Haß beginnt daheim - Joan Aiken - E-Book

Haß beginnt daheim E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Nach einem Nervenzusammenbruch ist Caroline zur Erholung bei ihrer Familie: der Mutter Lad, Trevis, der älteren Schwester Hilda und einer alten Tante. Doch statt zu genesen, wird sie immer verwirrter…

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Joan Aiken

Haß beginnt daheim

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Diogenes

Prolog

Harry Lupac wartete auf das Mädchen, das er ermorden wollte. Er war unruhig vor Erwartung, wie eine Braut vor dem ersten Besuch ihrer Schwiegermutter, betrachtete sich nervös im Spiegel, leerte einen leeren Aschenbecher, rieb unnötigerweise an einem Fleck auf dem Tisch. Er hatte noch nie einen Mord geplant, und das Planen machte ihn gereizt, denn es war nicht seine Art, Probleme im voraus zu lösen: Er tat es jetzt nur aus schierer Notwendigkeit. Er starrte aus dem Fenster auf den Pfad, den sie heraufkommen würde.

Noch niemand.

Ob sie hübsch war? Er wußte es nicht. Es wäre eigenartig, wenn sie es wäre. Bei diesem Gedanken, der ihm, so eifrig wie er sich mit den nüchternen Details der Operation beschäftigt hatte, noch nicht gekommen war, packte ihn so etwas wie Erregung, und er ging durchs Zimmer, besah sich erneut im Spiegel und zupfte dabei etwas selbstgefällig an der mit dem blaßgrünen Hemd harmonierenden dunkelgrünen Krawatte. Er hatte ein längliches, lebhaftes, vergeistigt hageres Gesicht, rote, aufgeworfene Lippen, haselnußbraune Augen; eine Haarlocke fiel ihm fortwährend in die Stirn und wurde fortwährend zurückgeworfen.

»Meine liebe junge Frau«, sprach er zum Spiegel gewandt. »Guten Tag. Es tut mir so leid, daß unsere erste Begegnung auch unsere letzte sein muß. Ich bedaure das besonders, jetzt wo ich sehe, daß Sie eine so schöne und bezaubernde Dame sind.« Er begann zu kichern, verstummte dann, über das Geräusch seiner Stimme in der leeren Hütte die Stirn runzelnd, ging zum Fenster hinüber und schaute erneut auf den Weg. Natürlich würde er nichts dergleichen sagen.

Es war nichts von ihr zu sehen. Beruhigt fläzte er sich auf einen Stuhl, legte die Beine schräg auf den Tisch und fuhr zur Decke starrend fort:

»Aber da Sie nun einmal sterben müssen – und das, fürchte ich, ist unumgänglich –, kann ich Ihnen eine Kleinigkeit anbieten, etwas spendieren, das Ihnen die letzten Momente versüßen würde, hmm? Es wäre das mindeste, was ich für Sie tun kann. Einen Martini? Und darf ich Ihnen diesen Veilchenstrauß an den Aufschlag stecken?«

Es waren keine Veilchen da, aber er zog eine Skabiose aus einem recht hübsch zusammengestellten Strauß Wiesenblumen in einer Vase und hielt sie seiner unsichtbaren Gesprächspartnerin schwungvoll hin. »Wie meinen Sie? Sie sehen keine Notwendigkeit zum Sterben? Sie verstehen nicht? Nun ja, in diesem Fall darf ich es Ihnen erklären. Sehen Sie, es war dieses wirklich unglückliche Ereignis letzten Sonntag …«

Aber eigentlich hatte es viel, viel früher begonnen.

 

Sie lief verstohlen durch den Wald, wie ein gejagtes Geschöpf; sie sah sich im Laufen wachsam nach hinten und nach allen Seiten um und blieb manchmal stehen, um auf Schritte zu lauschen. Sie hätte auffällig genug gewirkt, hätte es einen Beobachter gegeben, denn unzeitiger Aprilschnee hatte das ganze Tal weiß getupft. Kahle Eichen und Birken mit einem nur noch spärlichen Mantel von Grün hoben sich als Silhouetten ab, weiße Spuren kreuzten und verzweigten sich wie Narben auf dem steilen, baumbestandenen Hang, und die einsame laufende Gestalt war auf Hunderte von Metern deutlich zu sehen. Aber hinter ihr wurden ihre Spuren vom fallenden Schnee verwischt; daraus schöpfte sie Trost.

Zur Hälfte war ihre Vorsicht köstliche Selbsttäuschung – denn es war wirklich nicht sehr wahrscheinlich, daß ihre Mutter oder ihre Schwester, geschweige denn Kusine Flora, sich bei solchem Wetter hier in dieses Ende des Tals verirrten, selbst wenn sie die Hunde bewegten –, aber zur Hälfte war die Vorsicht durchaus echt. Angenommen, sie fanden es heraus? Wie würde ihre Reaktion aussehen? Wut, Empörung, gehässige Belustigung? Bei dem Gedanken zusammenzuckend, floh sie noch schneller durch das Gewirr von Weiß und Grün. Ihr Vorwärtskommen glich einer blitzschnell von einer Deckung zur nächsten gezeichneten Kurve: Diagramm eines Mädchens, das zum Stelldichein mit ihrem Liebsten eilt.

So schnell sie auch gewesen war, Tim war vor ihr da.

Am Kopf des Tebburn-Tals tauchte ein stillgelegtes Eisenbahngleis kurz aus einem Tunnel auf, überquerte auf einem Viadukt den schneebedeckten, bewaldeten Abgrund und verschwand wieder im nähergelegenen Hang; neben der Tunnelöffnung stand ein verlassenes Bahnwärterhäuschen. Tims altes Motorrad war schon zwischen dem Holzstoß und der Wand eingestellt, mit einem Fetzen schneebedecktem Sackleinen getarnt. Es war unwahrscheinlich, daß hier jemand vorbeikam, aber sie hatte ihn immer angefleht, es zu verstecken, und er hatte es, sie auslachend und ihr das kurze Haar zerzausend, versprochen.

Jetzt schlich sie, um ihn nicht zu enttäuschen, indem sie weniger Vorsicht walten ließ, als sie von ihm gefordert hatte, leise wie eine treibende Schneeflocke an der Wand entlang, bis sie durch das kleine Wohnzimmerfenster hineinsehen konnte. Die meisten Scheiben waren gesprungen, alle waren schmierig vor Schmutz, aber sie konnte ihn gerade noch sehen. Ihr Herz machte vor lauter Liebe und Erstaunen einen Freudensprung, weil sie es in jeder Phase des Getrenntseins unmöglich fand zu glauben, daß sie jemals im Leben wieder das ungeheure Glück und die Freude erleben würde, ihn wiederzusehen.

Aber da war er.

Das kleine Vorderzimmer war wegen des darüberliegenden Hangs und der dichtgedrängten, unbeschnittenen Bäume dunkel und klamm, aber sie hatten es fertiggebracht, es gemütlich zu machen. Über ihren eigenen Wagemut entsetzt, war sie heimlich zu einer Gebrauchtmöbelauktion in Bridpool gefahren, wobei sie eine Klavierstunde schwänzte (der alte Mr. Monsell käme nie auf die Idee, anzurufen und zu fragen, wo sie blieb), und hatte mit Geld, das Tim ihr gegeben hatte, zwei Stühle, einen ramponierten Tisch und eine Rolle mottenzerfressenen, alten Teppichs, hellrosa Rosen auf grünem Grund, gekauft.

»Genau das Richtige für ein Liebesnest«, hatte Tim gescherzt.

»Ach Tim, nenn es nicht so! Liebesnest ist ein schrecklicher Ausdruck. Das hier ist eine Zuflucht – nein, eine Freistatt. Wenn wir uns bloß trauen könnten, ein Feuer anzumachen.«

»Laß nur, der Ölofen reicht völlig aus.«

Er hatte gerade den Kessel darauf stehen, wie sie sah; ein Dampffaden wand sich aus der Tülle. Er mußte sehr lange vor ihr gekommen sein, lange genug, um seine Bücher auf dem Tisch auszubreiten und sich in seine Arbeit zu vertiefen. Er hatte sie noch nicht gesehen; seine Stirn war konzentriert gerunzelt, sein Kopf auf eine Faust gestützt, die Finger ins Haar gewühlt. Während sie ihm zusah, ergriff sie zum erstenmal ein seltsamer, mütterlicher Impuls – in sein Studium versunken, wirkte er so jung und verletzlich. Bislang hatte sie immer wie zu einem Beschützer zu ihm aufgeblickt. »Zerbrich dir nicht den Kopf, Carinney, ich mach das schon irgendwie«, pflegte er über irgendein Problem, das ihr ausweglos und unüberwindlich vorkam, zu sagen. Doch nun überfiel sie wie eine Angst der Gedanke: er muß sich um so vieles sorgen, sein Examen, die Krankheit seines Vaters und das Familiengeschäft – ist es fair, ihn auch noch mit diesem Versteckspiel zu belasten?

In diesem Moment blickte er auf, sah sie und lächelte; es hatte den gleichen Effekt wie plötzlich hervorbrechender Sonnenschein in einer felsigen Landschaft. Mit einem Satz war er auf den Beinen und hatte die schiefhängende Tür geöffnet; sie flog ihm in die Arme.

»Was hast du denn draußen im Schnee herumgestanden, du albernes Geschöpf? Warum bist du nicht hereingekommen?«

»Ich habe Liebeswellen durchs Fenster gesendet.«

»Ganz nah ist es doch schöner«, sagte er und drückte die Wange an ihr dunkles Haar. »Du bist schrecklich spät dran; was hat dich aufgehalten?«

»Es sind Leute zum Lunch gekommen …«

»Freunde?«

»Wir haben keine Freunde«, sagte sie. »Nein, Leute, die einen Deerhound kaufen wollten. Ich mußte dableiben und die Hunde herumführen; ich habe gedacht, ich käme nie weg.«

»Macht nichts, jetzt bist du hier.« Schon hatten sie sich wie üblich niedergelassen, er in seinem Lehnstuhl, in Gedanken wieder halb bei seinen Lehrbüchern, halb sie mit Liebe umfangend; sie machte es sich auf einem Kissen auf dem Boden bequem und lehnte sich stumm vor Glück an seinen Stuhl.

»Ich mache gleich Tee«, sagte sie kurz darauf.

»Noch nicht – laß mich das eben fertigmachen …« Er war wieder versunken, schlug sich mit Symbolen herum, die ihr unverständlich waren, aber das machte ihr nichts aus. Sie war stolz darauf, daß sie ihn nicht ablenkte, daß er in ihrer Gegenwart so intensiv arbeiten konnte. »Es hilft, dich dazuhaben«, hatte er einmal gesagt. »Du bist ein Katalysator.«

Endlich tauchte er aus seiner Versunkenheit auf, löste sich von den verwirrenden Formeln seines Problems und lächelte ihr zu. Sie erwiderte ernst seinen Blick, sprang dann auf und machte sich still zu schaffen, nahm Tassen aus einem klammen Wandschrank, dann eine Teekanne und eine Büchse Tee.

»Ich habe einen Kuchen mitgebracht.«

»Gut«, sagte Tim. Er streckte sich. »Von der Konzentration kriege ich Hunger. Ich hab eine Menge getan. Werd in Oxford nicht annähernd so hart arbeiten können.«

Sie wandte sich von ihm ab, beugte sich über den Kessel, damit er den Schmerz nicht sah, der ihrem Gesicht beim Gedanken an die Trennung einen verhärmten Ausdruck gab. Jedes Trimester, wenn er wegging, war es schlimmer; diesmal wußte sie wirklich nicht, wie sie die totenähnliche Finsternis des Lebens ohne ihn aushalten sollte.

»Kopf hoch, Carinney«, sagte er sanft und drehte ihr Kinn mit einem Finger zu sich hin. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wimper; verschämt wischte sie sie weg. »Nur noch zwei Monate, denk daran. Und dann, wenn du deiner Mutter wirklich nicht die Stirn bieten willst …«

»Nein. Nein!«

»… besorgen wir uns eine Sondergenehmigung und verschwinden nach Weston-super-Mare oder Walton-on-the-Naze …«

»Stow-on-the-Wold.« Sie brachte ein unsicheres Lächeln zustande.

»Jedenfalls irgendwohin, wo sie uns nie vermuten würden, und dann heiraten wir, schicken eine Postkarte, um Bescheid zu sagen, und ich suche mir einen Job in Aserbeidschan oder Chimborazo, und wenn du deine liebe Familie das nächste Mal siehst, bist du eine weltkluge, von der Tropensonne gebräunte, würdige Dame, die die Gewohnheit hat, nach dem Butler in die Hände zu klatschen und zu rufen: ›Ho! Chota-Gläschen! Brandy-pani-da!‹«

»Esel! Ich möchte Hudsons Gesicht sehen, wenn jemand nach ihm in die Hände klatscht. Höchstwahrscheinlich würde ihn der Schlag treffen. Nachdem ich miterlebt habe, wie Mutter Dienstboten behandelt, möchte ich eigentlich für den Rest meines Lebens keine mehr haben.«

»Ich fürchte, du wirst dich an ein ganzes Gefolge gewöhnen müssen«, mahnte Tim sie feierlich. »Sonst denken die anderen Memsahibs noch, du hältst die gute alte Fahne nicht mehr hoch.«

»Du meine Güte, muß ich wirklich? Ich würde die Arbeit viel lieber selbst machen, ich würde es schnell lernen. Wenn es doch bloß nicht so wahrscheinlich wäre, daß du auf so waschechten Außenposten des Empire arbeiten mußt. – Nein, das stimmt nicht, es ist mir egal, wo wir sind oder ob ich fünfzig Diener herumkommandieren muß, solange wir zusammen und von hier weg sind. Ich kann immerhin deine Socken stopfen.«

»Terylene«, sagte Tim grinsend. »Kriegen nie Löcher. Spiel lieber jetzt Hausfrau, solange du noch kannst.«

»Also gut.« Sie schob seine Bücher auf eine Seite des Tisches und breitete ein Tischtuch über die andere, ehe sie Tassen und Teller auflegte. »Ich hab sogar daran gedacht, die Kanne anzuwärmen.«

»Hast du auch Tee reingetan?« Er guckte skeptisch und nickte ob ihres plötzlich bangen Gesichtsausdrucks. »Bis ich mein Examen abgelegt habe, bist du eine Spitzenköchin.«

»Keine Gelegenheit zum Üben, während du weg bist«, sagte sie traurig.

»Du könntest allein hier heraufkommen. Oder mit Hilda.«

»O nein, auf gar keinen Fall. Das hier gehört uns, niemand sonst.« Sie blickte sich liebevoll um und dachte: Nie werde ich glücklicher sein als hier in diesem muffigen kleinen Zimmer mit den blaßroten Rosen auf dem Boden und den Schimmelflecken an den Wänden. Wenn ich hundert Jahre alt werde und jeden Tag meines Lebens mit Tim verbringe, werde ich mich trotzdem immer daran erinnern.

Keine Vorahnung ergriff sie, keine Warnung vor einem anderen, nicht fernen Tag, an dem sie in diesem anheimelnden Zimmer sitzen und essen und trinken würde, nicht mit Tim, sondern mit einem Feind, einem lächelnden Fremden, der ruhig und skrupellos ihre Vernichtung plante.

»Dee – Hilda ist wieder zu Hause, hab ich dir das schon erzählt?« bemerkte sie. »Es gab fürchterlich Krach, als sie vor zwei Tagen plötzlich eingetrudelt ist; du weißt doch, sie war so eine Art bezahlte Gesellschafterin plus Hundepflegerin bei diesen Adligen in Schottland. Mutter ist wütend, daß sie geflogen ist, weil sie hinter einem Heuhaufen den Sohn des Gutsherrn geküßt hat.«

»Arme Hilda. Warum konnte sie ihn nicht heiraten?«

»Ich nehme an, er muß Geld oder jemand Respektablen heiraten. Unsere Familie entspricht dem wohl kaum. Mutter hat vor Wut getobt; sie hat gesagt, wenn Hilda ihre Karten nicht besser ausspielen könne, dann müsse sie jetzt eben zu Hause bleiben und aushelfen, sie sei es leid zu versuchen, sie in der gehobenen Gesellschaft unterzubringen. Und Hilda hat gesagt, sie würde eher auf den Strich gehen als versuchen, über den Hundezwinger in die anständige Gesellschaft aufzusteigen. Sie war fuchsteufelswild. Sie verabscheut es, wieder zu Hause zu sein.«

»Läßt sie es an dir aus?« sagte Tim sanft.

»Ein bißchen.« Sie schaute von ihm weg, zum Fenster hinaus. »Macht nichts. Wir wollen nicht an meine gräßliche Familie denken. Erzähl mir von deiner. Wie geht es deinem Vater – geht es ihm etwas besser?«

Tims junges, offenes Gesicht wirkte plötzlich abgespannt und zehn Jahre älter. Beunruhigt, da sie wieder das nervöse Zucken in seinem Gesicht bemerkte, das ihn seit kurzem befallen hatte, legte sie ihm die Hand an die Wange.

»Nein, es geht ihm eigentlich nicht allzu gut. Tatsächlich war der Facharzt ziemlich offen, als er das letzte Mal herüberkam – sie haben nicht viel Hoffnung, daß er vollständig genesen wird. Und das könnte bedeuten, daß ich nicht abhauen und mir einen Job bei einer Versuchsbohrung in Cotopaxi suchen kann, sondern mich statt dessen dahinterklemmen und sehr viel eher, als wir erwartet hatten, in die gute alte Firma eintreten muß.«

»Ach Liebling!« In ihrem Gesicht regten sich gleichermaßen Bestürzung und Anteilnahme. »Dein armer Vater! Wie furchtbar. Und ich Egoistin rede die ganze Zeit von meinen Problemen …«

»Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie sie meinen. Der alte Knabe ist eigentlich teuflisch zäh, genau wie ich. Ich denke, er wird wieder auf die Beine kommen.«

»Ach, das hoffe ich so. Ich hoffe, es geht ihm besser, wenn du dein Examen machst.«

Wenn wir durchbrennen und heiraten, aber das sagte sie nicht.

»Ist noch Tee da?«

»Massenhaft.« Als sie ihm seine Tasse brachte, nahm er ihre Hand und zog sie herunter, bis sie neben ihm kniete und er die Arme um sie legen konnte.

»Hab keine Angst«, sagte er. »Ich werde immer da sein und für dich sorgen, egal was passiert. Wir haben so wahnsinniges Glück, daß wir einander haben …«

Sie blickte auf, weil sie sich fragte, warum er jäh verstummt war, und hörte das Knarren der Tür, spürte, wie ein kalter Luftzug die winzigen Härchen auf ihrer Haut aufrichtete.

Tims Gesicht, das ihr über die Schulter blickte, wurde plötzlich leer, mit dem angespannten, wachsamen Blick eines Menschen, der eine Masse Mauerwerk wanken sieht und auf den Einsturz wartet.

»So, so! Zwei Turteltauben in ihrem Nest!«

Die heisere, spöttische Stimme von Lady Trevis fuhr zwischen sie wie eine Laubsäge. Keiner sagte etwas, und sie fuhr fort: »Hierher gehst du also an den langen Nachmittagen, Caroline. Kein Wunder, daß du keine Pfadfinderführerin werden wolltest. – Finden Sie nicht, daß meine Tochter für diese Art von Vergnügen ein bißchen jung ist, Mr. Conroy? Sie sind doch Tim Conroy, nicht wahr?«

Tims Hand glitt von Carolines Schulter, als sie sich im Aufstehen langsam umwandte und ihre Mutter ansah, die am Türsturz lehnte. Lady Trevis hatte die Vierziger zur Hälfte hinter sich und war gerade im Begriff, sich nicht mehr um ihr Äußeres zu scheren, aber da sie im Moment enge Hosen und eine gelbe Seidenbluse trug, die sie wegen der Hundekäufer angezogen hatte, brachte sie es fertig, fast schon einer eleganten Erscheinung nahezukommen – auf belustigte Weise nachsichtig gegen die Verwahrlosung, in der sie ihre Tochter vorgefunden hatte.

Wie stets in Gegenwart ihrer Mutter verflüchtigte sich Carolines ganzes Selbstbewußtsein; ihre Hände hingen linkisch herab, sie stand stumm da. Tim war erstaunt über die Veränderung, denn er sah seine Liebste, die, wenn sie mit ihm allein war, beinahe wie auf Wolken, strahlend vor Glück wirkte, in eine schmollende Halbwüchsige verwandelt. Zum ersten Mal wurde ihm völlig bewußt, wie gerechtfertigt ihr verzweifelter Wunsch war, von zu Hause wegzukommen.

»Nun?« wiederholte Lady Trevis mit erhobener Stimme. »Hat keiner von euch etwas zu sagen? Hast du deine Zunge verschluckt, Caroline?«

Da redeten sie beide gleichzeitig. Tim sagte: »Es ist nicht so, wie Sie …«

Caroline sagte: »Tim arbeitet für sein Examen. Er kann sich besser konzentrieren, wenn ich bei ihm bin.« Sie sprach leise, mit gesenktem Blick.

»Aber ja, ganz bestimmt!« Von dem gedämpften Ton, in dem die Szene sich bislang abgespielt hatte, gelangweilt, vollführte Lady Trevis einen plötzlichen Rollenwechsel von der anständigen Frau zum Marktweib. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche Art von Konzentration hier stattfindet. Ihr haltet mich wohl für dumm.« Ihr Blick glitt vernichtend wie ein Flammenwerfer durch ihr Puppenstubenparadies. Mit schneidender Stimme fragte sie: »Wo ist das Bett? Oder kommt ihr mit dem Fußboden aus?«

Tim war mittlerweile blaß, blieb aber ganz ruhig.

»Lady Trevis, Sie haben das völlig mißverstanden. Ich versichere Ihnen, ich habe Caroline nicht verführt …« Er spürte zu spät die Geschwollenheit des Ausdrucks und sah Caroline zusammenzucken, als sei eine Schraube fester angezogen worden.

»Verführt!« höhnte Lady Trevis. »Du meine Güte, was für ein großes Wort!« Sie fügte grob hinzu: »Und das soll ich Ihnen glauben? Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten dieses Plätzchen bloß zum Studieren hergerichtet? Das ist einfach ein bißchen zu schön, um wahr zu sein!«

»Trotzdem ist es wahr«, murmelte Caroline.

»Ganz bestimmt! Und wenn es wahr ist, warum kommt ihr dann den ganzen Weg hier herauf nach Whistle Cottage? Warum bittet dich Tim nicht zu sich nach Hause? Warum ist er nie in Woodhoe gewesen? Du schämst dich wohl für uns? Du warst ja mächtig verschwiegen, das muß ich schon sagen – stille Wasser sind wirklich tief! Ich habe kaum gewußt, daß du mit Tim Conroy bekannt bist, geschweige denn, daß du in dieser bezaubernden kleinen Hütte mit ihm ins Bett hüpfst …«

»Wir sind nicht …« begann Caroline aufgebracht. Im gleichen Atemzug sagte Tim:

»Wir werden heiraten. Sobald ich mein Examen gemacht habe.« Er hörte Caroline scharf Atem holen, während Lady Trevis zurückgab:

»Heiraten, ach tatsächlich? Darf ich dich daran erinnern, mein Fräulein, daß du minderjährig bist und meine Erlaubnis brauchst, ehe du dich in die Ehe stürzt. Und eines kann ich dir sagen – du wirst nicht heiraten, nachdem Tim sein Examen gemacht hat«, sie hob die Stimme, als Tim protestierend vortrat, »du wirst nächste Woche heiraten, ob dir das nun paßt oder nicht. Ich werde keine unehelichen Enkelkinder haben, das kann ich dir sagen. Und Sie können sich glücklich schätzen, daß ich Sie nicht vor Gericht bringe, Tim Conroy!«

»Um Himmels willen«, sagte Tim, mühsam an sich haltend, »Caroline ist fast achtzehn, sie ist erwachsen …«

»Ha, Caroline erwachsen? Daß ich nicht lache! Sie ist noch nicht trocken hinter den Ohren. Sie werden mit ihr alle Hände voll zu tun haben, wenn Sie verheiratet sind, das kann ich Ihnen sagen – heimlichtuerisch, verstockt, launisch …«

»Wir können nicht sofort heiraten!« platzte Caroline heraus. »Begreifst du denn nicht, Tim muß arbeiten! Er ist im letzten Trimester, sein Abschlußexamen steht bevor, und außerdem ist sein Vater krank – es kommt nicht in Frage.«

»Das hättest du dir alles überlegen sollen, ehe du angefangen hast, dich herumzutreiben, junges Fräulein! Jetzt ist es ein bißchen spät! Ich muß schon sagen, das ist ein schöner Dank für die ganze vornehme, teure Erziehung. Nur gut, daß dein Vater tot ist und nicht erlebt …«

An dieser Stelle hielt Lady Trevis inne, vielleicht weil sie sich an die Umstände des Todes ihres Gatten erinnerte und ihr aufging, daß das kaum eine glückliche Form des Tadels war.

Tim sagte sanft: »Na schön, wir werden nächste Woche heiraten. Ich kümmere mich umgehend um eine Erlaubnis. Und ich besorge uns beiden eine Bude in Oxford. Und jetzt sind Sie vielleicht so freundlich, uns allein zu lassen, damit wir uns ein wenig unter vier Augen unterhalten können …«

Plötzlich tat ihm Lady Trevis leid, diese arme, dumme Frau, die versuchte, in den geschlossenen Kreis ihres Glücks einzubrechen. Da stand sie, mit triumphierender Miene, wie ein Kind, das beim Grapschen das Spielzeug von jemand anders kaputtmacht und dem nur verstreute Perlen und verbogener Draht bleiben. Sie wirkte plötzlich viel älter, müde, schlampig. Sie fauchte:

»Ihr College-Getue zieht bei mir nicht, junger Freund. Ich dulde nicht, daß ihr beide hinter meinem Rücken die Köpfe zusammensteckt und euch überlegt, wie ihr da herauskommt. Caroline kommt sofort mit mir nach Hause.«

»Nein«, sagte Caroline ruhig. Sie sah bleich, krank und erschöpft aus; Tim war entsetzt darüber, wie die Szene sie mitgenommen hatte; doch selbst seine Liebe und sein Mitleid konnten kaum ermessen, wie vollständig ihre Selbstachtung und Sicherheit erschüttert worden waren. Er fürchtete die Auswirkungen eines weiteren, halbstündigen Tête-à-tête mit Lady Trevis auf dem Nachhauseweg durch den Wald. Gott sei Dank war wenigstens die andere Tochter nach Hause gekommen, dachte er, und konnte als Prellbock fungieren …

»Ich bringe Caroline auf dem Sozius nach Hause. Ich passe auf sie auf, das verspreche ich Ihnen«, sagte er, legte Lady Trevis eine Hand auf die Schulter und schob sie sanft zur Tür hinaus. Sie fügte sich erstaunlicherweise, warf ihm sogar einen schalkhaften, koketten Blick zu und sagte:

»Sie glauben wohl, Sie können mich mit Ihrer glatten, irischen Zunge herumkriegen, Tim Conroy. Mich täuschen Sie nicht! Aber ich warne Sie, ich werde zur Tigerin, wo es um die Interessen meiner Töchter geht. Ich werde dafür sorgen, daß Sie auf sie aufpassen!«

Tim zuckte bei dieser Schelmerei zusammen. Er wartete, bis sie ein Rudel Sealyhamterriers, die aus dem schneebedeckten Unterholz brachen, herbeigepfiffen und den Weg hügelabwärts eingeschlagen hatte, ehe er in die Hütte zurückging und die Tür schloß.

Caroline hatte sich nicht gerührt. Aber als Tim hereinkam, begann sie langsam herumzutappen, die Tassen und die Teekanne abzuräumen, mit stumpfem Blick und teilnahmslos wie jemand, der unter Schock steht.

»Na, das hätten wir erstmal hinter uns«, sagte Tim, um einen scherzhaften Ton bemüht. »Ohne Blutvergießen, aber sie hat eine ganz schön scharfe Zunge, deine Mutter!« Er legte den Arm um sie, hielt sie so, daß ihr Kopf unter seinem Kinn lag, um die Erschütterung in ihren Augen nicht zu sehen. »Schau nicht so verzweifelt, Carinney, vielleicht ist es am besten so. Jedenfalls ist es bestimmt gut, wenn du von ihr wegkommst. – Was hast du denn nur, willst du mich etwa nicht heiraten?«

»Doch, aber«, sie hatte das Gesicht gegen seine Brust gedrückt, und ihre angstvollen Worte wurden von dem Kordjackett teilweise erstickt, »jetzt hast du mich auf dem Hals, ob du mich willst oder nicht. Die ganze Sache ist von Anfang an verdorben. O Gott, wie ich sie dafür hasse!«

»Lieber Himmel, was sind schon ein paar Monate?« sagte Tim leichthin über ihren Kopf hinweg. »Und weißt du was, ich war nie sonderlich versessen auf dieses wildromantische Versteckspiel …« Er spürte, wie sie zitterte, und fuhr hastig fort: »Konzentrier dich einfach darauf, daß wir jetzt ein für allemal zusammen sind. Ich suche Zimmer bei irgendeiner gemütlichen alten Vermieterin, und du kannst mir zum Frühstück Eier braten und dafür sorgen, daß ich rechtzeitig zu den Vorlesungen komme. Das gefällt dir doch bestimmt, hmm?« Sie nickte kläglich, und hinter der erstarrten Maske ihres Gesichts begann sich schwaches Leben zu regen. »Und wenn wir erst einmal verheiratet sind, brauchst du deine Mutter nie wiederzusehen, wenn du nicht willst.«

»Das stimmt.« Ein langer, zitternder Seufzer brach ihre Reglosigkeit. Sie fügte entschlossen hinzu: »Und das werd ich auch nicht. Ach Tim – ich mach das wieder gut, das schwör ich dir, daß du zu einer Heirat gezwungen worden bist. Ich werde dir nicht zur Last fallen oder dich von der Arbeit abhalten.«

»Das weiß ich doch, Carinney«, sagte er ruhig.

Ergeben lehnte sie sich an ihn, wußte, daß sie die Kraft hätte aufbringen müssen, ihn aus dieser Verwicklung zu befreien, und wußte, daß sie das nie und nimmer konnte. Gleich darauf seufzte sie wieder, wandte den Kopf, um zum letzten Mal durch die grünen, schmierigen Scheiben ihres Fensters zu schauen, und sagte mit kindlicher, grüblerischer Stimme: »Wie um alles in der Welt ist sie bloß darauf verfallen, hier heraufzukommen? Es sieht Mutter nicht ähnlich, alleine lange Spaziergänge zu machen. Wie sie wohl darauf gekommen ist …«

 

Sie erwischten einen stickigen Tag für die Hochzeit – die schließlich doch erst im Juni stattfand, weil Lady Trevis entschied, daß sie und Caroline sich in weniger als einem Monat nicht angemessen als Braut und Brautmutter ausstaffieren konnten.

Es schien, als hätte sich die ganze feuchte Hitze dieses miserablen Sommers zu einer einzigen dampfenden, sengenden Zeitspanne von vierundzwanzig Stunden zusammengeballt. Caroline, die sich dem Diktat ihrer Mutter hinsichtlich Kleidung und Hochzeitsvorbereitungen mit schweigsamer, gleichgültiger Passivität gefügt hatte, freute sich hartnäckig, daß das Kostüm, das Lady Trevis als für sie passend befunden hatte, zu warm war; sie nahm ihre Unbehaglichkeit als verdiente Strafe der Götter hin.

Sie heirateten auf dem Standesamt in Bridpool; wegen Lady Trevis’ grimmiger, seit langer Zeit bestehender Fehde mit dem Vikar kam die Kirche von Woodmouth nicht in Frage, und auch darüber freute sich Caroline; eine Buße mußte streng sein, um eine echte Sühne darzustellen, und diese fade, unpersönliche Zeremonie war bestimmt Buße genug, um die rächende Vorsehung damit zu versöhnen, daß sie Tim zu früh, zu jung und vielleicht wider seine bessere Einsicht heiratete. Sie erzitterte abergläubisch, als die Standesbeamtin (»Wie überaus eigenartig!« hatte Lady Trevis viel zu laut geflüstert. »Ist das überhaupt legal, von einer Frau getraut zu werden? Also ich weiß ja nicht!«) zu ihnen sagte: »Was für ein Glück für Sie beide, daß Sie so jung schon wissen, was Sie wollen!« Und sie meinte es aufrichtig; Caroline drückte die Daumen und hoffte, daß die Schicksalsgöttinnen nicht zugehört hatten.

Mrs. Conroy, Tims Mutter, war natürlich eingeladen worden, entschuldigte sich aber telegraphisch; Tims Vater hatte am Vortag einen weiteren Schlaganfall erlitten, und sie verbrachte jede Minute im Pflegeheim an seiner Seite. Tims Augen, im allgemeinen so ruhig und zuversichtlich, hatten einen angespannten Ausdruck, seine Haut, die sich über den Wangenknochen zu straff spannte, war grau vor Erschöpfung. Aber er hielt Carolines Hand die ganze Zeit fest, und das war ein kleiner Trost, eine winzige Beruhigung.

Da weder Caroline noch Tim vorgeschlagen hatten, jemanden von ihren Freunden einzuladen, hatte Lady Trevis die Gästeliste, ein willkürliches Sammelsurium aus ihrer Theatervergangenheit, zusammengestellt, und das hektisch fröhliche Hochzeitsessen fand im Nabob Hotel, dem größten von Bridpool, statt, ehe sich die ganze Gesellschaft mit Freikarten in die Nachmittagsvorstellung des Playhouse begab. Caroline fragte sich hinterher oft, welches Stück sie gesehen hatten.

Als alles vorbei war, Lady Trevis, tränenselig und recht beschwipst, in das Mietauto verfrachtet worden war, sich aus dem Fenster gelehnt und zum letztenmal gerufen hatte: »Gib ja auf sie acht, Tim, denk dran, sie ist meine Kleine!«, und die übrigen Feiernden woanders hingegangen waren, standen Tim und Caroline erschöpft vor dem Hotel.

»Was machen wir jetzt?« sagte Tim mit gedämpfter Stimme.

»Worauf hast du Lust?«

»Ich weiß nicht – ich habe Mutter versprochen, um sechs im Pflegeheim anzurufen; jetzt ist es erst vier. Ich hasse Bridpool sonntags nachmittags, du nicht? Kommt einem wie tot vor.«

»Gehen wir ins Kino.« Caroline war von der Promptheit ihres Entschlusses selbst überrascht. Sie wußte, es war in Wirklichkeit nur ein Aufschub; wovor sie sich fürchtete, war die Ankunft in Oxford, die Notwendigkeit, sich in Tims dortiges Leben einzufügen, der Gedanke an sein Examen in der kommenden Woche. Eine kurze Frist in der kühlen, gepolsterten Dunkelheit würde es ein bißchen länger hinauszögern.

»Gute Idee«, stimmte Tim erleichtert zu, und sie gingen ins Metropole, ohne sich groß darum zu kümmern, was lief. Irgend etwas über den Himalaya, meinte Caroline; sie döste halb an Tims Schulter, während der Film ablief, Lawinen donnerten und Schneestürme tobten. Um sechs schlenderten sie wieder los, zurück zum Nabob. »Wir scheinen den ganzen Tag auf diesem Stück Bürgersteig verbracht zu haben«, sagte Caroline. »Wir könnten uns genausogut eine Blockhütte bauen und uns hier niederlassen.«

»Was du brauchst, sind zwölf Stunden Schlaf.« Tim wandte sich ihr zum erstenmal zu, um sie besorgt zu mustern. »Du siehst aus wie ein Gespenst.«

Caroline dachte mit plötzlichem Schmerz: »Er ist nicht mehr mein Liebster. Jetzt bin ich ihm eine Last, eine Verantwortung, um die er sich sorgen muß.«

Als er die Tür der Telefonzelle aufmachte, trat sie ein, zwei Schritte zurück.

»Willst du nicht mit hereinkommen?« sagte er. »Es ist Platz …« Aber sie schüttelte den Kopf, überzeugt, daß er gerade jetzt nicht von ihr abgelenkt werden wollte.

Sie sah, wie sein Gesicht sich straffte, während er zuhörte; dann wandte er sich von ihr ab; es gab ein weiteres kurzes Gespräch. Als er herauskam und nach ihr sah, trat sie vor.

»Ach, da bist du«, sagte er, ohne zu lächeln. »Dachte schon, du bist weggegangen.«

»Ist es … wie geht …?«

»Es geht zu Ende. Ich fahre gleich nach Reading hinüber. Das Problem ist, was machen wir mit dir?«

Während sie gegen das Gefühl ankämpfte, rasch in eine Zelle aus Eis eingemauert zu werden, sagte Caroline: »Ich komme mit.«

»Ich glaube nicht …«

»Doch nicht, um ihn zu besuchen.« Man möchte – sofern man nicht mit beispiellosem Selbstbewußtsein ausgestattet ist – seinem Schwiegervater wider Willen nicht gerade an dessen Sterbebett zum erstenmal gegenübertreten. »Ich bleibe einfach irgendwo in der Nähe – sie haben bestimmt Wartezimmer – oder setze mich ins Auto.«

»Das möchte ich lieber nicht«, sagte Tim und meinte es offensichtlich auch so. »Könnte ich dich nicht irgendwohin bringen – zu irgendeiner Freundin?« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann die ganze Nacht dauern, weißt du – es hilft nicht gerade, sich vorzustellen, daß du auf irgendeiner verdammten Bank herumzitterst.«

Von irgendwoher nahm sie Worte.

»Sieh mal, Liebling, wir haben gerade gelobt, alles zu teilen, oder nicht? Was wäre ich für eine Ehefrau, wenn ich gleich beim ersten Mal, wo du so etwas durchmachen mußt, davonlaufe und mich unter der Bettdecke verstecke?«

»Also gut«, sagte er kurzangebunden. »Wir wollen uns nicht mit Streiten aufhalten. Das Auto steht noch auf dem Parkplatz beim Nabob – kommst du gleich mit, wenn ich es hole?«

Aber als sie auf der A4 entlangfuhren, beugte er sich an einer Ampel herüber und gab ihr einen raschen Kuß.

»Es tut mir leid, daß das alles so trostlos für dich ist, Liebling. Nicht gerade eine ideale Hochzeitsnacht.«

»O Tim!« platzte sie heraus. »Warum gibst du dich bloß so tapfer?« Mit Mühe verkniff sie es sich, hinzuzufügen: »Wo du doch weißt, daß sein Schlaganfall wahrscheinlich eine unmittelbare Folge unserer Hochzeit ist.«

»Nun ja«, sagte Tim mit schaudererregender Nüchternheit, »es hilft nichts, wenn ich fluche und weine, oder?«

Sie legten den Rest der Fahrt schweigend zurück. Schweigend parkte er neben dem von einer Lorbeerhecke umgebenen Pflegeheim aus rotem Backstein und rannte die Treppe hinauf. »Ich warte dann hier«, rief Caroline, aber er war schon drinnen.

Auf der Suche nach Ablenkung – er hatte seine Schlüssel mitgenommen, und ihr ganzes Gepäck war im Kofferraum eingeschlossen – fand sie im Handschuhfach eine Fachzeitschrift und machte sich daran, sie zu lesen. »Die meisten raumzentrierten, isometrischen Metalle mit hohem Schmelzpunkt, wie Eisen, Molybdän, Niobium und Wolfram, weisen bei Absenkung der Temperatur einen plötzlichen Übergang von Duktilität zu Sprödigkeit auf … Ein Material, das bei Zimmertemperatur normalerweise duktil ist, kann nach Abkühlung vollkommen spröde werden …«

 

»Du hast einen Brief von Caroline, Liebes, ist das nicht schön? Ich habe dir doch gesagt, es wäre gut, ihr zum ersten Jahrestag ihrer Hochzeit zu schreiben. Jetzt müssen wir sie unbedingt überzeugen, auf Besuch nach Hause zu kommen; es ist höchste Zeit, daß dieser dumme alte Streit mit deiner Mutter beigelegt wird. Was erzählt Caro denn?«

Kusine Flora, die sich niemals von falschem Taktgefühl behindern ließ, lehnte sich zurück und behielt aufmerksam jede Bewegung im Auge, während Hilda Marmelade auf eine Scheibe Toast strich, etwas Kaffee trank und endlich ihren Brief öffnete. Flora hatte die unangenehme Gewohnheit, vor den übrigen Bewohnern von Woodhoe aufzustehen und zu frühstücken; da sie dann sitzen blieb, um sie beim Essen zu beobachten und ihnen alles Interessante aus ihrer Post zu entlocken, schien die tugendhafte Miene, die sie wegen ihrer Frühaufsteherei aufsetzte, kaum gerechtfertigt. Sie war Anfang Siebzig, klein, koboldhaft, mit schneeweißen Löckchen, einem unschuldigen, rosig-weißen Gesicht, ungewöhnlich großen Füßen und heiteren, arglosen Augen, die keinen Hinweis auf die stark ausgeprägte praktische Vernunft dahinter lieferten.

Sie war drei Jahre vor Carolines Hochzeit nach Woodhoe House gezogen, nach dem Tod einer Tante, deren getreue Gefährtin sie viele Jahre gewesen war. Das Einkommen aus der ihr vermachten Erbschaft hätte für ein unabhängiges Leben in einer arbeitssparenden Wohnung gereicht, aber Kusine Flora war ein symbiotisches, ein geselliges Wesen und hatte außerdem eine panische Angst vor Feuer. »Ich ziehe es vor, in einem schönen, großen Haus mit vielen Türen und Fenstern zu wohnen«, erklärte sie häufig, ohne hinzuzufügen, daß sie außerdem die Wohnverhältnisse in einem wie auch immer baufälligen hochherrschaftlichen Anwesen vorzog. »Und ich bin daran gewöhnt, mich nützlich zu machen; mir gefällt der Gedanke, daß ich nicht nur meinen Anteil bezahle, sondern eurer lieben Mutter auch in vielen kleinen Dingen zur Hand gehen kann.« Sie machte Hilda zu ihrer Vertrauten, da Lady Trevis die neun zusätzlichen Guineen pro Woche zwar nicht verschmähte, Floras Aufmerksamkeiten im allgemeinen jedoch nicht gerade mit Wohlwollen aufnahm. Hilda war Realistin und fand es manchmal nützlich, sich der Beflissenheit ihrer älteren Verwandten zu bedienen.

Jetzt sagte sie knapp: »Caroline hat ein Baby bekommen. Im März geboren; pünktlich, wie? Neun Monate nach der Hochzeit, fast auf den Tag genau. Demonstrativ nenne ich so etwas.«

»Ein Baby! Ohhh!« Kusine Flora gab ein merkwürdiges, trillerndes Gurren von sich. »Wie entzückt die Conroys sein müssen.«

»Ein Erbe für all die Ölquellen, meinst du? Eine Wiedergutmachung für den Ärger, den sie ihnen gemacht hat?«

»Jetzt muß sie aber nach Hause kommen! Wie schrecklich gern ich das liebe kleine Ding sehen würde!«

»Tja, dein Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen, weil sie es praktisch umgehend an den Persischen Golf mitnehmen wird. Da, lies selbst.« Und Hilda schob das Blatt über den Tisch.

In diesem Moment wankte abgespannt und gähnend Lady Trevis herein. »Was sagst du da – Caroline nach Persien gegangen? Das meinst du doch nicht ernst?« fragte sie und streckte fahrig die Hand nach der Tasse Kaffee aus, die Flora eilfertig eingoß und ihr reichte.

»Nimmt auch das Baby mit«, sagte Hilda lakonisch.

»Baby, was für ein Baby? Das erste Mal, daß ich von einem Baby höre.«

»Die liebe Caro hat ein kleines Baby bekommen – ist das nicht eine wunderbare Neuigkeit?«

»Drei Monate alt. Ein Junge. Du bist Großmutter.«

Lady Trevis nahm die Neuigkeit ohne Freude auf. »Ein drei Monate altes Baby mit nach Persien nehmen? Das Mädchen ist wahnsinnig. Wahnsinnig. Es wird natürlich Ruhr oder Typhus bekommen und sterben – das ist immer so in den Tropen. Weshalb will sie überhaupt nach Persien?«

»Tim, der seit dem Tod seines Vaters ein großes Tier in der Firma zu sein scheint, muß dort irgendeine Krise im Zusammenhang mit Ölquellen lösen.« Hildas Ton war trocken. »Und als gute Ehefrau begleitet ihn Caroline natürlich.«

»Das ist doch die schiere Verrücktheit! Caroline weiß ja nicht einmal, wie man in England für ein Baby sorgt, ganz zu schweigen da draußen in irgendeiner gottverlassenen Gegend. Ich werde ihr das sofort schreiben. Ich will diese Brühe nicht, Flora – du weißt, daß ich ihn immer schwarz trinke.« Sie schob angewidert ihren Kaffee weg, stand auf und rauschte aus dem Zimmer, ohne auf Floras Protest zu achten: »Aber die Sahne tut dir doch so gut …«

»Spar dir deine Worte«, sagte Hilda. »Und Ma könnte sich ihre auch sparen; wenn sie schreibt, ist das der sicherste Weg, um zu erreichen, daß Caroline genau das Gegenteil tut …«

»Aber stell dir nur vor! Sie müssen viel von Tim halten.« Kusine Flora saugte begierig jedes Fitzelchen Mitteilung aus Carolines kurzem Brief auf. »Caro ist selbstverständlich ein liebes Mädchen, aber ziemlich introvertiert und verschlossen – und sie ist noch so jung, um die Frau von jemandem in verantwortlicher Position zu sein … Welches Gehalt er wohl bezieht? Ach du meine Güte! Bedauern nützt nichts, ich weiß, aber irgendwo hat es doch ein bißchen etwas von Verschwendung, daß es sich so ergab, daß Tante Prues Erbe an Caroline und nicht an euch gegangen ist – ihr habt es so viel dringender gebraucht. Zumal Caro einfach alles in Tims Familienfirma investiert hat. Sie dachte wohl, das wäre das mindeste, was sie tun konnte, wo doch ihre Heirat mit Tim den Schlaganfall verursacht hat, an dem sein Vater starb, aber trotzdem …«

Sie nahm die Tasse mit kaltem Kaffee, den Lady Trevis hatte stehenlassen, und trank ihn sorgsam aus, wodurch ihr der beinahe unbeherrscht haßvolle Blick entging, den Hilda ihr zuwarf.

»Wenn du das Geld gehabt hättest, hättest du dein kleines Fotogeschäft eröffnen können«, klagte sie. »Hundeporträts für die Leute zu machen, wäre so passend gewesen, und du wärst unter Menschen gekommen … Was ist denn aus diesem jungen Mann geworden, mit dem du dich zusammentun wolltest?«

»Er hat einen Job bei einer großen Tageszeitung bekommen und ist nach London gegangen«, sagte Hilda mit ausdrucksloser Stimme und sah auf ihre Uhr. »Na denn – werd ich wohl mal die verdammten Hunde ausführen.« Sie reckte sich, starrte gelangweilt hinaus auf die romantische Szenerie aus felsigem Bach und baumbestandenem Tal jenseits des Fensters, stand dann auf und bemerkte bissig: »Wie man es auch betrachtet, Carolines Heirat war ein höchst unglücklicher Fall von Ungeschicklichkeit. Wenn du nicht herausgefunden hättest, daß sie sich mit Tim trifft, und es Mutter nicht erzählt hättest, wäre er nach dem Tod seines Vaters wahrscheinlich ins Ausland gegangen und hätte sie völlig vergessen.«

»Aber woher sollten wir denn wissen, daß deine liebe Mutter es so aufnehmen und sie zur Heirat zwingen würde?« Kusine Flora schaute gekränkt; sie zog die Mundwinkel herab wie ein Kind. »Natürlich habe ich – so jung wie die liebe Caro war – gedacht, Gloria würde ihnen verbieten, sich zu treffen. Schließlich wußte sie nichts von Tante Prues kleiner Erbschaft für diejenige ihrer Nichten, die zuerst heiratete.«

»Nein, aber du hast es gewußt. Wo du Mutter schon so viel erzählt hattest, hättest du ihr das auch erzählen können.«

»Aber es sollte doch ein Geheimnis bleiben, Liebes! Ohhh!« sagte Kusine Flora arglos. »Meinst du, Gloria hätte vielleicht anders gehandelt, wenn sie davon gewußt hätte? Du bist ihr Liebling, aber sie war immer gleichermaßen darauf bedacht, euch beide unter die Haube zu bringen. Meinst du wirklich, sie hätte – wenn sie’s gewußt hätte – gefunden, daß du, als die ältere, die erste Chance auf das Geld haben solltest? Hast du das gemeint? Ach du meine Güte! Ein kleines bißchen Kapital hätte der Sache für den jungen Fotografen möglicherweise wohl gleich ein anderes Gesicht gegeben?«

Hilda gab ihren unschuldigen Blick betont gleichgültig zurück, und Flora fuhr behaglich fort: »Aber ein junger Mann, der dadurch abgehalten wird, daß dir eine Erbschaft entgeht, wäre wirklich keine sehr glückliche Wahl gewesen, meinst du nicht auch? Ich fürchte, er hat wohl ein bißchen etwas von einem Mitgiftjäger gehabt – sagtest du nicht, du hättest ihm gegenüber erwähnt, daß du etwas zu erwarten hast? Wie schade. Es wäre wohl besser gewesen, ich hätte dir nichts von Tante Prues Testament gesagt, aber wir sind immer dicke Freundinnen gewesen, nicht wahr? Du warst von Anfang an mein Liebling. Ich fürchte, ich bin keine Heuchlerin, konnte nie das Gefühl verheimlichen, daß Caro auf ziemlich selbstsüchtige Weise reserviert ist. Macht nichts, davon gibt es auf der Welt noch mehr, wie es so schön heißt; du wirst in naher Zukunft den kleinen Notgroschen bekommen, den Tante Prue mir hinterlassen hat. Belohnung für ein nettes Mädchen, das zu Hause bleibt, um ihre alte Verwandte aufzuheitern.« Sie tätschelte mehrmals rasch Hildas Hand und fügte nachdenklich hinzu: »Meine Güte, nein, dieses Haus wäre kein so angenehmer Hafen für mich, wenn deine Mutter und ich zusammen alleingelassen würden; ich fürchte, ich würde ihr vielleicht ein kleines bißchen auf die Nerven gehen. Ich habe mich eigentlich schon immer gefragt, warum sie hiergeblieben ist.«

»Trägheit«, sagte Hilda. »Das Haus gehört ihr. Und es ist einfacher, hier zu bleiben als umzuziehen. Wer würde diesen alten, schimmeligen Klotz schon kaufen? Es sei denn du, Kusine Flora – du scheinst ja sehr daran zu hängen«, fügte sie leichthin hinzu.

»Lieber Himmel, nein, Liebes, die Verantwortung würde mich zu Tode ängstigen! Nein, der jetzige Zustand stellt mich völlig zufrieden; wir haben es doch sehr gemütlich zusammen, nicht wahr, und ich bin sicher, es macht dir nichts aus, als Gegenleistung für ein zukünftiges kleines Vermögen ein paar Jahre deines jungen Lebens einer armen alten Frau zu widmen. Wenn bloß mein Rheuma sich mittlerweile nicht so verschlimmert hätte, daß ich die Hundchen nicht mehr für dich ausführen und ein bißchen mehr helfen kann. Nein, so was!« fügte sie gutgelaunt hinzu, »wie spät es schon wieder ist, dabei habe ich noch nicht mal mit der Arbeit angefangen!«

Hilda ging ohne zu antworten zur Tür.

»Wo du gerade gehst, könntest du Hudson bitte sagen …« begann Flora, die von dem Pech verfolgt war, daß die Leute sie ständig stehenließen, ehe sie ausreden konnte. Aber da Hilda offensichtlich ohne zu hören hinausging, aß sie genügsam die letzte Scheibe Toast auf, ehe sie Hudson rief, der betagt, widerborstig, ungepflegt, aber trotzdem unleugbar ein Butler war.

Als er hereinhumpelte, sagte sie freundlich, den Blick von dem ungewaschenen, wirr über seinen Kragen fallenden gelblich-weißen Haar und den Fettflecken auf seinem Alpakajackett abwendend: »Ach, Hudson, Sie können jetzt abräumen. Und würden Sie heute bitte das Silber polieren; es ist arg angelaufen.«

Ohne sie einer Antwort zu würdigen, schniefte Hudson und begann unter größtmöglichem Geklapper das Frühstücksgeschirr zu stapeln. Kusine Flora stand gemächlich auf, um zu demonstrieren, daß sie sich vor dem hämischen Funkeln seiner alten, wie bei einer Kröte unter geschwollenen Lidern glänzenden Augen nicht fürchtete.

»So eine großartige Neuigkeit heute, Hudson! Miss Caroline hat ein kleines Baby bekommen.«

»So, hat sie, was?« grummelte er. »Hat ja auch nich’ gerade viel Zeit verloren; wohl aufgehoben is’ gut gefunden.« Den Deckel der Butterdose hebend, musterte er säuerlich, was darunter lag.

»Und sie geht nach Persien.«

»Kann gar nich’ weit genug von zu Hause wegkommen, wie?«

Er scharrte eine Handvoll Besteck zusammen und fügte mit irritierender Falsettstimme hinzu: »Das Schiff fuhr geschwind, laut toste der Wind, und wir, wir flohen nach Süden.«

Flora sagte matt: »Vermutlich.« Sie hatte sich nie an Hudsons Neigung zum Zitieren gewöhnt.

»Vermutlich! Sie müssen’s ja wissen, Sie ham’s schließlich so gedreht, oder? Sie ham sie verpfiffen, ’n richtiges Kuckucksei. Wenn Sie mich fragen, Ihr Rheuma is’ die Strafe Gottes.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Sie ging würdevoll Richtung Tür. »Vergessen Sie ja nicht das Silber.«

»Eins is’ jedenfalls sicher«, murmelte Hudson. Er wischte mit dem Ärmel sorgsam ein paar Krümel vom Tisch und trat sie in den Teppich. »Jetzt wo sie weg is’, kommt sie nich’ zurück, wenn sie’s vermeiden kann. Und zwar lange, lange Zeit nich’.«

 

Lange, lange Zeit …

Caroline hatte geträumt – einen endlosen, unbehaglichen Traum von Woodhoe. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie würde ihm nie gänzlich entkommen. Selbst nach der Geburt ihres Kindes, nach vier Jahren Ehe, in denen sie nicht zu Hause gewesen war, besaßen das dunkle Haus und die ansteigenden Wälder noch die Macht, ihrem schlafenden Verstand zuzusetzen; ein Abwehrmechanismus half ihr im allgemeinen, die Einzelheiten zu vergessen, ehe sie ganz zu sich kam, aber mindestens zweimal die Woche erkannte sie beim Aufwachen die Nachwirkungen: eine dunkle, bedrückende Wolke von Spannung und Schmerz, die sich erst dann langsam auflöste, wenn sie mit Tim gesprochen hatte, ins Kinderzimmer gegangen war und die Bestandteile ihres kleinen Haushalts überprüft hatte. Es war, als ob sie sich immer noch davor fürchtete, an ihre jetzige Freiheit und ihr Glück zu glauben – die gleichwohl aus dem Gegensatz heraus an Wert zu gewinnen schienen. Jeder Tag nach einem Traum von zu Hause kam als helleres, kostbareres Geschenk.