Der eingerahmte Sonnenuntergang - Joan Aiken - E-Book

Der eingerahmte Sonnenuntergang E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Eine junge Frau reist nach England, um das Verschwinden der beiden alten Damen aufzuklären, die im High Beck Cottage am Rande des Moores lebten. Was als gewöhnliche Reise beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Alptraum aus Betrug, Rache, Mordversuch und Tod.

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Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Joan Aiken

Der eingerahmte Sonnenuntergang

Roman

Aus dem Englischen von Karin Polz

Diogenes

1

Wenn es nicht ein Vergnügen gewesen wäre, Onkel Wilbie Culpepper zu hassen, müßte man es aus Pflichtgefühl tun. Er stand seinem Haushalt mildlächelnd vor, unempfindlich gegen Lucys abschätzige Beurteilung, rundlich, straffhäutig, unendlich selbstzufrieden. Es gab nicht ein Atom in Onkel Wilbies Universum, das sich nicht am richtigen Platz befand; manchmal fragte Lucy sich zweifelnd, ob er wirklich ein Mitglied der menschlichen Rasse war; er schien zu rosawangig und faltenlos, um Gegenstand normaler menschlicher Leiden und Schwierigkeiten zu sein. Wahrscheinlicher war es, daß er aus Kunststoff bestand – welkt nicht, schmilzt nicht, geht nicht ein – und ewig leben würde. Eine bestürzende Vorstellung.

»Willst du damit sagen, daß überhaupt kein Geld mehr übrig ist?« wiederholte Lucy, Onkel Wilbies strahlenden Blicken standhaft begegnend. Seine Augen waren undurchdringlich, wie Murmeln aus Onyx.

Die Anklage in Lucys Stimme veranlaßte Tante Rose, sich von den Modeseiten loszureißen, und Corale, einen Katalog über die Bekleidung für Karibik-Kreuzfahrten sinken zu lassen.

Onkel Wilbie nahm mit den Augen Maß an einem großen Stück Schokoladenschichttorte, biß behutsam ein Drittel ab und begann zu kauen.

»Ja«, sagte er kurz und bündig, nachdem er die Hälfte hinuntergeschluckt hatte. »Ich fürchte, so etwa sieht es aus, Eure Hoheit.« Es gehörte zu Onkel Wilbies kleinen Scherzen, Lucy als Prinzessin anzureden. »Deine Erziehung in Cadwallader hat alles bis auf den letzten Cent verschlungen. Und noch ein bißchen mehr, wenn wir schon darüber sprechen«, fügte er entschuldigend hinzu.

»Es ist dir nicht in den Sinn gekommen«, fragte Lucy, sich mühsam beherrschend und kalt, »mich auf eine billigere Schule zu schicken, so daß am Ende noch etwas Geld für meine Ausbildung übrig gewesen wäre?«

»Und die Leute sagen lassen, daß wir Corale in eine bessere Schule als dich geschickt hätten?« fing Tante Rose an.

»Nun hör mal, Prinzessin!« Onkel Wilbie brachte seine Frau mit einem Blick zum Schweigen. »Hör mal, Prinzessin, ich muß mich über dich wundern. Es war das Wenigste, was ich für deinen armen Vater tun konnte – dafür zu sorgen, daß du eine anständige Schule besuchst.« Er biß noch einmal kräftig in den matschigen Schokoladekuchen und reichte Tante Rose seine Tasse. »Bitte noch eine Tasse Kaffee, Rosie-Posie.«

»Ich glaube nicht, daß Vater es für nötig gehalten hätte, mich auf eine der snobistischsten Schulen der Welt zu schikken«, sagte Lucy, während sie erbittert an ihre Leiden in den letzten sechs Jahren dachte, bemerkenswert hoch bezahlte Leiden, wie sich jetzt zeigte.

»Dein Vater, liebste Prinzessin, war nicht eben der Weiseste, wenn es um praktische Dinge ging. Ich denke, darüber waren wir alle einer Meinung«, sagte Onkel Wilbie voller Behagen. Tante Rose reichte ihm seine Tasse zurück, und er nahm einen langen, nachdenklichen Schluck. Großer Gott, es macht ihm auch noch Spaß, dachte Lucy. »Um es nicht zu gewählt auszudrücken«, fügte Wilbie hinzu und stellte seine Tasse auf die Untertasse, »dein Vater, liebe Prinzessin, war völlig und absolut hilflos, wenn es um Geld ging. Er war ein Verschwender. Unzuverlässig. Um es genau zu sagen, ein Faulenzer. Ein … ein … warte«, er bot mit erhobener Hand ihrer empörten Entgegnung Einhalt, »ich bin sicher, daß er dir als Held erschien, Hoheit, und so schickt es sich auch; wir wollten in all diesen Jahren deine Vorstellung von ihm nicht zerstören.« Nein, bis jetzt nicht, dachte Lucy mit vor Wut gesteigertem Empfindungsvermögen, nicht bis es dir größte Genugtuung verschaffen würde. »Aber wenn du die Sache richtig betrachtest, ist das alles, was er war. Ein Bursche, der es fertigbrachte, seine Frau mit ihrem Baby in Liverpool von der Fürsorge leben zu lassen, während er sich mit irgendeinem hirnrissigen Plan nach Kanada absetzte.«

»Er hätte uns nicht verlassen, wenn er es hätte vermeiden können! Es war wegen meiner Herzbeschwerden; Mutter hielt es nicht für richtig, daß ich die Reise machte.«

»Das kannst du ja eigentlich gar nicht wissen«, erklärte Corale mit samtweicher Genauigkeit. »Du warst erst zwei.« Sie genießt dies alles, dachte Lucy und ignorierte ihre blonde Cousine geflissentlich. Nur Tante Rose sah bekümmert aus.

»Nein, du kannst es wirklich nicht wissen, Schätzchen. Ein Mann, der es fertigbrachte, seine Frau im Stich zu lassen, sie an Lungenentzündung sterben zu lassen …«

»Das hat er erst erfahren, als es zu spät war.«

»Und wie kommst du darauf?« fragte Onkel Wilbie lächelnd. »Ich nehme an, die kleine Minnie hat es behauptet. Die Schwester deiner Mutter betete ihn an. Doch, bei all seinen Fehlern war Paul ein reizender, liebenswerter Bursche – zumindest die Mädchen liebten ihn!«

Lucy rieb ihre Knöchel aneinander. »Da Tante Minnie auch tot ist …« fing sie an. Aber dann änderte sie ihre Meinung. Sie sah sich, um sich zu beruhigen, ausführlich in Onkel Wilbies berühmter Küche um; das Achterdeck nannte er sie mit Vorliebe, eine wegwerfende Reverenz an seine längst vergangenen Zeiten bei der Marine. Alles war blitzblank und funkelte vor Sauberkeit: Stahl, Messing, Mahagoni und dunkelblaue Farbe bildeten einen strengen, männlichen Hintergrund für Onkel Wilbies berühmten Schwipskuchen, seine gebackenen Muscheln und seine auf Holzkohle gegrillten Steaks. Tante Rose, das galt als abgemacht, wurde hier nur geduldet und hantierte ohne jedes Selbstvertrauen.

Nur nicht die Geduld verlieren, dachte Lucy. Das ist es, was er gern hätte. Das ist es, was ihm mehr Spaß macht als irgend etwas sonst. Das ist es, was er jetzt anstrebt. Ich frage mich warum?

Sie hob die hellen grauen Augen mit den dunklen Pupillen – das einzige Schöne in ihrem Gesicht – und musterte ihren Onkel eingehend. Er blinzelte ihr zu.

»Darum fürchte ich, daß die Prinzessin von jetzt an eine sehr hart arbeitende kleine Prinzessin werden muß – im Gegensatz zu ihrer faulen, nichtsnutzigen, herumlungernden Cousine dort drüben«, fügte er hinzu, seiner Tochter liebevoll zuzwinkernd.

»Dad! Ich arbeite hart!« protestierte Corale, die ihre Tage einem Wohltätigkeitsverein widmete, in dessen Büroräumen sie Bonbons lutschte, Zeitschriften las und das Telefon benutzte, um ihre Verabredungen aufeinander abzustimmen.

»Ich habe nicht das Geringste gegen harte Arbeit«, sagte Lucy kalt. »Der Beruf eines Konzertpianisten muß zu den härtesten überhaupt gehören.«

»Liebe Lucy, das haben wir doch schon alles einmal besprochen. Wir haben im Augenblick einfach nicht genug Pulver für solche hochgestochenen Vorstellungen – ganz abgesehen von Unterricht in London bei irgendeinem rumänischen Maestro in Kostümhosen.«

»Er ist Tscheche.«

»Tscheche, Rumäne, das ist doch egal«, sagte Onkel Wilbie, der Europa ein für allemal hinter sich gelassen hatte – außer als Markt –, als er von Liverpool nach Boston den Atlantik überquerte. »Nun hör mal, warum bist du nicht eine liebe kleine Prinzessin und suchst dir einen hübschen vernünftigen Job – das ist hier in Boston ein Kinderspiel –, dann wirst du in ein paar Jahren vermutlich genug gespart haben, um Stunden beim Genossen Pullover zu nehmen, oder wie er auch heißen mag. So machen es schließlich die meisten jungen Leute – arbeiten, um das College zu finanzieren. Corabella hätte das auch getan, wenn sie die Absicht gehabt hätte, ein College zu besuchen, nicht wahr, Bella?«

Wenn sie intelligent genug wäre, aufs College zu gehen, dachte Lucy.

»Und außerdem«, fuhr Onkel Wilbie sanft mahnend fort: »Ich möchte das nicht breitwalzen, liebe Prinzessin, aber findest du es nicht ein ganz klein wenig undankbar, dich so zu verhalten? Schließlich – wenn wir dich nicht nach Cadwallader geschickt hätten, wo du durch Tante Rose und Corabella gut eingeführt warst und daneben noch die Möglichkeit hattest, erstklassigen Musikunterricht zu erhalten, hättest du nicht einmal gewußt, daß du eine Begabung fürs Klavierspielen hast, oder? Denke doch bitte daran, bevor du deinen armen alten wohlmeinenden Onkel zum Teufel wünschst, weil er es nicht schafft, mit ein paar Tausend Dollar zweimal um die Welt zu kommen! Zwei Jahre sind schließlich keine Zeit, Liebchen, nicht in deinem Alter.«

Er lächelte seine Nichte nachsichtig an. Ihr blasses sommersprossiges Gesicht zeigte keine Reaktion.

»In diesem Fall sind zwei Jahre ein bißchen zu lange, fürchte ich, Onkel Wilbie. Max Benovek stirbt an Leukämie; er hat nur noch zwei oder drei Jahre zu leben. Vielleicht noch weniger.«

»Etwas absurd, sich ausgerechnet ihn als Lehrer auszusuchen, wenn es so aussieht, nicht wahr«, sagte Onkel Wilbie freundlich. »Denk lieber noch einmal darüber nach, Prinzessin, und such dir einen Burschen, bei dem es wahrscheinlicher ist, daß er es ebenso lange wie du aushält; sinnlos, deine Ersparnisse in einen Menschen zu investieren, der dir womöglich unter den Füßen wegstirbt. Außerdem, wenn er wirklich so krank ist, sind die Chancen, daß er neue Schüler annimmt, eins zu tausend.«

»Mrs. Bergstrom meinte, es bestehe eine Chance, daß er mich nimmt.«

Wilbie stieß einen gequälten Seufzer aus und sah seine Frau unter hochgezogenen Brauen kläglich an. »Manchmal, Rosie, wünschte ich fast, deine Großtante wäre nicht die Gründerin von Cadwallader gewesen! Wenn unsere kleine Prinzessin nicht dort hingegangen und von Madame Bergstrom mit all diesen überspannten Hoffnungen hochgepäppelt worden wäre – wieviel einfacher wäre unser Leben heute!«

Tante Rose sah kleinlaut und beunruhigt aus, ihre übliche Reaktion auf Onkel Wilbies Späße.

»Ich … ich bin sicher, daß ich nie … Wenn ich jemals gedacht hätte … Gorale ist schließlich völlig …«

»Diese Mrs. Bergstrom ist sowieso übergeschnappt«, warf Corale ein. »An ihren Lieblingen fand sie nie etwas auszusetzen. Niemand, der bei Verstand war, nahm sie ernst.«

Lucy und Corale wechselten sorgfältig abgewogene feindselige Blicke.

»Darum fürchte ich, Prinzessin, daß du dir Kommissar Dingsdawitsch aus dem Kopf schlagen mußt. Zum Teufel noch mal, in diesem Land muß es wimmeln von Exil-Tschechen, -Ungarn und -Polacken, wenn du unbedingt einen Ausländer haben mußt!« Wilbie warf einen Blick auf die Armbanduhr vor ihm auf dem Tisch, die er nach alter Gewohnheit abgenommen hatte, um entspannter essen zu können. »Nun, Zeit für den alten Ernährer der Familie, sich auf den Weg zu machen, sonst wird man im Harem bald die Gürtel enger schnallen müssen.« Er sprang auf, wischte sich einen verirrten Schokoladekrümel vom lächelnden kleinen Mund, ging um den Tisch herum und gab seiner Tochter einen Kuß. Corale löste den Blick nicht von ihrem Katalog. »Bis später also, Harem, seid schön brav. Was hat meine hochgewachsene amerikanische Schönheit heute vor?«

»Den Speicher aufräumen«, sagte Tante Rosie matt. »Das koreanische Mädchen hat eben angerufen, um mir mitzuteilen, daß sie nicht mehr kommt.«

»Wie ärgerlich. Vielleicht könnte unsere Hoheit dir helfen – wenn ihr Herz das zuläßt.« Er küßte seine Frau, die, etwa zwanzig Zentimenter größer als er, ihren Kopf mit dem hübschen, abgehärmten Gesicht neigen mußte, um den angedeuteten Kuß ihres Ehemanns entgegenzunehmen. Sie tat das mit besorgten Blicken, als befürchte sie ständig, Wilbie könnte ihre Größe als Anmaßung betrachten. Und wie üblich betonte er mit einem maliziösen Lächeln den Größenunterschied: eine Hand schwer auf die Schulter seiner Frau stützend, stellte er sich auf die Zehenspitzen seiner dicksohligen Schuhe, um ihre Wange abschiednehmend zu berühren.

»Wiedersehen, Prinzeßchen. Vergeben?«

Lucy entzog sich geschickt dem Kuß ihres Onkels. Tante Rosie beobachtete diese Unbesonnenheit besorgt und fragte sich, wen später die Vergeltung treffen würde. Onkel Wilbie trieb eine Schuld immer ein.

»Adios, Mädchen!«

Dann war er fort, ein rundlicher, lächelnder kleiner Mann, der in seinem großen Wagen von Belmont hinein nach Boston hastete, wo das Geld rasselte und die Räder des Handels sich drehten. Onkel Wilbie hatte, wie ein anderer Großer vor ihm, ein Vermögen mit einem kleinen Haushaltsartikel gemacht, und da die Liebe zum Geld mit seiner Erwerbung wächst, war er jetzt eifrig damit beschäftigt, seinen Stapel zu vergrößern.

Corale ließ das Frühstücksgeschirr gelangweilt in die Geschirrspülmaschine fallen und machte sich dann auf den Weg zu ihrer wohltätigen Arbeit.

»Ich helf dir natürlich mit dem Speicher, Tante Rose«, sagte Lucy.

»Oh, danke, Liebes. Ich bin sicher … dein Onkel hat nicht sagen wollen … das heißt … Nun, du weißt ja, wie er …«

Obwohl sie seit sechs Jahren zusammenlebten, hatte Rose ein wenig Angst vor ihrer Nichte und versuchte zu beschwichtigen, wenn sie allein zusammen waren. Ihre Angst vor Lucy war fast so groß wie die vor ihrem Ehemann, denn trotz ihrer geringen Größe und ihrer Blässe erschien Lucy irgendwie unbeugsam, von einer Gelassenheit, die auf einige Leute diese Wirkung hatte.

»Ja, ich weiß, wie er ist«, wiederholte Lucy und sah geistesabwesend zu, wie Tante Lucy einen rosageblümten Kittel anzog, über dem ihr schönes, nichtssagendes, schicksalergebenes Gesicht natürlicher aussah als über der Nachmittags- oder Cocktailaufmachung, die sie viel öfter trug. Onkel Wilbie sah darauf, daß seine Frau sich rege am gesellschaftlichen Leben beteiligte; es hat keinen Sinn, ein Schmuckstück zu besitzen, wenn man es in einen Schrank einschließt, wo niemand es sehen kann.

»Laß mich das nehmen«, sagte Lucy und ergriff Staubtuch und Staubsauger, den ihre Tante ungeschickt über die gebohnerten Kiefernholzstufen hinaufzumanövrieren versuchte.

»Aber Lucy, Liebes, ist das richtig? Was ist mit deinem Herzen?«

»Ach was.«

»Dr. Woodstock …«

»Dr. Woodstock ist ein alter Umstandskrämer. Wenn ich keinen anderen Grund hätte, froh zu sein, daß ich diese Schule verlassen habe, wäre ich schon dankbar, wenigstens ihn los zu sein.«

»Lucy, warum hat es dir in Cadwallader nicht gefallen?« fragte Tante Rose, die ihr mit einem Spinnwebbesen und einer Dose Mottenspray folgte. »Es kommt mir so seltsam vor. Corale hat jeden Augenblick dort genossen.«

»Corale und ich sind eben einfach verschieden«, sagte Lucy und blieb im großen, luftigen Flur des zweiten Stockwerks stehen, um ihrer bekümmerten Tante einen Blick zuzuwerfen, der sowohl sardonisch als auch tolerant war. »Ist dir das noch nicht aufgefallen? Außerdem gefiel ihnen mein Liverpool-Akzent in Cadwallader nicht; hielten ihn für gewöhnlich. Für sie stammte ich direkt aus der Gosse!«

»Oh, das ist doch Unsinn, Liebes! Du hast keinen Akzent. Außerdem, als Corales Cousine …«, setzte Tante Rose nervös an.

»Daß ich Corales jüngere Cousine war, half mir kein bißchen. Sie ist groß und hübsch und aufgeschlossen und eine gute Sportlerin und mag Jungs und tanzt gern – ach, sie gehört einfach dazu! Und dann sieh mich mal an!«

Im dritten Stock, wo sie jetzt waren, hatten die beiden Mädchen ihre Zimmer und das Bad, außerdem befand sich dort ein Nähzimmer mit einem hohen Spiegel in der aufstehenden Tür. Lucy blieb vor dem Spiegel stehen und nickte dem Abbild ihrer zu klein geratenen Person ironisch zu. »Nein, du kannst mir glauben, sie waren mindestens ebenso froh, mich von hinten zu sehen, wie ich es war, von dort zu verschwinden. Es tut mir leid, daß mein Besuch dieser Schule Vaters Geld bis zum letzten Penny verschlungen hat.«

»Lucy, wenn ich kann …«, begann Tante Rose. Dann hielt sie inne und biß sich auf die Lippe. »Ich glaube, ich höre das Telefon«, sagte sie. »Entschuldige mich einen Moment. Ich lege dies gerade hier hin und bin gleich wieder da. Oh, hier ist der Schlüssel zum Speicher; du weißt, wie dein Onkel darauf sieht, daß die Tür immer abgeschlossen ist.«

Lucy wußte es. Während der letzten sechs Jahre hatte sie nicht mehr als dreimal einen Fuß in den Speicher gesetzt, und jetzt ging sie die letzte Treppe hinauf, öffnete die Tür und sah sich mit unverhohlener Neugier um.

Es war ein großer Raum, der sich über die ganze Länge des großen, altmodischen Hauses erstreckte, und er war vollgestopft mit Dingen, die sich während fast zwanzig Jahren angesammelt hatten. Koffer, Tennisschläger, alte Verandamöbel, Stapel von Zeitungen, alte Spiele, Bündel von Vorhängen, Fahrräder waren in einem schmutzigen Durcheinander aufgetürmt. Aus staubigen Alben quollen vergilbte Fotos mit eingerollten Ecken. Ein Wirrwarr von Sportausrüstungen, Surfbretter, ein Unterwasser-Atemgerät, Angelruten und Gewehre verschiedener Kaliber bezeugten Onkel Wilbies verschiedene Aktivitäten; jede Sportart bedeutete für ihn ein Mittel zum Zweck und wurde darum für eine bestimmte Zeit mit zielstrebiger Hingabe ausgeübt; der Zweck war natürlich eine nützliche Vergrößerung seines gesellschaftlichen Kreises.

Lucy setzte den Staubsauger in Betrieb und machte sich rasch und gründlich an die Arbeit, mit einer Tüchtigkeit, die sie von ihrem Onkel geerbt hatte – obwohl sie den Gedanken von sich gewiesen hätte. Sie begann an einem Ende des langen vollgestopften Raums, bewegte alles von seiner Stelle, säuberte es und stapelte es wieder aufeinander, faltete Stoffe zusammen, ordnete Möbel und Kartons übersichtlicher, schüttelte Zeitungen aus und legte sie in säuberlichen Bündeln aufeinander.

Tante Rose tauchte nach zwanzig Minuten mit schlechtem Gewissen wieder auf, holte tief Luft und rief erstaunt: »Lieber Gott, wieviel du schon geschafft hast! Gib acht, mein Liebes, daß du dich nicht überanstrengst.«

»Oh, mir geht’s gut«, sagte Lucy abwesend. »Mach dir nur keine Gedanken, es macht mir Spaß. Tante Rose, wer um alles in der Welt hat diese erstaunlichen Stücke gemacht?«

»Welche, Liebes?« fragte Tante Rose mit vager Stimme und warf einen Blick auf ihre Uhr.

»Die Bilder dort drüben.«

Fünf kleine Dachfenster ließen Licht in den Speicher. Lucy hatte ein altes Korbsofa unter das mittlere Fenster gezerrt und drei Bilder dagegengelehnt.

»Ehrlich, Tante Rose, sie sind das Unwahrscheinlichste, was ich je gesehen habe!«

Alle drei Bilder hatten biblische Themen; auf dem einen war eine kopflastige Arche im Begriff, sich der Flut anzuvertrauen, und zwei Giraffen sprangen in letzter Minute an Bord, als letzte einer Prozession von Tieren, die auf dem Weg unter Deck waren; auf einem anderen hing Absalom mit den Haaren in einem Ilexbaum fest, während sein Pferd auf einen Hintergrund zu galoppierte, wo eine wilde Schlacht wütete und ein gewaltiger Sturm den Himmel verdunkelte, und auf dem dritten stand ein winziger Samuel in einem weißen Nachthemd wie angewurzelt lauschend in der rechten unteren Ecke, während ein riesiger, prächtiger, dämmriger Tempel drohend um ihn herum aufragte.

»Der da!« sagte Lucy. »Sieh nur, wie er lauscht!«

Während sie den jungen Samuel betrachtete, wurde ihr zu mageres, verschlossenes, wachsames Gesicht weicher und zeigte einen sanften, amüsierten Ausdruck, der Rose Culpepper, so unempfindlich sie das Leben notgedrungen auch gemacht hatte, einen merkwürdigen Stich versetzte. So habe ich Lucy noch nie gesehen, dachte sie.

»Wer hat die Bilder gemacht, Tante Rose? Sieh dir die Farbe an; der Blitz läßt Absaloms Haar aufleuchten, und die weißen galoppierenden Pferde vor diesen dunkelgrünen Bergen. Und die Arche – all das Rot und Purpur und Ocker und die Holzkohle. Oh, ich weiß, daß das naive Malerei ist, aber gleichzeitig sind die Bilder auch sehr empfindsam – wer sie auch gemacht hat: er wußte genau, was er wollte – und hatte zudem noch Sinn für Humor. Sieh nur, wie Frau Noah mit der Kobra fertig wird. Und Samuels Füße!«

Tante Rose war aufrichtig bestürzt. »Aber Lucy – Malerei ist doch gar nicht dein Fach …«

Lucys Gesicht nahm wieder einen ironischen Ausdruck an. »Du meinst, welches Recht habe ich, begeistert zu sein? Darf ich nicht einmal das Werk eines Genies erkennen, wenn ich eins sehe?« Die arme Rose strengte ihre schönen kurzsichtigen Augen an und schaute. »Diese komischen alten Dinger? Sie sind ja völlig flach … wie sagt man noch … zweidimensional? Alles bewegt sich irgendwie nach oben.«

»Ja, das zeigt das Gefühl für Bewegung und für Humor. Sie sind wirklich sehr komplex.«

»Aber Lucy! So hab ich dich noch nie reden gehört …«

»Nein? Vielleicht hast du mich überhaupt noch nie reden gehört«, sagte Lucy, nicht unfreundlich.

»Es kommt mir so seltsam vor …! Sie bestehen ja nicht einmal nur aus Farbe: da sind überall Stoffstücke und Flaschenverschlüsse und Wolle und Stickereien aufgeklebt. Wilbie hat bloß gelacht, als sie uns die Bilder schickte. Ein richtiger Altjungfernramsch. So nannte er sie.«

»Das sieht ihm ähnlich«, sagte Lucy. »Aber woher stammen sie? Warum habe ich sie noch nie gesehen?«

»Oh, vermutlich sind sie irgendwann angekommen, als du in der Schule oder im Ferienlager warst. So vor zwei oder drei Jahren muß es gewesen sein. Wilbie dachte, die Leute würden über die Bilder lachen. Er sagte, ich solle einen Danksagebrief schreiben – das hätte ich natürlich sowieso getan – und sie auf den Speicher bringen. Sie würde es nie erfahren.«

»Wer würde es nie erfahren?«

»Die alte Tante Fennel.«

»Tante Fennel?«

»Fennel Culpepper. Deine Großtante, nehme ich an. Die Tante deines Onkels Wilbie.«

»Also auch Vaters Tante?«

»Nun, ja, ich denke schon. Lieber Gott, sieh nur, wie spät es ist!« rief Tante Rose aus; sie erinnerte sich an etwas. »Lucy, Liebes, laß den staubigen alten Speicher jetzt. Eigentlich bin ich gekommen, um dir zu sagen, daß die Banks’ mich zum Lunch und Bridge eingeladen haben, darum fürchte ich, ich kann dir im Augenblick nicht mehr helfen, wenn ich mich vorher noch frisieren lasse. Eigentlich müßte ich schon unterwegs sein. Schließen wir also ab, und ich mache den Speicher an einem anderen Tag fertig. Ich bin sicher, du hast für heute genug getan.«

»Nein, ehrlich, Tante Rose, ich fühl mich großartig. Ich kann genausogut fertig aufräumen, nachdem ich einmal angefangen habe. Es dauert bestimmt nicht mehr als eine Stunde.«

»Na ja … es ist so … ich weiß nicht, ob dein Onkel …«

»Oh«, sagte Lucy, den wahren Grund für die Aufregung ihrer Tante sofort erratend, »ich werde längst fertig sein, wenn Onkel Wilbie nach Hause kommt. Er braucht nicht zu erfahren, daß ich allein dort oben war.«

»Also, Lucy, so habe ich es nicht gemeint!«

»Macht nichts«, sagte Lucy und schob ihre Tante nicht ohne Mitgefühl sanft aus dem Raum. »Geh du nur zu deinem Bridge. Du weißt doch, daß ich immer alles auf die übelste Weise auslege. Oh, was soll ich mit all den alten Zeitungen machen?«

Sie zeigte auf einen Stapel Kirby Evening Advertiser and East Riding Gazette.

»Oh, laß sie einfach dort liegen«, sagte Tante Rose hastig. »Wilbie haßt es, wenn irgend etwas weggeworfen wird.«

Lucy legte die Zeitungen in eine Ecke und fragte sich, warum ihr Onkel sich die Mühe machte, eine englische Kleinstadtzeitung zu abonnieren. Dann fiel ihr Blick auf den Namen Culpepper, in einer winzigen Meldung: »… Beerdigung von Miss Beatrice Howe, die viele Jahre lang in Appleby lebte, zusammen mit Miss Fennel Culpepper, und allgemein bekannt war als Autorin unserer Beiträge über Kräuter- und Wildpflanzenkunde …« Das war vermutlich die Miss Fennel Culpepper, die die Bilder gemacht hatte. Aber in der Zeitungsnotiz wurde nicht mehr über sie berichtet.

 

Entgegen seiner Gewohnheit tauchte Onkel Wilbie mittags tatsächlich wieder zu Hause auf. Zu dem Zeitpunkt jedoch war der Speicher aufgeräumt, die Tür wieder verschlossen und der Schlüssel auf seinem Platz in der Schublade in Tante Roses Sekretär.

Wie üblich blieb Onkel Wilbie in der Haustür stehen und brüllte:

»Rosie! Wo bist du, Rosie?«

Niemand antwortete. Sofort gereizt, hastete er in das Musikzimmer, wo Lucy sich unnachgiebig durch den langsamen Satz von Beethovens op. 109 durchbiß.

»He, was ist hier eigentlich los? Wo ist deine Tante?«

Mit Ausnahme einer Orgel, die nicht gespielt wurde und hoffnungslos verstimmt war, und dem Knabe, den er von einem Geschäftskollegen gebraucht erworben hatte, als er noch hoffte, daß Corale sich als musikalisch erweisen würde, hatte Wilbie nie viel für die Einrichtung des Musikzimmers getan. Es blickte nach Norden, auf die Seite des Hauses, wo die Mülleimer standen; um die zu verbergen, hatte Tante Rose Netzvorhänge angebracht. Corale und ihre Freunde ergossen sich gelegentlich in dieses Zimmer, wenn der Fernsehraum sich als zu klein für ihre Parties erwies; davon abgesehen hatte Lucy es für sich selbst. Die Wände waren weiß, der Fußboden bestand aus nacktem gebohnertem Kiefernholz, die Akustik war gut. Eine Gipsbüste von Beethoven (eine Zugabe beim Klavierkauf) machte deutlich, daß das Zimmer kulturellen Dingen diente. Lucy sorgte dafür, daß das Klavier gestimmt wurde, hatte bis zu diesem Tag aber noch nichts unternommen, um den Raum zu verschönern.

Beethoven und Lucy runzelten auf die gleiche Weise die Stirn, als sie die Blicke von den Tasten hob, um ihren Onkel anzusehen.

»Tut mir leid, was sagtest du, Onkel Wilbie? Oh, Tante Rose? Sie ist zum Lunch und zum Bridgespielen zu den Banks gegangen.«

»Das hätte sie nicht tun sollen«, sagte Onkel Wilbie ärgerlich. »Habe gerade ein paar Verträge mit der Firma gekündigt. Ihre Preise sind nicht mehr konkurrenzfähig.«

»Soll ich anrufen und ihr sagen, sie möchte nach Hause kommen?«

»Nein, laß nur«, sagte er, ohne den Spott zu hören. »Ich habe mich nur gefragt … aber wenn sie bei den Banks ist, ist es in Ordnung. Sie ist wohl schon vor einer ganzen Weile gegangen. Hatte kaum Zeit für sonst etwas?«

»Nicht viel«, entgegnete Lucy gelassen.

Onkel Wilbie wurde plötzlich fröhlich.

»Hier ist der arme alte Ernährer der Familie und plagt sich in der Stadt ab, und was tut sein Harem? Klimpert den ganzen Tag auf dem Klavier oder macht sich davon, um Bridge zu spielen! Na ja, für uns Arbeiter heißt es zurück in die Tretmühle, was, Russ?«

Erst jetzt sah Lucy, daß Russell McLartney, einer der gescheiteren jungen Leute aus dem Geschäft, ihren Onkel begleitet hatte und in der Diele wartete. Russell, dicklich, mit dickem Haar und voller Selbstbewußtsein, war jetzt seit mehreren Jahren der bevorzugte Assistent Onkel Wilbies, der ungewöhnlich viel von seiner Meinung hielt. Lucy hatte den Verdacht, daß Wilbie Russell als möglichen Nachfolger in der Firma vorgesehen hatte, und daß Russ selbst sich als möglichen Gatten Corales betrachtete, doch als Lucy die letztere Möglichkeit einmal angedeutet hatte, geriet Wilbie unerwarteterweise in Wut; er hatte offensichtlich ehrgeizigere Pläne für seine Tochter. Inzwischen herrschte zwischen den beiden eine förmliche Beziehung, die es Russ gestattete, Corale gelegentlich zu begleiten, und eine ausgesprochen feindselige, durch widerwilligen Respekt voreinander gedämpft, zwischen Russ und Lucy.

»Hallo, Lucy«, sagte er und schlenderte in das Zimmer. »Immer noch dabei, es den Klassikern zu zeigen?«

»Hallo, Russ«, sagte Lucy kühl. Sie wartete darauf, daß die beiden wieder gingen. Onkel Wilbie spürte das und beschloß zu bleiben. Er begann, auf seinen dicken Kreppsohlen auf- und ab zu federn und wurde immer mitteilsamer vor lauter Gutmütigkeit, die zu solchen Anlässen bei ihm zutage trat.

»Wir haben die Tintax-Werke besucht«, erklärte er Lucy, die an dieser Information kein Interesse zeigte. »Darum bin ich auf dem Rückweg in die Stadt hier vorbeigekommen, um meine Uhr zu holen. Hab sie heute morgen zu Hause vergessen.« Er trat ans Klavier und sah sich die Noten auf dem Notenhalter an.

»Was haben wir denn da, eh? Strauß? Friml?«

»Beethoven.« Ausdruckslos sah Lucy zu, wie er die Seiten umblätterte.

»Wundervoll, wie sie das alles versteht, was, Russ? Rätselhaftes Zeug! Andante con moto – welche Sprache ist das, Prinzessin?«

»Italienisch.«

»Für mich könnte es genausogut Spanisch sein.« Onkel Wilbie lachte herzlich. »Warum können sie es nicht in englisch schreiben? Beethoven war doch kein Italiener, oder? Was heißt denn das da, vol … volti subito?«

»Rasch umwenden.«

»Sagte die Schauspielerin zum Bischof! Passend für viele Gelegenheiten, Russ! Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir mal eine Geschäftsreise nach Italien machen sollten. Steckt mehr hinter dieser Musik, als man denkt, wenn du mich fragst … Nun gut, wir machen uns wohl lieber auf den Weg. Die Prinzessin hat es gar nicht gern, wenn wir sie bei der Arbeit stören.« Gelangweilt von Lucys nicht vorhandener Reaktion auf seine Sticheleien wandte er sich zur Tür und blieb abrupt stehen.

»Oh«, sagte Russ, »Sie haben diese Bilder doch endlich aufgehängt. Ist die alte Dame also dahingegangen?«

Er trat vor, um die drei naiven Kunstwerke zu bewundern, die Lucy an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand aufgehängt hatte. Vor dem nackten weißen Hintergrund leuchteten sie wie Steine unter ultraviolettem Licht. »Erstaunliche Machwerke, nicht wahr?« fragte er voller Genugtuung. »Ich habe Ihrem Onkel gesagt, daß sie eines Tages ein Vermögen wert sein würden, und ich wette, ich habe recht. Alles was die brauchen, ist ein bißchen PR-Arbeit, und dann werden Sie sehen.«

»Wie sind die hier heruntergekommen?«

Lucy sah, daß Onkel Wilbie wütend war. Er war sehr still und blaß geworden, nie ein gutes Zeichen bei ihm. Die Herzlichkeit war von ihm abgefallen wie Eis von einer aufgetauten Tiefkühltruhe.

»Tante Rose sagte, daß du dir nichts aus ihnen machst, darum habe ich gedacht, du würdest nichts dagegen haben, wenn ich sie hier aufhänge«, entgegnete Lucy ruhig. »Ich habe sie gefunden, als wir den Speicher aufräumten.«

»Er hat sich nichts aus ihnen gemacht?« fragte Russ. »Sie nehmen uns wohl auf den Arm! Mann, als ich ihm sagte …«

»Schweigen Sie, Russ! Tante Rose hat sich geirrt«, sagte Wilbie kurz angebunden. »Ich möchte bitte, daß sie auf den Speicher zurückgebracht werden.«

»In Ordnung.« Lucy stand auf, aber bevor sie die Bilder berühren konnte, fügte Onkel Wilbie, sich besinnend, hinzu: »Russ wird sie hinaufbringen.«

Wilbie war selbst außerordentlich kräftig; wie eine schreckliche kleine Ameise konnte er etwa das Vierfache seines eigenen Gewichts tragen, aber es war eine Angelegenheit der Etikette, dies nie zu tun.

»Sicher, ich bring sie rauf.« Eilfertig und beflissen hängte Russ die Bilder ab und trug sie nach oben. Lucy hörte ihre Stimmen leise herunterdringen, dann das Zuschlagen der Speichertür und schließlich wieder herunterkommende Schritte.

»Bis später!« rief Russ höflich. Dann schlug auch die Haustür zu, und vor dem Haus sprang Wilbies Cadillac an. Lucy kehrte an ihren Platz im Musikzimmer zurück, nahm das Spielen aber nicht sofort wieder auf. Die Ellbogen auf den Klavierdeckel gestützt, lehnte sie das Kinn auf die Fäuste und grübelte.

Beim Abendessen war Onkel Wilbie wieder fröhlich und ganz der alte.

»Ich habe einen wundervollen Vorschlag für unsere Prinzessin!« verkündete er frohlockend, nachdem er sich der blauweiß gestreiften Schlachterschürze entledigt hatte, die er um seinen rundlichen Körper gebunden trug während der Vorbereitungen für seine berühmte Reistafel. Tante Rose, die ein paar Stunden mit dem Zerkleinern und Zusammenstellen der Zutaten verbracht hatte, hielt sich besorgt in der Nähe auf, für den Fall, daß in letzter Minute noch etwas gebraucht wurde. »Den ganzen Nachmittag Bridge, und dann bekommt sie auch noch das Abendessen umsonst gemacht«, neckte er sie liebevoll. »Und da haben wir Corabella, müde und gähnend, weil sie den ganzen Tag Comics gelesen hat. Die kleine Lucinda und ich sind die einzigen Burschen, die hier wirklich arbeiten, was, Prinzessin?« Er warf seiner Tochter einen liebevollen Blick zu und richtete einen boshaften Blick auf Lucy. »Bella, sitz nicht so krumm und nimm dein Haar aus dem Meerrettich! Sieh dir an, wie hübsch und gerade Lucy auf ihr Essen wartet!«

»Vorschlag für Lucy? Was meinst du damit, Liebling?« fragte Tante Rose ängstlich.

Lucys helle Augen und die kleinen zwinkernden ihres Onkels trafen sich. »Danke für die freundliche Idee, Onkel Wilbie«, sagte sie, »aber mach dir nicht die Mühe, irgendwelche Jobs für mich zu suchen. Ich werde meine Passage nach England als Stewardess verdienen und dann versuchen, Max Benovek zu sehen; wenn ich mit ihm sprechen könnte, wüßte ich, wo ich stehe.«

»Ja, und ist das nicht genau das, was ich vorschlagen wollte?« rief Wilbie triumphierend.

»Als Stewardess? Lucy, Liebes, die Arbeit wäre viel zu schwer für dich!«

Lucy wartete und sah ihren Onkel an, und ihr Gesicht war voller Mißtrauen.

»Weißt du, Prinzessin, ich mache mir schon seit einiger Zeit Gedanken wegen unserer alten Tante Fennel Culpepper – die Tante, von deren Bildern du so furchtbar angetan bist.« Die Bilder, dachte Lucy, ich wußte, daß sich da etwas Seltsames abspielt. Es hat ihn heute nachmittag doch für einen Moment aus dem Gleichgewicht geworfen, als er merkte, daß sie mir gefallen. Aber warum sollte ihn das dazu veranlassen, meiner Reise nach England zuzustimmen? Oder will er mich einfach nur von hier weg haben? Eins stimmte gewiß, dachte sie, als sie für den Bruchteil einer Sekunde seinem Blick begegnete, ihre gegenseitige Abneigung hatte in letzter Zeit zugenommen.

Tante Rose sah aus, als wollte sie etwas sagen, aber ein Blick ihres Ehemanns genügte, um die Eingebung im Keim zu ersticken.

»Ich dachte, Russ hätte gesagt, daß Tante Fennel gestorben sei?«

»Das eben ist es, was wir nicht wissen.« Onkel Wilbie belud seine Gabel behutsam mit Reis, Krabbe, Hühnerfleisch, Nelkenpfeffer und Pinienkern, balancierte das Ganze behutsam zu seinem Mund und begann, mit Behagen zu kauen. »Früher schrieb sie gelegentlich«, sagte er schließlich. »Dorfklatsch, du weißt schon. Hat die Bilder vor ein paar Jahren geschickt. Und dann kein einziger Brief mehr.«

»Wie alt ist sie? Wo lebt sie?«

»Sie muß ziemlich alt sein, Ende achtzig, nicht wahr, Wilbie?« warf Tante Rose ein. Er nickte.

»Lebt in England, kleines Dorf im nordöstlichen Yorkshire. Appleby-under-Scar, Appley ausgesprochen. Die ganze Familie kam früher von da. Die Sache ist, sie schreibt nicht mehr, aber sie bezieht weiter ihre Jahresrente von der Firma. Wird auf ein Bankkonto in New York eingezahlt.«

Lucy verstand allmählich, warum Onkel Wilbie so mißvergnügt war. Für einen Mann, der so geizig war, daß er seine Familie ständig drängte, kalt anstatt heiß zu duschen, und der hinter ihnen herging, um die Lampen auszuschalten, mußte der Gedanke an das fortwährende Davonrinnen von Firmenmitteln ein ständiges Ärgernis sein.

»Sie hat also in deine Firma investiert?«

»Oh, das war vor Jahren«, sagte er, als bestünden seit langem keine Verbindlichkeiten mehr. »Ich frage mich allmählich, wer kriegt den Zaster, wenn sie nicht mehr lebt? Die Rente sollte mit ihrem Tod erlöschen.«

»Ich weiß nicht, warum sie tot sein sollte«, sagte Corale gähnend. »Es gibt andere Gründe, warum sie nicht mehr schreibt. Vielleicht hat niemand ihre Briefe beantwortet.«

»Oder sie sieht nicht mehr gut«, sagte Lucy. »Stellt euch all die feinen Stickereien und die Fummelarbeit an den Bildern vor.«

»Das stimmt.« Wilbie nickte nachdenklich, als sei der Gedanke ihm noch nicht gekommen. »Ja, das könnte der Grund sein. Andererseits könnte da auch irgendwo eine kleine Gaunerei im Gang sein.«

Das sieht dir ähnlich, so zu denken, dachte Lucy. Jemand, der so verschlagen ist wie du, wird natürlich auch bei anderen mit Betrug rechnen.

»Aber sicher ist es doch nicht leicht«, sagte sie laut, »die Rente von jemand anders einzukassieren? Es müssen doch Unterschriften geleistet werden, man muß seine Identität nachweisen und dergleichen?«

»Superintelligent, unsere Prinzessin, was? Aber es ist alles nicht so klar und einfach, wie du vielleicht denkst. Tante Fennel hat nie geheiratet, hat Gott weiß wie viele Jahre mit einer anderen alten Dame zusammengelebt – der Name wird mir gleich einfallen –, was sollte die andere alte Dame also davon abhalten, sich den Zaster auszahlen zu lassen? Kinderspiel, die Unterschrift von jemandem zu fälschen, mit dem man die letzten vierzig Jahre zusammengelebt hat.«

»Aber, großer Gott …« Lucy schien die Vorstellung völlig an den Haaren herbeigezogen. »Es gäbe doch jede Menge Schwierigkeiten – Sterbeurkunden, Versicherungspolicen –; sicherlich würden die Leute das doch sofort merken?« Es ist einfach nicht wahrscheinlich, daß alte Damen sich auf Betrug im großen Stil einlassen, hätte sie lieber gesagt, besonders nicht unmittelbar nach dem Tod einer lieben Freundin. Aber nach Onkel Wilbies Erfahrungen war dies offensichtlich genau die Verhaltensweise, die man von alten Damen erwarten konnte.

»Wer kann schon ein runzliges altes Mädchen vom anderen unterscheiden?« fragte er. »Ich wette, nicht einmal ihr Arzt konnte sie auseinanderhalten. Gingen sowieso nie zum Arzt – hatten all diese Heilkräuter. Nein, wenn du beschlossen hast, nach England zu gehen, Prinzessin, kommt das wie gerufen. Sobald du dort bist, saust du hinauf nach Yorkshire – ich zahle für die Fahrkarte, eh? – und siehst dich vorsichtig mal ein bißchen um. Was hältst du davon?«

»Aber wie soll ich das feststellen?« Lucy war keineswegs begeistert von dem Gedanken, für ihren Onkel den Privatdetektiv zu spielen. »Soweit ich weiß, bin ich Tante Fennel überhaupt nie begegnet. Hast du ein Foto von ihr?«

»Könnte irgendwo eins sein, was, Rosie?« Rose sah aus, als ob sie das bezweifle. »Jedenfalls, wenn da irgend etwas vor sich geht, was nicht ganz astrein ist, würde das Auftauchen einer echten Großnichte genügen, um demjenigen, der dahintersteckt, einen Schreck einzujagen, und der ganzen Geschichte ein Ende setzen, meint ihr nicht?«

»Es gefällt mir nicht«, sagte Lucy.

»Oh, komm, Prinzessin, was kann es schon schaden? Und wenn es die echte Tante Fennel ist, würdest du sie doch gern kennenlernen, nicht? Reizende alte Dame, genau nach deinem Geschmack, könnte ich mir denken, mit ihren Kräutergebräuen und ihrer Stickerei. Überhaupt: wenn du so begeistert von den Bildern auf dem Speicher warst – denk doch an all die anderen, die du dann sehen könntest.«

»Hat sie so viele gemacht?« Unwillkürlich erregte die Vorstellung Lucys Neugier.

»Hunderte, soviel ich weiß. Inzwischen ist das ganze Haus vollgestopft, nehm ich an. Dabei fällt mir ein, es gibt noch etwas anderes, was du tun könntest, während du dort bist.« Lucy warf ihrem Onkel einen scharfen Blick zu. Die zunehmende Unbekümmertheit seines Verhaltens warnte Lucy, daß sie sich jetzt dem Kern der ganzen Angelegenheit näherten.

»Na ja, du weißt ja, daß Russ glaubt, diese Bilder könnten sich als ganz heißer Tip für eine Geldanlage erweisen. Wahrscheinlich träumt der Junge, aber er sagt, gerade jetzt seien die Primitiven und solches Zeug – Naive Kunst nennt er es – sehr gefragt. Wir sind hier alles einfache Leute, wir können da nicht mitsprechen, was?« Ausnahmsweise einmal war der Blick, den er seiner Tochter zuwarf, eher ungeduldig als stolz, aber sie gähnte nur wieder. »Kommt mir hirnverbrannt vor«, fuhr Wilbie fort, »aber wir wollen so etwas doch nicht unbeachtet lassen, wenn eine Chance besteht, ein bißchen dabei zu verdienen, oder?«

»Ich verstehe«, sagte Lucy kalt, »du willst, daß ich mir die Bilder alle schnappe, bevor jemand anderer es tut?«

»Nun, schließlich gehören sie der Familie, verdammt noch mal. Ich bin ihr nächster Verwandter. Nicht einzusehen, warum irgendein Fremder kassieren soll. Sie hat sie wahrscheinlich im ganzen Dorf verschenkt, das ist es, was mir Sorgen macht …«

»Warum gehst du nicht selbst, wenn du so versessen darauf bist, sie von all diesen arglosen Fremden zurückzukaufen?«

»Aber Lucy! Du weißt doch, wieviel dein Onkel immer um die Ohren hat!«

»Weiß Gott. Viel zuviel, um gerade jetzt nach England zu gehen. Ich wollte, ich hätte Zeit gehabt, einen kleinen Abstecher zu machen, als ich letzten Sommer in Stuttgart war, aber ich hatte keine freie Minute.«

»Es würde nur ein Wochenende dauern, wenn du fliegst.«

»Onkel Wilbie haßt Flugzeuge, das weißt du doch«, sagte Tante Rose vorwurfsvoll. »Sie bringen seine Verdauung für Tage durcheinander.«

»Außerdem«, sagte Wilbie, »wenn ein alter Geschäftsmann wie ich anfinge, herumzuschnüffeln und Bilder zu sammeln – immer vorausgesetzt, Tante Fennel ist tot –, würden die Leute sehr schnell spitzkriegen, was da vor sich geht. Wenn du es aber tätest, Prinzessin – ein unschuldiges junges Küken wie du –, könntest du jeden beliebigen Grund nennen, Gedächtnisausstellung, sentimentaler Wunsch, so viele wie möglich aufzuspüren – zum Teufel, du bist begeistert von den Dingern, das hast du doch selbst gesagt! Es wäre kinderleicht für dich!«

»Es paßt mir nicht«, sagte Lucy zum zweitenmal. »Ich käme mir vor wie ein Schnüffler.«

»Heiliger Strohsack! Wer erleidet einen Schaden? Niemand. Ich sag dir was – für jedes Bild, das du auftreibst, zahle ich dir eine Kommission. Könnte genug zusammenkommen, um für deine Stunden bei dem Dingsda zu reichen, wenn du noch immer so scharf auf diese Klavierspielerei bist.«

Das ließ Lucy verstummen. Schweigend schob sie den Salat auf ihrem Teller hin und her.

»Ich muß schon sagen, Prinzessin«, sagte Onkel Wilbie in verletztem Ton, »ich finde wirklich, du könntest dich deiner Tante und mir gegenüber etwas dankbarer zeigen, wenn man bedenkt, was wir alles für dich getan haben. Schließlich haben wir dich bei uns aufgenommen und dir in all den Jahren nach dem Tod von deiner Mutter und Paul und Minnie ein Zuhause gegeben, für deine Erziehung gesorgt, für einen gesellschaftlichen Hintergrund, alles, was dazugehört …«

»Du erwartest von Lucy Dankbarkeit?« fragte Corale. »Hoffnungslos! Sie haßt uns wie die Pest, jeden einzelnen von uns, nicht wahr, Luce?«

Lucy saß in der Falle. Sie blickte gerade noch rechtzeitig auf, um im Gesicht ihrer Tante einen Ausdruck hoffnungsloser Resignation gegenüber einer Situation zu sehen, die außerhalb ihrer Kontrolle lag.

Ritterlichkeit war kein sehr starker Zug in Lucys zähem, argwöhnischem Herzen, aber ihre Tante erweckte sie manchmal in ihr. Roses Situation war so unendlich viel schlimmer als irgendeine Zukunft, die man sich vorstellen konnte.

»Also gut«, sagte Lucy endlich mürrisch. »Wenn es allen so am Herzen liegt, werde ich versuchen, das alte Mädchen ausfindig zu machen.«

2

Morgens aufwachen. Kalt und dunkel. Bett ist klumpig; muß Dill bitten, mit mir die Matratze umzudrehen, mit neuem Seegras zu stopfen. Neuen Beutel mit Bohnenkraut unter das Kopfkissen. Nein, falsche Jahreszeit für Bohnenkraut, muß Winter sein, so kalt und dunkel. Popo fühlt sich kalt an im Bett. Wache ein bißchen mehr auf, würde lieber nicht aufwachen, würde lieber weiterschlafen. Schöner Traum, fällt mir jetzt wieder ein. Vor unserem Cottage, High Beck, pflücke Baldrian von der Mauer vor dem Haus. Dill jätet Unkraut aus den Steintrögen; alles ist blau vor Glockenblumen. Bienen summen, der alte Taffypuss sonnt sich auf der Türschwelle. Taffy! Er schnurrt. Dill pflückt einen Strauß Zaunrosen, kann es riechen. Jetzt ist sie die Böschung hinuntergeklettert, um Brunnenkresse zu holen. Vorsichtig, Dill! Die Vögel singen zu laut, muß aufwachen. Sind gar keine Vögel. Traum pellt sich ab, zerfällt zu Fetzen wie verbranntes Papier, oh, komm zurück, komm zurück! Nein, verschwunden. Oh, Dill, oh, Taffypuss, ihr fehlt mir so. Wann werde ich mich je dran gewöhnen?

Wache auf. Popo ist kalt. Muß Dieda fragen nach meinem guten angerauhten Nylonschlüpfer. Sie hat gesagt, ist in der Wäscherei, ist aber schon seit Wochen verschwunden. Komische Wäscherei. Keinem kann man trauen hier. Jetzt auch schon kalt im Bett. Darf aber nicht aufstehen. Die wird wütend, wenn jemand vor dem Frühstück aufsteht. Ist morgens nicht in der besten Verfassung. Kann kein Frühstück machen, sagt sie, wenn ihr die Leute unten unter die Füße laufen. Na ja, ich hab nichts gegen Frühstück im Bett. Würde aber lieber auf sein, meinen eigenen Kessel aufsetzen, in den Hühnerstall gehen und Eier einsammeln, die Hand unter warmes, federiges, murrendes Huhn schieben, Ei für mich, Ei für Dill … Hat keinen Sinn, so zu denken. Frühstück hier jedenfalls nicht schlecht. Porridge, Toast, Tee manchmal wirklich heiß. Wärmt einen auf im kalten Bett. Frühstück das Beste vom Leben hier. Sagt aber nicht viel.

Jetzt kommt Dieda rauf. Kann sie mit dem Tablett klappern hören. Wie sie es schafft, nicht zu stolpern und sich das Genick zu brechen!Treppenhaus ist so vollgestopft mit dieser Venusstatue hier oben, Koffern und Schachteln, und dann auch noch die Hooverschnur von oben bis unten; ausgesprochen gefährlich, wenn man mich fragt, mit all diesen alten Menschen, die meisten halb blind. Mußt dich vorantasten wie in einem Stollen; ich laß’ nie das Geländer los. Wirklich komisch, wenn man darüber nachdenkt. Sie haben gesagt, High Beck wäre gefährlich für mich und Dill, mit der Böschung unten, sagten, man müßte mit einem Sturz rechnen. Aber wenn sie dieses Haus gesehen hätten! Viel schlimmer. Und wenn einmal Feuer ausbrechen sollte … in der Falle in winzigen Zimmern voller Möbel. Aber denken wir an etwas anderes. Hier kommt Dieda mit dem Tablett.

Guten Morgen, Mrs. …

Guten Morgen, meine Damen. Schöner heißer Porridge.

Drei in einem Zimmer ist sündhaft überfüllt, besonders in so kleinen Zimmern. Die Betten aneinandergequetscht, kaum Platz, um die Schubladen zu öffnen. Nur ein Schrank für drei. Müssen die Tabletts auf die Nachtstühle stellen, nicht sehr schön. Überhaupt nie allein. Mußt die anderen einfach ignorieren. Eine von ihnen will das Fenster auf, die andere will es zu. Wenn es zu ist, kann ich die Vögel nicht hören. Kann ich aber nicht erwähnen. Weil. So viel, an das man sich dauernd erinnert. Gibt hier sowieso keine Brachvögel, keine Nachtigallen. Nur Spatzen. Lieber einen halben Spatz als gar keinen Vogel. Dill würde lachen, sie lacht immer über meine Witze. Ehrlich, Daff, du wirst mich noch einmal umbringen. Aber ich hab sie nicht umgebracht. Er hat es getan. Dieser Andere. Warum mußte Gott das zulassen? Dill war so ein guter Mensch. Hat ihr Leben lang keiner Fliege etwas zuleide getan. Wenn sie eine Küchenschabe in der Speisekammer fand, war ich es, die sie beseitigen mußte. All die Vögel mit verletzten Flügeln, das Eichhörnchen mit dem gebrochenen Bein. Haustiere. Sie sorgte für sie, so umsichtig, für jedes einzelne. Keiner sorgte für sie. Dort hat sie gelegen, die ganze Nacht, halb im Bach. Der Doktor hat gesagt, muß immer wieder um Hilfe gerufen haben. Keiner hat sie gehört, nicht einmal Gott. Vielleicht hat Gott sie endlich gehört.

Klappernde Löffel. Leute, die Porridge essen. Muß mich aufsetzen und essen, solange es heiß ist. Oh! Rheumatismus.

Sonderbar, du liegst im Bett, denkst nach, erinnerst dich. Du könntest jedes Alter haben. Der Körper fühlt sich leicht an, entspannt. Du fühlst dich nicht alt. Aber wenn du dich bewegst – oh! Schmerzen in den Ellbogen, Knien, im Rücken. Das Alter packt dich wie eine Falle mit Zähnen. Komisch, sie sagten immer, High Beck sei schlecht für Rheuma, mit dem Bach gerade darunter, aber dort kein Rheuma gehabt. Zu beschäftigt wahrscheinlich. Hühner, Garten, Betsy melken, im Cronkley Wood Kräuter sammeln. Nie den kleinsten Schmerz. Aber hier! Keine Bewegung, das ist der Grund. Den ganzen Tag im dunklen, dumpfen kleinen Salon herumsitzen. Sie nennen es Halle, aber ich sage Salon. Altmodisch ist immer am besten. Trau mich nicht auf die Straße zu gehen, weil ich Angst habe, den Anderen zu treffen.

Setze mich jetzt auf. Hole Bettjäckchen unter der Decke hervor, wo es schön warm geblieben ist. Lege es um die Schultern. Oh, Stechen in den Schultern. Streue vorsichtig Zucker auf den Porridge. Nicht zu viel, muß eine Woche mit dem Glas auskommen. Porridge klumpig, wie das Bett. Aber heiß. Kein richtiger Porridge natürlich, Instant-Zeug. Nie Sahne, nur Milch, Magermilch auch noch. Kannst du dich an Betsys Sahne in der Emailschale erinnern, Dill? So dick, daß man sie zerkrümeln konnte wie Papier? Sollte nicht mit Dill sprechen, sie ist nicht hier. Toast streichen, Butter schmeckt wie Margarine, ist wahrscheinlich Margarine. Eine von den andern sagt, sie glaubt, daß es Margarine ist. Entschuldigen Sie, was sagten Sie? Ich hab mein Hörgerät noch nicht ins Ohr gesteckt. Tut mir leid, kann es erst reinstecken, wenn ich mir die Ohren gewaschen habe. Trinke Tee. Ist heiß, mehr kann man dazu nicht sagen. Ich wünschte nur, ich könnte einen Kamillentee oder einen aus Honigklee haben. Pfefferminze, die im Bach wächst. »Ich mach uns einen Pfefferminztee«, sagte sie manchmal. Oder Lindenblüten. Himbeerblätter, Betonie. Heiß und duftend, wie Wiesen an einem Sommertag. Das hier ist wie vom Boden Aufgekehrtes in heißem Wasser. »Tee mißgönnt, Wasser verhext«, sagte Dill immer.

Dann also aus dem Bett. Füße auf eiskalten Boden stellen. Seltsam, die Füße zu sehen, so alt und dünn und knochig. Werd mich nie dran gewöhnen. Schnell, braune Hausschuhe anziehen, Mantel. Nicht genug Platz für Mantel und Morgenrock, sagt Dieda. Also Mantel. Jemand im Badezimmer, muß warten. Sollten mehr als ein Badezimmer haben bei so vielen. Aber Dieda sagt, sollen froh sein, daß wir überhaupt Badezimmer haben. Kein Badezimmer in High Beck, Außenklo und Spülstein in der Küche, aber sauber und frisch. Nur ich und Dill. Kann man von hier nicht sagen. Ah, sie ist endlich fertig. Wird auch Zeit.

Wasser ist heiß, weil heute Waschtag ist. Dieda wird wütend, wenn man zuviel verbraucht, muß mich aber gründlich waschen. Gründliches Waschen jetzt größte Freude. Hab noch drei Stück Lattichseife, was mach ich, wenn sie verbraucht ist? Hat keinen Zweck, sich jetzt schon Gedanken zu machen, sollte noch ein paar Wochen reichen. Jemand hämmert an die Tür, beeilen Sie sich da drinnen, wollen Sie den ganzen Tag bleiben? Tu so, als hätte ich nichts gehört. Bin jetzt fertig, hab ich alles? Seife, Waschlappen, Ulmenrindenpuder. Hinaus auf den Flur. Oh, tut mir leid, schon lange gewartet? Entschuldige mich, kann es aber nicht ändern, wenn für so viele nur ein Badezimmer da ist. Vorsichtig, daß ich im dunklen Gang nicht stolpere. Koffer mit Eisenbeschlägen an den Ecken. Tut weh an den Knöcheln. Kleiderschrank. Sie sollte einen anderen Platz dafür finden. Hoover an die Wand gelehnt. Nicht anfassen, würde umkippen. So hat der alte Mann mit der schwarzen Augenklappe Hüfte gebrochen, Krankenwagen hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Liegt jetzt auf der Pflegestation, sagt Dieda. Bewahr mich bitte davor, lieber Gott. Ich weiß Bescheid über diese Pflegestationen; sie nehmen dir deine Brille weg. Behaupten, du bist nicht mehr fähig, dich um deine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Dies hier ist ein Paradies im Vergleich zu denen. Vielleicht ist der alte Mann gar nicht dort. Vielleicht haben seine Verwandten ihn abgeholt, mit zu sich nach Hause genommen, mit einem Garten, einer Terrasse, wo man in der Sonne sitzen kann, eigenes großes Zimmer, Enkel zum Schwatzen und für kleine Besorgungen.

Jetzt anziehen. Waschtag, also frisches Unterhemd. Schmutziges Unterhemd ausziehen. Sauberes unter Kissen vorholen, wo es sich anwärmt. Mantel über den Schultern lassen, den anderen den Rücken zuwenden. Oh! Wieder Stechen. Mantel rutscht ständig runter. Wenn ich nur ein eigenes Zimmer hätte. Wenn ich nur jemals allein wäre.

Nicht gut, so zu denken.

Mühevoll, mühevoll.

Gut, beinah fertig. Unterhemd an, Leibchen an, Strümpfe an, zwei Paar Schlüpfer an (muß noch einmal nach den guten aus angerauhtem Nylon fragen). Anstrengend. Muß mich hinsetzen und ausruhen, aber zuerst den kleinen Stoffbeutel umstecken. Sicherheitsnadel von der Innenseite des schmutzigen Unterhemds rausnehmen, Beutel an Innenseite von sauberem Unterhemd feststecken. Sicherheitsnadeln sind störrisch. Meine Finger werden schwach. Wenn sie nun zu schwach werden, um mit den Sicherheitsnadeln fertigzuwerden? Was mach ich dann? Wenn ich etwas von dem Puder aus Meeresalgen bekommen könnte, um die Hände drin einzuweichen. Oder Sellerietee. Sinnlos, Dieda zu fragen. Der kleine Stoffbeutel kratzt auf der Brust. Nadel nicht richtig festgesteckt. So ist’s besser. Einziger sicherer Platz für meinen Besitz.

Kleid, Strickjacke. Haar bürsten. Arme steif. Feuchtes, klumpiges Bett, was kann man schon erwarten. Müde, nicht gut geatmet. Für einen Augenblick aufs Bett setzen. Tablett auf Nachtstuhl. Hörgerät ins Ohr stecken. Erst Batteriebehälter an Strickjacke festmachen. Klammer sehr störrisch, Finger sehr schwach. Fummeln. Fummeln. Soll ich Ihnen helfen, Miss Culpepper? Dieda ist zurückgekommen, wie? Will wohl das Bett machen, darum das Angebot zu helfen. Reißt es mir aus der Hand, steckt den Batteriebehälter an die falsche Seite. Schrecklicher Atem, wie die Abwässer einer Brauerei. Ist das ein Wunder? Falsche Seite gar nicht erwähnen. Unten umstecken, wenn sie nicht hinsieht.

Gut. Jetzt Schnur um den Nacken, unter dem Haarknoten entlang, Stöpsel ins Ohr schieben. Sehr schwierig. Fummel, fummel. Dieda steht daneben und sieht zu, ungeduldig. Fummel. Steck ihn jetzt irgendwie rein, warte bis unten, sonst bietet sie an, das auch noch zu tun. In Ordnung, Miss C.? Haben Sie Ihre Tasche? Dann ab mit Ihnen nach unten. In der Halle ist es gemütlich und warm.

Das mag sein oder auch nicht.

Taschentuch, Beinwell-Tabletten. Wogegen nehmen Sie all diese Tabletten ein, kann doch nicht gut sein. Darf sie nicht sehen lassen, daß ich sie nehme, sie ist so schnell beleidigt. Ist denn das Essen hier nicht gut genug? Ehrlich gesagt: nein. Könnte ihr das aber nicht ins Gesicht sagen.

Die Treppe hinunter, immer am Geländer festhalten. Auf Hoover und Schnur achten. Auf Venusstatue achten. Unanständige Gestalt, völlig nackt, Handtuch rutscht vom Bauch runter. Daß keine Arme dran sind, macht es auch nicht besser. Dill würde mich auslachen und sagen, es sei ein berühmtes Kunstwerk, aber ich finde es rücksichtslos. Wer möchte schon, daß ihn jedesmal, wenn er ins Badezimmer geht, vom oberen Treppenabsatz eine nackte Frau angrinst? Kopflastig ist sie auch. Gefährlich. Könnte leicht auf jemanden fallen. Wer möchte schon eine Venus auf sich fallen haben? Wer ist dort unten am Ende der Treppe? Furchtbar dunkel am Eingang, bunte Glasscheiben in der Tür, alte Standuhr, Schirmständer, ihr Fahrrad, wo man kaum anders kann, als darüber stolpern.

Sind Sie das, Miss Culpepper? Darf ich Ihnen die letzten Stufen hinunterhelfen?