Die Fünf-Minuten-Ehe - Joan Aiken - E-Book

Die Fünf-Minuten-Ehe E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

London, 1815. Als ihre Mutter ernstlich erkrankt, sieht Philadelphia Carteret keine andere Möglichkeit, als ihren wohlhabenden Großonkel Lord Bollington um Hilfe zu bitten. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft auf Chase, dem Familiensitz, wird sie in ein gefährliches Ränkespiel verwickelt. Eine Doppelgängerin und andere zwielichtige Gestalten trachten ihr nach dem Leben...

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Joan Aiken

Die Fünf-Minuten-Ehe

Roman

Aus dem Englischen von Helga Herborth

Diogenes

1

»Ich sah ein Röschen am Wege stehn, es war so blühend und wunderschön, es hauchte Balsam weit um sich her, ich wollt es brechen und stach mich sehr«, sang die Schülerin, wobei sie die höheren Töne recht zaghaft herausbrachte, die tieferen zwar mit mehr Zuversicht, aber nicht so rein.

»Danke, Miss Smith. Bei den hohen Tönen haben Sie große Fortschritte gemacht. Und ich fürchte, damit ist unsere Zeit für heute auch schon zu Ende«, sagte Philadelphia, während sie zu der alten Büfett-Uhr auf dem Kaminsims hinsah und dann einen Blick aus dem im ersten Stock gelegenen Fenster in die Greek Street hinauswarf. »Denn da kommt bereits Ihre Mutter.«

Die Schülerin, die ihre Erleichterung kaum verbergen konnte, daß die qualvolle halbe Stunde zu Ende war, packte schnell ihre Noten zusammen und warf sich ihr Cape über.

»Bis nächsten Donnerstag also, Miss Smith, wie immer. Und vergessen Sie diesmal bitte nicht, fleißig zu üben«, fügte Philadelphia hinzu und brachte ihre schuldbewußte Schülerin damit in Verlegenheit, milderte ihre Mahnung jedoch durch ein Lächeln ab, das ihre ernsten Züge mit einem völlig unerwarteten Strahlen überzog.

»Wenn Sie mir das nächste Mal vorsingen, dann möchte ich mich in eine Loge im Covent Garden versetzt fühlen.«

»Leben Sie wohl, Miss Carteret. Ich verspreche Ihnen, ich werde fleißig üben.« Und mit einem anbetenden Blick verabschiedete sich die Schülerin – sie war übrigens nur drei Jahre jünger als ihre Lehrerin – und frohlockte insgeheim, daß ihr eine noch schlimmere Strafpredigt, wie sie sie erwartet und auch verdient hatte, erspart geblieben war. Aber Miss Carteret schien heute ohnehin nicht ganz bei der Sache zu sein und konnte es offenbar kaum erwarten, die Mutter zu begrüßen und dann beide eiligst zu verabschieden, ohne die sonst übliche ausführliche Erörterung der Talente und Fortschritte der Tochter.

Als beide gegangen waren, schritt Philadelphia schnell zu der Schiebetür, die den Raum, der gleichzeitig als Musikzimmer, Schlafkammer und Salon diente, mit dem Zimmer ihrer Mutter verband.

Mrs. Carteret lag kraftlos, den Rücken gegen einen Berg Kissen gestützt, im Bett. Unter der Haube sah ihr immer noch goldenes, nur leicht ergrautes Haar hervor, das ihr in einem hübschen geflochtenen Kranz um den Kopf lag. Die Haube, und auch die Bettjacke, die sie sich um ihre Schultern gelegt hatte, waren mit Spitze der allereinfachsten Qualität besetzt, aber von strahlendem Weiß. Ähnlich war es mit den Möbeln im Raum bestellt: keine Prunkstücke, doch mit Geschmack angeordnet und von penibelster Sauberkeit. Ein Strauß Primeln stand in einem blauen Krug auf dem Nachttisch, und die Bettvorhänge, obwohl verblaßt, waren aus einem so herrlichen Damast, daß man vermuten mußte, sie haben sich aus einer weit vornehmeren Umgebung hierher verirrt.

»Ich muß jetzt fort, Mama, und den Browty-Mädchen am Russell Square ihre Stunde geben«, sagte Philadelphia, beugte sich über die Mutter und küßte deren weiche, rosige Wangen. »Wirst du eine Stunde ohne mich zurechtkommen? Fehlt es dir auch an nichts?«

»Russell Square? Warum mußt du denn unbedingt dorthin?« erwiderte ihre Mutter mit deutlichem Widerwillen. »In meiner Jugend wohnte niemand, der auf sich hielt, in solch einem Viertel. Irgendein hochgekommener Kaufmann, der höhere Töchter aus seinen Gören machen will, nehme ich an?«

»Die Browtys zahlen sehr gut«, antwortete Philadelphia ruhig, holte ihr Häubchen aus der Schublade und arrangierte es sorgfältig auf ihren weichen nußbraunen Locken. Ein Paar großer und ungewöhnlich schöner, mandelförmiger grauer Augen prüfte das Resultat nüchtern im Spiegel. Der einfache, unter dem Kinn gebundene Hut war weder neu noch nach der Mode, und der strohfarbene Besatz aus Lyoner Seide trug deutliche Spuren von Abnutzung. Aber dennoch brachte er die Farbe ihrer Augen gut zur Geltung und umrahmte ihr schmales ovales Gesicht sehr eindrucksvoll.

»Warum kommen sie denn nicht zu dir?« fragte Mrs. Carteret. »Halten sich wohl für zu gut, einen Fuß in die Straßen von Soho zu setzen?«

Philadelphia war klug genug, einer Diskussion über dieses leidige Thema aus dem Wege zu gehen, und sagte: »Aber Mama, ich bin doch nur eine gute Stunde fort! Ich werde mich beeilen, ich verspreche es dir. Und auf dem Rückweg besorge ich Hammelschulter und Graupen und koche dir eine gute, kräftige Brühe. Und von Mme. Lumière bringe ich dir ein paar kleine Mandelkuchen mit, die du so magst«, fügte sie einschmeichelnd hinzu, aber Mrs. Carteret wollte sich nicht besänftigen lassen und entgegnete in nörgelndem Ton:

»Hammelbrühe! Warum denn unbedingt immer Hammelbrühe! Warum denn kein knuspriges Brathähnchen? Bei Gott, Hammelbrühe – ich kann sie nicht mehr sehen!«

»Weil Dr. Button sagt, daß eine gute Kraftbrühe das beste für dich ist.« Philadelphia versagte sich den Hinweis, daß sie sich ein Brathähnchen ohnehin nicht leisten konnten und ihr eigenes Abendessen wahrscheinlich nur aus einem gekochten Ei bestehen würde. »Und bitte, Mama, steh bitte nicht auf, wenn ich fort bin, und spiel Klavier oder polier den silbernen Sahnekrug. Du bist noch zu geschwächt für solche Dinge. Willst du mir das versprechen?«

Mrs. Carterets hübsches rosiges Gesicht nahm einen Ausdruck gequälter Unzufriedenheit an.

»Warum darf ich denn überhaupt nichts tun? Wenn ich schon im Bett liegen muß, könnte ich mir doch wenigstens eine Handarbeit vornehmen, Delphie! Bring mir doch bitte ein kleines Stück Batist mit, dann kann ich mir eine neue Haube und eine Bettjacke machen; die hier sind so alt und abgetragen, daß ich mich schäme, mich dem Doktor darin zu zeigen. Ich weiß schon nicht mehr, wie lang ich sie trage – eine Ewigkeit!«

»Gut, Mama, ich bring dir ein Stück Batist mit; aber du sollst nicht selbst anfangen zu nähen. Du weißt, Dr. Button sagt, wegen deines Herzens mußt du jede Anstrengung vermeiden. Ich will sehen, ob ich heute abend nach meiner letzten Stunde Zeit finde, dir eine neue Jacke zu nähen.«

»Du willst sie nähen? Ein trauriges Ergebnis würde dabei herauskommen! Von Nadelarbeit verstehst du nun beim besten Willen nichts!«

»Dann bitte ich eben Jenny Baggott, mir zu helfen, einverstanden?«

»Diese vulgäre Person – nun, wenn du unbedingt meinst. Warte, mir fällt gerade ein, vielleicht wäre ein Stück Jakonett hübscher als Batist.«

»Welche Farbe?«

»Von Weiß habe ich jetzt genug. Was hältst du von Perlgrau?«

»Ich glaube, in Perlgrau sähst du reizend aus, Mama.«

»Oder nein – ich glaube, Lavendel wäre noch schöner. Ja, besorg mir eine Bahn lavendelfarbenen Jakonett. Oder meinst du, Lavendel verblaßt zu schnell? Vielleicht sollte ich lieber Rosa …«

Philadelphia verbarg ihre wachsende Ungeduld und ermutigte ihre Mutter, bei Perlgrau, ihrer ersten Wahl, zu bleiben.

»So, und jetzt bitte ich Jenny Baggott, während meiner Abwesenheit heraufzukommen und ein wenig Karten mit dir zu spielen, um dir die Zeit zu vertreiben. Sie ist das gutherzigste Geschöpf auf Gottes Erdboden. Ich bin sicher, sie kann es sich einrichten, wenn es dir recht ist.«

»Ganz gewiß nicht! Sie spricht so entsetzlich laut. Ihre Stimme dröhnt mir im Kopf wie eine Kesselpauke. Ich werde einfach still hier liegen«, sagte Mrs. Carteret mit melancholischer Stimme, »still liegen und mich mit Erinnerungen an bessere Zeiten amüsieren, die nun ein für allemal dahin sind.«

»Hättest du Lust zu lesen?« schlug Philadelphia vor. »Hier hast du Rasselas oder den Spectator oder die Gedichte von Pope.«

»Nein, danke, meine Liebe. Ich habe nicht die Kraft, ein Buch zu halten. Außerdem habe ich so schlimme Kopfschmerzen, daß ich mich auf solche Werke gar nicht konzentrieren kann. Wenn es ein Buch von Mrs. Radcliffe wäre, ja, etwas, das ein wenig unterhaltender ist …«

»Ich will sehen, ob ich die Zeit finde, dir Sir Charles Grandison oder Udolpho aus der Leihbücherei mitzubringen«, bot Philadelphia an. »Dann hast du etwas, worauf du dich freuen kannst. Jetzt muß ich aber laufen, sonst verspäte ich mich. Und bleib hübsch im Bett, Mama, denn es bläst ein kalter Wind, obwohl schon fast Mai ist.«

Bei dieser Mahnung Philadelphias erschien ein aus Trotz und Schläue zusammengesetzter Ausdruck auf dem Gesicht der alten Dame, aber sie antwortete nur:

»Dann leg noch etwas Holz aufs Feuer, Kind.«

»Es ist genug aufgelegt«, sagte Philadelphia, die, während sie ihr Schultertuch umlegte, zu dem bescheidenen Kohlefeuer hinsah.

»Aber bitte lauf nicht zum Russell Square, Philadelphia!« sagte Mrs. Carteret. »Es macht einen schlechten Eindruck, wenn du zu Fuß bei deinen Schülern ankommst. Was sollen die Dienstboten dort von dir denken! Du mußt dir unbedingt eine Sänfte nehmen, denn sonst bist du ganz zerzaust, und man hält dich für ein Küchenmädchen und schickt dich zum Hintereingang!«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Mama. Der Diener der Browtys weiß sehr wohl, wer ich bin, und man hat mich dort immer mit äußerster Zuvorkommenheit behandelt«, antwortete Delphie ruhig und flüchtete aus dem Zimmer, ehe ihre Mutter sich noch weitere Gründe ausdenken konnte, den Abschied zu verzögern.

Die Treppe führte von der Wohnung hinunter durch einen Modewarenladen, der das ganze Erdgeschoß des Hauses einnahm. Hier blieb Delphie stehen, um mit der zuvor erwähnten Miss Jenny Baggott zu sprechen, die hinter dem Tresen stand und bediente. Sie war eine dunkeläugige, rosig und gutmütig aussehende Person Anfang Dreißig, deren lila Kleid mit gelben Tupfen sie äußerst zierte. Das glänzende schwarze Haar hatte sie sich in einer Reihe, zu kleinen Schnecken gedrehter Locken in die Stirn frisiert.

»Miss Delphie! Schon seit zwei Stunden hab ich vor, hinaufzugehen und Ihrer werten Mama guten Tag zu sagen, aber Sie stellen sich’s nicht vor, wieviel Kundschaft wir heute vormittag hatten. Aber das ist ja nichts Neues. Vom ersten Augenblick, seit sie den Laden eröffnet hat, weiß meine Schwester nicht, wo ihr der Kopf steht, und ich muß ihr aushelfen. Im Moment ist sie grad fortgegangen, ein Stück Schinken und einen Schoppen Portwein holen. Aber wenn Sie gern möchten, daß ich hochlaufe und mich zu Ihrer armen, lieben Ma setze, wenn Anne zurück ist – Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, und ich tu es auf der Stelle, denn Sie wissen ja, ich tu Ihnen immer gern einen Gefallen.«

»Sie sind das beste Geschöpf auf der Welt, Jenny – aber Mama möchte einfach ruhen, und ich glaube, wir müssen Sie heute nicht bemühen«, sagte Philadelphia dankbar.

»Wer redet denn von Mühe, Liebchen! Sie wissen doch, wie gern ich mich zu Ihrer Mutter setze. Sie ist zwar manchmal ein bißchen heikel und mäkelt gern, aber man kann sich wirklich bloß bilden, wenn man ihr zuhört, wie vornehm sie sich ausdrückt. ›Anne‹, sag ich oft zu meiner Schwester, ›Anne, du solltest dir ein Beispiel an Mrs. Carteret nehmen, dann würdest du nicht so grob daherreden, wie du’s tust.‹ Nun, ich hüpf gleich mit einer Tasse Tee und einer kleinen Schale Brotpudding zu ihr hoch, ja?«

»Darüber würde sie sich sicher freuen – aber wir machen Ihnen wirklich zuviel Mühe, Jenny.«

»Papperlapapp – Mühe! Nach all den wunderbaren Stunden, die Sie mir gegeben haben und keinen Pfennig dafür wollten. Mein Verehrer, Mr. Swannup, sagt immer, wie ’ne Nachtigall würd ich singen, seit Sie mich unterrichtet haben – und das, wo Sie doch von morgens bis abends alle Hände voll zu tun haben«, sagte Jenny lebhaft. »Sowie Anne zurück ist, lauf ich hoch und seh nach der alten Dame.«

»Sie brauchen nur kurz hineinzuschauen, denn ich glaube, sie ist eingeschlummert. Sie war in einer mürrischen Stimmung, was meistens bedeutet, daß sie müde ist«, sagte Delphie. »Sehr dankbar wäre ich Ihnen aber, Jenny, wenn Sie darauf achten, daß sie keine Anstalten macht, das Haus zu verlassen. Sie wissen, wie starrsinnig sie ist! Und seit ihrer Krankheit ist sie noch unvernünftiger. Sie will einfach nicht einsehen, daß sie bestimmte Dinge im Augenblick nicht tun kann.«

»Ich werde ein Auge auf Ihre arme Mutter haben«, versprach Jenny. »Sie wird das Haus nicht verlassen, so wahr ich hier stehe. Und ich werd es auch nicht zulassen, daß sie zwanzig Ellen violetten Satin von meiner Schwester kauft, so wie sie’s letzte Woche versucht hat. Und ich paß auch auf, daß sie keine zwanzig Enten beim Geflügelhändler bestellt oder sich eine Pferdedroschke mietet, um sich zur Allardyce Leihbibliothek oder zum Pantheon fahren zu lassen. Ich kenn alle ihre Tricks, Miss Delphie, glauben Sie mir, und solang ich im Laden stehe, wird sie nicht aus dem Haus gehen.«

»Danke Jenny, das nimmt mir eine große Last von der Seele!« sagte Delphie, wobei ein strahlendes Lächeln über ihr Gesicht huschte, das zwei völlig unerwartete Grübchen in ihren schmalen ovalen Wangen zum Vorschein brachte.

Jenny strahlte zurück und wandte sich ab, um eine Bahn Musselin für eine wartende Kundin abzumessen.

Sobald sie hinaus auf die Straße trat, verschwand das Lächeln von Philadelphias Gesicht und wich einem Ausdruck ängstlicher Besorgtheit. Sie wußte um die eigensinnigen Launen ihrer Mutter. Ebenso wußte sie, daß Jenny bei aller Gutherzigkeit und bei all ihren guten Vorsätzen ein sehr impulsives Geschöpf war. Durch die kleinste interessante Begebenheit, das kleinste Geräusch, das ihre Neugier weckte, ließ sie sich auf die Straße locken. Und war in solchen Augenblicken auch ihre Schwester Anne nicht im Laden, konnten sich die Kundinnen ungestört selbst zu Hauben, Schals, Handschuhen oder Spitzen verhelfen, wenn ihnen der Sinn danach stand.

Philadelphia, die einen gesunden Sinn für Humor und die Absurditäten und Ironien des Lebens hatte, dachte daran, daß ihr während der letzten halben Stunde drei ernsthafte Versprechen gegeben worden waren: Miss Smith wollte ihre Arie proben, Mrs. Carteret im Bett bleiben, und Jenny wollte ihre Mutter im Auge behalten. Die Aussicht jedoch, daß die drei Versprechen eingehalten würden, war ungefähr so groß wie die Chance, daß Lilien zwischen den Pflastersteinen der Greek Street hervorsproßten, durch deren Menschengewühl Philadelphia sich jetzt schnell ihren Weg nach Norden zum St. Giles Circus bahnte.

Sie wäre sich ihrer Vermutung noch sicherer gewesen, hätte sie in diesem Moment ihre Mutter sehen können. Denn nachdem die Schritte ihrer Tochter am Fuße der Treppe verklungen waren, hatte Mrs. Carteret keine zwei Minuten gewartet, bis sie leise aus dem Bett stieg und den Vorhang in der Ecke beiseite schob, hinter dem ihre Kleider hingen. Nachdem sie in Strümpfe und Unterrock geschlüpft war, zögerte sie einen Moment. Sollte sie sich für das taubengraue, an mehreren Stellen schon recht abgetragene Samtkleid entscheiden oder für das gestreifte Seidenkleid, das in weit besserem Zustand war, aber bei weitem nicht warm genug für diesen kühlen Frühlingstag? Nach kurzem Überlegen entschloß sich Mrs. Carteret für das seidene und hängte das Samtkleid wieder in die Garderobe, aus der ein starker Geruch nach Tonkabohnen hervorströmte.

 

Die fünfzehnjährige Miss Lydia Browty hatte keine große musikalische Begabung, war aber ein gewissenhaftes Mädchen und ihrer Lehrerin sehr zugetan. Delphie stellte erfreut fest, wie fleißig sie geübt hatte, und die Unterrichtsstunde verlief erfreulich. Außerdem war es für Delphie immer ein Genuß, auf dem Pianoforte der Browtys spielen zu können, einem ausnehmend schönen und nagelneuen Instrument von Broadwoods mit einem exzellenten Klang. Mr. Browty, ein sehr wohlhabender Mann, der sein Vermögen während seines zwanzigjährigen Aufenthalts in Kalkutta erworben hatte, war vor kurzem in sein Heimatland zurückgekehrt, um sich in der Stadt niederzulassen und die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Seit seine Frau vor vielen Jahren dem widrigen Klima im Fernen Osten erlag, war er Witwer, hatte aber zwei Töchter im Backfischalter, die nur zu glücklich waren, dem Höhere-Töchter-Institut, in das sie, noch ganz jung, geschickt worden waren, zu entrinnen und statt dessen das Londoner Heim ihres Papas mit der erforderlichen weiblichen Note zu versehen.

Kaum hatte Lydia ihre letzte Note gesungen (Miss Charlotte lag mit einer Erkältung zu Bett), kam Mr. Browty in das große, elegant möblierte Musikzimmer gestürmt, so als habe er schon ungeduldig auf das Ende des Gesanges gewartet.

»Tachchen, Miss Carteret! Wie geht’s Ihnen? Aber da braucht man ja gar nicht nachfragen – so wie Ihre Augen glänzen, wie reine Diamanten. Und meine Lyddy – macht sie auch Fortschritte? Lernt sie tirilieren wie ’ne waschechte Operndiva?«

Delphie antwortete wahrheitsgemäß, daß Miss Lydia sich große Mühe gebe mit ihrem Gesang und hervorragende Fortschritte mache, und bei diesen Worten strahlte der stolze Vater Schülerin und Lehrerin gleichermaßen freundlich an. Delphie lächelte zurück. Sie mochte Mr. Browty gut leiden, der trotz seines großen Vermögens und seiner guten Beziehungen in der Stadt ein einfacher, im Herzen bescheidener Mann geblieben war. Seine Haut sah leicht gelblich aus, was den Jahren im Fernen Osten zuzuschreiben war, und sein dichtes Haar zeigte schon graue Fäden. Schön konnte niemand ihn nennen, aber er hatte klare, offene Augen und ein kluges und gutmütiges Gesicht. Seine Kleidung war alles andere als modisch: heute trug er einen wadenlangen Überrock aus graubraunem Wollstoff, graubraune Kniehosen, altmodische Schnallenschuhe, ein weißes Halstuch und eine senffarbene Weste – ein Aufzug, gegen den das nach der neuesten französischen Mode geschneiderte Batistkleid seiner Tochter deutlich abstach.

»Ja, ja, unsere Miss Philadelphia – ich weiß, so dürfte ich Sie eigentlich nicht nennen. Aber da mein Lyddykind Sie so nennt, da hab ich mir die Freiheit genommen …«

Nichts würde ihr größere Freude bereiten, sagte Philadelphia ruhig, als wenn man ihr das Gefühl gebe, zur Familie zu gehören.

»Für mich gehören Sie schon lange dazu! Und deshalb möchte ich Ihnen heute auch einen Vorschlag machen …«

»Es war meine Idee, Pa«, fiel Miss Lydia ein.

»Schweig, Lyddykind, und laß mich Miss Carteret alles ohne Umschweife darlegen. Die Mädels und ich, Miss Philadelphia, haben den Plan, kommenden Dienstag für einige Wochen nach Paris zu reisen. Der Krieg ist vorüber, und jetzt, wo Napoleon sicher im Kerker sitzt, kann jeder sich wieder frei bewegen. Und wir alle hoffen sehr, Sie können sich’s einrichten und mit uns kommen, damit die Mädels nicht ihre Stunden versäumen. Aber das ist nicht der einzige Grund – Ihre Gesellschaft wär uns ein großes Vergnügen. Welchen Spaß hätten meine Mädchen schon, mit mir altem Knacker herumzulaufen! Ich versteh nichts von Museen und auch von Modegeschäften und sonstigem Weiberkram nichts. Wohingegen Sie eine wirkliche Dame sind, und meine Mädel überall gut bei Ihnen aufgehoben sind.

Und wie Lyddy mir sagt, sprechen Sie fulminant französisch, wohingegen ich nicht mal so viel parleyvoo kann, mich auf der Straße durchzufragen. Und ob Lyddy und Charlie es viel besser können, das bezweifle ich, trotz all der Jahre in Miss Minchins Institut! Was halten Sie also davon? Werden Sie uns mit Ihrer Gegenwart erfreuen, Miss Philadelphia? Wir hätten Sie wirklich allzugern bei uns. Und ich verspreche Ihnen, Sie zu behandeln wie mein eigen Fleisch und Blut. Und denken Sie daran«, fügte Mr. Browty mit Nachdruck hinzu, »es soll nicht zu Ihrem Schaden sein! Ich werde Ihnen alle Stunden ersetzen, die Sie hier ausfallen lassen müssen. Meinem Eindruck nach brauchen Sie sowieso dringend einen kleinen Urlaub, so hart, wie Sie arbeiten!«

Philadelphia war tief gerührt und antwortete entsprechend. Nur allzugern würde sie mit nach Paris kommen, das, man schrieb das Jahr 1815, die sprühendste Stadt Europas war. Aber zu ihrem großen Bedauern müsse sie Mr. Browty mitteilen, daß es ihr im Augenblick völlig unmöglich sei, London zu verlassen, da ihre Mutter, die während des ganzen Februar und März sehr krank gewesen sei, noch immer sehr geschwächt daniederliege und in einem Zustand sei, in dem man sie nicht allein lassen könne.

Sowohl auf Lydias wie auf Mr. Browtys Gesicht machte sich große Enttäuschung breit bei diesen Worten.

»Sind Sie ganz sicher, Miss Carteret? Nicht mal ein paar Wochen könnten Sie sie allein lassen?«

»Ich weiß Ihr freundliches Angebot über alles zu schätzen, Mr. Browty, und kann Ihnen gar nicht sagen, wie traurig ich bin, auf eine solche Reise verzichten zu müssen. Aber ich kann meine Mutter beim besten Willen nicht allein lassen. Nicht nur, weil sie krank und schwach ist, auch ihr – nun, seit ihrer Krankheit hat auch ihr Verstand ein wenig gelitten. Ständig muß man darauf gefaßt sein, daß sie die absonderlichsten, um nicht zu sagen gefährlichsten Dinge anstellt. Letzte Woche zum Beispiel, als ich unterwegs war und eine Stunde in Hampstead gab, gelang es ihr, sich aus dem Bett zu stehlen. Sie ging geradewegs ins Fordhamsche Kaufhaus und bestellte genug Vorräte für ein Galadiner, zu dem sie in ihrer Einbildung geladen hatte. Glücklicherweise hatte sie vergessen, unsere Adresse anzugeben. Als ich von der Sache erfuhr, konnte ich die Bestellung also noch rückgängig machen, ehe man dort herausgefunden hatte, wohin alles geschickt werden sollte.«

Mr. Browty lachte herzlich bei dieser Eröffnung und sagte:

»Aber könnten Sie nicht jemand Zuverlässigen finden, der sich um Ihre Mutter kümmert, Miss Carteret? Es ist zu schlimm, daß Ihnen, wenn Sie unterwegs zu Ihren Stunden sind, auch noch solche Sorgen auf den Schultern lasten.«

»Ich fürchte, das ist nicht möglich«, antwortete Philadelphia verzagt. »Denn meine Mutter hört auf niemanden außer mir – und selbst auf mich hört sie bei weitem nicht immer.«

Sie wollte gerade erklären, daß auch ihre finanziellen Verhältnisse eine solche Ausgabe nicht erlaubten, aber nach einem Blick in Mr. Browtys Gesicht beschloß sie, über diesen Punkt lieber zu schweigen. Er war so gutherzig, daß er ihr womöglich Geld anbot, und Delphie, die nicht nur das vornehme Aussehen ihrer Mutter, sondern auch deren Familienstolz geerbt hatte, war der Gedanke, Almosen anzunehmen, unerträglich.

»Entschuldigen Sie, wenn ich danach frage, Miss Carteret, aber haben Sie keine Freunde, keine Verwandten, die Sie unterstützen können, solange Ihre Mutter krank ist?«

»Nein«, antwortete Delphie mit fester Stimme. »Wir haben niemand, Sir. Meine Mutter und ich sind allein und leben nur von dem, was ich mit meinen Musik- und Gesangsstunden verdiene. Bisher sind wir damit recht gut ausgekommen, aber die Krankheit meiner Mutter hat unsere Ersparnisse aufgezehrt. Aber jetzt, wo sie fast wieder genesen ist, wird unsere Lage sich bald wieder bessern.«

»Ich nehme also an, Ihr Vater lebt nicht mehr?«

»Nein, Sir. Er war Offizier bei der Marine und starb bei der Schlacht um St. Vincent, als ich erst vier Jahre alt war. Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern.«

»Hat er keine Angehörigen, keine Eltern oder Verwandten?«

»Nein. Er war Waise, kämpfte sich allein durch die Welt. Und aus diesem Grund verbot die Familie meiner Mutter ihr diese Verbindung, als – als sie sich in ihn verliebte. Aber meine Mutter setzte sich darüber hinweg und brannte mit ihm durch. Und als Folge davon wurde meine Mutter von ihrer Familie verstoßen, die sich seither geweigert hat, auch nur das geringste mit ihr zu tun zu haben.«

»Wer hielte das für möglich!« rief Mr. Browty aus. »Was für ein gemeiner Haufen kaltherziger Knicker! Aber da haben Sie Ihre Aristokratie – denn Ihrem Aussehen nach wett ich drauf, daß es Aristokraten sind, Ihre Verwandten. Hab ich recht, mein Kind?«

»Ja, Sir«, antwortete Philadelphia etwas widerstrebend.

»Wie hieß Ihre Mutter mit Mädchennamen, wenn ich fragen darf, Miss Carteret?«

»Papa«, rief Lydia errötend aus. »Du bedrängst Miss Carteret. Jetzt ist es wirklich genug! Vielleicht möchte sie über diese Dinge nicht sprechen!«

»Papperlapapp, Lyddykind Miss Carteret weiß, daß ich es nur gut mit ihr meine, nicht wahr, meine Liebe? Ich will doch nur einen Weg finden, ihr zu helfen, das ist alles. Ich hab auch nicht vor, ihr Almosen in den Schoß zu werfen, die sie nicht haben will. Auch das weiß sie ganz genau, denn Miss Philadelphia hat soviel Verstand im Kopf wie du und deine Schwester zusammen.«

Durch diese Bemerkung ermutigt, sagte Philadelphia:

»Der Mädchenname meiner Mutter war Penistone, Mr. Browty. Mein Großvater war der fünfte Vicomte Bollington und hatte seine Besitztümer im Peak-Bezirk und in Kent, wo meine Mutter aufwuchs. Aber meinen Großvater habe ich natürlich nie kennengelernt. Er starb, als meine Mutter noch sehr jung war. Sein Nachfolger war sein Bruder, der sechste Vicomte, der, wie ich gehört habe, einen sehr launischen und tyrannischen Charakter haben soll. Er zerstritt sich auch mit meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter, der zur Marine ging und bei denselben Kampfhandlungen ums Leben kam wie mein Vater. Sie waren enge Freunde, und meine Mutter lernte meinen Vater kennen, als er mit ihrem Bruder zu Besuch auf den Familiensitz kam.«

»Mehr Söhne gab es nicht, außer dem Bruder Ihrer Mutter?«

»Nein, Sir. Wie ich schon sagte, der Titel ging auf meinen Großonkel über. Ich nehme an, er lebt noch. Ob er selber Kinder hat, weiß ich nicht. Meine Mutter spricht nur sehr ungern über ihre Familie. Sie war zutiefst verletzt, daß man sie verstoßen hat, und würde lieber sterben, als sie um etwas zu bitten.«

»Und Sie – haben Sie die gleichen heftigen Gefühle?«

»N-nein, nicht ganz«, gestand Delphie ein. »Da meiner Mutter von Rechts wegen eine ansehnliche Apanage zugestanden hätte, erschien es mir höchst unmenschlich und ungerecht, daß ihr die Familie während ihrer Krankheit nicht beistand – und als sie in sehr schlechter Verfassung war, wagte ich es, ihrer Familie einen Brief zu schicken …«

»Soso, einen Brief haben Sie geschickt.«

»Auf den ich die knappste und barscheste Antwort der Welt erhielt, in der man mich als Hochstaplerin beschimpfte. Daher beschloß ich, mich in diese Richtung nicht weiter zu erniedrigen.«

»Na, ich möcht schwören, das hätt ich auch nicht getan«, nickte Mr. Browty. »Aber beim Herrgott, was für ein böser, hartherziger, gieriger Haufen von Pfennigfuchsern! Wie sagten Sie noch, war der Name?«

»Der Familienname war Penistone, und mein Onkel ist Lord Bollington, der sechste Vicomte.«

»Bollington – der Name kommt mir bekannt vor«, sinnierte Mr. Browty. »Haben wir nicht einen Bollington getroffen – irgendwo im Ausland, Lyddy? In meinem Hirnkasten rumort so was – wo könnte es bloß gewesen sein?«

»In irgendeinem Bad, Papa? Bad Reichenhall vielleicht?«

»Ja, genau, dort war es. Jetzt erinnere ich mich deutlich an ihn – ein sonderbarer, trauriger alter Knabe, voller eigenartiger Possen und Allüren! Wie ein Knüttel mit einem Knäuel weißem Haar obendrauf sah er aus, und ständig wälzte er die verrücktesten Ideen in seinem Dachstübchen. Und in einem fort traktierte er seine Innereien mit den verschiedensten Medikamenten, weil er sich einbildete, er würde jeden Moment das Zeitliche segnen. Ich erinnere mich noch gut an ihn. Richtig, ich war sogar in der Lage, ihm eine Gefälligkeit zu erweisen, die er bitter nötig hatte, denn die Bank hatte seinen Wechsel nicht akzeptiert, und mein Name als Bürgschaft ist so gut wie Gold, von hier bis Konstantinopel.«

»Das glaube ich ohne weiteres«, sagte Delphie höflich und sah auf die Uhr auf dem marmornen Kaminsims. »Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, Mr. Browty. Ich habe meiner Mutter versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen, und ich sorge mich um sie …«

»Ja, gewiß. Aber hören Sie zu, meine Liebe. Schreiben Sie noch einen Brief, und geben Sie dieses Mal meinen Namen als Referenz an. Ich weiß, daß Sie keine Hochstaplerin sind, und Browtys Wort wiegt soviel wie seine Wertpapiere. Aber nein, ich habe noch eine bessere Idee – wo hält der alte Knilch sich auf?«

»Wie bitte, Sir?«

»Ihr Onkel, Kind, oder Großonkel oder was er sonst ist.«

»Oh, Lord Bollington? Er hat mehrere Anwesen, aber ich glaube, meistens weilt er in Kent, wo meine Mutter aufwuchs, auf Chase.«

»Ja, Chase, genau. Jetzt erinnere ich mich, daß er den Namen erwähnte. Ja, Chase sagte er. Jaja, wir beide kamen uns so nahe, wie Federn im Gefieder einer Gans, wie wir da zusammen in den Schlammbädern lagen – er wird sich schon noch an mich erinnern. Chase Place – sehr gut. Meine Grauschimmel schaffen sechzehn Meilen die Stunde, und wenn sie nicht in vier Stunden dort hinuntergaloppieren, will ich nicht Josiah Browty heißen. Ich gebe Ihnen ein paar Zeilen für den alten Geizkragen mit, in denen ich ihm gehörig den Marsch blasen werde, das versichere ich Ihnen!«

»Aber …«, sagte Delphie erschrocken, »ich bitte um Verzeihung, Sir, aber was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, daß ich Ihnen meine Reisekutsche leihe, Sie mit einem Empfehlungsschreiben ausstatte, und daß Sie selbst nach Chase hinunterfahren und den alten Löwen in seiner Höhle aufsuchen! Den Stier bei den Hörnern packen, das war schon immer mein Motto, und bisher bin ich nicht schlecht damit gefahren.«

»Aber Sir!«

Obwohl sein Plan Delphie, die selbst von Natur aus offen und entscheidungsfreudig war und stets lieber handelte als klagte, recht verlockend erschien, hatte sie doch Einwände.

»Aber Mr. Browty, ich kann mich nicht so tief in Ihre Schuld begeben. Womit hätte ich es verdient, daß Sie so großmütig …«

»Still, still, meine Liebe. Die Kutsche würde sonst nur hier herumstehen und die Grauschimmel einrosten, weil sie den lieben langen Tag bloß fressen. Die Braunen und die große Kutsche für die Sachen der Mädchen nehme ich mit nach Frankreich. Ich wollte Ihnen die Kutsche sowieso anbieten, damit Sie mit Ihrer Mutter hin und wieder ausfahren können. Und was das Verdienenangeht, ich weiß sehr gut, welche Mühe Sie sich mit Lyddy und Charlie geben, die vorher nicht eine Note richtig herausbrachten – ganz abgesehen von all den anderen Dingen, die sie von Ihnen lernen – Ihre ganze damenhafte Art, Ihr vornehmes Benehmen …«

»Unsinn, mein lieber Sir – damit hätte ich nicht mal die Benutzung Ihrer Kutsche für zwei Tage verdient!« sagte Delphie und errötete lachend.

»Kein Wort mehr, Miss Philadelphia – alles ist fest beschlossen, und jetzt will ich keinen Einwand mehr hören! Warum sollte der alte Geizkragen dort unten sich auf seinen Millionen rekeln – ach, jetzt fällt’s mir wieder ein – ihm gehört die Kohle unter halb Derbyshire, neben seinen Fünfzigtausend in Aktien. Er ist einer der betuchtesten Männer im Lande, meine Liebe! Und warum sollten Sie untätig hier rumsitzen, wo Sie und Ihre Mutter kaum zehn Guineen zusammenkratzen können?«

»Ja, es ist die Ungerechtigkeit des Ganzen, die mich so empört«, platzte Delphie gegen ihren Willen heraus, und Mr. Browty sagte zustimmend:

»Na, wußt ich’s doch, daß eine gute Portion Lebensgeist in Ihnen steckt! Aber jetzt sprechen wir kein Wort mehr davon. Ich weiß ja, Sie wollen schnell zu Ihrer Mutter zurück. Aber ich schreib ein paar Zeilen für seine Lordschaft und lasse sie zu Ihnen in die Greek Street bringen. Meinen zweiten Kutscher Bodkin (der ein so zuverlässiger Mensch ist, wie Sie ihn sich nur wünschen können) und die Postillione weise ich an, sich für Sie bereitzuhalten. Und machen Sie sich keine Gedanken wegen der Herbergegebühren oder irgendwelcher anderer Ausgaben, meine Liebe. Das ist alles geregelt, das verspreche ich Ihnen.«

»Aber Sir, wie soll ich Ihnen das alles je zurückzahlen?«

»Darüber zerbrechen Sie sich vorläufig nicht den Kopf, meine Liebe. Wenn Sie und Ihre Mama zu Ihrem Recht kommen, dann werden Sie mir alles leicht zurückzahlen können, wenn Ihnen das so auf der Seele liegt. Auf meiner liegt es jedenfalls bestimmt nicht.«

»Aber wenn ich nicht zu meinem Recht komme?« entgegnete Delphie.

»Nun, dann machen wir uns ein andermal darüber Sorgen.«

Delphie fand kaum die Worte, ihm zu danken. Ihr Kopf war wie in einem Wirbel, so unvermutet war dieser Plan gekommen. Aber Mr. Browty sagte nachsichtig, sie solle sich jetzt trollen und sich ihre Puste lieber für die Auseinandersetzung mit Lord Bollington aufsparen.

Lydia verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung von ihrer Lehrerin, machte dann vor Aufregung einen kleinen Luftsprung und rief:

»Oh, das ist der romantischste Plan, von dem ich je gehört habe. Ich wünschte, ich könnte mitkommen.«

»Eine schöne Hilfe wärst du, Lyddykind.«

»Ich wünschte, wir blieben hier. Dann wüßten wir wenigstens gleich, wie alles ausgeht. Können wir nicht vierzehn Tage später reisen, Pa, bis Miss Carteret von ihrem Großonkel zurückkommt?«

»Unsinn, Kind. Wir haben schon alle Hotels reserviert, und mein Geschäftspartner wartet in Paris auf mich. Wir werden es schon früh genug erfahren, was Miss Carteret ausgerichtet hat. Und sie ist doch bestimmt so freundlich, uns ein paar Zeilen zu schreiben?«

»Ganz bestimmt!« sagte Philadelphia. »Und ich bin Ihnen so dankbar.«

Und damit packte sie ihre Noten zusammen und ging, denn sie hatte ihre Zeit schon eine Viertelstunde überschritten und machte sich von Minute zu Minute mehr Sorgen um ihre Mutter.

»Jaja, da läuft sie, ein Mädchen, wie man es unter Millionen nicht findet«, sagte Mr. Browty, während er ihr mit unverhohlenem Respekt nachblickte. »Entschlossen – klug – und obendrein sieht sie noch erstklassig aus! Halb England müßte man absuchen, eine wie sie zu finden. Es war ein glücklicher Tag für unsere Familie, Lyddy, als ich Miss Carteret für euch als Gesangslehrerin aussuchte.«

»Ja, Papa«, sagte Lydia.

 

Philadelphia eilte heim, machte unterwegs auf dem Markt in der Brewer Street halt, um die versprochene Hammelschulter zu kaufen, und ging dann noch für die Mandelkuchen in Mme. Lumières Laden. Wie viele Bewohner von Soho war Mme. Lumière eine emigrierte Französin, die Paris während der Schrekken der Revolution verlassen hatte. Die Patisserie, die sie nun seit über zwanzig Jahren betrieb, hatte ihr jedoch solchen Wohlstand eingebracht, daß sie schon seit langem jeden Gedanken an eine Rückkehr in ihr Heimatland aufgegeben hatte. Madames Bruder, Christophe Lumière, hatte Delphie in Musik unterrichtet. Er war ein hervorragender Komponist und Dirigent, der, da er am Hofe Ludwigs XVI. in hoher Gunst stand, mit seiner Schwester hatte fliehen müssen. Viele Jahre lang war er der Mieter von Mrs. Carteret gewesen. Das Geld, das ihr Gatte ihr hinterlassen hatte, reichte gerade aus, ein kleines Haus in Soho zu kaufen. Die meisten Zimmer hatte sie dann vermietet, um sich und ihr Kind durchzubringen. Die Mieteinnahmen hatten es ihr sogar erlaubt, Philadelphia eine Zeitlang auf ein Höhere-Töchter-Institut in Chiswick zu schicken. Aber M. Lumière war gestorben, und dann wurden die Carterets von einem Mißgeschick nach dem anderen heimgesucht. Ein Schuldenberg wuchs an, so daß Mrs. Carteret am Ende gezwungen war, das Haus zu verkaufen und die gegenwärtigen Räumlichkeiten zu beziehen. Das Geld aus dem Hausverkauf, das unter normalen Umständen wohl ausgereicht hätte, um den Lebensunterhalt von Mutter und Tochter mehrere Jahre zu bestreiten, wurde von Mrs. Carterets Krankheit fast ganz aufgezehrt, und jetzt trennte sie nur noch eine erschreckend kleine Summe von völliger Mittellosigkeit.

Manchmal lag Philadelphia nachts wach und zitterte vor Sorge bei dem Gedanken, was aus ihnen werden sollte, wenn sie selbst durch irgendein Mißgeschick kein Geld mehr verdienen könnte. Angenommen, auch sie würde plötzlich krank? Oder würde von einem Wagen überfahren oder in den Straßen von London entführt – derlei geschah alle Tage. Was sollte dann aus Mrs. Carteret werden? Schon vor ihrer Krankheit war sie recht hilflos gewesen und gänzlich außerstande, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre einzige Fertigkeit bestand darin, wunderschöne Papierdeckchen auszuschneiden, aber der Verkauf solcher Artikel war kaum dazu angetan, Mutter und Tochter vor dem Bettelstab zu bewahren.

Mrs. Carteret selbst wurde jedoch nie von solchen Zukunftssorgen heimgesucht.

»Mein liebes Kind, gräm und sorg dich doch nicht die ganze Zeit! Du ruinierst dir dein gutes Aussehen mit solch überflüssigen Gedanken! Bald wird sich eine gute Partie für dich finden, und dann sind wir all unserer Sorgen ledig. Denn eins muß ich sagen – du hast zwar leider von deinem Vater das ängstliche, prosaische und pfennigfuchserische Temperament geerbt, aber von mir hast du glücklicherweise das Penistone-Aussehen, und das ist nicht zu verachten! In den besten Kreisen im Land wird man sich um dich reißen!«

»Aber liebe Mama – wir bewegen uns doch in überhaupt keinen Kreisen im Land. Wir bewegen uns nicht mal in einem winzigen Segment eines Kreises!« sagte Delphie, die nicht nur ein wenig Geographie, sondern auch die Grundzüge der Geometrie in Miss Pinkertons Institut in Chiswick gelernt hatte.

»Kommt Zeit, kommt Rat, mein Kind. Aber es stimmt schon, wenn du bei Hof eingeführt werden könntest, das wäre von unschätzbarem Vorteil. Aber ich verzage trotzdem nicht. Wie leicht ist’s möglich, daß irgendein Gentleman vornehmer Herkunft im Vorbeigehen auf der Straße ein Auge auf dich wirft. Mach also kein so verzagtes Gesicht, sondern trag den Kopf hoch und beweg dich mit Eleganz. Du wirst schon sehen, all diese Stunden, die ich dich auf dem Geradehalter zubringen ließ, werden sich schon bald bezahlt machen. Übrigens würde es gar nicht schaden, wenn du dich jetzt gleich eine halbe Stunde auf den Geradehalter legen würdest!«

»Vergiß den Geradehalter, Mama. Viel wahrscheinlicher ist es, daß ich schon bald auf dem Heiratsmarkt nicht mehr gefragt bin. Vergiß nicht, ich bin dreiundzwanzig!«

»Nein, unmöglich. Wie sollte das möglich sein? Du mußt dich irren. Nun, wahrscheinlich hast du recht«, seufzte Mrs. Carteret, »ich war ja erst sechzehn, als ich mit deinem lieben Papa von zu Hause floh. Wie dem auch sei, Philadelphia, du wirst dir deine Schönheit noch eine Weile bewahren – sie ist nicht von der Art, die schon in den Zwanzigern vergeht. Ich zweifele nicht im geringsten daran, daß sich auch jetzt noch jederzeit eine gute Verbindung für dich findet.«

Philadelphia selbst war davon nicht überzeugt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt heiraten wollte. Unter all den respektablen Kaufleuten, exilierten Franzosen, unter dem ganzen bescheidenen Häufchen, das den Bekanntenkreis der Carterets bildete, hatte sie ganz gewiß noch keinen Mann getroffen, den sie hätte lieben können. Ihr ganzer Ehrgeiz konzentrierte sich darauf, genug Geld zu sparen, um eine kleine Musikschule zu gründen, die es ihr und ihrer Mutter erlauben würde, in bescheidenem Komfort zu leben. Aber angesichts Mrs. Carterets zerbrechlicher Gesundheit und ihrem mißlichen Hang, Geld zu verschwenden und sich zu verschulden, war die Aussicht auf Erfüllung dieses Wunsches in der Tat gering.

Während sie schnell durch das Baggott-Modewarengeschäft schritt, wandte sie sich an Jenny, um bei ihr den versprochenen perlgrauen Baumwollstoff zu kaufen. Jenny begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln.

»Da sind Sie ja wieder, Miss Delphie! Gerade vor einer halben Stunde war ich mit einer Schale Brotpudding oben, hab die Tür aber nur einen Spalt geöffnet und vorsichtig hineingesehen. Ihre werte Mama schlief ganz fest. Ich konnte nur ihren Kopf auf dem Kissen sehen. Also störte ich sie nicht, sondern ging gleich wieder hinunter. Seither hat sie sich nicht gerührt, die ganze Zeit nicht, während Sie fort waren. Keinen Laut haben wir von ihr gehört.«

Sehr erleichtert über diese Nachricht bedankte sich Delphie bei Miss Baggott, bezahlte den Baumwollstoff mit einem Teil ihres Lohns von Mr. Browty (der immer sofort bezahlte) und eilte die Treppe hinauf. Nachdem sie leise die Tür geöffnet hatte, stellte sie ihre Einkäufe auf einem kleinen Tisch ab, der als Küchen- und Eßtisch diente, und ging dann auf Zehenspitzen in das hintere Zimmer, um nach ihrer Mutter zu sehen.

Einen Moment lang war auch sie getäuscht und glaubte, Mrs. Carteret schlummere friedlich in ihrem Bett. Aber dann, als sie näher heranging, entdeckte sie mit Entsetzen, daß die Spitzenhaube mit List über ein zusammengerolltes Nachthemd gestülpt war und die Bettdecke so drapiert, daß es aussah, als liege eine schlafende Person darunter. Aber das Bett war leer und außerdem kalt. Seit mindestens einer Stunde hatte niemand darin gelegen.

Schnell und durch Erfahrung weise geworden, überprüfte Delphie die Garderobe ihrer Mutter, und ihre Besorgnis steigerte sich ins Unerträgliche, als sie entdeckte, daß Mrs. Carteret offensichtlich in ihrem gestreiften Seidenkleid und dem bestickten indischen Musselinschal ausgegangen war – eine völlig unzureichende Bekleidung für eine kaum genesene Kranke an einem kühlen Apriltag.

Delphie versuchte, ihre Unruhe zu unterdrücken, und rannte wieder die Stufen hinunter. Beide Miss Baggott waren jetzt im Laden. Atemlos vor Aufregung erzählte Delphie ihnen, daß ihre Mutter ausgegangen war.

Die Schwestern sahen sie entgeistert an.

»Wollen Sie sagen, sie ist schon wieder fortgelaufen? Sind Sie sich sicher, Miss Delphie? Haben Sie hinter dem Vorhang nachgesehen, hinter dem Sofa? Ich könnte schwören, daß ich die Treppe keine Sekunde aus den Augen gelassen habe – den ganzen lieben Nachmittag nicht!« erklärte Jenny aufgeregt.

»Vergiß nicht, Schwester, als der Beerdigungszug vorbeikam, mußtest du unbedingt hinausrennen und fragen, wer gestorben war!« wies Miss Anne ihre Schwester zurecht. »Und in genau dem Augenblick mußte ich ins Lager und einen neuen Ballen bestickten Musselin holen – verlaß dich drauf, genau den Moment hat die Gnädige abgepaßt und ist über alle Berge!«

Voller Verzweiflung fiel Philadelphia ein, daß sie selbst einem Trauerzug begegnet war, am oberen Ende der Greek Street, kurz nachdem sie das Haus verlassen hatte. Wenn es ihrer Mutter gelungen war, in dem Moment hinauszuschlüpfen, als der Zug am Laden der Baggotts vorbeizog, dann war sie schon sehr lange unterwegs, und es hatte wenig Sinn, in den benachbarten Straßen nach ihr zu suchen. Inzwischen konnte sie schon sonstwo sein – im Pantheon Basar im Grafton Haus, wo sie es sich vielleicht in den Kopf setzte, hundert Ellen irischen Popeline für Dienstmädchenkleider zu bestellen – oder in der Mudie-Buchhandlung, wo sie womöglich die allerteuersten Neuerscheinungen bestellte – oder in der Bond Street, die gleich eine ganze Bandbreite gefährlicher Verlockungen für eine Dame bot, der es beliebte, ihre heikle pekuniäre Lage zu vergessen. Aber es gab noch ein weiteres, viel gefährlicheres Mekka! Und zu diesem Treffpunkt unternehmungslustiger, ungebundener Frauen lenkte Philadelphia zuerst ihre Schritte. Er lag in der Orchard Street und wurde von jedermann nur Erbinnen-Paradies genannt, obwohl sein richtiger Name Duviviers Tee- und Domino-Salon lautete. Damen mit etwas zweifelhaftem Ruf und solche, die nichts mit ihrer Zeit anzufangen wußten, trafen sich hier, um Tee zu trinken und Ecarté und Préference zu spielen. Und an genau diesem Ort hatte Mrs. Carteret im vergangenen Jahr ihre schmalen Mittel bis auf einen kleinen Rest verspielt.

Verzagten Herzens stieg Delphine die vertrauten, schmalen Stufen hinauf und sah sich in den schäbig möblierten Räumen um.

»War meine Mutter hier?« fragte sie Mme. Duvivier, die an einem Tisch direkt neben dem Eingang präsidierte. Madame war eine formidabel aussehende Dame mit einem himmelblauen Turban, genug Diamanten, den Kensington Palast aufzukaufen, wären sie echt gewesen, und einer dicken Puderschicht im Gesicht. Sie warf Delphie einen scharfen Blick zu.

»Nein – Mrs. Carteret war nicht hier, Miss. Nicht heute nachmittag. Wäre sie hier gewesen, wäre es meine peinliche Pflicht gewesen, sie daran zu erinnern, daß sie mir noch fünf Guineen schuldet, seit sie …«

»Danke! Im Moment kann ich sie Ihnen nicht geben«, sagte Philadelphia hastig. »Aber ich will zusehen, daß Sie Ihr Geld noch diese Woche bekommen.«

»Halt, Miss – halt«, rief Mme. Duvivier Philadelphia nach, die sich zur Tür gewandt hatte.

»Ich habe keine Zeit. Meine Mutter irrt irgendwo durch die Straßen und holt sich womöglich den Tod«, rief Delphie über die Schulter zurück und rannte die Treppe hinunter.

Als nächstes ging sie in die Bond Street und fragte in allen Juwelier- und Hutgeschäften nach. Während sie sich durch das Menschengewühl kämpfte, zog sie all die groben und anzüglichen Bemerkungen auf sich, die eine junge Frau, die sich ohne Begleitung durch London bewegt, eben zu hören bekam. Aber Delphie war geübt darin, derlei Avancen von sich abprallen zu lassen, und setzte eine so hochmütige und kühl reservierte Miene auf, daß keiner der sie ansprechenden Männer es wagte, wirklich zudringlich zu werden.

Aber sie fand Mrs. Carteret nicht. Ein oder zwei der Juweliere waren ihr bekannt, denn in ihren Läden hatte sie die letzten Stücke des wertvollen Goldschmucks ihrer Mutter versetzen müssen. Aber sie alle verneinten. Niemand hatte ihre Mutter zu Gesicht bekommen.

Auch bei Fordhams am Picadilly hatte Mrs. Carteret offenkundig keine Vorräte bestellt – was immerhin eine kleine Erleichterung war – und weder im Hatchardschen Buchladen war sie gewesen noch in der Allardyce Leihbibliothek.

Delphie fürchtete allmählich, ihre Mutter könnte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen haben. Ein- oder zweimal während ihrer Krankheit hatte sie im Delirium gemurmelt, sie müsse »unbedingt ihre Börsenmakler in der Stadt aufsuchen«. Soweit Delphie wußte, hatte Mrs. Carteret in den letzten zwölf Jahren keinerlei Transaktionen mit irgendeinem Börsenmakler zu machen gehabt, aber wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, in Richtung Threadneedle Street oder Petty Cury zu laufen, dann war die Hoffnung, sie zu finden, in der Tat aussichtslos, denn dieser ältere Teil Londons war ein solches Gewirr kleiner Gassen und Durchgangsstraßen, daß sich ein Mensch wochenlang darin verirren konnte.

Und um Delphies Verzweiflung noch zu vergrößern, fiel jetzt ein feiner Regen.

»Vielleicht nimmt sie sich eine Pferdedroschke für den Heimweg«, dachte Delphie. Die Ausgabe wäre zwar ein schwerer Schlag für ihre angespannte Finanzlage, aber lieber das, als daß die Arme in ihrem dünnen Seidenkleid und Musselinschal bis auf die Haut naß würde.

Delphie selbst war unzureichend ausgerüstet für solch einen Nieselregen, und so machte sie sich auf den Heimweg. Obwohl sie kaum noch Hoffnung hatte, ihre Mutter hier zu finden, sah sie noch einmal in die Läden in der Oxford Street und ging an den Ständen auf dem Markt in der Brewer Street vorbei. Die meisten Standbesitzer kannten sie, aber keiner konnte mit guten Nachrichten aufwarten.

Völlig niedergeschlagen betrat sie schließlich wieder die Ladenräume in der Greek Street, und Miss Annes ratloser Blick und der Ausdruck schuldbewußter Verzweiflung in Jennys Gesicht verrieten ihr sofort, daß ihre Mutter in der Zwischenzeit nicht zurückgekehrt war.

»Sollten wir nicht lieber die Polizei benachrichtigen«, sagte Jenny mit zitternder Stimme. »So lange war sie noch nie fort, seit sie krank war. Wirklich, Miss Delphie, es tut mir so schrecklich leid. Ich könnte mein Haupt im Staube wälzen vor Scham – aber viel weiterhelfen würd uns das ja auch nicht!«

»Nein, nicht das kleinste bißchen!« sagte Miss Anne scharf. »Gescheiter wär’s, du würdest Miss Delphie eine Tasse Tee brauen. Sie kann sich vor Erschöpfung ja kaum noch auf den Beinen halten, die Arme.«

»Solange die Lage nicht hoffnungslos ist, möchte ich die Polizei lieber nicht bemühen«, sagte Delphie, die den heißen Tee dankbar annahm. Er war ihr in der Tat mehr als willkommen, denn seit ihrem spärlichen, aus einer Scheibe Brot mit Butter bestehenden Frühstück hatte sie nichts mehr zu sich genommen. »Bei der Vorstellung, wir hätten einen solchen Schritt unternommen, würde sich Mama entsetzlich schämen und aufregen. Ich möchte lieber noch warten. Wenn ich meinen Tee getrunken habe, ziehe ich mein Cape über und suche die Gegend um Seven Dials und die Drury Lane ab. Dort habe ich noch nicht gesucht, da ich Mamas Vorliebe für den vornehmeren Teil Londons kenne.«

»O nein, Miss Delphie! Sie können doch nicht gleich wieder loslaufen, das schlagen Sie sich nur aus dem Kopf«, schalt Jenny.

»Sie sind ja jetzt schon am Ende Ihrer Kräfte – weiß wie die Wand ist sie, stimmt’s, Schwester? Und Ihr Hut ist pitschenaß, na, von dem können Sie sich jetzt endgültig verabschieden!«

»Aber ich muß sie suchen«, sagte Delphie. »Den Gedanken, daß sie dort draußen im Regen herumläuft, sich womöglich noch verirrt hat, kann ich einfach nicht ertragen.« Inzwischen war der Regen heftiger geworden und drohte, zu einem wahren Frühlingsunwetter anzuwachsen.

Angetan mit ihrem abgetragenen karierten Umhang lief sie trotz aller Einwände also wieder los und begann erneut ihren Erkundungszug, der sie diesmal durch Charing Cross, Covent Garden und die Drury Lane und dann noch weiter östlich bis nach Holborn und der Chancery Lane führte. Ein- oder zweimal pries sie den glücklichen Zufall, daß viele der Familien, deren Kinder sie unterrichtete, während der Osterferien die Stadt verlassen hatten, was zwar eine bedauernswerte Schmälerung ihres Verdienstes zur Folge hatte, aber wenigstens bedeutete, daß die Stunden, die sie um diese Zeit hätte geben müssen, ausfielen. Immerhin warteten also keine empörten Schüler vergeblich auf ihren Unterricht, während sie die Straßen nach ihrer streunenden Mutter absuchte.

Die Abenddämmerung setzte alsbald ein, früher als sonst wegen des Regens, und Delphie mußte einsehen, daß es keinen Sinn hatte, ihre Suche fortzusetzen. Einige wenige Londoner Straßen hatten inzwischen Gaslaternen, aber in den meisten Vierteln gab es nur hier und dort ein flackerndes, trübes Licht, das die Straßen mehr als unzulänglich beleuchtete. Die verlorengegangene Dame hier aufspüren zu wollen, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Delphie selbst war inzwischen durchnäßt und zitterte vor Kälte. Was blieb ihr anderes übrig, als sich unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg zu machen?

Die Baggott-Schwestern empfingen sie dort betrübt und zerknirscht und drängten sie in das hinter dem Laden gelegene Wohnzimmer, wo ein behagliches Feuer im Kamin prasselte und Miss Jenny Philadelphia eine Tasse mit einem dampfenden, heißen Getränk in die Hand drückte. »Das Tröpfchen wird Ihre Lebensgeister wieder wecken!« war Miss Jennys Kommentar, die dem heißen Wasser mit Zitronensaft und Zucker auch einen kleinen Schluck Brandy beigemischt hatte, und Delphie war das sehr recht, denn von all dem Herumlaufen, Rufen, Suchen und Fragen war sie heiser und hatte Halsschmerzen.

»Das würd jetzt noch fehlen, daß Sie sich eine Erkältung geholt haben«, sagte Jenny besorgt. »Was mußten Sie auch im Regen rumlaufen, Miss Delphie? Wirklich, das hätten Sie sein lassen sollen, denn wenn Sie heiser sind, was soll dann werden? Wie wollen Sie da Ihren Lämmchen das Singen beibringen!« Und genau die Befürchtung hegte auch Delphie, wagte sie aber nicht auszusprechen.

»Ach, es ist gar nichts – ich bin sehr stark«, sagte sie niesend, »aber die arme Mama. Ich sorge mich zu Tode um sie. Und jetzt, fürchte ich, werde ich wohl wirklich die Polizeiwache benachrichtigen müssen.«

Wegen des Unwetters und der Notsituation hatten die Schwestern den Laden vorzeitig geschlossen, aber genau in diesem Moment war ein schwaches Klopfen an der Außentür zu hören.

»Lauf schnell, Jenny«, sagte Miss Baggott. »Dort ist jemand – stell dir vor, vielleicht irgendeine freundliche Seele, die die Gnädige heimbegleitet hat!«

Jenny eilte zur Tür und stieß im nächsten Moment einen aufgeregten Schrei aus. »Großer Gott, die Gnädige selbst ist’s! Aber lieber Himmel, in was für einem Zustand sind Sie bloß! Gott steh uns bei, Ma’am, aber wo haben Sie bloß die ganze Zeit gesteckt? Miss Delphie und wir alle haben die Hölle durchgemacht – und jetzt kommen Sie reingeschneit und sehn aus, als hätt man Sie rückwärts durch den Fleet-Fluß gezogen!«

»Schnell, bring Mrs. Carteret ans Feuer, Jenny, und steh nicht rum und schwadroniere!« rief ihre Schwester.

Mrs. Carteret war in der Tat in einem beklagenswerten Zustand. Die Hutfedern hingen schlaff auf ihren Rücken herab – ihre ganze Frisur war durch den Regen aufgelöst, und die nassen Kleider klebten ihr am Körper. »Ach, du liebes bißchen – wie bei ’ner ertrunkenen Ratte das Fell«, bemerkte Miss Jenny. Mrs. Carteret ging zittrig zum Kamin, wobei sie kaum zu wissen schien, wo sie war, und sank in den hohen Lehnstuhl, so als könne sie sich keine Minute länger auf den steifen Beinen halten.

Während sie mit kleinen Schlucken das heiße Wasser mit Rum und Zucker trank, das Miss Anne ihr schnell zubereitet hatte, sah sie mit leerem Blick über den Tassenrand hinweg zu ihrer Tochter und den beiden Baggott-Schwestern hin. Hektische rote Flecken waren inzwischen auf ihren Wangen zu sehen. Heißes Wasser für ein Senfbad, schoß Delphie durch den Kopf, ein heißer Backstein für ihr Bett, ein Brustwickel mit einem warmen Flanelltuch … Wird sie das hier überleben? Wird sie wieder einen Blutstau bekommen?

»Mama, meine Liebe, wo warst du?« fragte Delphie sanft. Der Alkohol schien seine Wirkung zu tun, denn ein schwacher Funke von Verständnis war in Mrs. Carterets Augen zurückgekehrt. »Erinnerst du dich nicht, wie ich dich angefleht habe, nicht aus dem Haus zu gehen, weil du noch nicht gesund bist. Was hattest du so Wichtiges zu tun, das ich nicht für dich hätte erledigen können?«

»Wo ich hin mußte?« sagte Mrs. Carteret schließlich mit zittriger Stimme. »Wieso fragst du das noch – in die St. Pauls Kathedrale mußte ich natürlich!«

»St. Pauls? Aber St. Pauls ist über zwei Meilen, fast drei von hier entfernt. Willst du damit sagen, du bist den ganzen Weg gelaufen? Aber warum?«

»Meine selige Mama ging immer zum Abendgebet in die St. Pauls Kathedrale, wenn sie in der Stadt war, soviel hat sie mir jedenfalls immer erzählt«, sagte Mrs. Carteret trotzig.

»Bist du den ganzen Weg dorthin gelaufen? Und den ganzen Weg zurück?«

»Natürlich! Als ich jung war, da war ein Spaziergang von sechs oder sieben Meilen gar nichts für uns. Es ist nicht recht von dir, zu nörgeln und mich zu schimpfen, Philadelphia«, sagte ihre Mutter schon viel lebhafter. »Denn schließlich bist du ja der Grund, warum ich dort hinmußte.«

»Wegen mir, Mama? Was meinst du bloß damit schon wieder?«

»Das kann ich dir in Anwesenheit von fremden Leuten nicht sagen«, meinte Mrs. Carteret würdevoll.

»Fremde Leute? Jesses, zwölf Jahre kennt sie uns jetzt. Seit wann sind wir plötzlich fremde Leute für sie?« rief Jenny beleidigt, aber Anne flüsterte:

»Sei still, Schwester, siehst du denn nicht, daß die Gnädige nicht ganz bei sich ist. Kommen Sie, Ma’am, Delphie und ich helfen Ihnen die Treppe hinauf. Am besten steigen Sie gleich in ein heißes Bad, und ich setz sofort die Wasserkessel auf. Wirklich, Mrs. Carteret, Sie hätten nicht einfach fortlaufen sollen und ihre arme Tochter so ängstigen und uns alle in helle Aufregung versetzen!«

Sehr behutsam und langsam wurde die arme Mrs. Carteret, die nun vor Schwäche zitterte, die Stufen hinaufgeführt. Die Baggott-Schwestern ließen Mutter und Tochter dann taktvoll allein, versprachen aber, sofort hochzukommen, wenn nötig. Als sie allein waren, brach Mrs. Carteret in Tränen aus.

»Warum schimpft ihr nur alle so mit mir«, schluchzte sie, »wo ich doch nur das Beste wollte.«

»Womit, Mama? Was hast du getan?«

»Was ich getan habe? In St. Pauls um einen Mann für dich gebetet, was denn sonst?«

Delphie wußte kaum, ob sie lachen oder weinen sollte. Welch ein hoffnungsloses Unterfangen! Welch klägliche Pilgerreise! Aber wenigstens hatte Mrs. Carteret sich nicht wieder in irgendwelche unbedachte Ausgaben gestürzt. Nur war es keineswegs auszuschließen, daß sie sich vor Kälte und Erschöpfung den Tod geholt haben könnte.

»Das war sehr gut und lieb gemeint von dir«, sagte Delphie, schloß ihre Mutter liebevoll in die Arme und machte sich daran, ihr den nassen Schal abzunehmen, »aber weißt du, Mama, ich will gar keinen Mann, ich will viel lieber bei dir bleiben.«

»Unsinn, natürlich willst du einen Mann«, sagte Mrs. Carteret, die jetzt noch heftiger zitterte, während Delphie ihr das durchnäßte Seidenkleid von den Schultern schälte. »Denn wenn du einen guten Mann findest, dann könnten wir alle drei zusammenleben, und er würde uns ernähren!«

Und sie strahlte ihre Tochter an, während diese die wackligen Schritte der Mutter zu dem Senfbad lenkte, das Miss Anne vorbereitet hatte und das nun dampfend vor dem Kamin stand.

2

Es war kaum zu hoffen, daß Mrs. Carterets Ausflug zur St. Pauls Kathedrale, den sie aus den edelsten Beweggründen auf sich genommen hatte, nicht zu einem Rückfall führen würde. Und genau dies war der Fall: länger als eine Woche lag sie mit einer schlimmen Attacke danieder, und als Komplikation kam noch eine Brustfellentzündung hinzu. Viele Stunden lang fürchtete man um ihr Leben. Aber wie durch ein Wunder, zum Teil wohl dank der ihr angeborenen Stärke, zum Teil dank der unermüdlichen hingebungsvollen Pflege von Philadelphia (die selbst unter einer heftigen Erkältung litt), überstand Mrs. Carteret die Krise.

»Es wird aber noch sehr lange dauern, bis sie wieder bei voller Gesundheit ist«, sagte der Doktor am vierten Tag nach der kritischsten Phase. Er sah sich um. »Die Räumlichkeiten hier sind ihr alles andere als zuträglich. Keine Sonne, keine gesunde Luftzirkulation. Ein Aufenthalt auf dem Lande wäre das beste, vorzugsweise in einem warmen Klima. Rom wäre ausgezeichnet – oder Südfrankreich.«

Delphie sah ihn mit erschöpftem Schweigen an. Ein guter Rat – aber wie sollten sie ihn befolgen? Sie hatte dem Arzt nicht einmal sein Honorar zahlen können und würde es ihm wahrscheinlich auch noch eine Weile schuldig bleiben.

»Nun, tun Sie für sie, was Sie können«, sagte er freundlich, denn er kannte die Lage der Carterets. »Machen Sie so oft wie möglich eine Ausfahrt in den Park mit ihr – in ein oder zwei Wochen, wenn es wärmer ist. Und vielleicht ist es ihr ja möglich, in der näheren Umgebung Londons einige Zeit auf dem Land zu verbringen? Aber machen Sie sich nicht zu viel Kummer, Miss Carteret, sonst werden Sie auch noch krank. Und sorgen Sie sich nicht wegen meiner Rechnung – das hat Zeit.«

Dank ihrer starken Konstitution hatte sich Delphie schnell von ihrer Erkältung erholt, aber von den langen Nachtwachen war sie noch blaß und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Außerdem war sie beträchtlich schmaler als vor der Krankheit ihrer Mutter.

»Und Sie müssen auch an die frische Luft«, sagte der Doktor. »Machen Sie mindestens zweimal die Woche einen Spaziergang in den Kensington Gardens. Und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf wegen Ihrer Mutter – sie wird durchkommen. In vier oder fünf Tagen schaue ich wieder herein und sehe nach ihr.«

Er griff nach Hut und Stock und eilte die Treppe hinunter zu seinem Landauer. Als er fort war, hob Delphie den Deckel des Pianofortes hoch und holte einen Umschlag darunter hervor, der vor ungefähr fünf Tagen von Mr. Browty angekommen war. Er enthielt einen kurzen Brief, hastig und mit großen ungelenken Buchstaben geschrieben:

Liebe Miss Carteret,

hier ist das Empfehlungsschreiben für Lord Bollington, das ich Ihnen versprochen habe. Aber jetzt benutzen Sie es auch, oder ich werde wirklich sehr böse mit Ihnen. Außerdem füge ich 10 Guineen bei. Ein Teil ist für die Reisekosten, mit dem Rest bezahlen Sie eine zuverlässige Pflegerin, die sich Ihrer Mutter annimmt, solange Sie nicht in der Stadt sind, denn ich weiß, Sie rühren sich sonst nicht vom Fleck vor Sorge um die arme Dame. Und machen Sie sich keine Gedanken wegen der Herbergegebühren oder der Unterkunft für die Kutscher. Ich habe Bodkin angewiesen, sich um alles zu kümmern. Das Dorf Cow Green liegt nicht mal einen Steinwurf von Chase entfernt, und die Kutscher können im dortigen Gasthaus übernachten und die Pferde versorgen.

Ich meine, Sie sollten sich eine Weibsperson als Reisebegleitung mitnehmen – L.B. war ein hochmütiger alter Laffe und würde sich über eine junge Dame, die ohne Begleitung durch die Gegend kutschiert, mokieren.

Schreiben Sie uns ein paar Zeilen ans Hotel Creçy, was Sie erreicht haben – meine Mädchen und ich sind ganz erpicht auf Nachricht.

Ihr ergebener und wohlmeinender

Jos. Browty

Beigefügt waren 10 Guineen und ein offener Umschlag, der einen weiteren Brief enthielt:

Mein lieber Lord Bollington,

Sie werden sich gewiß an mich erinnern, da ich vor Jahren einmal, als wir uns beide in Bad Reichenhall von unseren Zipperlein kurierten, die Ehre hatte, Ihnen eine kleine Gefälligkeit zu erweisen. Hiermit will ich eine junge Anverwandte von Ihnen Ihrer Gunst empfehlen: Miss Carteret. Miss C. ist die anständigste, ehrlichste junge Dame in meiner Bekanntschaft und würde so wenig auf Hochstapelei verfallen wie einen Mord begehen. Ihr Ruf ist untadelig, ihr Charakter offen und aufrichtig, und ihre Seele so rein wie ein Bergquell. Und wollte jemand behaupten, sie sei der geringsten Täuschung fähig, so wäre das die übelste Verleumdung. Meiner Meinung nach wurden sie und ihre werte Mama mit skandalöser Ungerechtigkeit behandelt, was Sie nun, wie ich hoffe, wieder ins Lot bringen werden.