Jane Fairfax - Joan Aiken - E-Book

Jane Fairfax E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Gemäß Jane Austens Emma war Jane Fairfax musikalisch, vielseitig begabt und elegant. Aber wie verliefen ihre Jugendjahre als Waise, wie verlief ihre Kinderfreundschaft mit Emma Woodhouse, und ­ viel wichtiger ­ was passierte bei ihrem Sommeraufenthalt in Weymouth? Nach Janes Rückkehr ins Provinzstädtchen Highbury bieten zahlreiche gesellschaftliche Anlässe Emma beste Gelegenheiten für Nachforschungen.

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Joan Aiken

Jane Fairfax

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Diogenes

Für Liz Francke

in Neuseeland

Erstes Buch

1

Die Vermählung von Miss Jane Bates mit Leutnant Fairfax war von den üblichen glückverheißenden Vorzeichen begleitet: Kirchenglocken läuteten, die Sonne schien, und viele Taschentücher wurden geschwenkt. Doch leider hielten diese Vorzeichen nicht, was sie versprachen, denn der Leutnant, ein vortrefflicher Offizier und überaus verdienstvoller junger Mann, wurde nur drei Wochen nach der Eheschließung mit seinem Regiment ins Ausland verlegt und fiel, ehe er seine Heimat und die inzwischen geborene kleine Tochter noch einmal hatte wiedersehen können. Seine junge Witwe, die unter der doppelten Belastung des Kummers und einer zehrenden Krankheit ihr Ende nahen fühlte, befahl das vaterlose Kind der Obhut ihrer betagten Eltern, denn Leutnant Fairfax selbst hatte keine Angehörigen.

Hochwürden George Bates, Pfarrer von Highbury, damals schon ein alter Herr und von angegriffener Gesundheit, war den ungewohnten Aufregungen und Strapazen nicht gewachsen, die eine lebhafte Vierjährige in seinen ruhigen Haushalt brachte; ein akuter Anfall des Bronchialleidens, das ihm schon seit langem zu schaffen machte, setzte sehr bald seinem Leben ein Ende. Die Witwe und seine unverheiratete Tochter (die sehr viel älter war als ihre Schwester Jane) mußten daraufhin das Pfarrhaus verlassen und sich, da der Pfarrer, ein Mann von scharfem Verstand, aber unsicherem Urteilsvermögen, zu impulsiver, gedankenloser Großherzigkeit geneigt und die beiden sehr schlecht versorgt zurückgelassen hatte, ein notgedrungen äußerst bescheidenes Quartier suchen. Sie bezogen das Obergeschoß eines Hauses an der Hauptstraße des Dorfes Highbury; im Erdgeschoß wohnte ein Barbier, der dort auch seinen Laden hatte, ein Garten war nicht vorhanden. Das Dorf selbst allerdings befand sich in ansprechender, offener Lage in der reizvollen Grafschaft Surry, und die Befürchtungen, das kleine Mädchen habe möglicherweise die Lungenschwäche geerbt, die ihre unglückliche Mutter und ihren Großvater dahingerafft hatte, erwiesen sich bald als unbegründet. Eine in die Enkelin vernarrte Großmutter und liebevolle Tante taten für das Kind, was in ihren Kräften stand, und alles sprach dafür, daß Klein-Jane ihr ganzes künftiges Leben in Highbury verbringen und nur so viel lernen würde, wie die nur sehr beschränkt zur Verfügung stehenden Mittel erlaubten, fehlte es doch ganz an Verbindungen oder Weiterbildungsmöglichkeiten, um das zu fördern und zu vertiefen, was die Natur ihr an Verstand und angenehmem Wesen geschenkt hatte.

Daß die Kleine weit überdurchschnittliche Anlagen und Fähigkeiten besaß, blieb weder ihren zärtlichen Verwandten noch den weniger parteiischen und deshalb klarsichtigeren Nachbarn verborgen, und bald kam man ihr auf verschiedene Weise zu Hilfe, soweit sich dies ohne Kränkung bewerkstelligen ließ. Mrs. Pryor, die Frau des neuen Pfarrers, deren vier Kinder in jungen Jahren an der Cholera gestorben waren, erklärte sich gern bereit, die kleine Jane im Schreiben und Rechnen zu unterrichten, und fand in ihr eine eifrige und gelehrige Schülerin. Ebenso willkommen war die eher praktische Unterstützung, die Janes Angehörige durch die führende Familie des Ortes erfuhren: Mr. und Mrs. Woodhouse steuerten Kleidungsstücke bester Qualität bei. Die beiden Töchter des Hauses waren größer als die verwaiste Jane; Isabella, die Erstgeborene, war sieben Jahre älter, und Emma Woodhouse, im gleichen Alter wie Jane, war so groß und kräftig, daß sie mindestens zwei Jahre älter wirkte.

Mit dem Weiterreichen der ausgewachsenen Kleidungsstücke war so früh begonnen worden – zu einer Zeit, da die Kinder den Unterschied zwischen Getragenem und Neuem noch gar nicht erfassen konnten –, daß es für die Mehrzahl der Beteiligten bald zur selbstverständlichen Gewohnheit wurde. Das Vorgehen war so vernünftig, die Absicht so gut, daß keiner der Erwachsenen auch nur auf die Idee kam, darüber nachzudenken, wie einem stolzen, sensiblen Kind wohl zu Mute sein mochte, wenn es sich auf der Dorfstraße ständig in – zugegebenermaßen bestens erhaltenen – Hauben, Stiefeln und Mäntelchen zeigen mußte, die den Nachbarn von den Woodhouse-Töchtern her wohlbekannt und die ursprünglich nach dem Geschmack und den Maßen eines anderen Kindes ausgewählt worden waren.

»Der kirschrote Musselin steht dir viel besser zu Gesicht als Emma Woodhouse, besonders jetzt, wo er ein bißchen ausgeblichen ist«, sagte dann wohl eine alte Dame, wenn sie die kleine Jane auf ihrem täglichen Weg zum Unterricht im Pfarrhaus traf, oder: »Meiner Seel, Kind, du mußt wirklich schauen, daß du ein bißchen schneller wächst! Ich erinnere mich noch gut, wie Isabella als Vierjährige in dem Mäntelchen da herumgelaufen ist, und dir paßt es immer noch, obgleich du schon sechs geworden bist.«

In der Tat war die kleine Jane jahrelang sehr zierlich für ihr Alter, was möglicherweise auf ihre recht beengten und stickigen Wohnverhältnisse zurückzuführen war. Zu jener Zeit war sie ein mageres, brünettes Kind mit leiser Stimme, das immer erschrekkend blaß war. Allein die großen, ausdrucksvollen dunklen Augen, ein Erbteil ihres Vaters, deuteten auf mögliche spätere Schönheit hin. Kein Tag verging, an dem ihre Tante Hetty nicht Klage über Janes langes glattes Haar geführt hätte, wohingegen ihre ähnlich lang ausgefallenen Hände, Füße und Gliedmaßen die Hoffnung aufkommen ließen, an Janes kleinem Wuchs werde sich in späteren Jahren noch etwas ändern.

Jane selbst klagte nie, wenn die Ballen mit gebrauchter Kleidung unten beim Barbier abgeliefert wurden, sondern sah stumm zu, wie Tante und Großmutter eifrig die Köpfe zusammensteckten und berieten, welche Stücke geflickt und neu gefüttert werden mußten und wo es zweckmäßig schien, die Ärmel des einen Kleides an das Oberteil eines anderen zu nähen. Fügsam und geduldig stand sie da, während Röcke anprobiert und abgenäht, gekürzt und mit breiten Säumen versehen wurden. Nur manchmal entschlüpfte ihr unversehens ein kaum vernehmlicher Seufzer. Und als einmal ihre Großmutter nachdenklich bemerkte: »Es nimmt mich doch wunder, daß die arme, liebe Mrs. Woodhouse Klein-Emma so oft in dieses besonders grelle Flohgelb steckt, ich kann die Farbe nicht sehr kleidsam finden«, hörte man Klein-Jane ein nachdenkliches »Ich auch nicht!« murmeln. Tante Hetty, eine grundgütige Seele, aber weder mit besonderen Geistesgaben noch mit großem Scharfblick gesegnet, machte sich niemals Gedanken darüber, warum Jane manchmal vor der Tuch- und Modewarenhandlung von Ford sehnsüchtig den Schritt verhielt und die dort ausgestellten Waren bewunderte. Sie war von Herzen dankbar dafür, daß ihr Liebling ohne großen Kostenaufwand so gut und warm gekleidet werden konnte, und Jane, deren Verstand und Beobachtungsgabe weit über ihre Jahre hinaus entwickelt waren, begriff sehr rasch, wie knapp es bei ihnen zu Hause zuging und daß jeder Halfpenny mehrmals umgedreht werden mußte. Noch nie im Leben hatte sie etwas getragen, was ganz allein und ausschließlich ihr gehörte.

Die Gutherzigkeit von Mr. und Mrs. Woodhouse erstreckte sich nicht nur auf abgelegte Kleidung, sondern sie ließen Jane noch eine andere Wohltat zukommen, die diese weit höher zu schätzen wußte.

Mrs. Pryor hatte ihrer gelehrigen Schülerin unter anderem auch Kinderlieder und Balladen beigebracht und schnell festgestellt, daß die Kleine eine liebliche Stimme und ausgeprägte Musikalität besaß. Sie faßte sich deshalb ein Herz und fragte die wohlmeinende Mrs. Woodhouse, ob Signor Negretti, der zweimal in der Woche aus London kam, um Isabella und Emma Klavierstunden zu geben, nicht auch Jane in seine musikalische Obhut nehmen könne. Auf diesen ebenso vernünftigen wie zweckmäßigen Vorschlag ging Mrs. Woodhouse sofort ein, und so wurde denn Jane jeden Dienstag und Donnerstag von der Magd Patty bis zum Nebeneingang von Hartfield gebracht, dem großen, stattlichen Haus am Rande von Highbury, das Mr. Woodhouse mit seiner Familie bewohnte.

Bald waren diese beiden Tage für Jane die schönsten der ganzen Woche.

Die besondere Veranlagung von Mr. Woodhouse, der ein nervöser Mann war und dessen nie sehr gehobene Stimmung leicht durch unwillkommene Geräusche (wie das Klimpern kleiner Händchen und die ständige Wiederholung von Fingerübungen auf dem Pianoforte) getrübt werden konnte, hatte die Anschaffung eines zweiten Instrumentes notwendig gemacht, das ausschließlich für die Unterrichts- und unvermeidlichen Übungsstunden der Kinder bestimmt und so weit von jenen Räumen entfernt war, die der Hausherr normalerweise benutzte, daß ihm die Klänge keine Pein bereiteten. Die Wahl war auf eine unbenutzte Vorratskammer neben dem Zimmer der Haushälterin gefallen, und bald konnte sich Jane an diesen Zufluchtsort zurückziehen, wann immer es ihr beliebte, denn die beiden Woodhouse-Töchter machten ihr den Raum selten, ja eigentlich so gut wie nie streitig, und da sie das Haus durch den Nebeneingang betrat, brauchte sie im allgemeinen auch keine Begegnung mit Dienstboten oder Familienmitgliedern zu fürchten. Viele Stunden verbrachte Jane hier in glückseliger Einsamkeit, und diese Erfahrung war von entscheidendem Einfluß auf ihren Charakter und späteren Lebensweg.

Nach einem Jahr trug Signor Negretti zur großen Verwunderung des ganzen Ortes Mrs. Woodhouse die Bitte vor, Jane Einzelunterricht erteilen zu dürfen, da sie ihre beiden Mitschülerinnen – sogar die dreizehnjährige Isabella – inzwischen weit überflügelt hatte.

»Und ich würde mich schätzen glücklich, zu unterrichten die junge Dame gratis, umsonst«, erklärte der begeisterte Lehrmeister, dem natürlich die Umstände seiner Schülerin nur zu gut bekannt waren, »denn ihr Talent ist erstaunlich, ist überaus wunderbar.«

Von einem solchen Angebot wollte verständlicherweise die großzügige Familie Woodhouse nichts hören. Man sei nur zu gern bereit, dem lieben Kind die Stunden zu ermöglichen, es sei ja eine große Freude, von diesem Talent zu erfahren, besonders da es Jane später in den Stand setzen würde, sich auf ehrbare Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Miss Isabella Woodhouse war eine beklagenswert unmusikalische junge Dame. Der Tag, an dem ihr nach langem Bitten und Betteln die Eltern gestatteten, den Unterricht bei Signor Negretti aufzugeben, war der glücklichste ihrer Kindheit. Ihre jüngere Schwester Emma allerdings hatte eine recht nette musikalische Begabung und guten Geschmack. Wenn sie sich ein wenig Mühe gab, konnte sie ganz reizend spielen. Es war ein großer Jammer und trieb ihren Lehrer zur Verzweiflung, daß sich ihr Fleiß so selten und so unregelmäßig zeigte. »Ach, Miss Emma«, klagte er Woche für Woche, »wenn Sie doch nur so eifrig üben würden wie die kleine Miss Jane.«

Diese Äußerungen kamen Jane natürlich nicht zu Ohren, doch fiel ihr auf, daß der Lehrer, der stets erschöpft und entmutigt wirkte, wenn sie das Musikzimmer betrat und Emma erleichtert davonhüpfte, sich im Lauf ihrer Unterrichtsstunde merklich erholte und besser gelaunt schien.

Emma Woodhouse war zu jener Zeit ein hübsches, fröhliches Kind von unkomplizierter Wesensart. Die sanfte, empfindsame Mutter achtete sehr darauf, daß sie sich bei aller liebenswürdigen Sorglosigkeit bester Umgangsformen befleißigte. Nach und nach begriff Emma sehr wohl, was von ihr gegenüber anderen Menschen, die in weniger günstigen Umständen aufgewachsen waren, erwartet wurde, aber Einfühlsamkeit war ganz entschieden nicht ihre Stärke. Und daß man ihr Woche für Woche ein Kind als leuchtendes Beispiel vor Augen hielt, das ihr in jeder anderen Hinsicht – in Herkunft, Aussehen, Wohnverhältnissen und Umgangsformen – so offensichtlich unterlegen war und noch dazu stets in Emmas abgelegten Sachen herumlief, fand sie verwunderlich und ebenso schwer zu ertragen wie zu begreifen, ja, es war so mit das Schwierigste, was ihr in ihrem sonst so verwöhnten und behaglichen Dasein je begegnet war.

So bestand denn nach wie vor die Verbindung zwischen den beiden Kindern lediglich darin, daß sie zweimal in der Woche denselben Klavierlehrer hatten. Zu einer spontanen Freundschaft war es nie gekommen.

»Sollen wir dir nicht die kleine Jane Fairfax mal zum Spielen einladen, Emma?« fragte hin und wieder Mrs. Woodhouse vorsichtig, deren unter Berücksichtigung der so unterschiedlichen Lebensformen ebenso wohlmeinende wie herzliche Beziehung zu Mrs. und Miss Bates bis in die Zeit zurückreichte, da der frühere Pfarrer noch gelebt hatte. Darauf pflegte Emma zu antworten: »Muß denn das sein, Mama? Jane ist so steif und langweilig, sie weiß über nichts zu reden außer über Bücher.«

»Ja, aber das kommt daher, Liebchen, daß die arme Jane ein so enges, eingeschränktes Leben führt. Ständig sitzt sie mit ihrer Tante und ihrer Großmutter in drei kleinen Stuben zusammen. Die beiden mögen lieb und gut sein, aber es sind eben keine jungen Leute mehr. Du dagegen hast die liebe Bella, die dir immer neue Spiele beibringt, Papa und ich nehmen dich mit, wenn James uns ausfährt, und in unserem großen Garten kannst du tollen und herumspringen. Denke nur, wieviel glücklicher du dran bist als die arme Jane.«

Doch solche Argumente haben bei der Jugend wenig Gewicht, und Sympathien lassen sich nicht erzwingen. Wenn man von ihrem Alter absah, waren die beiden Kinder in der Tat vom Wesen her so unterschiedlich, daß es schon eines außergewöhnlichen Ereignisses bedurfte, um eine engere Beziehung herbeizuführen.

Mrs. Woodhouse besaß ein zu gütiges Wesen und auch zu viel gesunden Menschenverstand, um in dieser Sache ihrer sehr eigenwilligen jüngeren Tochter gegenüber die mütterliche Autorität herauszukehren, zumal der Nutzen einer solchen Unternehmung für beide Mädchen doch eher fragwürdig war. Täte man denn der kleinen Jane Fairfax wirklich einen Gefallen, wenn man in ihr Geschmack an einem großzügigeren, angenehmeren Leben weckte, das ihr, die ihr künftiges Dasein im Dienst fremder Menschen verbringen würde, gewiß später nie mehr beschieden wäre? Und wäre es von Vorteil für die schon jetzt ein wenig zu selbstbewußte kleine Emma, wenn man ihr Gelegenheit gab, einem stillen, sanften, zurückhaltenden Kind ihren Willen aufzuzwingen, von dem sie ohne weiteres annehmen mußte, daß es ihr aufgrund seiner bescheidenen Herkunft unterlegen war?

In ihrer Sorge, Jane zu schützen, bedachte Emmas Mutter nicht, daß möglicherweise umgekehrt ein Schuh daraus geworden wäre, daß nämlich Jane aufgrund ihrer überragenden geistigen Gaben in der Lage gewesen wäre, Emma einen durchaus heilsamen Dämpfer zu versetzen.

Die Frage nach dem Wert einer Freundschaft zwischen diesen beiden doch recht einsamen Kindern trat für Mrs. Woodhouse in dem Maße zurück, als größere Sorgen sie beschäftigten, insbesondere die wohlbegründete Angst um ihre Gesundheit und gewisse Zweifel, ob ihr Mann, ein lieber, gutherziger, aber schwacher Mensch, die Lasten des Hauswesens würde auf sich nehmen können, falls sie genötigt wäre, längere Zeit das Bett zu hüten.

Sie erwartete ihre Niederkunft, die, ging man nach den beiden vorausgegangenen Geburten, schwierig, ja, gefährlich werden konnte. Ihre Konstitution war nicht die stärkste. Vor diesem Ereignis gab es noch vieles zu regeln, und so trat das Bemühen in den Vordergrund, jede Unruhe im Haus zu vermeiden, die sicherlich eingetreten wäre, wenn man Klein-Emma gezwungen hätte, etwas zu tun, was ihr mißfiel. Mrs. Woodhouse machte keinen Versuch mehr, das durchzusetzen, was sie insgeheim und instinktiv für richtig und nutzbringend erachteten – nämlich eine Freundschaft zwischen den beiden kleinen Mädchen. Der unausgesprochene Wunsch aber wurde durchaus empfunden und mag, wie es bei solchen Dingen geht, ihre Tochter in der entgegengesetzten Richtung beeinflußt haben.

Mr. Woodhouse, selbst ständig kränkelnd und in Sorge um seine eigene Gesundheit, litt Qualen, wenn er die Indisposition anderer mitansehen oder sich auch nur vorzustellen genötigt war. Seine Frau, die sich immer öfter außerstande sah, die von ihrem Mann so geschätzten heiter-lebhaften Gespräche zu führen, zog sich nun häufig, Haushaltspflichten vorschützend, in das Zimmer der Haushälterin zurück, wo Mrs. Hill, eine gütige und trotz ihrer einfachen Herkunft sehr verständnisvolle Frau, ihre Herrin den Tröstungen der Musik überließ. Denn wenn die Tür einen Spalt breit offen blieb, hörte man von hier aus Jane am Klavier, was Mrs. Woodhouse immer große Freude bereitete. Eine gute halbe Stunde hörte sie sich an, was Jane gerade spielte – Haydn, Scarlatti oder Cramer –, um sich dann, gestärkt und mit neuer Hoffnung, wieder den Ansprüchen ihres Mannes zu widmen.

 

Im Oktober, nach einer heillos verpfuschten Entbindung, wurde Mrs. Woodhouse zusammen mit ihrem dritten, totgeborenen Kind auf dem Friedhof von Highbury feierlich zu Grabe getragen. Das Unglück traf ihren Mann so schwer, daß er drei Wochen das Bett hüten mußte. Als er wieder aufstehen konnte, war er gramgebeugt und sah zehn Jahre älter aus, sein Haar war weiß geworden, sein Schritt schwankend und unsicher.

Die dreizehnjährige Isabella hatten gütige Verwandte mit nach Kent genommen, die sechsjährige Emma aber weigerte sich, das Haus zu verlassen und sich in die Verbannung schicken zu lassen. Sie trat um sich, sie schrie, sie weinte, sie wütete – kurzum, sie benahm sich so abscheulich, daß die Verwandten ihre Einladung eiligst zurücknahmen, da sie es sich nicht zutrauten, mit dem Kind fertig zu werden.

»So habe ich sie noch nie erlebt«, sagte Mrs. Hill, die Haushälterin, deren Obhut Emma notgedrungen übergeben werden mußte.

So verbrachte die unglückliche Waise denn einige Tage in völliger Abgeschiedenheit, und es blieb dem Mitgefühl und der Tatkraft des jungen Mr. Knightley vorbehalten, der ein Freund und Nachbar der Familie und ein verständiger, wohlmeinender Mann Ende zwanzig war, sich auf die Suche nach einer kurzfristig verfügbaren Gouvernante zu machen, welche die kleine Emma unter ihre Fittiche nehmen konnte.

Glücklicherweise kannten die Pryors eine junge Dame, die für diese Aufgabe wie geschaffen schien. Sie hatte kürzlich – nicht durch eigenes Verschulden, sondern weil die Familie ins Ausland ging – ihre erste Stellung in Weybridge verloren und konnte innerhalb einer Woche den Dienst in Hartfield antreten. Bald war sie aus der Familie nicht mehr wegzudenken. Es schien fast, als habe Emma die eigene Mutter vergessen, so eng schloß sie sich an die liebe Miss Taylor an, die ihr in großzügigster Weise all das an Zuwendung und zärtlicher Liebe schenkte, was ein Kind normalerweise von der Mutter erwarten darf, wobei sich ungünstig auf ihre künftige Entwicklung allenfalls auswirkte, daß man ihr – wie schon zuvor – etwas zu sehr den Willen ließ.

Bald hatte sie die bösen Tage vor Miss Taylors Ankunft vergessen oder zumindest aus ihrer Erinnerung verdrängt.

Am ersten dieser Tage war unangemeldet die kleine Jane Fairfax in Hartfield aufgetaucht. Natürlich hatte man im Dorf in gedämpftem Ton und mit der gebotenen Feierlichkeit über das Ableben der gütigen Mrs. Woodhouse gesprochen. Doch liegt es nun einmal in der Natur von Kindern, daß sie fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind, und so hatte Jane in diesem Ereignis keine Auswirkungen auf ihr eigenes Tun und Treiben gesehen. Sie war gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß durch den Todesfall der Unterricht bei Signor Negretti ausfallen könnte. Seit fast einem Jahr ging sie jetzt schon ohne Begleitung nach Hartfield, wann immer ihr der Sinn danach stand. Patty, die einzige Hilfe ihrer Großmutter, hatte täglich tausenderlei zu tun, und der Weg durchs Dorf war so kurz, daß niemand sich Sorgen um das Kind machte. Auch ihre Tante kam nicht auf die Idee, ihr zu sagen, daß zur Zeit an die gewohnten Klavierstunden nicht zu denken war. So lief sie voller Vorfreude über den von Lorbeerbüschen gesäumten Gartenweg von Hartfield, wo sich ihr plötzlich ein so ungewohnter Anblick bot, daß sie wie angewurzelt stehenblieb. Auf der breiten Bank, die sich um die große Zeder zog, saß wie ein Häuflein Elend Emma Woodhouse.

Nicht genug damit, daß man Emma sonst um diese Tageszeit nie im Garten antraf – nein, Jane sah an diesem Tag auch eine Emma vor sich, die sie so noch nie erlebt hatte, ja die sie sich so in ihren kühnsten Träumen nie vorgestellt hätte: ein jammervolles, zerknittertes, tränenüberströmtes kleines Wesen mit blassen, verschmierten Wangen, gelösten Schuhbändern, strähnigem, nur flüchtig gekämmtem Haar und – was wohl das Erstaunlichste war – nicht fein und geschmackvoll gekleidet wie sonst, sondern in einem schlichten, unkleidsamen schwarzen Wollgewand, das ihr mindestens zwei Nummern zu groß war. (Es hatte ursprünglich Isabella gehört, für die es vor vier Jahren angefertigt worden war, als man ihren Großvater zu Grabe getragen hatte, und bislang war noch keine Zeit gewesen, es zu ändern.)

»Ach … Emma«, stotterte Jane und blieb unentschlossen stehen. »Verzeih … ich wußte nicht … das heißt, ich hatte gehört, du wärst in Kent …«

Sie war schon auf dem Sprung, hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre nach Hause gelaufen, denn bei früheren Begegnungen hatte Emma stets eine deutlich ablehnende Haltung eingenommen. Aber … vielleicht war es diesmal anders?

Emma sah auf. Die braunen Augen waren gerötet und unter den geschwollenen Lidern kaum noch zu sehen. »Jane, Jane, meine Mutter ist tot«, stieß sie verzweifelt hervor. »Mama ist tot! Was soll ich nur ohne sie machen?«

Dieser Ausbruch berührte Jane sehr. Daß Emma, stets von lieben Menschen, von Wohlleben, von Zuneigung umgeben, so stark unter Einsamkeit zu leiden schien, war schon sehr sonderbar.

»Aber … du hast doch noch deinen Papa … Mr. Woodhouse …«

»Ja, aber der liegt im Bett und weint, und wenn ich zu ihm gehe, schickt er mich gleich wieder weg, zu Mrs. Hill.«

»Ja, aber Mrs. Hill … und Serle … und James und deine Zofe Rebecca …«

»Das sind doch bloß Dienstboten.«

»Und deine Schwester … Miss Isabella …«

»Die ersetzt mir nicht die Mama. Außerdem ist sie in Kent.«

Dagegen ließ sich nichts sagen.

»Was soll ich nur tun, Jane«, rief Emma. »Was soll ich nur tun?«

Einem so schlichten, so tief empfundenen Hilferuf hätte sich niemand verschließen können, am allerwenigsten Jane, die zwar keine deutliche Erinnerung an ihre Mutter mehr hatte, der aber das Schmerzliche des nur wenige Jahre zurückliegenden Verlustes noch sehr gegenwärtig war. Sie dachte daran, wie gütig, sanft und fürsorglich Mrs. Woodhouse immer gewesen war. Nicht selten war sie kurz zu ihr ins Musikzimmer gekommen und hatte ihr ein liebes, anerkennendes Wort gesagt.

Ohne sich auch nur eine Sekunde zu besinnen, lief sie zu der Bank unter der Zeder, schlang die Arme um Emma und drückte sie an sich. »Arme, arme Emma«, rief sie. »Es tut mir ja so leid. Es ist ganz, ganz schrecklich für dich.«

Dieses so spontan, warmherzig und völlig aufrichtig geäußerte Mitgefühl war in diesem Augenblick die beste Medizin für Emma. Sie legte ihren Kopf an Janes Schulter und weinte minutenlang bitterlich.

»Was soll ich nur tun?« wiederholte sie immer wieder. »Wer wird sich um mich kümmern? Mr. Knightley hat Papa sagen lassen, daß er eine Gouvernante für mich sucht! Eine Gouvernante! Bestimmt ist sie schrecklich. Wie kann sie je Mamas Stelle einnehmen?«

»Wenn sie schrecklich ist«, sagte Jane tapfer, »stehe ich dir bei.«

Die Vorstellung, Emma tatsächlich von Nutzen sein zu können, tat ihr wohl.

»O ja«, rief diese. »Tu das. Wir wollen Freundinnen sein, für immer und ewig, ja? Und uns all unsere Geheimnisse erzählen.«

»Ja, alle«, versprach Jane, in deren Leben es keinerlei Geheimnisse gab. »Und uns immer ganz, ganz liebhaben. Und nie böse oder unfreundlich zueinander sein.«

Nachdem dieses Versprechen viele Male bestätigt worden war, schmiegten sie sich aneinander wie zwei halbflügge Vögel, die der Wind aus dem Nest geweht hat, bis Serles Ruf: »Miss Emma! Miss Emma! Wo stecken Sie denn? Seien Sie brav und kommen Sie ins Haus zum Essen!« Emma hochscheuchte und die beiden kleinen Mädchen vorübergehend trennte.

Jane, die gar nicht gemerkt hatte, wie spät es geworden war, kehrte tief in Gedanken nach Hause zurück, um ebenfalls ihr Abendessen einzunehmen. Doch schritt sie ungewöhnlich flott aus und hielt den Kopf hoch erhoben. Herzliches Mitgefühl für Emmas Leid mischte sich in ihrer Brust mit leise staunender Freude über diese Freundschaft, von der sie nie zu träumen gewagt hätte und die ihr nun wie ein Geschenk des Himmels ohne ihr Zutun in den Schoß gefallen war. Eine Freundin! Emma Woodhouse hat mir ihre Freundschaft angeboten, dachte Jane. Jetzt werden wir viele wunderschöne Sachen zusammen machen können.

Spazierengehen … vielleicht kommt Mr. Knightley mit, er mag Emma so gern … sie wird mich manchmal daheim besuchen, sich die Zeichnungen ansehen, die ich für Mrs. Pryor gemacht habe, und meine Papierpuppen, und Tante Hetty wird sicher gern einen ihrer süßen Kuchen für uns backen. Wir können Teegesellschaften geben mit Tassen aus Eichelnäpfchen, und unter dem Tisch mit dem roten Tischtuch Hausfrau spielen.

Um für all diese Freuden gerüstet zu sein, sammelte sie viele Eichelnäpfchen und bettelte so lange, bis Tante Hetty ihr einen neuen Satz Püppchen ausschnitt.

Doch ehe all diese Pläne verwirklicht werden konnten, mußte Emmas Trauergarderobe angefertigt werden. Sie könne doch nicht im Dorf herumlaufen wie eine Vogelscheuche, sagte sie, in Sachen, die ihr noch nicht mal richtig paßten. Dies war eine Empfindung, die Jane sehr gut nachfühlen konnte.

Sechs Tage hintereinander ging Jane, in dieser verdienstvollen Absicht von Tante und Großmutter aufs Lebhafteste ermutigt, nach Hartfield, wo die Kinder sich – meist im Garten, denn das Wetter war schön und mild – mit ›Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst‹, Scherzfragen und anderen ruhigen Zerstreuungen beschäftigten, die in der Trauerzeit als zulässig galten. Auf Karten, Gesellschaftsspiele, Puppen und ähnliches mußten sie natürlich vorläufig verzichten.

Jane hatte zunächst vorgeschlagen, Verstecken zu spielen. Seit ihrem ersten Besuch auf Hartfield war es ihr sehnlichster Wunsch gewesen, die Gartenanlagen zu erkunden. Nachdem sie jetzt zum ersten Mal ganz nach Lust und Laune in den Staudenpflanzungen, den Alleen und den naturbelassenen Teilen des ausgedehnten Parks herumstreifen durfte, hatte sie festgestellt, daß sie ein beachtliches Talent dafür hatte, verblüffende Plätze als Versteck zu finden – das Efeugeschlinge an einer Mauer, die bemooste Nische über einem Löwenkopfbrunnen oder die Astgabel einer alten Weide. Doch das Versteckspiel erwies sich als unbefriedigend, da es mit langen Phasen einsamen Wartens oder einsamer Suche nach der Mitspielerin verbunden war und Emma dann rasch gelangweilt und gereizt war. Wenn Emma selbst mit Suchen an der Reihe war, verlor sie schnell die Lust daran. Mußte sie sich verstecken, ließ sie sich ungeduldig aus ihrem Versteck heraus vernehmen: »Hier bin ich, Jane! Hier bin ich! Komm und such mich! Hierher, Jane!«

Und wenn dann Jane bei ihr angelangt war: »Ich hab dieses Spiel satt. Spielen wir etwas anderes. Laß uns Hochzeit spielen.« Als Gastgeberin konnte natürlich Emma bestimmen; auch Jane wußte, was sich gehörte. Doch sie fand das Hochzeitsspiel, bei dem es darum ging, sämtliche Bewohner von Highbury angemessen zu verheiraten, unerträglich fad und öde.

Stundenlang saßen sie zusammen in der Sommerlaube und besprachen die Hochzeitsfeierlichkeiten in allen Einzelheiten. Jane, die noch nie eine Hochzeit miterlebt hatte, staunte manchmal nicht wenig über Emmas Kenntnis der Materie.

»Und was ist mit Mr. Knightley? Wen soll er heiraten?« fragte sie, ein Gähnen unterdrückend, als die Damen Cox, die Gilberts und die Otways abgehandelt worden waren – mit Chorälen, Handschuhen, Brautsträußen, Spitzenbesätzen, weißem Satin, Liebesszenen, Anträgen und Geschenken.

»Mr. Knightley? Der ist doch viel zu alt zum Heiraten. Bei seinem Bruder, Mr. John, habe ich mir manchmal überlegt … aber Mr. Knightley ist viel zu alt. Und Mr. Weston ebenfalls. Außerdem ist Mr. Weston Witwer, er war schon mal verheiratet …«

Emmas Stimme kam ein bißchen ins Schwanken. Mr. Weston hatte seine junge Frau durch den Tod verloren, und das war ein Thema, das ihrem eigenen Kummer gefährlich nahe kam. Jane begriff und sagte rasch: »Wie ist es mit Miss Bickerton, der jungen Dame, die Haustochter in Mrs. Goddards Schule ist? Welchen Mann würdest du ihr geben?«

»Miss Bickerton? Die ist kaum älter als meine Schwester … viel zu jung zum Heiraten. Außerdem wird sie wohl Lehrerin werden müssen. Oder eine alte Jungfer. Mrs. Goddard hat Papa erzählt, daß sie keine Angehörigen hat, sondern eine wohltätige Einrichtung das Schulgeld für sie zahlt.«

Diese gedankenlose Bemerkung brachte Jane zum Schweigen. So jung sie war, hatte sie doch schon begonnen, Überlegungen über ihre eigene Zukunft anzustellen, die sie recht bedenklich stimmten.

»Wen könnten wir noch heiraten lassen?« fragte Emma, ihrerseits gähnend. »Komm, Jane, laß dir was einfallen. Du bist so still, du hast nie eigene Ideen.«

»Ich bin still?« fragte Jane überrascht.

»Ja. Zu still.«

Jane überlegte einen Moment. »Das kommt wohl daher«, sagte sie dann, »daß Tante Hetty so viel redet.«

 

Am nächsten Morgen beim Frühstück war Tante Hettys gewohnter Redefluß erstaunlicherweise versiegt. Als Grund dafür machte Janes scharfer Blick einen langen weißen Umschlag mit rotem Amtssiegel aus, den Patty von der Post mitgebracht hatte. Ausnahmsweise bemühte Tante Hetty sich nicht, Jane zu einem zweiten Butterbrot zu überreden. Ihre Bitte, aufstehen zu dürfen, um sich für den täglichen Besuch in Hartfield bereit zu machen, wurde zerstreut gewährt, und während sie ihren Mantel anzog (denn morgens war es jetzt schon kühl), hörte sie ihre Tante leise sagen: »Ob nicht das Kind in Kenntnis gesetzt werden müßte? Was meinst du, Mutter? Wirklich sehr gütig. Und so unerwartet. Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll …«

Darauf Janes Großmutter: »Vielleicht warten wir besser, bis wir jemanden zu Rate gezogen haben, der sich in diesen Dingen besser auskennt. Es mag unsere gesetzliche Pflicht sein, es ihr zu sagen … aber wenn wir vielleicht Mr. Knightley … oder Mr. Pryor …«

»Geh nur, Kind«, sagte Tante Hetty. »Lauf zu, Jane. Emma wartet gewiß schon ungeduldig auf dich …«

Doch an jenem Vormittag spürte Jane mit dem feinen Takt von Menschen, die viel allein sind, eine Veränderung bei Emma, eine gewisse Kühle in ihrer Begrüßung.

»Da bist du ja, Jane«, sagte sie lustlos. »Wie kalt es heute ist. Was wollen wir machen, um uns warm zu halten?«

»Sollen wir im Haus bleiben? Wir könnten ins Musikzimmer gehen und vierhändig spielen.«

Dieser Plan spukte ihr schon seit ein paar Tagen im Kopf herum; es gab da einige Klavierstücke zu vier Händen, die sie schon lange gern ausprobiert hätte. Mrs. Woodhouse hatte sie vor Isabellas Auflehnung gegen ihre musikalische Unterweisung für die Töchter besorgt, und seither lagen die Noten unberührt an ihrem Platz.

»Vierhändig?« stieß Emma angewidert hervor. »Nein, besten Dank. Was für ein abscheulicher Vorschlag! Duette sind etwas Fürchterliches. Das sagst du nur, weil –« Sie verstummte, machte ein beschämtes Gesicht, doch dann brach es aus ihr heraus: »Du brauchst dir nicht einzubilden, daß du die beste Klavierspielerin in ganz Surry bist, nur weil Mama dir hundert Pfund vermacht hat. So viel Geld ist es nun auch wieder nicht.«

Diese Bemerkung war Jane so unverständlich, daß sie stocksteif stehenblieb und sich fragte, ob sie sich vielleicht verhört hatte.

»Was soll das heißen, Emma? Deine Mama hätte mir hundert Pfund hinterlassen? Wovon redest du? Sie hat mir überhaupt nichts hinterlassen.«

»Hat sie wohl«, grollte Emma. »Gestern ist ihr Testament eröffnet worden. Mr. Cox, der Advokat, ist gekommen und hat es Papa vorgelesen. Mama hatte etwas eigenes Geld und hat dir hundert Pfund vermacht. ›Meiner kleinen Nachbarin Jane Fairfax, zu verwenden für ihre Ausbildung, weil sie mir mit ihrer Musik so viel Freude gemacht hat.‹«

»Hundert Pfund! Aber … ich verstehe nicht …« Jane war ganz ratlos. »Mrs. Woodhouse ist nie ins Musikzimmer gekommen, wenn ich geübt habe … nur manchmal ganz kurz, zum Schluß …« Ihre Stimme zitterte, als sie an die dünne, blasse, elegante Dame dachte, die nun nie mehr kommen würde. In diesem Moment erfaßte sie die ganze Endgültigkeit des Todes. »Ich glaube, Mrs. Woodhouse hat mich nicht öfter als ein- oder zweimal spielen hören«, sagte sie unsicher.

»Doch hat sie das.« In Emmas Stimme klang die Empörung eines Kindes, dem zu Unrecht eine den Geschwistern gewährte Vergünstigung vorenthalten wurde. »Sie hat in Mrs. Hills Zimmer gesessen und zugehört, ich weiß es von Serie. Und jetzt hat sie dir hundert Pfund vermacht. Mir hat sie nichts vermacht und Isabella auch nicht, jedenfalls nicht, bis wir einundzwanzig sind, dann bekommt jede von uns dreißigtausend Pfund, aber was haben wir davon? Ich finde das sehr ungerecht.«

»Aber Emma«, begann Jane, »du hast doch alles …« Sie sah sich im Garten um. Dicker weißer Rauhreif bedeckte den Rasen.

»Aber nicht Mama«, stieß Emma leidenschaftlich hervor.

»Um hier draußen zu sitzen, ist es viel zu kalt«, sagte Jane rasch, ehe Emma in Tränen ausbrechen konnte. »Laufen wir um die Wette. Los, Emma! Wer zuerst an der Kastanie ist!«

Jane war, wenn auch klein für ihr Alter, flinker als die schwerer gebaute und etwas ungeschickte Emma und gewann zwei von drei Wettläufen.

Emma war dieses Zeitvertreibs bald müde. »Komm, wir reden mit James und den Pferden«, schlug sie vor. »Wenn wir Serie schön bitten, gibt er uns sicher ein bißchen Brot zum Füttern.«

Jane hatte insgeheim ein wenig Angst vor den großen, glänzenden Kutschpferden, erhob aber natürlich keinen Einspruch. Doch als sie auf den gepflasterten Hof vor den Stallungen kamen, waren die Boxen leer, und weder James noch die Pferde waren zu sehen. Tom, der Stalljunge, berichtete, James sei mit der Kutsche nach Kingston gefahren, um die neue Gouvernante abzuholen, müsse aber in Kürze mit seinem Fahrgast wieder hier sein. Nachdem sie sich eine Weile im Hof herumgedrückt und ein paarmal vom Aufsteigblock gesprungen waren, schlenderten sie zu der Einfahrt mit dem großen schmiedeeisernen Tor und waren deshalb zur Stelle, als Miss Taylor aus der Kutsche stieg. Sie erwies sich nicht, wie Emma befürchtet hatte, als gestrenge ältere Dame, sondern war jung, hübsch und liebenswürdig.

»Welche ist meine Schülerin?« erkundigte sie sich sogleich, und nachdem sie es erfahren hatte: »Was spielt ihr da? Laßt ihr mich mitspielen? Oder soll ich mich zuerst bei deinem Papa vorstellen?«

»Nein, Papa kommt jetzt immer erst gegen zwei oder drei aus seinem Zimmer«, erklärte Emma, und Jane rief aufgeregt: »Ach, bitte, spielen Sie Verstecken mit uns!«, denn sie brannte darauf, einige der schlau ausgedachten Schlupfwinkel auszuprobieren, die sie ausfindig gemacht hatte.

»Nun gut«, erwiderte die neue Gouvernante lachend. »Dann geh du und versteck dich … wie heißt du? Jane …? und Emma und ich werden uns inzwischen miteinander bekannt machen. Wir geben dir drei Minuten, ich sehe auf meine Uhr. Dann fangen wir an zu suchen. Fort mit dir.«

Überglücklich, ohne auf Emmas unzufriedene Miene zu achten, rannte Jane los. Emma hat jemanden gefunden, der es gut mit ihr meint, dachte sie zufrieden, diese Dame wird gewiß lieb zu ihr sein. Doch so sehr diese erfreulichen Überlegungen sie auch beschäftigen mochten – die hundert Pfund gingen ihr immer noch im Kopf herum. Nie hätte sie sich dergleichen träumen lassen! Das war es wohl, worüber Großmama und Tante Hetty beim Frühstück gesprochen hatten.

Jane ging auf das Versteck zu, für das sie sich entschieden hatte, eine doppelte Lorbeerhecke, welche die Staudenpflanzung vom Rasen abgrenzte. Einer der Büsche hatte schon eine stattliche Höhe erreicht und etliche Fuß über dem Boden eine Gabel gebildet; dort konnte man sitzen wie in einem grünen Nest. Sie eilte hin, und sobald sie sich zurechtgesetzt hatte, rief sie: »Ich bin soweit!« und faßte sich in Geduld.

Die brauchte sie auch, denn Emma und ihre neue Freundin ließen sich reichlich Zeit. Mehrmals sah Jane die beiden, angeregt miteinander plaudernd, in einiger Entfernung, doch sie gingen in die falsche Richtung. Am liebsten hätte sie erneut gerufen, beherrschte sich aber. Und dann waren unerwartet die Stimmen ganz nah, Emma und Mrs. Taylor spazierten offenbar über den breiten Gartenweg am Rand der Staudenpflanzung.

»Und ist Jane Fairfax deine liebste Freundin?« fragte Miss Taylor freundlich. »Wird sie mit dir und deiner Schwester zusammen unterrichtet?«

»Bewahre!« erwiderte Emma im Ton herablassender Verwunderung. »Janes Verwandte sind ganz arm. Sie hat keine Eltern und wohnt mit ihrer Großmutter über einem Barbiergeschäft. Mama hat mit ihnen verkehrt, aber nur aus Gutherzigkeit. Und Jane wird nie heiraten können, denn sie haben gar kein Geld, kein bißchen. Bis auf …« Emma zögerte, dann fuhr sie fort: »Wenn sie erwachsen ist, wird sie sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, sie wird –«

Sie unterbrach sich, vielleicht, weil sie hatte sagen wollen: »– Gouvernante werden müssen.« Zu spät besann sie sich darauf, wer da neben ihr ging.

»Das ist natürlich sehr traurig für Jane«, sagte die neue Gouvernante mit einer Stimme, die nichts verriet, »aber doch wohl kein Hinderungsgrund für eine Freundschaft …«

»Nein, aber … Jane ist so langweilig«, erklärte Emma unumwunden. »Sie redet nie über Sachen, die mich interessieren. Und sie kennt nur Kleinkinderspiele. Wie dies hier. Versteckspielen … Oder Wettlaufen … Spiele, die nur für Jungen taugen.«

»Aber würdest du nicht gern mit ihr zusammen Unterricht haben?« fragte Miss Taylor. »Ich denke immer, daß es sich in Gesellschaft besser lernt. Dann hättet ihr vielleicht auch mehr gemeinsamen Gesprächsstoff. Du würdest sie besser kennenlernen und eher Gefallen an ihr finden …«

»Nein, bestimmt nicht. Das wäre mir gar nicht recht. Früher hatten wir zusammen Klavierstunden, aber Signor Negretti hat gesagt –« Die Stimmen verklangen in der Lorbeerallee.

Jane saß mehrere Minuten wie versteinert in ihrer Astgabel, dann kletterte sie schwerfällig hinunter und lief davon. Ein Gefühl der Übelkeit überkam sie, das Atemholen kostete sie Mühe, und sie empfand einen unbestimmten Schmerz, als habe man eins ihrer inneren Organe, das Herz vielleicht, mit Gewalt von seinem angestammten Platz entfernt. Sie wollte sich sofort auf den Heimweg machen, begegnete aber zufällig den anderen beiden in der Einfahrt.

»Da ist sie ja! Was hast du nur für ein schlaues Versteck ausgesucht, Jane? Wir dachten, wir hätten überall nachgesehen.«

»Sie muß im Heuschober gewesen sein«, meinte Emma. »Dabei hatten wir ausgemacht, daß das nicht gilt …«

Jane sagte weder ja noch nein, sondern bemerkte leise, sie müsse nach Hause, sie habe auf der Stalluhr gesehen, daß es schon spät sei, Tante Hetty würde sich Gedanken machen.

»Bist du krank, Kind? Du siehst so blaß aus«, fragte Miss Taylor, der Janes verändertes Wesen nicht entgangen war, mit leiser Unruhe.

»Jane ist immer blaß«, rief Emma. »Das ist nichts Besonderes.«

Jane erklärte verdrießlich, sie sei nicht krank, nicht ein bißchen, mehr aber wagte sie nicht zu sagen. Ohne einen weiteren Blick, ein weiteres Wort drehte sie sich um, lief über die Einfahrt und zum Tor hinaus.

»Was für ein wunderliches, schroffes kleines Ding«, sagte Miss Taylor und sah ihr ein wenig ratlos nach. »Aber … nun ja … niemand hat sich wohl die Zeit genommen, ihr ein bißchen Benehmen beizubringen …«

»Sie ist schrecklich langweilig«, wiederholte Emma. »Und selbstsüchtig. Immer will sie nur das spielen, worin sie gut ist, und nicht das, woran andere Leute Spaß haben. Aber lassen wir Jane, Miss Taylor. Darf ich zusehen, wie Sie auspacken?«

»Aber natürlich, Kind, komm nur.«

 

Ihrer Tante und ihrer Großmutter erzählte Jane nichts von dem belauschten Gespräch, sondern berichtete nur, Miss Taylor, die neue Gouvernante, sei angekommen, sie scheine eine freundliche, angenehme Dame zu sein, und Emma sei augenscheinlich bereit, ihr Vertrauen und Zuneigung entgegenzubringen.

»Das freut mich«, bemerkte die alte Mrs. Bates. »Arme kleine Emma! Es heißt, daß es nicht so ganz einfach mit ihr ist. Was für ein Glück, daß sie in diesen einsamen Tagen dich zur Gesellschaft hatte.«

Jane antwortete nicht, sondern widmete sich ihrem Abendessen. Doch es zeigte sich bald, daß das gute Kind offenbar keinen Appetit hatte, und als wenig später ein heftiger Schüttelfrost einsetzte, zu dem noch ein Weinkrampf und Nervenfieber kam, steckten ihre besorgten Angehörigen sie ins Bett und schickten nach Mr. Perry, dem Apotheker.

Es war der erste heftige Anfall jener Migräne, die Jane von diesem Tag an über viele Jahre plagen sollte. Keins der von Mr. Perry oder ihrer Tante verabreichten gängigen Mittel brachte der Kranken auch nur die mindeste Linderung. Drei Tage mußte sie das Bett hüten; unruhig warf sie sich auf dem schmalen Lager hin und her. Da sie die stickige kleine Stube mit ihre Tante teilte, war sie nie für sich. Nicht einmal ihren Tränen konnte sie freien Lauf lassen.

Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand, dachte sie, Tante Hetty hat es mir oft genug gesagt, und jetzt erkenne ich, wieviel Wahrheit in diesem Sprichwort steckt. Ich kann nur hoffen, daß ich nie wieder das Unglück haben werde, etwas zu hören, was nicht für mich bestimmt ist. Sehr langweilig. Sehr langweilig. Emma Woodhouse findet mich sehr langweilig. Warum aber hat sie mir dann überhaupt ihre Freundschaft angetragen? Niemand hat sie dazu gezwungen. Ich hätte es nie von ihr verlangt.

Die arme, tief verletzte Jane begriff noch nicht, daß Emma in ihrer ratlosen Verzweiflung nach der ersten echten Katastrophe ihres bislang so sicheren, behüteten Lebens vorübergehend keiner Güte, keiner Gerechtigkeit fähig war. Eine solche Erkenntnis wäre weit über kindliches Verstehen hinausgegangen. Jane sah nur, daß man sie grausam verraten, daß man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.

Nie mehr, sagte sie sich, während sie trostlos den Blick von dem Pudding abwandte, den die Tante ihr hoffnungsvoll hinstreckte, nie mehr werde ich einem Menschen ein solches Versprechen geben, nie mehr, solange ich lebe, werde ich einem Menschen rückhaltlos vertrauen.

»Einen Löffel wenigstens, Liebchen, du hast so lange nichts mehr zu dir genommen.«

»Nein, danke, Tante Hetty.«

Betrübt trug die Tante den Pudding weg, und Jane starrte blicklos auf die kahle Wand, während ihr unaufhörlich das immer schwächer werdende Echo jener anderen Stimme und des trügerischen Versprechens in den Ohren hallte: ›Wir wollen Freunde auf immer sein, ja? Und uns all unsere Geheimnisse verraten. Und uns immer liebhaben.‹

 

Die Brüder George und John Knightley, Erben des etwa eine Meile hinter Highbury gelegenen Gutes Donwell Abbey, waren gute alte Freunde der Familie Woodhouse. John, der jüngere, studierte zur Zeit Jura und war nur in den Ferien daheim. George hingegen, der kurz nach dem Ableben des Vaters volljährig geworden war, lebte auf dem Gut und kümmerte sich um den nicht unbeträchtlichen Besitz. Da er die Woodhouse-Töchter von klein auf kannte, war er für sie eine Art älterer Bruder, und auch er sah sich so, jederzeit bereit, Ratschläge zu erteilen, die Mädchen zu tadeln oder sich mit ihnen zu freuen. Er hatte größtes Verständnis für ihren Kummer, zumal er kürzlich einen ähnlichen Verlust erlitten hatte, und beeilte sich, einen freundschaftlichen Bund mit der neuen Gouvernante zu schließen, um das Wohlergehen der Mädchen auf jede ihm nur mögliche Weise zu fördern.

»Emma braucht dringend mehr Gesellschaft«, sagte er zu Miss Taylor, »und mehr Konkurrenz. Sie neigt allzu sehr dazu, sich für den Gipfel der Vollkommenheit zu halten, denn Isabella, ein sanftmütiges Mädchen, bedeutend älter als Emma und ihr geistig weit unterlegen, hat ihr immer nachgegeben. Meinen Sie nicht auch, Miss Taylor, daß Emma andere Kinder zum Spielen und zum Lernen braucht?«

»Besser wäre es zweifellos«, erwiderte die neue Gouvernante ein wenig zögernd. »Aber die Auswahl in dieser Gegend ist nicht allzu groß.«

»Die Töchter von Cox?«

Miss Taylors Gesicht nahm einen besorgten und bedenklichen Ausdruck an. »Emma mag die beiden gar nicht. Und ich muß gestehen, daß ich es nicht gern sähe, wenn das liebe Kind sich von ihrem gezierten, vorlauten Gehabe anstecken ließe.«

»Und die Schwestern Martin?«

»Töchter eines Pächters? Ich glaube kaum, daß Mr. Woodhouse –«

»Es sind anständige, gesunde Kinder«, unterbrach er sie ungeduldig. »Durch sie könnte Emma unmöglich Schaden nehmen.«

»Nein, nein, gewiß nicht. Aber sie selbst zögert auch …«

»Und wie steht es mit der kleinen Jane Fairfax? Die Familie ist untadelig, und Jane ist ein stilles, rücksichtsvolles, manierliches kleines Mädchen, sehr weit in ihren Kenntnissen, wie ich von Mrs. Pryor höre, bei ihr hätte Emma gesunden Wettbewerb …«

»Das ist wohl wahr.« Miss Taylors Miene wurde womöglich noch besorgter. »Aber aus irgendeinem Grund scheinen Jane und die liebe Emma sich nicht gut zu verstehen. An wem es liegt, mag ich nicht entscheiden. Sie wissen ja, wie unberechenbar Kinder manchmal sind, Mr. Knightley. Jedenfalls scheint Emma – ein reizendes, sehr liebenswürdiges Kind, wenn auch hin und wieder ein wenig eigenwillig – fest entschlossen, Jane weder zum Spielen noch zum Lernen im Haus zu dulden, außer für die Klavierstunden natürlich, aber die bekommt Jane ja ohnehin getrennt. Und wenn sie zu ihren Stunden oder zum Üben kommt, schlüpft sie lautlos wie ein Mäuschen ins Haus. Sie wissen, wie schwer es ist, Emma zu Dingen zu bewegen, gegen die sie sich sperrt …«

»Unmöglich, wollen Sie wohl sagen. Ich sehe schon, auch Sie hat Emma schon um den Finger gewickelt. Nun, da muß ich mir wohl selbst etwas einfallen lassen.«

Vor vier Jahren hatte John Knightley mit Zustimmung von Mrs. Woodhouse Isabella auf einem alten grauen Pony, dem Spielgefährten und Begleiter der Jungen von Donwell Abbey, das Reiten beigebracht. Der treue Freund von damals war längst nicht mehr, aber Mr. Knightley machte sich die Mühe, bei einem seiner Pächter zwei brave, sanftmütige Ponys ausfindig zu machen und zu kaufen, woraufhin er nun auch Emma vorschlug, ihr Reitstunden zu geben.

»Denn ich höre dich oft jammern, wie sehr dich die Spaziergänge in Highbury langweilen, weil sie dir bis zum Überdruß vertraut sind: den Pfarrweg hinauf und hinunter; die Donwell Lane hinauf und hinunter; über den Dorfanger … Zu Pferd könntest du dich sehr viel weiter hinauswagen und sehr viel mehr sehen.«

Emma war hellauf begeistert von dem Plan.

»O ja, o ja! Liebster Mr. Knightley, wann fangen wir an?« Doch dann fiel ihr noch etwas ein. »Ist Papa einverstanden?«

Es war gar nicht so einfach gewesen, Mr. Woodhouse in seinem derzeitigen melancholischen und geschwächten Zustand von den Vorteilen eines solchen Planes zu überzeugen. Die arme kleine Emma, sagte er, ermüde so rasch, und wenn nun das Pferd scheute und sie abwarf? Er dürfe gar nicht daran denken, Pferde seien so unberechenbare, unruhige, nervöse, zappelige Geschöpfe, er müsse ja in tausend Ängsten schweben, solange die Reitstunde andauere.

Mr. Knightley gelang es, seinen alten Freund davon zu überzeugen, das Pony sei das abgeklärteste, friedlichste Wesen, das man sich nur vorstellen könne, und bewege sich meist nur in langsamem Schritt vorwärts, und bei der geringen Größe des Tieres sei auch von einem Sturz nichts zu befürchten. »Es wäre nicht schlimmer, als fiele man von einem Stuhl.« Und er wolle Miss Bates und Mrs. Goddard bitten, Mr. Woodhouse mit ihrem Geplauder zu zerstreuen, wenn eine Reitstunde angesagt sei.

So weit, so gut. Emma war so begierig, mit dem Unterricht zu beginnen, daß sie sich sogar bereit fand, das alte Reitkleid von Isabella zu tragen, bis ihr eigenes fertiggestellt war. So wurden denn die Wollröcke gebügelt, und Miss Taylor begleitete ihre Schülerin auf die Koppel, wo der Unterricht stattfinden sollte; unterwegs schwatzte Emma ununterbrochen.

»Wenn ich erst reiten kann, Miss Taylor … können Sie übrigens reiten?«

»Ja, Schätzchen, ich bin in Wales aufgewachsen, dort muß man einfach reiten können, weil die Dörfer so weit auseinanderliegen.«

»… kann Mr. Knightley uns seine Stute leihen, und wir können Burgh Heath und Box Hill erkunden und viele andere schöne Orte. Highbury ist so langweilig. James kann uns auf einem der Kutschpferde begleiten …«

»So weit denn doch nicht, Liebchen. Aber wir werden sehen.«

Diesen großartigen Plänen aber war leider ein rasches Ende bestimmt, denn auf der Koppel angekommen, stellte Emma zu ihrem großen Verdruß fest, daß Jane Fairfax ebenfalls in den Genuß von Mr. Knightleys Reitunterricht kommen sollte.

»Denn zwei lernen ebenso leicht wie eine«, erklärte Mr. Knightley munter, »oder sogar noch viel leichter, denn die eine lernt von den Fehlern der anderen. William Larkins wird dich auf Dapples heben, Emma, inzwischen führe ich Jane auf Ginger auf und ab. Etwas gerader halten, Jane, du beugst dich zu weit vor. So ist es gut. Nein, nicht an der Mähne festhalten, sie ist von der Natur nicht als Griff gedacht. Vortrefflich, Emma; das linke Knie ein wenig weiter zurück, die Schultern herunter, Kinn hoch.«

Schon während der ersten Unterrichtsstunde stellte sich heraus, daß Jane, die mager, doch agil und drahtig war und sich die größte Mühe gab, bei ihrem Lehrmeister Ehre einzulegen, eine bessere Schülerin sein würde als Emma, die in diesem Alter ein wenig zur Rundlichkeit und Trägheit neigte. Außerdem war sie sehr verstimmt, daß sie nicht Mr. Knightleys einzige und damit seine Vorzugsschülerin war. Gegen Ende der Unterrichtsstunde nutzte sie den Augenblick, als Mr. Knightley und William Larkins die Plätze tauschten, um ihrem Pferd einen Tritt zu versetzen, das daraufhin in einen gemächlichen Trab verfiel. Dann glitt sie aus dem Sattel und ließ sich ins Gras fallen, wo sie mit kläglichem Gesicht liegenblieb, bis Miss Taylor ihr zu Hilfe eilte. Mr. Knightley war der Erzieherin langsamer gefolgt.

»Keine Sorge, Ma’am, es ist nichts geschehen, ich habe genau gesehen, wie es sich zugetragen hat. Du wirst noch manch schlimmeren Sturz tun, Emma, bis du es kannst. Komm, steh auf, und laß dir wieder in den Sattel helfen, es ist ganz wichtig, nach jedem Sturz gleich wieder aufzusteigen.«

Doch Emma erklärte, sie sei arg mitgenommen und zerschlagen und habe genug. Weinerlich verlangte sie, nach Hause gebracht zu werden. Auf dem Heimweg blieb sie ungewohnt schweigsam. Doch der Bericht, den sie zu Hause gab, veranlaßte ihren Vater, allen weiteren Versuchen mit der edlen Reitkunst einen Riegel vorzuschieben. Der Gedanke an die Gefahr, in der sein Liebling möglicherweise schwebte, sei ihm unerträglich. Und wozu sollte sich schließlich seine geliebte Tochter auf einem Pferd durch die Gegend bewegen? Es gäbe schließlich genug trockene Spazierwege in und um Highbury, um sich ausreichend Bewegung zu verschaffen, er selbst sähe nicht einmal die Notwendigkeit, sich über die Staudenbepflanzung seines eigenen Gartens hinauszubegeben, allenfalls hin und wieder auf ein Teestündchen zu Mrs. Goddard. Emma sei auf dem Gelände von Hartfield weit besser aufgehoben, dort gäbe es weder Schmutz im Winter noch Staub im Sommer. Jeder sei gut beraten, sich auf seinem eigenen Grundstück aufzuhalten, dieses Herumzigeunern um des reinen Vergnügens willen habe man in seiner Kindheit nicht gekannt, es sei dies eine sehr unerfreuliche Erscheinung des neuen Jahrhunderts, ein Zeichen beklagenswerter Rastlosigkeit. Falls Emma den Wunsch verspüre, größere Entfernungen zurückzulegen, könne sie jederzeit über die Kutsche verfügen. Er wisse Mr. Knightleys liebenswürdiges Angebot zu schätzen, aber er habe ja gleich gewußt, daß nichts Gutes dabei herauskommen würde, und seine Bedenken hätten sich ja nun leider aufs betrüblichste bestätigt.

Der geknickte Mr. Knightley verkaufte das eine Pony und unterrichtete Jane fortan allein. Sie erwies sich als eifrig und gelehrig und wurde bald eine tüchtige Reiterin.

»Bei Janes Erkältungen hat das Reiten Wunder gewirkt«, sagte Janes Tante dankbar zu Mr. Knightley. »Denn wissen Sie, mein lieber Herr, Jane war immer so zart, wir waren ständig in Sorge um sie, sobald sie aus dem Haus kam, fing sie an zu niesen, und ihre Halsentzündungen haben uns zur Verzweiflung gebracht, aber seit sie sich mit Ihnen so viel an der frischen Luft bewegt, Mr. Knightley, ist das nie mehr vorgekommen, sie ist ein ganz anderer Mensch geworden, wenn sie vom Reiten zurückkommt, hat sie richtig rosige Wangen und plaudert, daß man es kaum für möglich halten mag. Wir hatten ja immer gehofft, Jane und die kleine Emma Woodhouse würden Freundschaft schließen, aber …« – ein tiefer Seufzer – »… die so ganz anderen Umstände … Ja, wie gesagt, im allgemeinen ist Jane, Sie mögen es noch nicht so gemerkt haben, kein redseliges Kind, anders als meine Wenigkeit, ich rede recht gern, meine Zunge braucht einfach hin und wieder ein bißchen Bewegung, aber nach einem Ausritt mit Ihnen schwatzt Jane drauflos, daß … es ist wirklich kaum zu glauben … Und daß sie reiten kann, wird ihr gewiß später gut zustatten kommen, denn sie wird ja ihr Brot als Erzieherin verdienen müssen, das arme Ding, so wie sie gestellt ist, daran führt kein Weg vorbei, und wenn sie das Glück hat, in ein vornehmes Haus zu kommen, könnte sie, falls das von ihr verlangt wird, mit ihren Schützlingen ausreiten.«

Nach der verunglückten Reitstunde mit Emma gab Mr. Knightley sich geschlagen und verzichtete darauf, eine Freundschaft zwischen Jane Fairfax und Emma Woodhouse stiften zu wollen.

Von da ab wechselten die beiden Mädchen im Lauf eines Jahres wenig mehr als ein halbes Dutzend Worte miteinander. Emma achtete darauf, Jane nicht über den Weg zu laufen, wenn diese zu ihren Klavierstunden kam, und Jane selbst kam und ging lautlos wie ein Gespenst. Und wenn sie sich zufällig im Dorf trafen, blieb jede auf ihrer Straßenseite und übersah die andere geflissentlich.

2

Als Jane Fairfax acht war, wurde ihr die ehrenvolle Aufgabe übertragen, jeden Morgen – vorbei am Gasthof Zur Krone, dem Fleischer, Fords Tuch- und Modewarenhandlung, dem Bäcker und dem Schmied – zur Post zu laufen, um die Briefe für die Familie abzuholen. Meist gab es allerdings nicht viel zu holen, denn die Damen Bates waren nicht mehr die Jüngsten und hatten keine Familie, bis auf einige Cousins in Shropshire, die sich nur selten dazu entschließen konnten, zur Feder zu greifen. Doch Bewegung in der Morgenluft, so hieß es, sei gesund für Jane, die in letzter Zeit ein gutes Stück gewachsen war, so daß Großmutter und Tante ständig damit beschäftigt waren, Abnäher aus den abgelegten Sachen auszulassen, die aber, wenn es nach ihr gegangen wäre, lieber den ganzen Tag auf Hartfield in der Stube gesessen und Klavier geübt hätte.

Eines Morgens kam sie triumphierend mit einem großen weißen Umschlag zurück.

»Wer in aller Welt schreibt uns denn da?« wunderte sich die alte Mrs. Bates und beäugte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. »Irgendwann habe ich diese Handschrift schon mal gesehen, aber wo und wann? Sei recht vorsichtig, wenn du das Siegel erbrichst, Hetty, damit die Schrift nicht beschädigt wird.«

Es war ein wahres Glück, daß es sich nicht um einen sehr langen Brief handelte, denn in den nächsten Tagen wurde er von den Damen Bates, ihren Freunden und Nachbarn so oft gelesen und beredet, daß sie kaum noch zu anderen Dingen kamen.

»Mrs. und Miss Bates haben ein sehr gütiges, großherziges Angebot erhalten«, sagte Mr. Knightley, als er Mr. Woodhouse davon erzählte. »Sie haben es mit Mr. Pryor besprochen, und der hat, nachdem er sich mit mir beraten hatte, den Damen zugeredet, es ohne Bedenken anzunehmen, und ich habe Miss Bates dasselbe gesagt. Materiell würde es dem Kind in jedem Fall zum Vorteil gereichen. Ich weiß, daß Sie sich von Herzen darüber freuen werden, da ja auch Sie Jane durch die Klavierstunden so tatkräftig gefördert haben.«

»Ja, das ist wohl wahr. Die arme Mary wünschte es, und ich führe ihre Wünsche nach wie vor getreulich aus. Die Klavierstunden werden für das arme Mädchen in künftigen Jahren äußerst wertvoll sein. Aber was ist das für ein Angebot, Mr. Knightley?«

»Ja, was denn?« fragte Isabella begierig, und Emma rief mit funkelnden Augen: »Hat jemand Jane Fairfax ein Vermögen vermacht, Mr. Knightley?«

»Nein, kein Vermögen«, sagte er lächelnd. »Ich weiß, wenn es nach dir ginge, Emma, müßte immer alles wie im Märchen enden. Ganz so ist es leider nicht, aber wer weiß, vielleicht ist das, was sich hier ergibt, sogar noch besser. Ein Freund und früherer Kommandeur von Jane Fairfax’ Vater, ein Oberst Campbell, ist nach jahrelangem aktivem Auslandsdienst in die Heimat zurückgekehrt. Wegen seiner Kriegsverletzungen will er jetzt seinen Abschied nehmen und sich mit seiner Frau und seiner Tochter, die etwa in Janes Alter ist, in London niederlassen. Er schreibt in dem Brief, den sie mir zeigten – einem sehr offenen, geradlinigen und vornehm abgefaßten Brief –, er habe Leutnant Fairfax, einen tatkräftigen, vielversprechenden jungen Mann, sehr hoch geschätzt. Außerdem sei er in dessen Schuld. Leutnant Fairfax habe ihn bei einem schweren Gelbfieber aufopfernd gepflegt und ihm dadurch mit Sicherheit das Leben gerettet. Er sei sich darüber im klaren, daß die Zukunftsaussichten für das elternlose und von ihren Verwandten in sehr beschränkten Verhältnissen aufgezogene Kind recht trübe seien. Seiner Dankesschuld wie auch Janes mißlicher Lage sei er sich stets bewußt gewesen, nur habe es bislang nicht in seiner Macht gestanden, etwas zu unternehmen, da er in den fünf Jahren seit dem Tod des armen Fairfax in aktivem Dienst im Ausland gewesen sei. Jetzt aber wolle er die Waise, sofern ihre Freunde damit einverstanden seien, eine Weile in seiner Familie in London aufnehmen und, falls sich alles so entwickele, wie er hoffe, den Besuch auf unbestimmte Zeit verlängern. Kurzum, Oberst Campbell erbietet sich, die Kosten für Janes Ausbildung zu übernehmen.«

»Und dann hinterläßt er ihr ein Vermögen«, ergänzte Emma.

Mr. Knightley schüttelte nachsichtig den Kopf.

»Nein. Oberst Campbell macht ganz deutlich, daß eine finanzielle Regelung dieser Art nicht in seiner Macht liegt. Er ist kein reicher Mann. Vorgesehen ist schlicht und einfach, Jane so unterrichten zu lassen, daß sie später andere unterrichten kann. Der Oberst verfügt selbst nur über bescheidene Mittel, die seiner Tochter vorbehalten bleiben müssen.«

»Daß sie andere unterrichten kann«, wiederholte Emma geringschätzig. »Was hat sie schon von London, wenn sie nur deshalb hinfährt?«