Mitternacht ist ein Ort - Joan Aiken - E-Book

Mitternacht ist ein Ort E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Von seinem Fenster im düsteren Schloß Mitternacht beobachtet Lucas Bell, Ziehkind des Besitzers Sir Randolph, wie eine Reisekutsche einen geheimnisvollen Neuankömmling bringt. Endlich ein Freund für Lucas? Seine Hoffnungen werden mit einem Schlag vernichtet: der Neuling ist nicht nur unfreundlich und völlig verzogen, sondern auch noch ein französisches Mädchen! Was soll er mit so jemandem schon anfangen?

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Joan Aiken

Mitternacht ist ein Ort

Roman

Aus dem Englischen von Ilse Bezzenberger

Diogenes

Der Nacht geflügelte Pferde,

unaufhaltsam stürmen sie fort.

Doch Mitternacht ist kein Augenblick,

Mitternacht ist ein Ort.

Denzils Lied

Abend

Es hatte den ganzen Tag geregnet. Selbst bei gutem Wetter war der Park von Schloß Mitternacht kein anheimelnder Ort. Der Qualm aus den vielen Schornsteinen der Stadt hatte die meisten der großen Kastanienbäume, die wie Schachfiguren eines halb beendeten Spiels weit verstreut im rußigen Grase standen, geschwärzt und halb erstickt. Es war schwer, sich vorzustellen, daß unter diesem schmutzig tröpfelnden Geäst einmal Schafe gegrast oder Damen mit Sonnenschirmen gelustwandelt haben sollten, oder daß Kinder auf den Steinbrocken herumgeklettert wären, die wie entblößte Zähne aus dem Erdboden hervorstaken, als sei er zu mürbe, sie zu bedecken. Und immer der Rauch in der Luft. Selbst an klaren Tagen lag er wie ein dünnes Gazegespinst über der Mulde, in welche die Stadt Blastburn gebettet war.

Der Junge, der zusammengekauert auf dem Fenstersitz hockte und in die trostlose Landschaft hinausblickte, verharrte dort schon seit zwei Stunden, einfach, weil er sonst nichts Besseres zu tun wußte. Auf einem Regal zu seiner Rechten stand eine Reihe Schulbücher. Ein erst teilweise fertiggeschriebener Aufsatz lag auf dem tintenverschmierten Tisch. Das Thema hieß: Weshalb die Industrie eine gute Sache ist. Unter diese Überschrift hatte der Junge geschrieben: »Die Industrie ist eine gute Sache, weil es besser ist, in einer Teppichfabrik zu arbeiten, als im Regen zu stehen ohne etwas zu essen.« Aber kaum hatte er die Worte hingeschrieben, da stockte er schon und fragte sich: »Ist das eigentlich wahr?« Und wandte sich wieder zum Fenster, um in den regengepeitschten Park hinauszublicken. Die Dämmerung senkte sich herab. Einen Augenblick lang zeigte sich dort, wo die Sonne untergegangen war, ein schwacher Streifen stürmischen Lichts und spiegelte sich blinkernd in den Pfuhlen aus regennassen, gelben Blättern unter den Bäumen, dann erlosch der Schein und war verschwunden. Mehr denn je sahen die Bäume aus wie verdrießliche Gespenster, die durch einen grausamen Zauberbann gezwungen waren, zitternd dort draußen in der Nässe auszuharren. Man erwiese ihnen geradezu eine Wohltat, dachte der Junge, wenn man sie zu Holzscheiten zersägte und sie in irgendeinem behaglichen Kamin in Brand steckte. Aber gewiß nicht in diesem Hause. Er blickte über die Schulter auf den kläglichen Versuch eines Feuers, das unter dem schwarzglänzenden Kaminsims vor sich hinglomm. Es war kaum zu sehen in dem dämmrigen Raum. Kräftige Feuer waren in Schloß Mitternacht unbekannt, ebenso wie helle Lichter oder fröhliche Stimmen oder lebhafte Musik oder Gelächter.

Der Junge hauchte gegen die große, vom Regen streifige Fensterscheibe und schrieb darauf die Worte: »Ich bin einsam.« Darunter setzte er seinen Namen und das Datum. Morgen war sein Geburtstag. Er fragte sich, ob wohl irgend jemand sich dieser Tatsache entsann. Die Worte ›Lucas Bell, 30. Oktober 1842‹ verloschen, als der warme Dunst seines Atems sich auflöste. Niemand in der Zukunft würde je wissen, daß sie einmal geschrieben worden waren.

Er tat einen Seufzer, der halb ein Gähnen war. Gerade wollte er sich aus seiner verkrampften Haltung auf dem steilen Fenstersitz aus braunem Rippensamt lösen, um durchs Zimmer zu gehen und seinen Atem zweckdienlicher zu gebrauchen, nämlich zum Anblasen des jämmerlichen Feuers, als sein Blick weit hinten im Park auf das erste interessante Objekt fiel, das er den ganzen Nachmittag über gesehen hatte. Eine Kutsche, deren Zwillingslaternen im Regenschauer flackerten, hielt vor der Einfahrt, während der Pförtner die beiden schweren, eisernen Torflügel in der hohen Einfriedungsmauer des Parkes entriegelte. Jetzt setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung. Langsam kroch sie über die sanfte Anhöhe in die flache Schüssel aus Grasland hinunter, in welcher das Schloß lag, und fuhr die lange, gebogene Auffahrt entlang, die zur Vorderseite des Schlosses herumführte.

Der Junge verfolgte das Ereignis mit gespannter Aufmerksamkeit. Besucher waren auf Schloß Mitternacht so gut wie unbekannt. Während der letzten paar Wochen jedoch hatte es deren vier gegeben. Zwei Reiter und zwei Kutschen. Und hier kam die dritte Kutsche. Dem Jungen war über diese Ereignisse keinerlei Mitteilung gemacht worden. »Geschäftliche Angelegenheiten deines Vormunds«, hatte sein Hauslehrer Mr. Oakapple ungeduldig gesagt, »gehen dich gar nichts an.«

Nie wurde dem Jungen irgend etwas erklärt. Manchmal kam er sich in dem Haus vor wie ein Geist. Jetzt aber stachelte die Langeweile seinen Tatendrang an. Er sprang auf, durchquerte das große, schäbige Zimmer, öffnete leise die Tür und lief ebenso verstohlen wie flink etliche frostig-steinerne Korridore entlang. Niemand sah ihn, wie er den Schulzimmerflügel verließ und sich bis zur großen Eingangshalle vorwagte.

Das war ein kahler Raum, der aussah wie nach einer Plünderung. Die blasseren Stellen an den gestrichenen Wänden zeigten an, wo Bilder abgenommen worden waren. Ein Loch in der Decke war alles, was von einem Kronleuchter übriggeblieben war. Jemand hatte ein zerrissenes Stück Leinwand über das steinerne Wappenrelief oberhalb des Kamins gehängt. Die Halle war groß, und doch standen keinerlei Möbel darin außer einem Schirmständer mit einem rostigen Schwert und einem kleinen, ovalen Spieltisch mit einem zerbrochenen Bein.

Kein Mensch war zu sehen. Geräuschlos schlich sich der Junge weiter bis an den halb offenen Eingangsportikus, durch den der Regen hereinnieselte, blickte hinaus und sah die Lichter der Kutsche bereits wieder in der feuchten Nacht entschwinden. Wer konnte so rasch gekommen und wieder gegangen sein? Oder hatte der Reisende beschlossen, gar nicht erst zu halten? War jemand ausgestiegen? Und wenn, wo waren sie hin?

Dem Jungen, der in der Stille der großen, leeren Halle angespannt auf jedes noch so kleine Geräusch lauschte, kam es so vor, als sei der Klang unbekannter Stimmen soeben erst verhallt, als sei das Echo eiligen Fußgetrappels auf den langen Marmortreppen eben erst erstorben.

Unentschlossen an seinem Daumennagel kauend, blieb Lucas am Fuß der Treppe stehen. Seit vielen Nächten schon hatte er schlecht geschlafen, hatte sich in dem mächtigen Bett mit den vier hohen Pfosten herumgeworfen, war immer wieder aufgestanden, um vom Fenster aus auf den wabernden Feuerschein über Blastburn zu blicken, wo bei Tag und bei Nacht die Fabrikschornsteine ihren rotglühenden Dampf ausspieen und die Luft von säuerlich metallischem Geruch erfüllt war. Irgend etwas stimmte nicht hier im Hause, da war er ganz sicher. Irgend etwas, er wußte selbst nicht was, irgendein ungutes Gefühl ließ ihn nicht los. Obgleich ihm niemand etwas erzählte, witterte er sich anbahnendes Unheil. Einen guten Teil seiner Zeit verbrachte er damit, zu horchen wie jetzt – auf eine scharfe Stimme, auf irgendeine Explosion, irgendeinen Donnerschlag, der sein Unbehagen erklären würde.

Er spähte die Treppe hinauf. Wenn man ihn dort oben erwischte, so bedeutete das Strafe, denn es war ihm streng verboten, außerhalb seines eigenen Reviers herumzustrolchen; Sir Randolph verabscheute Kinder. Aber die Gefahr, ertappt zu werden, war nicht sehr groß, weit geringer, als sie es noch vor sechs Monaten gewesen wäre. Denn kürzlich war das Gesinde auf Schloß Mitternacht – es war niemals sehr zahlreich gewesen – erheblich reduziert worden. Sechs Lakaien, acht Mägde, der Butler, der Kutscher, der Stallmeister und die meisten der Reitknechte und Gärtner waren entlassen worden. Das riesige Haus stand halb leer; dreißig Zimmer waren zugesperrt worden. Viele Fenster waren zerbrochen. Mauern bröckelten. Das Dach hatte angefangen, hier und dort undicht zu werden.

Lucas rannte die Treppe hinauf.

Am Kopf der Treppe lag noch von früher her die fadenscheinige Bahn eines grobgewebten braunen Teppichläufers, die bis zur Arbeitszimmertür seines Vormunds reichte. Darauf konnte man entlangschleichen, ohne das kleinste Geräusch zu machen. Ein paar Kerzen, nicht viele, waren angezündet worden und brannten flackernd in den Mauernischen. Dazwischen aber gab es große Schattenzonen, und der Junge huschte von einer Dunkelheit in die nächste, bewegte sich mit äußerster Vorsicht und horchte dabei angespannt, neugierig gemacht durch das schwache Stimmengeräusch hinter der geschlossenen Tür des Arbeitszimmers.

Als er sich näher heranschob, konnte er die Worte deutlicher hören.

Ein Streit war da drinnen im Gange.

»Idiot! Einfaltspinsel! Wie kommen Sie dazu, einfach zu schreiben und eine solche Einwilligung zu geben! Sie hatten keine Ermächtigung dazu!«

Eine dünne, hohe, rostige, bösartige Stimme – das war sein Vormund, Sir Randolph Grimsby. Die Antwort, in viel tieferer Tonlage gesprochen, war dem Jungen nicht verständlich; es war nicht auszumachen, wer da sprach.

Sir Randolph unterbrach den Sprechenden. »Sie dachten, es sei das Beste? Verdammt noch mal, wer sagt Ihnen, daß Sie denken sollen? Wer bezahlt Sie fürs Denken?«

Man hörte ein wütendes Pochen auf den Boden. Sir Randolph hatte sich in jüngeren Jahren beide Beine gebrochen, als er wegen einer Wette sein Pferd dazu bringen wollte, über sechs aufgestellte schwere Jagdflinten zu springen. Seitdem ging er stark lahmend an zwei Krückstöcken, die er außerdem häufig dazu benutzte, sein Mißfallen kundzutun.

»Behalten Sie Ihre Gedanken gefälligst für sich, mein Herr! Was hat der Junge mit der Sache zu tun? Der ist doch schon lästig genug. Sie haben Ihre Befugnisse überschritten! Unglaublich, was Sie sich da herausgenommen haben! Was zum Teufel erwartet man eigentlich von mir? Ist dies ein Waisenhaus? Oder ein Armenasyl? Ich stecke doch auch so schon bis zum Hals in Schwierigkeiten, durch diese zähen, hochnäsigen Schnüffler von der Steuerbehörde, ganz zu schweigen von dem bösartigen Pöbel da unten in der Spinnerei – alle Naselang aufgehetzt von irgendwas! Als ob das nicht reichte – jetzt müssen Sie sich auch noch in Dinge einmischen, die Sie nichts angehen und mir noch eine teuflische Belastung aufbürden. Verdammt noch mal, mein Herr, ich hätte größte Lust, Sie zu feuern …«

Wieder ertönte ein zorniges Pochen und gleich darauf ein ebenso wütendes Bellen – offensichtlich hatte Sir Randolph beim Herumfuchteln mit seinen Stöcken versehentlich seinen Wolfshund Redgauntlet getroffen, der meistens schnarchend und Haare verlierend unter dem großen Mahagonyschreibtisch döste.

»Ruhig! Wirst du wohl! Verflucht, Mann, nun sehen Sie sich an, wozu Sie mich gebracht haben! Laß los, verflixt – loslassen, sag ich! He, Sie, schmeißen Sie den Hund raus! Wirst du wohl den Stock loslassen! Los, ab zur Hölle …!«

Es war unklar, ob Sir Randolph damit den Hund oder seinen Gesprächspartner meinte, klar war nur, daß er sich in seiner gewohnten üblen Stimmung befand.

Die Tür flog auf, und der knurrende Redgauntlet wurde rücklings in den Korridor hinausbefördert. Mr. Oakapple, der Hauslehrer, der ihn hinausgestoßen hatte, trat rasch ins Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich. Hastig verzog sich der Junge – ganz abgesehen von seiner Angst, entdeckt zu werden, hatte nie große Liebe zwischen ihm und dem unberechenbaren Hund bestanden. Aber Redgauntlet trottete in die entgegengesetzte Richtung und drehte sich nicht einmal um.

In dem Augenblick, da die Tür aufging, hatten sich die Blicke von Lucas und seinem Hauslehrer getroffen. Ob Mr. Oakapple ihn jetzt bei Sir Randolph verpetzte? Oder waren die beiden so schlecht aufeinander zu sprechen, daß er es vorzog, zu schweigen?

Wie auch immer, es hatte wenig Sinn, noch länger in so gefährlicher Nähe der Tür zu bleiben, jetzt, da der Hauslehrer von seiner Anwesenheit wußte. Lucas wandte sich ab und machte sich zögernd auf den Weg zu seinem eigenen Quartier. Verdrossen stieß er dabei mit den Fußspitzen in den braunen Läufer. Er nahm einen der oberen Korridore – selbst auf die nicht sehr große Gefahr hin, dort einem der wenigen verbliebenen Bediensteten zu begegnen. Um diese Zeit befanden sie sich meistens im Souterrain.

Er war jedoch kaum halbwegs den Korridor entlang, da blieb er verwundert vor der Tür eines Zimmers stehen, das sonst unbewohnt war. Er war fast sicher, daß er drinnen die schwachen Laute einer hohen, ihm unbekannten Stimme gehört hatte.

Während er noch mit gespitzten Ohren dastand, bewegte sich der Türgriff, und heraus kam Mrs. Gourd, die Haushälterin. Beim Anblick des Jungen schlug sie heftig die Tür hinter sich zu.

»Master Lucas! Was zum Teufel machen Sie denn hier?« fragte sie und blickte ihn unwirsch an.

»Ich messe die Distanz zwischen dem Ost- und dem Westflügel aus – für meinen Arithmetikunterricht«, antwortete er schlagfertig. »Mr. Oakapple hat es mir aufgetragen. Ist was dabei?«

Selbst wenn sie ihm nicht glaubte – vor der alten Gourd fürchtete er sich nicht sonderlich. Allerhöchstens konnte sie ihm eine Kopfnuß verpassen und ihm die Marmelade zum Frühstück entziehen.

»Was dabei ist? Den Teppich nutzen Sie ab, wirbeln Staub auf. Lärm machen Sie und bringen Sir Randolph in Rage – weiß der Himmel, wir haben doch schon Ärger genug im Haus, ohne daß Sie alles noch schlimmer machen. Jetzt gehen Sie sofort zurück in Ihre Schulstube. Und lassen Sie sich nicht wieder hier oben erwischen, wo Sie nichts zu suchen haben. Sehen Sie sich vor, sag ich Ihnen!«

Brummelnd und den grauen Kopf schüttelnd eilte sie in die andere Richtung davon. Seltsam genug, daß sie etwas trug, das aussah wie ein immens langer Brotlaib, geknetet zu einer Form, wie Lucas sie noch nie zuvor gesehen hatte, im Umfang nicht dicker als sein Handgelenk, dabei aber so lang wie einer von Sir Randolphs Krückstöcken. Und im Gehen murmelte sie vor sich hin: »Goo-tay, goo-tay – was das bloß für’n Wort ist, da wo die zu Hause is?«

Lucas rannte in sein Schulzimmer zurück, wo während seiner Abwesenheit das Feuer vollständig ausgegangen war. Um diesem Mißgeschick beizukommen (ein häufiges Vorkommnis wegen der armseligen Qualität der Kohle), hortete er einen heimlichen Vorrat an Kerzenstümpfen und Schwefelhölzern, die er nebenan in der unbenutzten Vorratskammer des Butlers in einer leeren Weinkiste verstaut hatte. Jetzt holte er sich ein paar seiner Schätze, grub einen kleinen Krater oben in den trostlosen Haufen schwarzer Schlacke, tat zwei Kerzenreste hinein und zündete sie sorgsam an. Eine träge, blasse Flamme kräuselte sich in die Höhe. »Goo-tay, goo-tay«, dachte er bei sich, während er in die Flamme blies. ›Goûter‹ vielleicht? Das französische Wort für Mittagessen?«

Aber Mrs. Gourd konnte kein Französisch. Er mußte sie falsch verstanden haben.

Während er sich geradezu schmeichlerisch um das Feuer bemühte, kam Pinhorn, das Erste Zimmermädchen, mit seinem Essen herein. Es war unübersehbar, daß sie in ebenso schlechter Stimmung war wie Sir Randolph. Manchmal ließ sie sich bewegen, ein wenig dazubleiben und zu plaudern, während er sein Abendbrot aß, aber heute knallte sie das Tablett oben auf zwei Schulbücher, und mit einem energischen Rascheln ihrer gestärkten Schürze, die über dem langen Rock aus schwarzem Bombasin lag, strebte sie zur Tür zurück, als Lucas fragte: »Wer ist in der Kutsche gekommen, Pinhorn?«

»Der, wo keine Fragen stellt, lebt am längsten«, versetzte sie kurz angebunden und zog eilig die Tür hinter sich zu, öffnete sie jedoch gleich noch einmal, steckte den Kopf hindurch und sagte: »Werden es noch früh genug erfahren, glaub ich, wenn’s Sir Randolph recht ist. Soll der Teufel diesen Oakapple holen, der sich in alles einmischt!«

Lucas seufzte und blickte angewidert auf sein Abendessen. Es bestand aus einem Teller mit kalten Hammelkoteletts, einem Glas Dünnbier und zwei Scheiben braunem Brot. Er war hungrig, denn er hatte seit dem Mittag nichts gegessen, aber dieses Mahl war alles andere als appetitanregend. Die Koteletts lagen in einer Pfütze kalter Bratensauce und waren von erstarrtem Fett überzogen, und das Bier war auf das Brot übergeschwappt.

Er setzte das Tablett auf den Fußboden und betrachtete nachdenklich die beiden Bücher, auf die Pinhorn es gestellt hatte. ›Doppelte Buchführung‹ und ›Wie leite ich eine Fabrik‹ waren sie betitelt. Lustlos klappte er sie auf, schlug sie wieder zu, wandte sich seinem unfertigen Aufsatz zu und schrieb: »Industrie ist eine gute Sache, weil man sich womöglich langweilt, wenn man nicht arbeitet.«

Danach kaute er minutenlang auf seinem Federkiel herum. Plötzlich schob er den Aufsatz beiseite und zog ein dickes, abgewetztes, braunes Lederbuch mit einer Messingschließe zu sich heran. Er schlug es in der Mitte auf – es war bereits zur Hälfte vollgeschrieben – und kritzelte hastig drauflos:

»Sir Randolph ist wie ein alter, grauer Kondor mit scharfem Schnabel und Klauen. Auf Bildern habe ich Vögel wie ihn auf Felszacken hocken sehen, mit bösen, kleinen, roten Augen. Sie leben in der Wildnis und reißen ihre Beute aufs Geratewohl. Aber er ist ein guter Mensch. Drei Kirchen hat er gebaut und der Stadt Blastburn zu Wohlstand verholfen. Er ist mein Vormund; ich sollte ihm dankbar sein. Ich habe Angst vor ihm. Das muß daran liegen, daß ich schlecht bin. Warum bin ich schlecht? Erbanlage? Das Aufwachsen in einem heidnischen Land? Ist es, weil ich schlechte Träume habe?«

Plötzlich ging die Tür hinter ihm auf, und herein kam sein Hauslehrer. Schuldbewußt zuckte seine Hand – und das Tintenfaß kippte um, rollte über den Tisch, hinterließ eine Tintenspur quer über dem unfertigen Aufsatz und fiel schließlich auf das am Boden stehende Tablett hinunter.

»Jetzt hast du dein Essen verdorben«, sagte Mr. Oakapple gereizt, trat heran und blickte auf die mit Tinte bekleckerten Koteletts. Er war ein rothaariger junger Mann mit einem langen, ernsten Gesicht. Seine Gesichtshaut sah fahl und trocken aus und war mit Sommersprossen übersät. Er hatte helle, sandfarbene Augenwimpern und blaßgraue Augen, in denen gewöhnlich ein ungeduldiger Ausdruck lag, wenn er seinen Schüler anblickte.

»Das … das war nicht sehr anständig von mir, um es gleich zu sagen«, stammelte Lucas und hoffte, daß der Lehrer von seinem Platz aus die unerledigten Aufgaben nicht sehen konnte, hoffte auch, daß er das verdorbene Mahl als hinreichende Bestrafung für sein Lauschen dort oben betrachten möge.

Überraschenderweise erwähnte Mr. Oakapple den Zwischenfall nicht weiter.

»Hol deinen Hut«, sagte er knapp. »Du kannst das Zeug sowieso nicht mehr essen, da kannst du es ebensogut stehenlassen. Und Sir Randolph will, daß wir ausgehen.«

»Ausgehen?« Lucas war sprachlos. Sir Randolph schickte ihn doch nie irgendwohin.

»Ja. Hinunter zur Spinnerei. Hol deinen Hut – mach schnell.«

Mr. Oakapple fand ganz offensichtlich keinen Gefallen an diesem Auftrag, worin immer er bestand.

Lucas holte Hut und Jacke aus seiner Schlafkammer oben und gesellte sich wieder zu Mr. Oakapple, der undurchdringlicher schwieg denn je. Im ersten Augenblick hatte ihn wilde Angst befallen, man werde ihn wegen seiner Lauscherei draußen vor der Tür des Arbeitszimmers aus Schloß Mitternacht verstoßen, einfach auf die Straße setzen, wo er sich allein durchschlagen müßte. Er war nicht glücklich in Schloß Mitternacht, aber die unbekannte Welt da draußen war noch furchterregender. Wie auch immer, wenn sie jetzt zur Fabrik geschickt wurden … Aber warum wurden sie zur Fabrik geschickt? So etwas war bislang noch niemals vorgekommen.

Lucas wußte – er hatte es von Pinhorn gehört und von einem jungen Reitknecht namens Bob, der kürzlich entlassen worden war –, daß alles Geld, das Sir Randolph besaß, aus der Spinnerei kam. Ihr richtiger Name war ›Murgatroyds Teppich-, Läuferund Mattenfabrik‹, aber in der ganzen Gegend hieß sie nur ›Mitternacht-Spinnerei‹. Mit ihren ausgedehnten Anlagen in zentraler Lage beherrschte sie die Stadt Blastburn, und ihre Schornsteine spien mehr Qualm aus als alle anderen. Sir Randolph selbst jedoch betrat die Spinnerei nie, und ebensowenig hatte es Lucas bisher getan. Er hatte kaum eine Vorstellung, wie es dort zuging, lediglich eine dumpfe, unbestimmte Furcht, die von Bobs dunklen Worten herrührte: »Oh, bei Murgatroyds, kannst mir’s glauben, da krepier’n mehr Leute als in alle die anderen Spinnereien zusammen. Die stellen dauernd neue Leute an, die da bei ›Mitternacht‹, weil sie so schnell wieder verschwinden. Aber wenn einer nach Arbeit sucht, dann versucht er’s lieber erst überall anders.«

Womöglich hatte Sir Randolph, der ja nie ein freundlicher oder entgegenkommender Vormund gewesen war, beschlossen, sich ein für allemal der Last dieses Mündels zu entledigen, indem er Lucas in die Spinnerei schickte, damit er sich dort seinen Lebensunterhalt selbst verdiente? Lucas wußte, dort arbeiteten Kinder, die viel jünger waren als er, Kinder von neun oder zehn, ja sogar von sieben oder acht Jahren.

Unglücklich trottete er hinter Mr. Oakapple her, hinaus zu den Ställen, die nach hinten hinaus lagen, zwischen dem Ost- und dem Westflügel des E-förmigen Hauses. Ein leichter Doppelsitzer wartete bereits. Zwischen seinen Deichselarmen stand Noddy, ein altes, hochbeiniges Pferd, eines der wenigen, die übriggeblieben waren. Schweigend fuhren sie los, Mr. Oakapple lenkte. Schließlich nahm Lucas all seinen Mut zusammen und fragte: »Warum fahren wir zur Spinnerei?« Er fühlte sich immer unbehaglich in Mr. Oakapples Nähe, der nie anders als kurz angebunden und abwesend reagierte, so, als sei er mit seinen Gedanken weit, weit weg. Obgleich die beiden doch jeden Tag etliche Stunden zusammen verbrachten bei Französisch-, Arithmetik- und Geographieunterricht, hatte Lucas nicht die leiseste Ahnung, was im Innern von Mr. Oakapples Kopf vorging.

»Ach …« Mr. Oakapple wandte sich bei der Frage leicht zu ihm, konzentrierte sich dann aber wieder auf die dunkle Straße, »… ich dachte, Sir Randolph hätte es dir gesagt? Wir fahren hin, weil du morgen Geburtstag hast.«

»Das versteh ich nicht.«

Lucas wußte, er sollte eigentlich froh sein, daß man sich seines Geburtstags entsann, aber ihm war bloß kalt, feucht und ängstlich zumute. Sie ratterten weiter durch die regnerische Dunkelheit. Das Tor der Einfahrt lag bereits hinter ihnen, und sie fuhren den breiten Hügel hinab, der nach Blastburn hineinführte. Hier und da flackerten Gaslampen auf. Die Hufe des Pferdes rutschten und klapperten auf dem Kopfsteinpflaster.

»Nun ja …« Mr. Oakapple gab einen tiefen, ungeduldigen Seufzer von sich, »… du weißt doch, daß dein Vater Sir Randolphs Kompagnon war.«

»Ja.«

»Und als er starb, stellte sich heraus, daß er ein Testament hinterlassen hatte, welches Sir Randolph zu deinem Vormund bestimmte.«

»Ja«, erwiderte Lucas verzagt, und er mußte wieder an seine Rückreise von Indien nach England denken, damals, im letzten Jahr, nachdem seine Eltern an den Blattern gestorben waren, und an die entsetzliche Ankunft auf Schloß Mitternacht.

»Im Testament deines Vaters wurde ebenfalls verfügt, daß dir vom dreizehnten Lebensjahr an ermöglicht werde, das Spinnereigeschäft kennenzulernen, damit du später, wenn du großjährig bist, den Platz deines Vaters als Kompagnon einnehmen kannst. Dein Vater hat verfügt, daß du jeweils einen Teil des Tages in der Spinnerei verbringen und studieren sollst, wie der Betrieb läuft. Und dabei soll ich dich nun begleiten.«

Mr. Oakapples Ton ließ erkennen, daß er dieses Programm nicht im mindesten guthieß, aber anders als sonst überging Lucas diesmal die Schroffheit seines Erziehers.

In seine große Erleichterung, daß er nicht sofort als Abstreifer oder Fusselgreifer arbeiten sollte, mischte sich jedoch eine neue Besorgnis. Wie fing man es an, fragte er sich, das Betreiben einer Teppichfabrik zu erlernen? Er fand es schon schwierig genug, die Aufgaben in Geometrie oder Geschichte zu lösen, die Mr. Oakapple ihm stellte – der ihn ja auch oft begriffsstutzig nannte. Aber zu lernen, für das Funktionieren einer ganzen Fabrik verantwortlich zu sein, das, dachte er verzagt, überstieg seine Fähigkeiten total.

Sie hatten die Stadt erreicht. Es gab nur wenige Läden, Schenken oder Gasthäuser. Die Gebäude waren zum größten Teil Fabriken, Werkstätten, in denen Waren hergestellt wurden – Nagelschmieden, wo man klirrende Eisenstäbe in Stücke schnitt, Kokereien, wo man in riesigen Öfen Koks brannte, Papiermühlen, wo man Holzpulpe und Ton zu einem Brei verkochte – dem Rohmaterial für Bücher und Magazine –, Jutespinnereien, Baumwollspinnereien, Töpfereien, Kohlezechen. Keine dieser Anlagen sah aus, als sei sie von menschlichen Wesen erbaut worden oder werde von Menschen benutzt. Riesenhafte, düstere, unregelmäßige Formen ragten ringsum auf wie Felszacken in einer steinigen Wüste, wie zerfallene, prähistorische Ruinen oder wie die zerbrochenen Spielsachen eines Riesenkindes. Die Töpfereien waren gigantische Trichter; die Kokereien riesenhafte Blumentöpfe; die Kohlezechen monströse Pyramiden mit Räderskeletten von der Größe einer Kirchenfront, die über sie hinausragten in den glühenden Himmel.

Immer wieder wurde die Fahrstraße von eisernen Schienenpaaren gekreuzt, und manchmal rollte langsam ein ratternder Zug aus Güterwaggons knapp vor dem Einspänner vorbei, dann schwitzte und wieherte und schauderte die Stute aus Angst vor dem plötzlichen Lärm, vor dem Geruch nach heißem Metall und dem funkensprühenden Rauch.

»Warum sollen wir denn ausgerechnet um diese Zeit in die Fabrik?« fragte Lucas nervös in eine der Pausen hinein, während sie das Vorüberfahren eines Zuges abwarteten. »Wird sie denn nachts nicht geschlossen?«

»Fabriken schließen nie.« Der Lehrer blickte flüchtig zu ihm hinüber. »Hast du noch nie was von Schichtarbeit gehört? Wenn die Tagesarbeiter weggehen, kommen die Nachtarbeiter, so daß die Maschinen, die einen Haufen Geld kosten, niemals stillstehen müssen. Wenn wir ankommen, wird gerade die Nachtschicht die Arbeit übernehmen. Es ist ganz einerlei, wann wir kommen – immer sind die Leute an der Arbeit.«

Irgendwie erfüllte diese Vorstellung Lucas mit Entsetzen. Er dachte an die Maschinen, die immerfort liefen, bei Tag und bei Nacht, an die gewaltigen Feuer, die immerfort brannten, an die riesigen Gebäude, unentwegt angefüllt mit kleinen, umherflitzenden Menschen … Niemals Dunkelheit oder Stille oder Ruhe! Bei dem Gedanken an Räder, die sich nur immerzu drehten und drehten, ohne je anzuhalten, packte ihn so etwas wie Panik.

»Stehen die Maschinen denn niemals still?«

»Oh, vielleicht eine Woche im Jahr, damit man die Dampfkessel reinigen und die große Presse neu beschichten kann. So, da sind wir«, sagte Mr. Oakapple mit finsterer Miene und zog den Kopf der Stute zur Seite in Richtung auf zwei gewaltige Torflügel in einer Mauer, die noch höher war als die um den Park von Schloß Mitternacht. Schienenstränge liefen mitten durch das Einfahrttor und weiter über einen weitläufigen, kopfsteingepflasterten Platz, der von Gasleuchten erhellt war.

Mr. Oakapple brachte die Stute zum Stehen und fand an einer Seite des Fabrikhofes eine Reihe offener Remisen, wo er sie unterstellen und festbinden konnte. Während er damit beschäftigt war, zog eine erbarmungswürdige kleine Menschenprozession in die entgegengesetzte Richtung an ihnen vorüber. Zwei oder drei Frauen mit karierten Schals über dem Kopf gingen neben zwei Männern her, die etwas trugen – eine kleine Gestalt auf einer Holzplanke, von einer Decke verhüllt.

In kurzem Abstand hinter ihnen ging eine andere Frau, tief unter ihrem Schal verborgen. Sie hielt die Arme verschränkt, den Kopf vornübergeneigt, und sie schleppte sich dahin, als sei sie seit Wochen todmüde, so lange schon, daß sie es kaum noch wußte.

Als sie an Lucas und Mr. Oakapple vorüberging, trat aus einem hellerleuchteten kleinen Kontor ein Mann im schwarzen Rock auf sie zu und redete sie an. »Mrs. Braithwaite … äh, Mrs. Braithwaite! Mr. Gammel läßt Ihnen sagen, daß Ihnen die Entschädigung morgen früh zugeschickt wird … Sie können sich darauf verlassen … Zehn Schilling und eine Gratisfußmatte. Von der allerbesten Qualität!«

»Zehn Schilling?« Die Frau schob ruckartig den Schal zurück und starrte den Mann sekundenlang wortlos an. Ihr Gesicht war sehr bleich. Dann sagte sie: »Was scheren mich Ihre zehn Schilling? Das bringt mir meine Jinny auch nicht zurück. Sie hatte die süßeste Stimme in unserer ganzen Straße, und einen Speckauflauf konnte sie machen, fast wie meiner, und dabei war sie erst acht.«

Der Mann im schwarzen Rock zuckte die Schultern. »Sagen Sie, was Sie wollen, aber es gibt nicht viele, die auf zehn Schilling und eine Gratisfußmatte hochnäsig pfeifen. Wieso, die können Sie doch wieder verkaufen, wenn Sie schon eine haben, und für den doppelten Fabrikpreis!«

»Wenn ich schon eine habe?« sagte sie bitter, und ihre Stimme wurde schrill. »Nein, ich habe schon drei! Drei feine Gratisfußmatten! Was sagen Sie nun, Mr. Bertram Smallside?« Sie zog den Schal wieder über das Gesicht und folgte den Trägern mit der Bahre durch das Tor hinaus in die Regennacht.

»Was hat sie gemeint?« flüsterte Lucas bestürzt, als er und Mr. Oakapple den Wagen stehenließen und auf den schwarzberockten Mann zugingen, der sich abgewandt hatte und wieder seinem Kontor zustrebte.

»Ach …« Die Stimme des Erziehers klang gedämpft und brüchig, als er hastig weitersprach. »Ich fürchte, das Kind ist wohl durch die große Presse verletzt worden … sie gehörte vielleicht zu den Fusselgreifern. Das passiert von Zeit zu Zeit, hab ich gehört …«

Er trat in das kleine Kontor. Lucas blieb draußen und blickte zur Toreinfahrt hinüber, wo jetzt niemand mehr zu sehen war. Und ihm fielen die Worte von Bob, dem Reitknecht, wieder ein: »Neunzehn oder zwanzig im Jahr regelmäßig – vor allem Fusselgreifer –, von denen sogar noch mehr als in der Wäscherei und Spannerei in die Strangpresse fallen …«

Drinnen im Kontor hörte er seinen Lehrer sagen: »Mr. Smallside? Guten Abend. Ich glaube, Sir Randolph hat Sie schon benachrichtigt. Ich komme vom Schloß. Wie vereinbart, habe ich den jungen Master Lucas Bell mitgebracht, damit ihm der Betrieb gezeigt wird.«

Mr. Smallsides Verhalten änderte sich schlagartig. Zunächst hatte er die Besucher nur mürrisch angesehen, als habe er wenig Zeit für sie. Jetzt aber lächelte er, und der schroffe, nüchterne Ton, den er Mrs. Braithwaite gegenüber angeschlagen hatte, wich einer unterwürfigen, händereibenden Höflichkeit, als er jetzt in den Hof hinaustrat.

»Der junge Master Bell? Ja, natürlich, ja natürlich. Sir Randolph geruhte es zu erwähnen. Er sandte eine Nachricht. Entzückt, Sie kennenzulernen, Master Bell, wirklich entzückt! Welch ein Vergnügen, welch ein Vergnügen! Wie gut ich mich noch Ihres lieben Vaters entsinne, das heißt, wenigstens fast erinnere ich mich an ihn, denn tatsächlich brach er ja genau ein Jahr, bevor ich hier Vorsteher wurde, nach Indien auf, um dort unser Zulieferkontor zu überwachen, aber ich habe seinen Namen hier so oft gehört, daß es fast dasselbe ist. So ein trauriger Verlust, als er verstarb! Und Sie sind nun also sein Sohn – der junge Master Bell! Schön, schön, junger Master Bell, was können wir für Sie tun?«

»Ich … ich weiß es nicht genau«, stammelte Lucas, höchst befremdet von all dieser Höflichkeit, die sich so kraß von der Behandlung unterschied, die ihm sonst zuteil wurde. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – wußte er nicht recht, ob ihm Mr. Smallside gefiel, dieser hagere, blasse Mann mit dem kahl werdenden Kopf und einem Gesicht von der Farbe und Form eines Riegels Teppichseife. Auch seine Hand, mit der er Lucas’ Hand ergriff und sie viele Male auf und ab schüttelte, fühlte sich irgendwie feucht-seifig an. Lucas entzog ihm die seine, sobald es eben anging, und rieb die Innenfläche in einem unbewachten Augenblick heftig an seiner rauhen Wolljacke ab.

»Also«, meinte Mr. Smallside, als er die beiden in sein Kontor geleitete – eine Art kleiner Hütte mitten auf dem Fabrikhof, drangvoll eng, heiß, angefüllt mit staubigen Papieren und erleuchtet von zischenden, runden Gaslampen, »also, was können wir denn dem jungen Master Bell anbieten? Ein bißchen Pfefferkuchen? Ein Tröpfchen Pflaumenwein? Einen Bisquit? Ich weiß doch, die jungen Herren sind gewöhnlich Süßmäuler!«

»Gar nichts, danke«, antwortete Mr. Oakapple an Lucas’ Stelle. Sein Ton war brüsk. »Ich meine, wir sollten unseren Rundgang unverzüglich beginnen. Der Junge muß auch noch seine Schulaufgaben machen.«

»Ach du liebe Güte!« Mr. Smallside schüttelte gramvoll den Kopf. »Muten Sie dem jungen Sprößling nur nicht zu viel zu, was, Mr. Oakapple? ›Immer Arbeit, niemals Spiel – bringt dich als Sieger nicht ins Zieh‹, so hieß es damals bei uns, als ich ein junger Bursche war.« Er legte den Kopf zur Seite und lächelte Lucas so breit an, daß es aussah, als liefe das Lächeln seitlich um seinen Kopf herum und träfe am Hinterkopf wieder zusammen. Deutlicher denn je wurde sich Lucas bewußt, daß er sich in Mr. Smallsides Gesellschaft bestimmt nie wohlfühlen würde, und er hoffte bloß, daß sie nicht in seiner Begleitung durch die Spinnerei gehen mußten.

Aber er merkte bald, daß er sich deshalb keine Sorgen zu machen brauchte. Sehr plötzlich nämlich gab Mr. Smallside zu erkennen, daß er fand, nun sei es genug mit dem Lächeln. Es fiel ihm vom Gesicht wie geschmolzene Butter. Er trat an die Tür seiner Hütte und brüllte über den Fabrikhof, wo eine Gruppe von Männern damit beschäftigt war, einen Güterwagen auszuladen: »Scatcherd! Scatcherd! Wo steckt der denn? He, einer von euch Stauern da – Barth, Stewkley, Danby, Bloggs –, schickt mir mal sofort den Scatcherd her. Los, beeilt euch!«

Sein Ton war wieder völlig anders – schimpfend, laut, scharf, so, als mache es ihm Vergnügen, seine Macht hervorzukehren.

Ein Mann löste sich von den anderen und rannte über den Hof.

»Da bist du ja endlich«, empfing Mr. Smallside ihn übellaunig. »Hast dir Zeit gelassen, was? Du sollst den jungen Master Bell hier durch den Betrieb führen und ihm alles zeigen. Alles, was er sehen will.«

»Und was ist mit der neuen Ladung Wolle?« fragte der Mann, der in die Hütte getreten war. Sein Ton war zwar nicht ungebührlich, aber auch durchaus nicht demütig; er stand in der Tür, japste ein wenig nach Luft und blickte Smallside unerschrocken an. Er war ein dünner, muskulöser, jüngerer Mann mit bleichem Gesicht, scharfen Zügen und schwarzem Haar, von dem ihm eine Strähne über die Stirn fiel, wodurch die Tatsache, daß er über einem Auge eine schwarze Klappe trug, zwar teilweise verdeckt, aber nicht völlig verborgen war. Es mochte an der Spiegelung des roten Lichtscheins draußen liegen, der durch das nackte Fenster hereinfiel, aber Lucas fand, in Scatcherds anderem Auge glomm ein Funke von irgend etwas Heftigem, etwas Grellem, Gefährlichem. Er sah aus wie ein Zirkustier, das nicht völlig gezähmt war.

»Bloggs wird mit der Wolle schon fertig«, antwortete Smallside barsch. »Führ den jungen Herrn herum, zeig ihm alles, was er sehen möchte.«

»Wo soll ich anfangen?« fragte Scatcherd in mürrischem Ton.

»Na, am Anfang. Zeig ihm die Einlaßschütte. Und dann die Schneidemaschine. Und dann die Webstühle. Und die Leimbereitung, das Zurichten. Und so weiter – großer Gott, bin ich dein Kindermädchen, hä?«

»Soll ich ihm die Presse zeigen?« beharrte Scatcherd. Dabei war an seinem Verhalten nichts Ungewöhnliches, allein die Frage wirkte irgendwie befremdlich.

Smallsides Antwort ließ einen Augenblick auf sich warten. »Später … das kann später kommen. Nach der Pause. Wenn dann noch Zeit ist. Nun los, Mann! Ich muß noch all diese Aufträge gegenzeichnen.«

Mit geschäftiger Miene wandte sich Mr. Smallside den Papieren auf seinem Schreibtisch zu, und Scatcherd bedeutete Oakapple und Lucas durch ein Seitwärtsrucken des Kopfes, daß sie ihm folgen sollten. Sie eilten ihm nach über das Kopfsteinpflaster des Hofes. Lucas warf einen mitleidigen Blick zurück auf Noddy, die arme Stute, die an diesem düsteren, lärmenden, trostlosen Ort alleingelassen wurde, und sah mit größter Abneigung dem entgegen, was ihm bevorstand.

Von dem, was er während der nächsten paar Stunden sah, sollte er nicht nur in der darauffolgenden, sondern in vielen künftigen Nächten träumen.

Nicht so sehr, daß das Gesehene furchteinflößend gewesen wäre – obgleich es das gelegentlich durchaus war –, aber es war alles so ungewohnt, so total anders als alles, was er je gesehen hatte. Die Umrisse, die Bewegungen der Maschinen waren so schwarz, so rasch, so häßlich oder so unvermutet. Die Geräusche waren so ungeheuerlich laut, die Hitze so sengend, die Gerüche so widerwärtig, ätzend oder erstickend.

»Das da is der Mischer …« – oder der Greifer, die Scheidepresse, der Stampfkessel, erläuterte Scatcherd unaufhörlich, während er, sich behende duckend, großen Metallarmen auswich, sich an enormen, schnell rotierenden Bolzen vorbeischob, vorbei an Rädern, die vor Geschwindigkeit fast unsichtbar waren, vorüber an unablässig wirbelnden Treibriemen, durch Bogengänge aus Kolben, die sich hoben und senkten wie die Beine irgendeines großen Insekts, dessen Körper im Wald der Maschinerie über ihnen verborgen war. Scatcherd machte sich nie die Mühe, den Kopf zu wenden oder die Stimme zu modulieren, während er seine Erläuterungen über den Betrieb von sich gab. Oftmals sah Lucas zwar, wie sich seine Lippen bewegten, aber verstehen konnte er manchmal weniger als ein Zehntel dessen, was er sagte. Waren es nun die richtigen Namen für die Maschinen, oder konnte es sein, daß Scatcherd sie absichtlich falsch unterrichtete? So oder so, Lucas hatte das Gefühl, daß er am Ende der zwei Stunden nicht klüger sein werde als am Anfang. Er war lediglich total verwirrt durch all das, was er sah.

Die Ankunft der Rohwolle war der einzige Teil des Prozesses, den er wirklich erfassen konnte: rohe Wolle, so, wie sie vom Rücken der Schafe kam, ratterte in Güterwagen auf den Schienensträngen heran, die durch den Vorhof liefen. Die Wolle war zu riesigen Ballen zusammengezurrt, verschnürt wie überdimensionale Postpakete. Männer schnitten die Kordeln durch, und augenblicklich explodierten die Ballen, quollen auf zu einer widerspenstig federnden Flauschmasse, die durch eine Schütte auf eine Art breite Rutschbahn befördert wurde, auf der sie in einen riesigen Spülbottich hinunterglitt. Hier wurde sie gewaschen und sortiert, sodann gekämmt, um Zotteln, Schmutzklumpen und Dornen zu entfernen. Schließlich wurde – je nach Qualität – ein Teil davon gefärbt und ein Teil gebleicht. Die Männer, die an den Färbekesseln arbeiteten, boten einen seltsamen Anblick, denn sie waren über und über mit den leuchtendsten Farben bespritzt, die Haare bunt, die Arme grün oder blau oder purpurrot bis hinauf zu den Ellbogen.

Einige der Teppiche wurden auf Webstühlen in Weberschiffchentechnik hergestellt. Diese Webstühle mit ihrer hoch aufragenden, komplizierten Mechanik füllten etliche der zentralen Gebäude aus. Andere Teppiche jedoch, die weniger kostspieligen, wurden durch ein neues Verfahren hergestellt, das, wie Scatcherd ihnen berichtete, von Sir Quincy Murgatroyd, dem Gründer der Fabrik, erfunden worden war. Er hatte eine Methode entwickelt, bei der kurze Stückchen Wolle auf einen Leinwandgrund geklebt wurden, ein Verfahren, das gegenüber der Webstuhlherstellung sowohl schneller als auch billiger war. Und wenn die Teppiche auch dazu neigten, sich nach ein paar Jahren aufzulösen – was machte das schon? Es war ja nicht die Sorte Teppich, die reiche Leute kauften. Bei diesem Hinweis bedachte Scatcherd seine Zuhörer mit einem boshaften Seitenblick.

»Sie sehen, der Leim ist nicht von der besten Qualität«, bemerkte er und blieb neben einer riesigen Wanne stehen, in der eine schaumige, übelriechende braune Brühe kurz vor dem Kochen stand. »Sehr schlechter Leim is das, und is auch nur gut so, denn wenn einer von den Burschen da reinfällt, was von Zeit zu Zeit passiert, dann hat er ’ne bessere Chance, lebend wieder rauszukommen – was sie zu Zeiten des alten Sir Quincy durchaus nicht taten, von wegen! Mit dem Leim, den der verwendete, hätte man das Rathaus von Blastburn kopfüber oben auf die Kilnpit-Klippen festkleben können, bis eine Woche nach dem Jüngsten Gericht.«

»Da fallen Leute rein?« fragte Lucas tonlos.

»Na ja, der Rand ringsum is glitschig, wie Sie sehen. Gehen Sie mal nicht zu dicht ran, junger Master, sonst spritzen Sie sich noch Ihre feinen Nankinghosen voll«, meinte Scatcherd mit spöttischem Lächeln.

Oakapple machte den Mund auf, als wolle er etwas erwidern, aber Scatcherd ging bereits weiter, die ganze Zeit redend – vorbei an breiten Walzen, die den Leim über den Leinwandgrund verteilten, vorüber an komplizierten mechanischen Armen, die, an Scharnieren sich vor- und zurückbewegend, die kleingehackte Wolle auf die leimbestrichene Fläche streuten. Dann gab es da Gerätschaften wie Rechen oder Kämme, die die Haufen gleichmäßig verteilten, Kardätscher, die etwaige Leimflecken entfernten, Schwämme, die lose Haare auftupften, und ein Sauggebläse, das die Wollhaare ansog, so daß sie aufrechtstanden, während der Teppich auf einer Drehscheibe, die sich Warbelplatte nannte, rundumgeschleudert wurde.

»Vielleicht reicht’s Ihnen jetzt, wie?« fragte Scatcherd, während sie an der Warbelplatte standen, die so schwindelnd und rüttelnd herumsauste, daß Lucas vom bloßen Zusehen ganz taumelig wurde. »Sieht aus, als hätten Sie jetzt so viel gesehen, daß es Ihnen für eine Schicht langt?«

Tatsächlich war es Lucas so zumute, aber Scatcherds Ton reizte seinen Stolz. »Was war das für ein Ding, das Sie Mr. Smallside gegenüber erwähnten – die große Presse? Die haben wir doch noch nicht gesehen, oder?«

»Oh, ich glaube, für einen Abend haben wir reichlich genug gesehen«, mischte sich Mr. Oakapple ein, aber Scatcherd überhörte wieder einmal den Erzieher und erwiderte, als hielte er das für ein höchst unerwartetes Anliegen: »Die Presse? Sie wollen die Presse sehen? Äh … na schön …« Damit drehte er sich auf dem Absatz um. »Dann hier entlang. Das Pressen ist das Ende des Herstellungsprozesses. Danach ist der Teppich fertig zum Verkauf. Hier drinnen ist die Presse. Vorsicht auf den Stufen nach unten, die sind glitschig. Der Leim kommt eben überall hin.« Der Presseraum mit seinem riesigen, tiefergelegenen Becken ähnelte der Krypta einer Kirche. An allen vier Seiten führten Stufen hinunter.

»Wo ist denn die Presse selbst?« fing Lucas an, aber dann, als er nach oben blickte, sah er, daß die gesamte Decke eine einzige, gigantische Metallplatte war, die durch eine hydraulische Vorrichtung gehoben und gesenkt werden konnte.

Soeben wurde in fieberhaftem Tempo ein Teppich auseinandergerollt und im Mittelteil des Beckens ausgebreitet. Kaum eine Sekunde nachdem er flach lag, sprangen die Männer, die das besorgt hatten, die Stufen hinauf – keinen Moment zu früh, denn die Presse kam mit einem dumpfen, ohrenbetäubenden Aufklatschen herabgesaust.

»Da kann man ’ne Haselnuß reinschmeißen, die kriegt man frei und gratis geknackt«, erläuterte Scatcherd sarkastisch.

Das glaubte ihm Lucas aufs Wort. Wenn da jemand ausrutschte und unter der Presse hinfiel, der war erledigt. Jetzt bewegte sich der Metallblock wieder aufwärts, viel langsamer, als er herabgekommen war, und der Teppich wurde von einem mechanischen Greifer weggezogen. Daraufhin sprangen blitzschnell ein halbes Dutzend Kinder in Arbeitsanzügen, die schon mit Besen in den Händen auf den Stufen gewartet hatten, auf den Boden hinunter und fegten ihn in rasender Eile und Emsigkeit sauber, ehe der nächste Teppich ausgerollt wurde.

»Warum kann der Boden nicht maschinell gefegt werden?« wollte Lucas wissen.

»Kinder sind billiger«, meinte Scatcherd lakonisch und warf ihnen wieder einen seiner schnellen Seitenblicke zu. »Maschinen müssen saubergehalten und geölt werden, aber Kinder kriegt man immer wieder neu.«

Eine Frage zitterte Lucas auf dem Herzen; aber Scatcherd, als habe er die unausgesprochenen Worte gehört, fuhr bereits fort: »Das hier is noch nich mal so gefährlich, richtig tückisch wird es erst, wenn der Teppich ausgebreitet wird, und man entdeckt einen Wollefussel oder ein Dreckklümpchen darauf. Ha! So wie da … sehen Sie?«

Ein neuer Teppich war ausgerollt worden, braun und golden. In der Mitte, weithin sichtbar in einem Kreis aus Gold, haftete ein Klümpchen schwarzer, öliger Wolle, hängengeblieben wohl während eines vorhergegangenen Arbeitsprozesses.

»Da sehen Sie … die Burschen an der Warbelplatte arbeiten einfach zu schlampig, da passiert das oft«, erklärte Scatcherd. »Jetzt muß natürlich jemand hin und den Schmutz wegholen, bevor er von der Presse reingedrückt wird. Immer der Schnellste von der Schicht muß das machen – der, den sie den Flitzer oder Fusselgreifer nennen. Da, passen Sie auf …«

Ein barfüßiges Mädchen schoß hinunter auf den Teppich, schnappte sich mit einer Metallzange den Wollfussel und sprang in die Sicherheit der Stufen zurück, just ehe die große Presse wieder herunterklatschte. Sie strauchelte ein wenig auf den Stufen, rettete sich jedoch, indem sie sich vorwärts auf Hände und Knie fallen ließ, während zwei ihrer Kameraden sie an den Armen packten.

Lucas nahm seinen Hut ab und rieb sich die Stirn mit dem Jackenärmel.

»Natürlich kriegt sie ’n bißchen extra bezahlt fürs Fusselgreifen«, sagte Scatcherd, »einen halben Penny Gefahrenzulage die Stunde. Die meisten von uns sind irgendwann mal Fusselgreifer gewesen, als wir jung waren, aber nicht für lange. Man hält das nicht lange durch, ’s macht einen nervös. Erst fängt man an, nachts davon zu träumen, und dann beginnen einem die Beine zu zittern und man kann nich mehr so schnell rennen.«

Das konnte Lucas sich sehr gut vorstellen. Allein schon dem Fusselgreifer bei der Arbeit zuzusehen, hatte ihn schier krank gemacht vor Angst. Mr. Oakapple ging es anscheinend genauso.

»Wir müssen jetzt nach Hause«, sagte er abrupt. »Für heute abend haben wir genug gesehen. Vielen Dank.«

Scatcherd nickte. Mit einem leichten Anheben der Schultern deutete er an, daß er wußte, wie ihnen zumute war, dann wandte er sich um und machte sich auf den Weg zu einem Haufen ungeöffneter Wolleballen.

In diesem Augenblick flitzte ein Mann in einem Rollstuhl in geradezu unheimlichem Tempo an Oakapple und Lucas vorbei. Er kurvte mit seinem Stuhl auf Scatcherd zu und rief: »He, Davey! Kommste zum Palaver heut abend in ›Masons Arms‹?«

Scatcherd drehte sich zu ihm um. Ohne auf die Einladung zu antworten, sagte er: »Zwei von deinen stinkfaulen, schlappen Tölpeln an der Warbelplatte haben heute nachmittag schon wieder mal Fusseln zurückgelassen. Hast du’s gehört – das mit der kleinen Braithwaite?«

Der Mann im Rollstuhl gab keine Antwort. Das Schweigen zwischen ihm und Scatcherd war geradezu zum Schneiden, wie die Luft vor einem Gewitter. Dann drehte der Rollstuhl ab und schoß davon. Mr. Oakapple trat in den Fabrikhof hinaus, und Lucas folgte ihm.

»Ist wohl nicht nötig, Mr. Smallside gute Nacht zu sagen – der ist beschäftigt«, meinte Mr. Oakapple und band die Stute los. Schweigend kletterten sie in den Zweisitzer. Das Pferd schien sichtlich froh fortzukommen. Es fiel in einen zügigen Trab und ließ die Wagenräder nur so hüpfen über Kopfsteinpflaster und Bahnschienen. Zügig ratterten sie durch das offene Tor, dann verlangsamten sie das Tempo für den langen, ansteigenden Weg aus Blastburn heraus.

Auf halbem Weg befand sich an der gegenüberliegenden Seite das Städtische Krankenhaus von Blastburn, das, wie Lucas wußte, Sir Quincy Murgatroyd auf eigene Kosten hatte erbauen lassen. Als sie an der Einfahrt vorüberfuhren, überlegte er, ob wohl das Kind der Braithwaites da drinnen war.

Aber kurz vor der Kuppe des Hügels sah er zu seiner Überraschung weiter vorn in einiger Entfernung ein Trüpplein Menschen – es war wohl immer noch dieselbe traurige kleine Prozession von vorhin, und immer noch trugen sie langsam das verletzte Kind.

»Wo können die denn hingehen?« wollte er von Mr. Oakapple wissen. »Hier oben, so weit aus der Stadt heraus wohnt doch niemand mehr … oder?« fügte er hinzu, als sein Lehrer stumm blieb.

»Nein … hier oben wohnt niemand«, sagte Mr. Oakapple zögernd nach einer weiteren Pause. »Ich glaube, sie gehen zum Friedhof.«

Das Friedhofstor, flankiert von zwei mächtigen Granitsäulen, auf denen je ein steinerner Engel stand, lag zur Rechten gleich hinter der Hügelkuppe.

Als der Wagen das Portal erreichte, war die Gruppe der Trauernden bereits hindurchgegangen, aber die verhüllte Frau, die Mr. Smallside als Mrs. Braithwaite angesprochen hatte, war draußen geblieben. Sie saß auf einem Meilenstein an der Straße, wiegte sich unaufhörlich vor- und rückwärts und sagte ein übers andere Mal dieselben Worte. »Meine Jean haben sie gekriegt; meine Nance haben sie gekriegt; meine Jinny haben sie gekriegt. Aber Sue kriegen sie nicht; und Betsy kriegen sie auch nicht. Lieber laß ich sie verhungern. Lieber laß ich sie verhungern …«

Einer der Männer kam vom Friedhof wieder zurück. »Kommst du jetzt?« fragte er unsicher. »Willst du nicht dabeisein?«

»Nun komm, Emma, Mädchen«, bat eine andere Frau und legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter. Aber Mrs. Braithwaite schüttelte den Kopf.

»Hab’s dreimal gesehen. Ich weiß, wie es geht«, sagte sie. »Ich hab meiner Jinny schon an dem Tag Lebwohl gesagt, als sie zum ersten Mal in die Spinnerei ging.« Und wieder verfiel sie in ihr monotones Murmeln und die wiegende Bewegung.

Mr. Oakapple raffte scharf die Zügel und ließ sie auf den Widerrist der Stute klatschen. Sie war langsam gegangen, jetzt aber fiel sie in Trab, und bald lag das Friedhofsportal hinter ihnen.

Keiner der beiden Insassen des Wagens sprach, bis sie den Stallhof erreicht hatten, wo Garridge, der Stallmeister, schon wartete, um die Stute zu übernehmen und sie abzureiben.

»Master Lucas soll in Sir Randolph sein Arbeitszimmer«, verkündete er einsilbig.

Lucas’ Stimmung, bereits gedrückt genug durch die Ereignisse des Abends, sank noch weiter. Wartete Sir Randolph womöglich auf eine Berichterstattung, eine Aufzählung all dessen, was sie gesehen hatten? Würde er Lucas zwingen, eine endlose Reihe von Fragen über die Teppichherstellung zu beantworten? Er bemühte sich vergebens, seine Gedanken zu ordnen und sich an die Reihenfolge der Arbeitsgänge zu erinnern, die aus Wolle Teppiche machten. Das einzige, was ihm einfiel, war der Fusselgreifer, der gerade noch unter dem mörderischen Gewicht der Presse hervorsprang, und Mrs. Braithwaite, die in ihren Schal gehüllt neben dem Friedhofstor saß.

»Gut, also troll dich, Junge«, sagte Mr. Oakapple barsch und verfiel wieder in seine übliche gereizte Unfreundlichkeit, von der während ihres Besuches in der Spinnerei nichts zu spüren gewesen war. »Du weißt, Sir Randolph kann es nicht ausstehen, wenn man ihn warten läßt. Komm – ich nehm deinen Hut und deine Jacke. Du kannst die Vordertreppe rauflaufen, das geht schneller.«

Lucas nickte mit trockenem Mund und lief zur Eingangshalle. Heftig pochte ihm das Herz in der Brust. Während er langsam die Marmortreppe hinaufstieg, erdrückte ihn schier das Gewicht dieses Tages, der ihm vorkam, als dauere er bereits an die vierundzwanzig Stunden. Einen Augenblick lang blieb er draußen vor der Tür des Arbeitszimmers stehen und traute sich nicht anzuklopfen. Er hatte dieses Zimmer während des Jahres, das er nun schon auf Schloß Mitternacht lebte, nicht öfter als dreimal betreten, und bei keiner dieser Gelegenheiten hatte sich sein Vormund im geringsten freundlich gezeigt oder froh, ihn zu sehen. Auch heute bestand wohl kaum Hoffnung auf eine Änderung.

Es mußte sehr spät sein, beinahe Mitternacht. Aber Sir Randolph blieb immer bis spät in die Nacht auf. Jeder wußte, er litt an Schlaflosigkeit. Oft konnte man während der ganzen Nachtstunden seine Lampe über das rußige Gras des Parks schimmern sehen.

Hinter der Tür war kein Laut zu hören, und Lucas klopfte leise an, mit der inbrünstigen Hoffnung, sein Vormund sei vielleicht mittlerweile eingeschlummert, nachdem er befohlen hatte, ihn herzuschicken, aber da tönte schon die hohe, gereizte Stimme: »Na komm schon, komm rein! Verdammt, trödel da nicht vor der Tür rum!«

Rasch machte Lucas die Tür auf und ging hinein.

Das Arbeitszimmer – ein Raum, fast ebenso kahl und schäbig wie das Schulzimmer – war nur von einer einzigen Kerze erhellt, die bis auf einen Stumpf heruntergebrannt war. Ein paar rötliche Kohlen glommen nur noch schwach im Kamin. Auf dem Tisch neben der tropfenden Kerze standen eine fast leere Karaffe und ein Glas. Schwerer Branntweingeruch hing im Raum.

Sir Randolph saß, Gesicht und Körper im Schatten, zusammengesunken in dem schweren Ledersessel am Schreibtisch und hatte sich eine Wolldecke um die Schultern und über die Knie gelegt. Seine beiden Krückstöcke lehnten gegen die Sessellehne.

»Los, was stehst du da rum! Komm her, Junge!« befahl er barsch mit seiner hohen Stimme, die an das Krächzen eines zornigen Vogels gemahnte.

»Soll ich nicht ein paar Kohlen aufs Feuer legen, Sir?«

»Nein, verdammt nochmal! Kohlen kosten Geld … wohl noch nie gehört, was? Laß das sein! Aber halt – du kannst mir eine neue Kerze anzünden. Und dann komm her.«

Lucas fand eine Kerze, steckte sie anstelle des Stummels in den Halter und zündete die neue an der alten an. Als die gelbe Flamme größer wurde, sah er beiläufig, daß der Teppich auf dem Fußboden von Sir Randolphs Arbeitszimmer genau das gleiche braun und goldene Muster hatte wie der, den er eine Stunde zuvor im Becken der großen Presse gesehen hatte.

»Also … du bist da unten gewesen? Hast die Spinnerei besichtigt?« fragte Sir Randolph, als Lucas die Kerze vor ihn hinstellte. Die Lautstärke seiner Stimme veränderte sich mit einer Willkürlichkeit wie die des Windes oder des Meeres. Abrupt beugte er sich vor und trank hastig aus dem Glas, wobei er etliches vom Inhalt über die lederbezogene Tischplatte verschüttete.

»Ja, Sir.«

»Und? Alles verstanden?«

»Nein … nicht alles, Sir …« begann Lucas.

»Dann schweig! Ich will’s auch gar nicht hören. Will’s … nich … hör’n …« wiederholte er in einer Art zornigem Singsang, obgleich Lucas gar keinen Versuch machte zu reden. »Geh hin und lern es – das ist alles. Jeden Tag gehst du hin, bis du’s verstehst … jeden Tag, das verlang ich von dir.«

»Kann … kann ich jetzt gehen, Sir?« Lucas war verwirrt und geängstigt durch das merkwürdige Benehmen seines Vormunds – halb zornig, halb abwesend, so, als beschäftigten ihn Dinge, die einer fernen Vergangenheit angehörten.

Sir Randolph starrte abwesend in den Schein der neuen Kerze. In dem schwachen Licht war wenig zu sehen von seinem tief gefurchten Gesicht, nur der Umriß seiner Hakennase, die schweren Augenlider und der dünne Mund, dessen Unterlippe hinter der oberen ein wenig zurückwich, wodurch sein Profil nur noch mehr Ähnlichkeit mit einem Raubvogel bekam. Obgleich er wenig älter war als sechzig, hätte man ihn für einen um zehn oder fünfzehn Jahre älteren Mann halten können. Sorgen und sein persönliches Wesen hatten ihn früh altern lassen.

»Gehen? Nein! Wer hat dir gesagt, daß du gehen kannst? Steh still – hampel nicht rum!« Sir Randolphs Kopf fuhr in die Höhe. Er nahm seine abgewetzte schwarze Samtkappe ab und blickte in sie hinein, als hoffe er, drinnen ein schriftliches Memorandum zu finden. »Ich sag dir, wann du gehen kannst. Jetzt jedenfalls noch nicht! … War doch noch was, was ich dir zu sagen hatte …«

Wieder verfiel er in tiefes Nachsinnen.

Lucas wartete nervös.

»Ah … ich weiß, was es war … ja.« Sir Randolph tauchte aus seiner Versunkenheit auf. »Der Kerl sagte, du hättest dich über Einsamkeit beklagt. Wolltest Gesellschaft haben … oder so ähnlich …« Seine nächsten Worte waren ein kaum verständliches Brummein, von dem allenfalls etwas wie ›plärrendes Muttersöhnchen‹ verständlich war.

»Einsamkeit? Sir … ich habe nie …« fing Lucas an, zutiefst empört. Wen konnte Sir Randolph gemeint haben mit ›der Kerl‹? Sicherlich nicht Mr. Oakapple, dem Lucas nie etwas erzählt hatte von seiner Sehnsucht nach einem Freund oder einem Gleichaltrigen.

»Ruhig, Junge! Du bis … bist ja nicht zu meinem Vergnügen hier, klar? Weiß Gott, das bist du nicht! – Wo war ich stehengeblieben? Ja … Gesellschaft. Also, von jetzt an hast du Gesellschaft, dank der Einmischung dieses Kerls. Ha … hast Gesellschaft. Daß mir also keine weiteren Klagen mehr von dir kommen … ver … verstanden?«

»Ich habe Gesellschaft? Was für Gesellschaft, Sir?« Lucas war völlig verwirrt.

»Heute abend angekommen. Die alte Gourd hat alles arrangiert. Eichenzimmer. Also kein Gestöhne mehr, keine Quengelei, hörst du? Und jetzt geh! Glaubst du, ich laß mich den ganzen Abend von dir anstarren mit deinem Käsegesicht? Du erinnerst mich … Das halt ich nicht aus … Ist ja egal. Aber sie war schön«, murmelte er vor sich hin. »Geh mir aus den Augen!«

»Darf ich … darf ich ins Eichenzimmer gehen?«

»Na gewiß doch! Geh nur … spiel Billard bis zum Hahnenschrei, wenn du willst, ich will dich nicht aufhalten«, höhnte Sir Randolph und zog wild an einem Klingelzug aus scharlachroter Wolle. »Lauf Schlittschuh, spiel Murmeln, reite meine Pferde, zerbrich die Fensterscheiben, reiß das ganze Haus ein … aber mach, daß du wegkommst!«

Da wartete Lucas nicht länger. Er schlüpfte aus der Tür und ließ seinen Vormund – abwechselnd murmelnd, fluchend und an dem scharlachroten Strang reißend – allein. Wie der Wind jagte er den Korridor entlang auf jenes Eichenzimmer zu, aus dem er früher am Abend Mrs. Gourd hatte kommen sehen.

Nur flüchtig kam ihm der Gedanke, daß es ein wenig spät sein könnte, den Neuankömmling zu stören, aber zu groß waren sein Eifer und seine Einsamkeit, um Aufschub zu dulden. Ein Gefährte!