie.
»Nein, danke, Miss, ich bin noch nicht müde. Habe heute nachmittag unter einer Hecke ein ausgiebiges Nickerchen gemacht. Ich glaube, ich lese noch ein wenig, es sei denn, Sie haben Lust auf ein Schwätzchen.«
»Was du da geschrieben hast, war ein Sonett, nicht wahr? Warum schreibst du Sonette?«
»Das weiß ich eigentlich auch nicht. Sie haben es mir einfach angetan. Deshalb tipple ich auch durch die Lande. Früher war ich Matrose, Funktechniker, und als ich entlassen wurde, habe ich mir selbst ein kleines Geschäft aufgebaut. Dann hat es mich auf einmal gereizt, Sonette zu schreiben und Sprachen zu lernen. Na ja, man hat schließlich nur ein Leben, und deshalb sollte man auch manchmal tun, was einem Spaß macht, nicht wahr? Schƚießlich hatten meine Tochter und mein Schwiegersohn, bei denen ich wohnte, genug von mir und haben mich rausgeworfen.«
»Deine eigene Tochter hat dich auf die Straße gesetzt?« fragte sie schockiert.
»Man kann’s ihr nicht übelnehmen, mein Mädchen, ich hab’ ja keinen Penny verdient. Übrigens bin ich seitdem so glücklich wie nie zuvor. Ich habe keine Sorgen, und wenn ich mich doch mal einsam fühle, schalte ich meinen Transistor ein. Möchten Sie ein bißchen Musik hören?«
Er drehte an einem Knopf, und plötzlich erfüllten liebliche, wohlgeordnete Klänge den Raum.
»Schön, nicht wahr? Das ist Hamburg. Ich habe das Gerät selbst gebaut.«
»Aber das ist ja eine Gaillarde!« rief sie, und ihr Gesicht leuchtete auf. »Danach haben wir früher getanzt. So!«
Sie erhob sich und begann sich mit gleitenden Bewegungen vor ihm zu drehen, dabei schürzte sie ihre Brokatröcke, so daß die Edelsteine in ihren Schnallenschuhen im Feuerschein glitzerten.
»Bravo!« rief er. »Saddler’s Wells ist auch nicht besser!«
»Du mußt auch tanzen!« Sie griff nach seiner Hand. »Ach, es ist so lange her, seit ich zum letzten Mal getanzt habe!«
»Ich, mein Mädchen? Das kann ich nicht. Alles, was ich gelernt habe, war der Twostep.«
»Ich kann es dir zeigen. Siehst du, es ist ganz einfach. Laß dich nur von der Musik tragen.«
Und tatsächlich schien es ihm, als führe ihn die Musik durch die komplizierten Figuren des höfischen Tanzes. Mit hocherhobenem Kopf setzte er die Schritte, und seine blauen Augen strahlten, während sie sich anmutig wie ein Schiff unter vollen Segeln drehte und verneigte. Ein Tanz folgte auf den anderen, und doch wurde er nicht müde und spürte keine Unstimmigkeit in ihren gemeinsamen Bewegungen. Endlich war die Musik zu Ende, und sie sank vor ihm in einen tiefen Knicks.
»Siehst du«, sagte sie, »nun haben wir so lange getanzt, daß schon der Tag anbricht. Ich hätte nie gedacht, daß ich noch einmal tanzen würde.«
»Tatsächlich, Sie haben recht. Und doch fühle ich mich überhaupt nicht müde. Ich glaube, ich könnte jetzt sechzig Meilen weit laufen, ohne es überhaupt zu merken.«
Er sah aus dem Fenster. Über den nassen Dächern der Stadt zog stürmisch und wild der Morgen herauf. Spitze Giebel blinkten im ersten Licht.
»Ich mache mich jetzt wohl besser auf den Weg. Schönen Dank, daß Sie mir Unterschlupf gewährt haben.«
»Du bekommst tausend Pfund, wenn du bis acht Uhr hier bleibst«, sagte sie. »Warte doch noch ein wenig.«
Er sah sie verständnislos an, dann lachte er. »Was fange ich mit tausend Pfund an? Sollen sie sich doch eine neue Schule bauen oder sonst etwas Vernünftiges damit machen. Nein, trotzdem vielen Dank – ich möchte weiter –«
Er hatte die Küstenstraße, wo die zurückweichende Flut den Kies zu feuchtglänzenden Hügeln zusammengefegt hatte, bereits zur Hälfte zurückgelegt, als er hinter sich ihren leichten Schritt hörte.
»Ich hätte Lust mitzukommen. Darf ich dich begleiten?« rief sie.
»Gerne, mein Fräulein, wenn Sie möchten.«
Sie hakte sich bei ihm unter. »Können wir ein wenig Musik hören?«
Ein Mann von der Küstenwache, der schon in aller Frühe herausgekommen war, um sich einen Überblick über die Sturmschäden zu verschaffen, sah zwar den Landstreicher, nicht aber das Mädchen. Bis ans Ende seiner Tage blieb ihm der Mann mit den zerlumpten Kleidern und den klaren blauen Augen im Gedächtnis, der, frei wie der Wind, mit flottem Schritt, im Takt zur Musik von Mr. William Byrd über die holprige Küstenstraße wanderte.
Alastair Ness war ein sympathischer junger Dichter von offener Wesensart, der nur ein einziges Ziel im Leben kannte, er wollte nämlich ein Meisterwerk schreiben. Sobald er das erreicht und damit seine Berufung erfüllt hatte, war er fest entschlossen, die Welt nicht länger mit seiner dann überflüssigen Gegenwart zu belasten, sondern eine Giftpille zu schlucken, die ihm ein während des Krieges beim Geheimdienst tätiger Onkel überlassen hatte. Bis zu dem Tag, an dem er völlig überzeugt sein würde, ein vollkommenes Werk geschaffen zu haben, bewahrte er die Pille jedoch in einer Streichholzschachtel in seiner Tasche auf.
Da auch Dichter essen müssen, hatte er sich als Butler beim Herzog von Gilsland verdingt, einem gutaussehenden weißhaarigen Satyr in beschränkten Verhältnissen, der schon vor langer Zeit so viel von seinem Herzogtum wie möglich in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt hatte und bestrebt war, seine finanzielle Lage so schnell er konnte zu verbessern, indem er einerseits die Türen seines Stammsitzes der Allgemeinheit öffnete und außerdem in seinem Park einen Zoo, ein Kasino und ein Wachsfigurenkabinett einrichtete.
Einige Standesgenossen aus dem Oberhaus hatten unfreundlicherweise geäußert, der Herzog wäre auch gern bereit gewesen, seine Gemahlin im Park eine Lady-Godiva-Nummer abziehen zu lassen, wenn er damit die Einnahmen um ein paar Halbkronenstücke hätte steigern können, aber leider war die letzte Herzogin mit einem schlichten Viscount durchgebrannt, und so mußte sich der Herzog damit begnügen, Ansichtskarten von Whining Court zu signieren und seine Memoiren an ein Sonntagsblatt zu verkaufen.
Eines Wintermorgens erwachte Alastair wie gewohnt um sechs Uhr früh, und sofort entbrannte ein leidenschaftlicher Kampf zwischen seinem Bewußtsein und seinem Unterbewußtsein. Ersteres erinnerte sich nämlich, daß der Herzog an diesem Tag mit der Herzogin Nummer drei aus Argentinien zurückkehren sollte, während letzteres den dringenden Wunsch verspürte, mit der Arbeit an einer neuen Ode zu beginnen, die den Titel Englisches Trauma erhalten sollte.
Die Vernunft und das Bewußtsein trugen den Sieg davon; Alastair wollte gerade aus dem Bett springen, als ihn ein ungewohntes Geräusch innehalten ließ. Zuerst glaubte er, es sei das Plätschern des Springbrunnens im Innenhof, aber dann fiel ihm ein, daß der ja vorübergehend abgestellt worden war und auf eine Lieferung spanischen Burgunders wartete, mit dem die Heimkehr des Herzogs gefeiert werden sollte.
Nach kurzem Überlegen identifizierte er das Geräusch als ein Schnurren. Aber was für ein Schnurren! Selbst wenn alle Katzen von ganz Whining Court aus Leibeskräften vor einem Lautsprecher losgedröhnt hätten, diesen Sound hätten sie niemals zustandegebracht.
Zuerst zog sich Alastair gereizt die Bettdecke über den Kopf, aber dann schob er sie wieder weg. Im neunzehnten Jahrhundert hatte eine Haushälterin auf alle Einschlagtücher ein U1 mit einem Krönchen darüber gestickt, und auf alle Laken ein Erdbeerblatt mit einem L. Während der ersten Wochen, die Alastair von Unsicherheit und Heimweh gequält auf Whining verbracht hatte, hatte er vor alle U’s ein Non gesetzt, worüber sich einige der herzoglichen Gäste sehr amüsierten. Jetzt kratzte ihn das Non-U-Krönchen an der Nase und erinnerte ihn daran, daß die Pflicht rief. Er setzte sich auf und sah sich vorsichtig im Zimmer um.
An der Wand gegenüber seinem Bett hing ein großer Spiegel. Falls die Einrichtung und auch das Bettzeug dem Leser für das Zimmer eines Butlers ungewöhnlich prächtig vorkommen sollten, so läßt sich das damit erklären, daß auf Whining die ohnehin nicht sehr zahlreichen Diener im dritten Stockwerk schliefen, das eigentlich weniger bedeutenden Gästen vorbehalten war.
In diesem Spiegel sah Alastair nun entsetzt und zugleich fasziniert, daß sich unter seinem Bett etwas regte und gegen die Schabracke stieß. Dann schob sich eine große, haarige Pranke, orangefarben mit schwarzen Streifen, ins Blickfeld, tastete vorsichtig herum, fand Alastairs Lederpantoffel, schlug ein oder zweimal spielerisch danach, fuhr sodann sechs Zentimeter lange Krallen aus und zog ihn damit unter das Bett. Das Schnurren, das einen Moment lang verstummt war, setzte nun wieder ein, sogar noch lauter als zuvor.
Alastair mochte Tiere gern. Er war nur in Panik geraten, weil er Angst vor Geistererscheinungen hatte. Er hatte nämlich befürchtet, die Herrin von Whining zu sehen, ein Gespenst, das bei drohendem Unheil oder in besonders schweren Zeiten im Nachtgewand am Springbrunnen zu spuken pflegte. Nachdem er jetzt wußte, daß sich unter seinem Bett nur ein – zweifellos aus dem herzoglichen Zoo entlaufenes – Tigerjunges befand, war er ganz beruhigt. Ohne das Bett zu verlassen, schlug er die Schabracke hoch, ließ eine Hand hinunterhängen, schnippte aufmunternd mit den Fingern und lockte: »Hierher, Kleiner! Na, du Kätzchen? Komm doch heraus, du kleines Fellknäuel!«
Das Schnurren wurde dreimal so laut, und eine Zunge wie ein Stück warmes, feuchtes, elastisches Sandpapier fuhr genüßlich an seinem Arm auf und ab. Schnurrhaare vibrierten. Alastair bewegte die Finger und kraulte einen breiten, pelzigen Unterkiefer und den unteren Teil eines großen, samtenen Ohrs.
So weit, so gut. Aber dennoch sollte Alastair ein Schock nicht erspart bleiben.
Er sprang aus dem Bett, und der Tiger – offenbar ein scheues Tier – zog sich mit einem wischenden Geräusch zurück, bis er nicht mehr zu sehen war. Alastair bückte sich nach seinem Pantoffel – und konnte unter dem Bett keinen Tiger entdecken. Als er nach dem Pantoffel tastete, berührte seine Hand Fell und Schnurrhaare: aber beides war unsichtbar, er konnte es nur spüren, nicht sehen.
Als Alastair zufällig nach hinten in den Spiegel schaute, erblickte er darin deutlich ein großes Tigerjunges, das in aufreizender Haltung unter seinem Bett auf der Seite lag und an seinem Pantoffel nagte.
»Das ist ja eine schöne Bescherung« sagte er. »Du hast also deine Sichtbarkeit verloren! Wie hast du das denn angestellt, Henry?«
Henry schnurrte. Ein Scharren war zu hören und ließ vermuten, daß er seine Krallen am Teppich wetzte.
»Vielleicht hat er Hunger«, überlegte Alastair, während er in seine Hose schlüpfte. »Vielleicht kommt alles wieder in Ordnung, wenn er etwas gefressen hat. Einerseits ist es ja ganz gut, daß er momentan nicht sichtbar ist; so kann er Mrs. Boddity nicht erschrecken.«
Mrs. Boddity, die Köchin, war neben Alastair und einer Zugehfrau das ganze Personal, mehr gestatteten die bescheidenen Mittel und die Sparsamkeit des Herzogs nicht.
Als Alastair mit dem schnurrenden Pelzknäuel, das einen unsichtbaren Cha-cha-cha um seine Knöchel tanzte, die Küche betrat, stellte er erleichtert fest, daß Mrs. Boddity sich aus Ärger über die bevorstehende Rückkehr des Herzogs mit einer neuen Herzogin in einen ihrer Taubheitsanfälle geflüchtet hatte und nicht ansprechbar war.
Alastair öffnete die Tür der Gefriertruhe. Eine seiner weniger angenehmen Aufgaben bestand darin, den Whining-Fluß mit dem Schlagnetz abzufischen und die vielen Zentner Meeräschen, die er bei dieser Aktion herausholte, auszunehmen und als Beitrag zu den gewöhnlich nicht sehr opulenten herzoglichen Dinnerparties einzufrieren. Die Truhe enthielt genügend Fisch, um hundert Tiger zum Frühstück satt zu machen, und Henrys Schnurren dröhnte wie ein Orgelsolo in der Albert Hall.
Nach dem Frühstück gab es viel zu tun. Betten mußten bezogen, Zimmer hergerichtet, Moorhühner aufgetaut und die Lieferung Rioja angezapft und durch eine Rohrleitung zum Springbrunnen im Innenhof gepumpt werden.
»Und was gilt die Wette, daß die neue Hoheit lieber Coca Cola trinkt?« murrte Cawdkin der Gärtner, den man von seinen Rabatten weggeholt hatte, damit er mit Hand anlegte. »Sie ist noch nicht älter als zwanzig, oder?«
»Ich schätze, sie liebt alles Spanische, schließlich kommt sie doch aus Buenos Aires«, hielt Alastair dagegen und lenkte den Strom in eine Gießkanne, um den Wein zu kosten und sich zu vergewissern, daß er nicht nach Kork schmeckte. Dabei scharrte er neben sich mit dem Fuß auf dem Boden, um einen großen, feuchten Pfotenabdruck auf einem Pflasterstein zu verwischen. Henry, der ihm den ganzen Tag getreulich gefolgt war, spielte nun unsichtbar mit den Spritzern aus dem Springbrunnen.
Inzwischen hatte sich Alastair so sehr an Henrys Gesellschaft gewöhnt, daß er seine ursprüngliche Absicht, ihn in den Zoo zurückzubringen, aufgegeben hatte. Kurz vor der Ankunft des Herzogs schloß er den Tiger mit einem aufgetauten Moorhuhn in seinem Zimmer ein und huschte dann, nur um seine Neugier zu befriedigen, schnell zum Zoo hinüber.
In dem leeren Abteil neben dem Schneemenschen entdeckte er ein Schild:
TEMPELTIGER AUS MYAUNG PIR PAU
Diese von Priestern als Wächter für die heiligen Schreine gezüchteten Tiger sind mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen, können aber im Spiegel betrachtet werden. Krönchengeschmückte Taschenspiegel stehen, das Stück zu sieben Shilling Sixpence, am Drehkreuz zum Verkauf.
Der Herzog ließ wirklich keine Verdienstquelle aus.
Alastair besaß ein poliertes Zigarettenetui, und in seinem Dekkel spiegelten sich eine Tigermutter und einige schon mehr als halb ausgewachsene Jungtiere.
»Wie viele Junge haben wir eigentlich?« fragte er Mildew, den Zoowärter.
»Tja, Sir, das wissen wir nicht so genau. In der Nacht, als sie warf, hatte ich frei, und sie hat sich an meinem Assistenten vorbeigeschlichen und war für zwei Stunden verschwunden. Wir haben den Verdacht, daß vielleicht ein oder zwei von den Kleinen entkommen sind, aber das können wir nicht mit Gewißheit sagen. Bisher hat sich noch niemand beklagt, aber sie sind immerhin Menschenfresser, deshalb ist es doch ein wenig beunruhigend …«
Das Jubelgeschrei der pflichteifrigen Pächter verriet Alastair, daß der Herzog auf Sichtweite herangekommen war. Er bedankte sich bei Mildew und kehrte in aller Eile auf seinen Posten zurück.
Als der krönchengeschmückte Cadillac zum Stehen kam und sich die Tür öffnete, erlebte Alastair seinen zweiten Schock an diesem Tag. Er verliebte sich.
Anita, die dritte Herzogin Seiner Hoheit des Neunten Herzogs, war keineswegs die auffallende, schwarzhaarige, lateinamerikanische Schönheit, die er sich ausgemalt hatte. Sie war klein und bescheiden, und ihr Haar war von einem weichen Mausbraun. Aber unter Schüchternheit schien sie nicht zu leiden. Als Alastair sich verbeugte, traf ihn ein langer, bedächtiger, belustigter Blick aus ihren Augen, die fast so riesig und grün waren wie die von Henry, wenn man sie im Spiegel sah.
»Ich habe einige Ihrer Gedichte im Atlantic Monthly gelesen«, sagte sie. »Wir werden bestimmt gute Freunde werden.«
Sie sprach mit einem leichten Akzent, den Alastair, der nachdenklich die Koffer aufnahm, reizend fand, aber nur so in etwa als kolonial einzuordnen vermochte.
»Na, na, meine Liebe«, sagte der Herzog mit etwas derber Gutmütigkeit, »wenn ich mir aus einer herzoglichen Laune heraus einen Dichterling zum Servieren halte, so heißt das nicht, daß man ihn auch ermutigen sollte, für derlei Unsinn haben wir auf Whining nämlich keine Zeit. Du machst dich jetzt frisch, und dann kannst du vor dem Tee noch eine halbe Stunde lang im Wachsfigurenkabinett Ansichtskarten signieren. Ich möchte inzwischen mit Bellairs die Kasinoeinnahmen durchgehen.« Damit eilte der Herzog davon und rief Alastair nur noch zu, daß jemand beim Abstauben der Hirschgeweihe geschludert habe.
Alastair trug die Koffer Ihrer Hoheit nach oben. In seinem Herzen tobte ein Aufruhr. Er legte das Englische Trauma erst einmal beiseite und machte sich daran, lyrische Verse zu schmieden, die sie beschreiben sollten:
Klug und weise, salbeigrün!
Oh, wie diese Augen glühn!
Wie sie blicken, stolz und kühn!
»Sie können sie hier hinstellen«, sagte Ihre Hoheit und zeigte auf den Fußboden im Schlafzimmer. »O Mann, keine Tischlampe, kein Bettvorleger? Und nur so ein alter, vergammelter Teppich.«
»Bei seinen Privatgemächern ist Seine Hoheit sehr genügsam«, erklärte Alastair ein wenig steif. Dann platzte er heraus – er konnte nicht anders – »Warum, warum haben Sie ihn nur geheiratet?«
Sie war nicht etwa gekränkt, sondern sah ihn nur gedankenvoll an.
»Es ging mir nicht um sein Geld, mein Bester, glauben Sie das ja nicht. Aber ich steckte ein wenig in der Klemme. Mein Pa war gestorben, und der Hauswirt wollte mich an die Casa Roja verpfänden, das dortige Freudenhaus. Und da schien es mir ein ganz annehmbarer Ausweg, Herzogin zu werden und jeden Tag ein paar hundert Ansichtskarten zu signieren.« Sie heftete ihre Augen weiterhin nachdenklich auf Alastair und fügte schließlich hinzu: »Sie haben sich in mich verliebt, Sie alter Griesgram, stimmt’s?«
»Rettungslos«, stöhnte er. »Geht das jedem so?«
»Armer Junge. Offenbar passiert es immer den ernsten Typen wie Ihnen. Eigentlich komisch, weil ich selbst gar nicht so verdammt ernsthaft bin …«
Ein donnerndes Krachen war zu hören, die Tür sprang auf, und ein unsichtbar schnurrendes Etwas kam ins Zimmer geschossen. Henry hatte es bei seinen blankgenagten Moorhuhnknochen nicht länger ausgehalten.
»Was zum Henker ist das denn?« rief die Herzogin aus.
»Das ist mein Tiger«, erklärte Alastair hastig. Er hatte eigentlich vorgehabt, keiner Menschenseele von Henrys Existenz zu erzählen, aber die Herzogin hatte ein ganz besonderes Talent, die Beschlüsse anderer Leute umzustoßen. »Er ist unsichtbar, aber wenn Sie wollen, können Sie ihn im Spiegel sehen.«
Anita wandte sich dem Spiegel zu, und ihre grünen Augen weiteten sich entzückt.
»Oh, Socksy Boy!« Sie ließ sich mitten auf dem Teppich auf die Knie fallen und umarmte Henry, der seinen riesigen, gestreiften, unsichtbaren Kopf an ihr rieb.
Bestürzt sah Alastair, daß sie Tränen in den Augen hatte.
»Jetzt fühle ich mich schon viel besser«, sagte sie schließlich und stand auf. »Ach übrigens, weil es mir gerade einfällt, mein Süßer, könnten Sie dafür sorgen, daß Eadred und ich getrennte Betten bekommen. Getrennt«, wiederholte sie energisch und beäugte das herzogliche Himmelbett mit kaum verhohlenem Abscheu.
Alastair nickte, schluckte und verließ, Henry hinter sich herziehend, das Zimmer.
In den nächsten Wochen hatte Alastair einige Probleme, Henrys Anwesenheit geheimzuhalten.
Es war nervenaufreibend, beim Fünfuhrtee mit den Pächtern oder bei einem Dinner für den White Hunters’ Circle, dessen Vorsitzender Seine Hoheit war, die Aufsicht zu führen. Ständig mußte er die Muskeln anspannen und gewärtig sein, daß Henry ihm mit seinem mächtigen Kopf einen kräftigen Stoß gegen die Beine versetzte. Es war offenbar ein Ding der Unmöglichkeit, den Tiger einzusperren; das Schloß von Alastairs Tür hatte schon längst seinen Dienst versagt, und außerdem ging der Vorrat an Moorhühnern und Meeräschen allmählich zur Neige. Alastair hatte sich gezwungen gesehen, in der Küche und im Speisezimmer elektrische Ventilatoren aufstellen zu lassen, damit sie Henrys dröhnendes Schnurren übertönten, und mehrmals hatte die Herzogin beinahe eine Katastrophe herbeigeführt, weil sie den langen, gewölbten Korridor zu den Dienstbotenquartieren entlanggelaufen war und »Wo ist mein Socksy Boy?« gerufen hatte.
Der Herzogin fiel es schwer, sich einzuleben. Obwohl sie zuverlässig ihre Pflicht erfüllte und fünfhundert Mal am Tag ihren Namen auf Ansichtskarten setzte, sah sie blaß und kränklich aus, sie fröstelte in den zugigen Räumen, und den Haferbrei und die Meeräschen wies sie angewidert zurück. Alastair und Henry waren ihre einzigen Freunde, und diese Freundschaft war nicht ohne Risiko.
Alastair dachte mit Schaudern daran, was geschehen würde, wenn der Herzog, der seit seiner Rückkehr besonders sadistisch und mißgelaunt war, Alastair vor den White Hunters mit seinen Gedichten aufzog und abfällige Bemerkungen auf Anitas Kosten machte, von der Existenz dieses Schoßtiers erfuhr. Die Beziehungen zwischen Herzog und Herzogin schienen sich mit beunruhigender Rasanz zu verschlechtern.
Eines Tages, als Alastair gerade Cocktails verteilte, hörte er die letzten Worte eines Streits:
»Ich gebe dir noch Zeit bis zum Ende der Wintersaison – aber nicht länger. Und auch das nur aus einem Grund – ich möchte nämlich, daß du dich an den Tagen für Spezialisten – am ersten Mittwoch jedes Monats – als Herrin von Whining verkleidest. Aber danach ist Schluß mit dem Unsinn. Ich brauche einen Erben.«
»Das ist dein gutes Recht«, sagte Anita, aber es klang ziemlich kleinlaut. Henry, der Alastair mit seinem Cocktailtablett begleitet hatte, rieb sich an ihren Knöcheln, und sie kraulte ihm den Kopf, um sich zu trösten, und flüsterte: »Wo ist denn mein schöner Socksy Boy?«
Alastair flüchtete hastig aus dem Raum. Nach einer Weile folgte ihm der Tiger. Sein Schwanz war feucht, als hätte ihn sich jemand ausgeborgt, um sich damit verstohlen ein paar Tränen abzuwischen.
Es änderte auch nichts an Alastairs Schwierigkeiten, daß ihn die Liebe zu Anita beinahe um den Verstand brachte. Manchmal, in Augenblicken aberwitziger, durch gelegentliche, besorgte Blicke aus ihren grasgrünen Augen entfachter Hoffnung, war er fast versucht zu glauben, daß sie seine Gefühle erwiderte.