Das Mädchen aus Paris - Joan Aiken - E-Book

Das Mädchen aus Paris E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Wohin sie geht, zieht Ellen Paget Liebhaber an: den ambivalenten Professor Bosschère in Brüssel, den unberechenbar-eigenwilligen Comte de la Ferté in Paris, ihren Stiefbruder Bénédict. Ellen wird nach Paris geschickt, wo sie die Gesellschafterin der Comtesse de la Ferté und die Gouvernante deren unzähmbaren, kleinen Tochter Menispe wird. Doch auch hier kommt es zu einem Skandal...

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Joan Aiken

Das Mädchen aus Paris

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Diogenes

Hinweis an den Leser

Leser, die Madame Becks Pensionat in Brüssel zu erkennen glauben, irren sich nicht; 1854 verkaufte Madame Beck das Recht zur Weiterführung der Anstalt an ihre Cousine Madame Bosschère.

Am 22. Februar 1861 stürzte die Turmspitze der Kathedrale von Chichester mitten in die Kirche. Niemand kam zu Schaden. Turm und Turmspitze wurden später unter Leitung von Sir Gilbert Scott mit einem Kostenaufwand von 60000 Pfund wiederaufgebaut. Zuvor hatte Sir Christopher Wren versucht, die Spitze mittels eines sinnreichen Pendels zu schützen, und zur Verkürzung des Mittelschiffes und Errichtung einer klassischen Fassade geraten, wozu es jedoch nicht kam. Vielleicht war das nur gut.

1

April 1859

Als Matthew Bilbo nach zwanzig Jahren aus dem Gefängnis kam, war seine erste Regung, die Spitze des nächstgelegenen Hügels zu erklettern.

Es fehlten noch einige Stunden bis zur Dämmerung, als das große Tor hinter ihm zuschlug und er, ein freier Mann mit schwerem Herzen, mitten hinein in die Stadt Winchester ging. Die im Schatten liegenden Straßen waren noch leer und still, feucht glitzernd von einem leichten Regen, der über Nacht gefallen war; er sah keinen Wegweiser oder Menschen, die ihm über seinen Heimweg Auskunft hätten geben können. Doch bald behauptete sich ein lange brachgelegener Hirtensinn, und er begann langsam, doch mit Gewißheit, sich nach Osten aufzumachen, den langgestreckten Hügel hinauf, der nach Petersfield, Midhurst und Petworth führte. Seine Beine fühlten sich seltsam schwach an. Seine Augen schmerzten von unterdrückten Tränen. Werd wohl langsam ein alter Mann, dachte er, so um die fünfzig herum. Das Leben im Gefängnis war so ereignislos gewesen, daß das Rad seiner Erinnerung in letzter Zeit ein, zwei Zähne verloren zu haben schien und sich etwas verschwommen im Kreise drehte, manches ganz deutlich zeigte, doch an anderem nebelhaft vorbeitrieb. Ursprünglich hatte sein Urteil wegen Wilderei auf fünfzehn Jahre gelautet; doch dann hatte er ein paarmal zu fliehen versucht, das erste Mal, als die Nachricht kam, Martha heirate jemand anderen, dann, als man seine Eltern aus der Hütte vertrieb. Er war gefaßt worden, und das hatte natürlich seine Strafe erhöht, und man hatte ihn nach Winchester verlegt. Doch nach Marthas Heirat und dem Tod seiner Eltern hatte er sich dreingeschickt; mit der Zeit hatte er gelernt, ruhig zu sein und zu ertragen, daß die schleppenden Jahre nach ihrem eigenen Schrittmaß kamen und gingen. Die Einsamkeit war schon immer sein Gefährte gewesen, denn die Stille bleibt sich ziemlich gleich, ob man sie nun in einer Zelle oder auf einem verregneten Hang erlebt, wenn sich die Southdown-Herde an den Erdboden schmiegt. Die langen Stunden mit sich selbst als Gesellschaft bedrückten ihn weniger als die meisten Häftlinge. Gewiß, das Mäh der Schafe und der Gesang der Lerchen hatten ihm gefehlt; nun, während er recht langsam und steif die Straße nach Petersfield entlangging, entdeckte er, wie sehr ihm die Luft der Hügel gefehlt hatte; sie schmeckte rein und kalt wie Quellwasser.

Nach fünf oder sechs Meilen begann seine Gefängnissteifheit nachzulassen, und er bewegte sich besser; überdies hatte er den Kamm erreicht und war auf einen ebenen, steinigen Pfad gekommen; vor ihm zeichneten sich die gewölbten Gipfel der Hampshire Downs am verblassenden, östlichen Himmel ab. Wie eine Reihe Pilze, dachte Bilbo vergnügt, und da ihn das Bild an Essen erinnerte, setzte er sich sogleich auf einen gefällten Stamm neben einem Gestrüpp und kaute ein wenig von dem Penny-Laib, der gestrigen Ration, den er, zu verwirrt von Gedanken an die nahende Freiheit, nicht hatte essen können, als man ihn ihm gegeben hatte. So schal er auch war, die frische Luft machte ihn würzig; trotzdem konnte er nicht mehr als die Kruste essen. Sich ausruhend, begann er sofort an seinen verlassenen Schützling zu denken, und Kummer kam über ihn wie eine Wolke.

Er stand auf und ging weiter.

Die Gefängnisleitung hatte ihn mit Kleidern ausgestattet, denn seine eigenen, die man ihm bei der Einlieferung abgenommen hatte, waren, getrocknet, ausgeschwefelt und verstaut, schon lange weggemodert. Sie wären ohnehin zu groß gewesen, überlegte er; er war im Gefängnis etwas geschrumpft. Jetzt hatte er Jacke, Weste, eine Hose und Strümpfe aus dunklem, billigem Wollstoff. Mittels der genehmigten Beschäftigung des Webens von Pferdedecken hatte er es fertiggebracht, achtzehn Schilling zu verdienen, wozu zehn als Bezahlung für die Kleider draufgegangen waren; die restlichen acht klimperten nun in dem Beutel, den er sich selbst gemacht hatte. Aber ich werd mir einen besseren Aufzug als den besorgen müssen, dachte er, denn in den empfindlichen Sachen kann ich keine Schafe hüten; ein paar Wochen, und sie wären durchgewetzt und in Fetzen gerissen. Ich werd einen steifen Hut brauchen und einen Kittel und Ledergamaschen und ein paar Stiefel mit Eisenspitzen. Früh genug, mir darüber Gedanken zu machen, wenn ich daheim in Petworth bin.

Die Sonne, die ein langes Lichtband – purpurrot, hellgelb und kastanienfarben – über den gekräuselten Horizont gebreitet hatte, erschien nun in einem Auflodern regnerischer Pracht.

Ah, dachte Bilbo, das ist doch mal was! Und er machte einen tiefen, zufriedenen Atemzug. Doch da überkam ihn zum erstenmal seit vielen Jahren quälend eine Ahnung dessen, was er verloren hatte, und der Atemzug endete in einem seltsamen, schmerzlichen Stöhnen; begrabene Erinnerungen begannen sich zu regen, von regnerischen Vormittagen auf Barlavington Down, als der wehmütige Chor der Schafe nah und fern widerhallte und seine kleine Schwester Sarah, ein Punkt in der Ferne, sein in ein rot getüpfeltes Taschentuch eingeschlagenes Frühstück brachte.

Hat allerdings keinen Sinn, sich wegen der Vergangenheit aufzuregen, dachte er und schritt kräftig aus, denn er hatte noch mehr als dreißig Meilen zu bewältigen. Trotz des Wiedererwachens alter Kümmernisse und der Gegenwart eines neuen war sein Herz hoffnungsvoll; schließlich kam er im lieblichen, glückverheißenden April heim nach Petworth; die Lerchen zwitscherten aus Leibeskräften am Himmel droben, und unten im Tal waren die Bäume in rötliche Knospen gehüllt.

 

Er erreichte Petworth nicht vor dem Abend; nach den langen, vergeudeten Jahren in schlechter Verfassung war er gezwungen, ungefähr alle fünf Meilen zu rasten, und obgleich er erpicht darauf war, seinen Geburtsort wiederzusehen, schien es keinen Grund dafür zu geben, sich zu überfordern und ganz erschöpft und mitgenommen dort anzukommen. Er folgte eher Reitwegen als Zollstraßen, um die Begegnung mit Leuten zu vermeiden, denn er verspürte Angst vor menschlichem Kontakt; und so hatte sich die Abenddämmerung über den kleinen Marktflecken gesenkt, als er an die Tür einer Hütte nahe der Zollschranke klopfte.

Ein Kind öffnete die Tür, blauäugig, strohblond, den Finger im Mund.

»Is’ deine Mama da, Kleines?« fragte er. »Sag ihr, ihr Bruder ist da – dein Onkel Matt.«

»Hab kein’ Onkel Matt«, sagte die Kleine, indem sie den Finger aus dem Mund nahm.

Das war ein Schlag; doch nun kam eine dicke, argwöhnisch blickende Frau, die das Rätsel aufklärte.

»Missus Bowyer? Die is’ um die Ecke in die Damer’s Bridge gezogen, nachdem ihr Mann krank wurde. Dort wer’n Sie sie finden, gleich im dritten Haus.«

Die Damer’s Bridge genannte Straße war glücklicherweise nur ein paar Schritte weiter; doch Matts Empfang dort war kaum freundlicher. Er hätte, dachte er, seine Schwester kaum wiedererkannt; obgleich zehn Jahre jünger als er, war sie weit stärker gealtert; all ihre Zähne waren ausgefallen, ihr einst flachsblondes Haar war grau und spärlich, ihre Augen trübe, und ihr Gesicht war ohne Zähne abgehärmt, ausgehöhlt und im Ausdruck zänkisch geworden.

»Sairy? Ich bin’s, Matt.«

Sie schnappte nach Luft, doch nicht freudig überrascht; sein Auftauchen schien ihr eher den Rest zu geben.

»Matt? Was zum Donner machst du denn hier?«

»Ich bin grad’ rausgekommen«, sagte er arglos. »Hast du denn nich’ Bescheid gekriegt? Ich hab dir über Toby Hedges eine Nachricht geschickt, vor sechs Monaten.«

»Ach so, ja. Er hat wohl was gesagt, aber ich hab’s wieder vergessen. Du kannst nich’ hierbleiben, Matt«, fuhr sie hastig fort. »Wir sind nun mal zu zehnt in den beiden Zimmern. Wir haben keinen Platz für noch ein Balg, ganz zu schweigen von einem erwachsenen Mann.«

Matt fühlte sich allmählich entmutigt. Seine Füße brannten, nachdem er den ganzen Tag in den billigen Gefängnisschuhen über holprige Wege gegangen war; seine Zehen pochten wie glühende Kohlen.

»Vielleicht könnt’ ich eben reinkommen und mich hinsetzen?« schlug er schüchtern vor.

»Na ja – sicher doch.« Widerstrebend trat Sarah Bowyer beiseite, um ihn einzulassen. Das kleine, muffige Zimmer, das direkt auf die Straße hinausging, lag unter Bodenhöhe und roch dumpfig nach angebrannten Resten auf dem winzigen Herd, kochenden, ungeschälten Kartoffeln, alten, verlotterten Kleidern und ungewaschenen Menschenleibern. In dem düsteren, schäbigen Zimmer schienen noch fünf oder sechs ziemlich kleine Kinder zu sein; Matt ließ sich behutsam auf der Ecke einer aufgerissenen Roßhaarcouch nieder.

»Ned da?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Er arbeitet jetzt in der Schuhfabrik; das Rheuma hat ihn zu sehr verkrüppelt, um für Sam Budd den Blasebalg zu bedienen.« Ned war Gehilfe eines Grobschmieds gewesen. »Sam und Cathy sind jetzt auch in der Schuhfabrik«, fuhr sie fort.

»Das ist gut«, sagte Matt zaghaft.

»Gut? Bei sechs Schilling die Woche? Die Zeiten sind schrecklich hart, Matt. Und wir haben zehn Mäuler zu stopfen; und nur drei, die irgendwas heimbringen.« Sie blickte voll Erbitterung auf die im Zimmer herumwuselnden, mageren, flachsköpfigen Kinder, als berechnete sie, wie lange es dauern würde, bis eines von ihnen eine Gegenleistung für all die Kartoffeln erbringen würde, die sie verzehrt hatten.

»Na, ich werd dir nicht zur Last fallen«, sagte ihr Bruder friedfertig. »Alles, was ich wollte, war ein Bett für die Nacht, ehe ich zu Mister Strudwick gehe und meinen alten Job zurückverlange.«

»Strudwick? Der nimmt dich nich’«, sagte seine Schwester verächtlich. »Der hat schon lange einen anderen Schafhirten gefunden. Die Zeit steht nich’ still, während man im Gefängnis sitzt, Bruder.«

Langsam, widerwillig maß sie ihm eine halbe Tasse Tee aus der braunen Kanne ab, die auf dem Herdeinsatz stand, füllte die Tasse mit heißem Wasser auf und fügte ein, zwei Tropfen Milch aus einer Metallkanne hinzu.

»Dank dir, Sairy.« Er trank den Tee mit Genuß; im Gefängnis war er eine Kostbarkeit gewesen, die nur zu Weihnachten ausgeschenkt wurde. Und er überlegte nüchtern, daß das, was sie gesagt hatte, vollkommen vernünftig war; irgendwie war ihm in all den Jahren nie der Gedanke gekommen, daß seine Arbeit nicht auf ihn warten würde, wenn er seine Strafe abgesessen hatte.

»Was hast du denn erwartet?« fragte Sarah bitter. »Hast du gedacht, sie würden dich mit einem roten Teppich erwarten, wenn du rauskommst? Bis zu meinem Todestag werd ich nich’ begreifen, warum du sowas verdammt Dummes getan hast, wie einen Hasen zu stehlen. Hast du denn nich’ sehen können, was für ein Unglück daraus entsteht?«

»Ich hab keinen Hasen gestohlen, Mädchen. Ich hab meinen Lebtag keinen Hasen gestohlen. Ich – ich – ich würd’ das nie tun.« Matt stotterte bisweilen, wenn er etwas auszudrükken versuchte, was ihm wichtig war; er mußte seinen Worten nachhelfen, indem er mit der Hand herumfuchtelte. Das tat er jetzt. »Ein Hase hat sowas – Geisterhaftes.« Etwas Unheimliches, meinte er, etwas Unseliges. »Weißt du noch, wie Mum immer zu uns gesagt hat, sie gehör’n zum Leibhaftigen? Ich glaub das nich’. Aber ich würd’ nie einen anrühren – oder verkaufen – oder essen – nich’ um alles in der Welt! Und das hab ich dem alten Mister Paget, dem Richter, auch gesagt – wieder und wieder –, aber er wollt’ mir nich’ glauben.«

»Paget!« Sarah drehte sich um und spie ins Feuer. Ihr Bruder war von der Gebärde einigermaßen entsetzt. Mum hätt’ das nich’ gefallen, überlegte er. Sie hat uns beigebracht, uns wie anständige Menschen zu benehmen.

»Wenn ein heiliger Engel zu Paget käm’ und ihm sagen würd’, das Jüngste Gericht ist gekommen, würd’ er’s nicht glauben«, sagte Sarah.

»Ist er immer noch Richter hier?«

»Aber ja doch. Schickt immer noch Leute ins Gefängnis oder deportiert sie. Aber wenn du den Hasen nicht gewildert hast, Bruder«, beharrte Sarah, »wer war’s dann?«

»Tja, wer weiß? Vielleicht der junge Barney Lee. Er war schon immer ein halber Zigeuner. Und er hat ihn wohl in meine Hütte geworfen, als er wußte, daß sie hinter ihm her waren. Er war wohl böse auf mich, weil Martha ihn nicht mehr angeschaut hat, als sie und ich versprochen waren.«

Sie hat bald genug jemand anders angesehen, als du erst mal im Gefängnis warst, dachte Sarah, aber sie behielt diesen Gedanken für sich und sagte: »Na, wenn es Barney war, wird es niemand je erfahren, denn er ist vor zwölf Jahren an Typhus gestorben, damals, als Mum und Dad und die anderen von uns gingen.«

»Er ruhe in Frieden, der arme Kerl; er war immer ein dürres, schwach gebautes Geschöpf.«

»Er ruhe in Frieden? Wurmt’s dich denn überhaupt nich’?« brach es aus Sarah hervor. »Zwanzig Jahre warst du hinter Schloß und Riegel, dein Mädchen hast du verloren, dein Job ist weg, und alles wegen diesem verlogenen Lump und diesem hartherzigen Richter, und du sitzt da und grinst wie ein Einfaltspinsel. Wenn ich an deiner Stelle wär’ – ich würd’ die Wände hochgehen vor Wut! Ich würd’ was tun wollen.«

»Was tun?« Matt sah sie an, ehrlich verwirrt. Es war schon lange her, daß er sich auf ein solches Gespräch eingelassen hatte; Gedanken kamen ihm langsam.

»Gegen Paget! Damit er an mich denkt! Er hat dein ganzes Leben kaputtgemacht; und da sitzt er in seinem schönen Haus. Jetzt ist er mit Lady Samt-und-Seide Adelaide verheiratet, der Tochter vom Earl von Sowieso.«

»Was hat die dir denn je getan?« fragte Matt, von Sarahs rachsüchtigem Ton erstaunt.

»Sitzt im Armenausschuß der Gemeinde. Gibt einem nich’ mal eine Kerze, wenn man nich’ ins Armenhaus geht.«

»Was ist mit Pagets erster Frau passiert?«

»Gestorben, die arme Seele. Ah, das war mal wirklich eine nette Lady.«

»Na siehst du«, meinte Matt, »er hat auch einiges durchgemacht.«

»Ha! Es war ihm gleichgültig! Hat wieder geheiratet, bevor auf ihrem Grab noch Gras gewachsen war.«

Matt seufzte. Die Welt war so voller Unglück, daß es ihm keinen Sinn zu haben schien, darüber nachzugrübeln. Wenn möglich, wandte man sich besser angenehmeren Dingen zu.

»Lerchen haben gesungen, so laut wie ein Sturm, den ganzen Weg über, den ich gekommen bin«, sagte er. »Und die Kirschbäume haben auf dem Hügel geblüht; ich bin froh, daß ich das nich’ versäumt hab.«

»Lerchen!« schnaubte Sarah. Dann fingen ihre Ohren einen hinkenden Schritt vor dem Haus auf. »Da ist Ned. Er wird sich wundern, dich zu sehen, ganz bestimmt.« Sie hörte sich nicht so an, als erwartete sie, daß ihr Mann das Kommen seines Schwagers begrüßen würde; und tatsächlich blieb Ned Bowyer, als er hereingehumpelt kam, wie angewurzelt stehen, starrte den Besucher scharf an und sank dann mit einer Art traurigem Stöhnen, das eher Resignation als Freude verriet, auf einen Stuhl.

»Matt will sich nur eben hinsetzen und eine Tasse Tee trinken«, sagte Sarah beschwichtigend. »Ich hab ihm gesagt, daß wir ihn nich’ aufnehmen können.«

Wie es seine Art war, widersprach Ned ihr sofort. Er war ein dünner, verkrümmter Mann, vollkommen kahl, mit großen durchscheinenden, abstehenden Ohren und einem von den ständigen rheumatischen Schmerzen, unter denen er litt, gereizten Gesichtsausdruck. Er war jedoch eher starrköpfig als übellaunig und liebte es, wenn möglich, seine Frau ins Unrecht zu setzen. »Weist dein eigen Fleisch und Blut ab?« fragte er. »Was ist denn das für ein Getue? Matt kann drüben im Schuppen vom alten Tom Boxall bleiben, denk’ ich. Sam hat Boxalls Hühner gefüttert, damals, als er das Bett hüten mußte, er schuldet uns einen Gefallen.«

Matt sagte, der Schuppen wäre ihm sehr recht; und es fanden sich ein paar Stücke Sackleinen, um ihm ein Bett zu machen. Er lehnte es ab, am Abendessen Neds und der älteren Kinder, einem Eintopf aus Rüben und Kartoffeln, teilzunehmen, und sagte, er habe schon gegessen und ginge gleich zu Bett.

»Verdammt lang her, daß ich dreißig Meilen gelaufen bin«, erklärte er mit seinem scheuen Lächeln.

Sarah schüttelte den Kopf über ihn, als er aus dem Zimmer gegangen war.

»Matt ändert sich nie. Er war immer ein bißchen treuherzig«, sagte sie und meinte töricht: »Stell dir vor! Er hat gedacht, er könnt’ einfach wieder seine alte Arbeit kriegen; ihm ist nie der Gedanke gekommen, daß die Leute keinen Verbrecher als Schafhirten wollen.«

»Weiß gar nicht, warum eigentlich«, sagte ihr Mann sofort. »Matt war ein ziemlich guter Schafhirte, hab’ ich gehört. Mister Noakes, drüben in Duncton, sucht einen für seine Schafe, seit der alte Ted Goodger gestorben ist. Ich werd’s Matt morgen sagen. Es wär’ ein hübscher Ort für einen Mann ohne Frau und Familie; da ist auch eine Hütte, oben auf Duncton Down, die gibt’s zu der Arbeit dazu.«

Wieder schnaubte Sarah. Manche haben’s gut, sagte ihr Gesichtsausdruck; sie müssen nur aus dem Gefängnis kommen, und schon werden ihnen passende Jobs auf dem silbernen Tablett serviert. Gleichwohl hatte sie, in den alten Tagen, ihren Bruder aufrichtig geliebt. Von diesem Gefühl war noch etwas lebendig; und es war ihr eine Erleichterung, zu erfahren, daß er wahrscheinlich keine Belastung für die schmalen Mittel der Familie sein würde.

Trotz der Erschöpfung verging einige Zeit, ehe Matt Bilbo einschlief. Der Kleine Holzschuppen war zugig und kälter als seine Gefängniszelle; und zusätzlich lenkten ihn große, leuchtende Sterne ab, die durch Ritzen im Bretterdach sichtbar waren; das Schreien der Eulen im Garten eines großen Hauses namens Newlands nicht weit weg; und all die ungewohnten, heimeligen Gerüche von Dingen im Schuppen, Terpentin, Torf, Leinsamen und Stroh.

Auch war Matt tief besorgt wegen eines Freundes, den er im Gefängnis zurückgelassen hatte. Der arme Simmie, wie wird er sich dort überhaupt durchschlagen, wenn ich nicht auf ihn achtgebe, wenn er den Rappel kriegt, und ihn zurückhalte, wenn er versucht, sich mit den Schließern zu schlagen? Trotzdem, sich zu quälen, würde ihm nicht helfen. Matt versuchte, solche Gedanken beiseite zu schieben, und überdachte das Gespräch mit seiner Schwester. Einige ihrer Worte über Paget fielen ihm wieder ein:

»Da sitzt er, in seinem schönen Haus! Wenn ich an deiner Stelle wär’, würd’ ich etwas tun wollen, daß er an mich denkt!«

 

Matt schlief lange am nächsten Morgen, ermüdet von seinen durchwachten Stunden und den ungewohnten Anstrengungen des Vortages. Sarah ließ ihn schlafen, bis sie den Kindern ihr kärgliches Frühstück gegeben hatte; dann weckte sie ihn mit einer Tasse Milch und einem Kanten Brot.

»Ich kann dir das Essen bezahlen, Sairy«, sagte er, von dieser Güte verwirrt und eingeschüchtert.

»Schau sich einer den Mann an! Kannst du denn nichts als selbstverständlich ansehen?« Sarah war heute besserer Laune. Sie erzählte Matt von der möglichen Arbeit in Duncton. »Ned sagt, du gehst am besten gleich hin.«

»Ja, das werd’ ich. Und dank ihm recht schön, Sairy. Ich laß dich wissen, wie’s mir ergeht. Nach Duncton ist es nur ein Katzensprung. Wenn ich dort arbeite, könnt’ ich dich sonntags besuchen.«

»Dann beeil’ dich; steh hier nicht ’rum und rede«, sagte sie gutgelaunt.

Matt schlug den Weg ein, der nach Süden aus der Stadt herausführte, auf die South Downs zu, die fünf Meilen weit weg als gewellter Kamm sichtbar waren.

Es war eine kalte, windige Jahreszeit; das gepflügte Land zu beiden Seiten der Straße begann auszutrocknen. Hagedornknospen beperlten die Hecken. Gestern hatte er die Zollstraßen vermieden, doch heute mußte er den Fluß Rother überqueren, wodurch er gezwungen war, der Hauptstraße zu folgen, um die Brücke benutzen zu können. Er fürchtete sich aber immer noch vor all den Reitern, Fuhrleuten, Viehtreibern und Fußgängern, die auf dieser belebten Straße verkehrten. Meine Güte, wie viel Leute hier sind, dachte er und nahm einen Pfad auf der anderen Seite der Hecke, sobald der Fluß hinter ihm lag.

Bald erwartete ihn eine weitere Überraschung. Kein Wunder, daß so starker Verkehr herrschte. Denn während er im Gefängnis gesessen hatte, war die Eisenbahn nach Petworth gekommen – oder zumindest so nahe, wie Lord Leconfield, der Grundbesitzer, der in Petworth House lebte, es zugelassen hatte. Eine Meile außerhalb der Stadt, jenseits des Flusses, gebot ein schmucker, schindelverkleideter Bahnhof über zwei schimmernde, eiserne Geleise, die von Osten nach Westen verliefen; und ein Zug mit zwei hölzernen Waggons schnaufte laut ostwärts, eine Rauchfahne hinter sich herziehend.

»Also sowas«, sagte Matt und kratzte sich am Kopf. »Man möcht’ meinen, das würd’ die Pferde und Kühe zu Tode erschrecken – bei dem Lärm, den das macht! Aber ich denke, ’s ist eine ziemlich feine Art, im Land herumzukommen.«

Das Vieh, ersichtlich an den Lärm gewöhnt, graste weiter friedlich auf den Weiden am Wasser; die Pferde trotteten fügsam die Straße entlang, ohne ihn zu beachten. Da hörte man einen Zweispänner näherkommen, während Matt den mit Heidekraut bewachsenen Hügel hinter dem Bahnhof hinaufstieg. Er vernahm das Geräusch von Hufen, die rasch über die Schotterstraße klapperten, das Knarren des Zaumzeugs, das Knallen einer Peitsche. Immer noch darauf bedacht, eine Begegnung mit Menschen zu vermeiden, bog Matt vom Straßenrand in einen Sandweg ein, der sich durch Stechginster und Heidekraut schräg von der Straße wegschlängelte. Hinter einer Stechpalme stolperte er beinahe über einen großen braunen Hasen, der aufrecht dasaß, in der Luft herumschnupperte und sich sonnte. Aufgeschreckt entsprang der Hase zur Straße hin, in riesigen, absonderlich anmutenden Sätzen, um sich nach allen Seiten einen Überblick zu verschaffen. Gleichermaßen erschrocken blieb Matt stehen, durch den Baum gegen Blicke von der Straße abgeschirmt. Er hörte ein heftiges Krachen, ein Brüllen, den Aufschrei einer Frau und das panische Wiehern von Pferden. Weitere Schreie folgten, und das Getrappel eilender Füße.

Matt, ohne sich zu rühren, begann zu zittern.

Du lieber Himmel, dachte er. Da ist dieser Hase doch tatsächlich vor einen Wagen gelaufen und hat die Pferde scheu gemacht, und der Wagen ist umgekippt.

Aber ich werd’ nich’ hingehen und mich da reinziehen lassen. Ein Hase hat mir in meinem Leben genug angetan. Der da kann sein Unglück woanders hintragen; diesmal wird sich Matt Bilbo raushalten.

Er konnte diese Entscheidung guten Gewissens treffen, denn aus der Anzahl der verschiedenen Stimmen und dem Geräusch eilender Füße auf der Straße konnte man schließen, daß schon eine ganze Reihe von Helfern damit beschäftigt waren, den Opfern des Unfalls beizustehen. Es war nicht nötig, daß Matt Bilbo zusätzlich Hilfe leistete; ja, sehr wahrscheinlich würde er nur im Wege stehen. Und vielleicht ist niemand schlimm verletzt, dachte er hoffnungsvoll.

Stetigen Schritts marschierte er weiter nach Duncton Village.

2

Mai 1859

»Sie würden erwägen, sich von Miss Paget zu trennen?«

Lady Morningquest war eine hochgewachsene, eindrucksvolle Erscheinung mit achtunggebietendem Auftreten, aristokratisch geschwungener Nase und hoher, schneidender Stimme; ihr Tonfall verriet Mißbilligung, wie sie etwa der Geber eines hübschen, wertvollen Geschenks erkennen lassen würde, wenn er erführe, daß der Beschenkte beabsichtigte, es an einen Wohltätigkeitsbazar weiterzugeben.

Ihr Gegenüber jedoch, von dem tadelnden Ton gänzlich unberührt, erwiderte gleichmütig: »Nun, sehen Sie, ma chère amie, es ist doch so: Gewiß bin ich la petite Elène Paget zugetan, ich empfinde für sie, wie ich für meine eigene Tochter empfinden würde (wenn ich eine hätte) – und genau das, meine Freundin, ist der Grund, warum ich ihrem Fortkommen nicht im Wege zu stehen wünsche. In der Stadt Paris würde sich ihr doch eine sehr viel größere Perspektive eröffnen. Zweifellos bekäme sie als Ihre Protégée, liebe Madame, Gelegenheit, die Worte von Gelehrten, von Philosophen zu hören – dann ist da die Comédie, die Opéra –, wohingegen hier in Brüssel – pah! Welch eine bornierte, provinzielle Umgebung!«

Gleichwohl überflog Madame Bosschère den Raum, in dem die beiden Damen standen, mit einer gewissen Selbstzufriedenheit. Es war die salle, das heißt das größte Klassenzimmer ihrer Schule für junge Damen, ein stattliches, geräumiges Gemach mit doppelten Glastüren, die auf der einen Seite auf einen mit schwarzem und weißem Marmor gefliesten Korridor und auf der anderen auf einen Garten hinausgingen, der halb von einer Weinlaube verdeckt war. Alles, was man sah, glänzte vor Reinlichkeit und Wohlstand.

Auch Lady Morningquest drehte sich um und musterte den Raum huldvoll durch ihr Lorgnon, bevor sie in verwirrtem Ton antwortete: »Sie bieten mir wirklich Ellen Paget an? Aber ma chère, ich dachte, sie sei Ihre rechte Hand in der Schule, Ihre première maîtresse? Ich fürchte, sie wäre vielleicht zu schade für die Stellung, die ich besetzen möchte; obgleich ich natürlich glücklich wäre, meine liebe kleine Patentochter in Paris zu haben! Aber ich hatte lediglich auf eine achtbare Person gehofft – rechtschaffen, gesetzt, ohne Neigung zu Gefühlswallungen oder Überspanntheiten – vielleicht eine junge Lehrerin, der große Klassen zuviel wurden; oder eine ältere kurz vor der Pensionierung, die sich eine weniger aufreibende Position in einem ruhigen Haushalt sichern möchte …«

Hier hielt Lady Morningquest inne, möglicherweise gehemmt von der Erinnerung, daß man das Hôtel Caudebec auch bei wohlwollendster Betrachtungsweise nicht als ruhigen Haushalt bezeichnen konnte.

Aber Madame Bosschère hatte ihr Zögern nicht bemerkt.

»Meine liebe Freundin, Mademoiselle Paget ist so rechtschaffen und gesetzt, wie man sich das nur wünschen kann, ich versichere Sie: Von Vernunft und Integrität durchdrungen, hat sie auf ihren Schultern den Kopf eines Menschen, der dreimal so alt ist wie sie! Elle est pleine de caractère – formidable, ja wirklich –, ehrlich wie der hellichte Tag, klug wie ein Advokat, aufrecht wie ein Richter!«

Madame sprach in raschem Französisch, was den Effekt hatte, diese Qualitäten irgendwie weniger glaubhaft erscheinen zu lassen. Doch sie fügte mit leidenschaftlicher Aufrichtigkeit hinzu: »Ich sage Ihnen das alles in vollstem Vertrauen, ich, die ich sie gründlich kenne, und das, seit sie eine petite fille war. Sie läßt sich durch ihr Gewissen leiten – ihr englisches, calvinistisches Gewissen! Sie würde wissentlich nicht das geringste Unrecht begehen, sie würde das winzigste Versehen bitter bereuen.«

In diesem Falle, und wenn sie all diese Tugenden besitzt, frage ich mich, warum sie sie loswerden wollen, überlegte Lady Morningquest, aufmerksam ihre chère amie betrachtend, die die Musterung mit Aplomb über sich ergehen ließ. Normalerweise würde Madame Bosschère um diese Tageszeit, am späten Vormittag, noch nicht vollständige Toilette angelegt haben; sie würde bequem, doch vollkommen geschäftsmäßig, mit Morgenrock, Nachtmütze aus Musselin, Umschlagtuch und Filzpantoffeln bekleidet sein und sich emsig den Verwaltungsaufgaben ihrer Schule widmen. Doch heute hatte sie sich zu Ehren ihrer erlauchten Freundin und Gönnerin früh angekleidet und erschien geziemend, wenn nicht geradezu elegant, in dunkelbrauner, ihrer rundlichen Gestalt bewundernswert angepaßter Seide und einem Fichu aus Brüsseler Spitze. Madame war nicht groß, doch sie besaß immense Würde; weder errötete noch erbleichte sie unter dem gedankenvollen Blick der Frau des Botschafters. Ja, ein skeptischer Beobachter hätte sich vielleicht gefragt, wie ihr Gesicht von den Spuren der Obsorge und Autorität so ungezeichnet bleiben konnte; lag es an einem ungetrübten Gewissen oder an mangelndem Zweifel und Zartgefühl?

»Lassen Sie mich nachdenken«, sagte Lady Morningquest, »wie lange ist das Kind schon bei Ihnen?«

»Sie ist wohl kaum mehr ein Kind, chère amie! Sie kam mit fünfzehn zu uns; ihre ältere Schwester Eugénie war damals noch bei uns; non – ich habe mich geirrt –, es war Catherine, die Zweitälteste. Eugénie war schon abgegangen, um ihren Baronet zu heiraten. Zwei Jahre hat la petite hier als Schülerin studiert; eines, auf ihren eigenen Wunsch, als Schülerin und Lehrerin in einem; und seit nunmehr drei Jahren ausschließlich als Lehrerin. Während welcher Zeit sie, wie Sie sagen, zu meiner rechten Hand wurde.«

»Ist sie während dieser Zeit nie zu Hause gewesen?«

»Oh, mais oui, bien sûr, plusieurs fois. Der Vater, der, wie Sie wissen, Madame, ein sehr korrekter englischer Gentleman ist, bat um die Genehmigung, sie an den Hochzeiten ihrer Schwestern, der Taufe einer Nichte und seiner eigenen Hochzeit teilnehmen zu lassen … doch sie kehrte jedesmal zurück, und ich glaube, sie war froh darüber. Wie ich höre, wird la petite von der zweiten Frau des Vaters nicht geliebt.«

»Sechs Jahre insgesamt.« Gedankenvoll zählte Lady Morningquest an ihren dünnen, beringten Fingern ab. »Also ist sie jetzt einundzwanzig.«

»Und wie tief ich in Ihrer Schuld stehe, liebe Freundin, daß Sie mich der Familie Paget vorgestellt haben; daß Sie mir die Möglichkeit gegeben haben, einen solchen Schatz zu erwerben! Tatsächlich waren alle drei Paget-Mädchen liebenswerte, ausgeglichene, ernsthafte junge Damen …«

»Sie würden Kitty Paget wohl kaum ernsthaft nennen?«

Madame machte ein unbeschreibliches Gesicht, halb Moue, halb Verständnislosigkeit.

»Ernsthaft, soweit es ihre eigenen Interessen betraf! Ein leichtes Herz, aber ein harter Kopf. Wie ich höre, heiratete sie einen überaus reichen Bourgeois, einen – wie sagt man doch gleich? – Eisenhüttenbesitzer.«

Madame sprach es wie Aisen’üttenbesitzaire aus. Es lag beträchtliche Ironie in ihrem Tonfall; selbst bis in die stumpfen Fingerspitzen bourgeoise, empfand sie für die aristokratische Abstammung ihrer Freundin dieselbe leidenschaftslose Achtung, die sie für ein Stück schönes Meissener oder Dresdener empfinden würde; es war offensichtlich, daß sie den gesellschaftlichen Aspekt von Catherine Pagets Heirat beklagte, während sie ihre Nützlichkeit einräumte.

»Sie glauben, Ellen wäre weniger hartköpfig? Weniger auf ihre eigenen Interessen bedacht?«

»Douce comme un ange!«

Die wohlwollende Direktorin schien ihrer jungen Assistentin einige recht widersprüchliche Charakterzüge zuzuschreiben, überlegte Lady Morningquest. Doch sie bemerkte lediglich: »Ellen wird mehr als Sanftmut brauchen, fürchte ich, wenn sie sich im Hôtel Caudebec behaupten soll. Sie müßte eher ein weiblicher Metternich sein.«

»Und auch das kann sie sein«, antwortete Madame, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber haben sich denn die Dinge im Hause Ihrer Nichte so zugespitzt?«

»Sie könnten kaum schlimmer stehen! Dieser junge Mann benimmt sich meiner armen Louise gegenüber wie ein Ungeheuer. Er vernachlässigt sie grausam – spielt den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht; seine Freunde entstammen den schlimmsten Gesellschaftsschichten. Und die unglückselige Louise, anstatt sich mit der Situation auseinanderzusetzen, ruht lediglich in ihrem Boudoir und liest Philosophie! Was das Kind angeht – ich bin verzweifelt. Jeder Dorfbalg bekäme mehr Zuwendung. Ich sage Ihnen, Madame, die ménage ist eine Katastrophe – nach jedem Besuch habe ich zwei Tage lang Migräne.«

Die Witwe blickte ob dieser Enthüllung angemessen entsetzt. »Tiens! Es wird schwierig werden, das gebe ich zu. Aber ich glaube wirklich, Sie haben die richtige Person für diese Aufgabe gefunden, meine Freundin. Ich bin sicher, eine solche Situation würde la petite Elène nicht einschüchtern. Sehen Sie, da kommt sie gerade.«

Die beiden Damen standen auf der Estrade, dem Podium der Lehrer. Auf seinem Geländer lehnend blickten sie über das geschäftige Treiben, das nun in dem langen Klassenzimmer anhob, da die jungen Lyzeatinnen die Anstalt für eine abendliche Festlichkeit vorbereiteten. Der heutige 5. Mai war das Fest von Saint-Annodoc, dem Schutzheiligen der Schule, und wurde traditionell mit einem Essen im Schulgarten, einer Theateraufführung und einem Ball begangen, wozu man Eltern und ausgewählte Freunde einlud. Daher auch Lady Morningquests Eintreffen aus Paris. Ihre Tochter Charlotte sollte in einer stark redigierten Fassung des Hamlet die Ophelia geben, und obgleich sich Lady Morningquest, eine Realistin, von der Aufführung nur wenig Vergnügen versprach, war sie nach Brüssel gereist, da sie ihre eigenen Gründe hatte, Madame Bosschère aufzusuchen.

Nun wandte sie sich voll Interesse um und folgte der Blickrichtung der Direktorin.

Obgleich der Crème der Brüsseler Gesellschaft entstammend, waren die höheren Töchter des Pensionats, von denen viele ihre Erziehung bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr oder länger fortsetzten, im allgemeinen groß, grobknochig und stämmig. Heute überschwenglich und ungezwungen, denn es war ein freier Tag, lachten und kreischten sie wie Silbermöwen und rückten energisch das Mobiliar, um den Boden freizumachen. Manche brachten Blumenvasen herein, andere wiesen den betagten Gärtner an, wo er blühende Orangenbäume in Töpfen und Palmen in Kübeln hinstellen sollte – all das ohne die geringste Verlegenheit, obwohl die meisten en déshabillé waren, gekleidet in bedruckte Kattunkittel, die langen flachsblonden Haare auf Papierwickel gedreht, die großen Füße in Stoffpantoffeln. Dann und wann kam aus der salle à manger, wo der Friseur mit seinen Brennscheren untergebracht war, ein Ruf: »Mademoiselle Eeklop au coiffeur!« Die wenigen englischen oder französischen Mädchen in der Gruppe waren wegen ihres kleineren Wuchses, ihrer dunkleren Farbe und ihrer größeren Zurückhaltung im Benehmen sofort erkennbar. Eine junge Dame, die sich insofern von den übrigen unterschied, als sie bereits angekleidet war, in ein dunkelgraues Kleid, dessen quäkerhaft schlichter Schnitt durch die deutliche Eleganz der Linie gemildert wurde, schien die Maßnahmen zu beaufsichtigen und gab den Schülerinnen, dem Gärtner und den Dienstboten Anweisungen, mit einer leisen, klaren, bestimmten Stimme, der jedermann sofort Folge leistete, obgleich ihre Trägerin einige Zoll kleiner war als die meisten ihrer Schützlinge.

»Ja – so wird es sehr schön, Emilie – die Töpfe in Reihen quer unter der Estrade, und die Farne in den Körben da längs; non, Marie, zusammen, nicht auseinander. Wir werden noch viel mehr brauchen. Clara, lauf und sag den kleinen Mädchen aus der première classe, sie sollen herkommen, so viele sich entbehren lassen, dann können sie als Träger hin und her laufen. So kommen sie außerdem nicht auf dumme Gedanken.«

In diesem Moment bemerkte Miss Paget aufblickend die Direktorin und ihren Gast. Sie lächelte ihnen lebhaft zu, wodurch sich auf ihren schmalen Wangen unverhofft Grübchen zeigten, knickste und sagte freundlich: »Entschuldigen Sie, Madame, daß ich Sie nicht schon eher bemerkt habe! Es gibt so viel zu tun, daß man im Hinterkopf auch noch Augen haben müßte. Lady Morningquest, wie geht es Ihnen? Charlotte hat die Stunden bis zu ihrer Ankunft gezählt. Sie geht im Grünen Zimmer ihren Text durch – soll ich sie zu Ihnen schicken?«

»Nein, nein – laß sie ihre Rolle lernen«, sagte die liebevolle Mutter. »Ich wäre mir lieber sicher, daß sie sie in- und auswendig kann und der Familie keine Schande macht. Hinterher ist noch Zeit genug, mit ihr zu reden – und mit dir auch, hoffe ich, meine Liebe, wenn man dich entbehren kann! Ich habe Nachrichten von deinem Vater und deiner Schwester Eugenia, denn ich war kürzlich in Sussex. Aber jetzt möchte ich dich nicht ablenken.«

Mit einem weiteren, lebhaften Lächeln nebst Knicks machte sich Miss Paget diese Entlassung zunutze, um quer durch den Raum zu schießen und auszurufen: »Maude, Toinette, paßt mit der Bank auf, sonst beschädigt ihr noch den Putz. Stellt sie weiter weg von der Wand ab – so – dann könnt ihr die Decke darüberbreiten.«

»Was für einen reinen Pariser Akzent sie hat«, bemerkte Lady Morningquest beifällig. »Ihre Aussprache ist von Ihren flämischen Rangen nicht verdorben worden.«

»Sie macht sich die Mühe, jeden Tag mit unserer lieben alten Mademoiselle Roussel zu konversieren, deren Diktion die eines wahrhaft kultivierten Menschen ist.«

»Sie bräuchte nichts weiter zu tun, als Ihnen und Ihrem Cousin zuzuhören, meine Freundin. Ihrer beider Aussprache ist vorzüglich. Wie geht es dem Professor?«

»Es geht ihm gut, ich danke Ihnen, Madame«, erwiderte die Directrice; doch ihre Stirn umwölkte sich leicht, und das entging dem scharfen Auge ihres Gastes nicht.

»Ich hatte keine Ahnung«, bemerkte leichthin Lady Morningquest, die Miss Pagets Aktivitäten durch ihr erhobenes Lorgnon beobachtete, »daß Ellen Paget sich zu einem so schönen Mädchen herausmachen würde. Ihre Schwestern waren durchaus hübsch, aber sie war eine häßliche, magere, kleine Krabbe von einem Ding, als ich sie zuletzt sah, nur Haare und Augen und hohle Wangen. Jetzt macht sie Ihnen Ehre, meine Freundin.«

»Schön? Ich würde nicht so weit gehen, sie schön zu nennen«, antwortete die Direktorin recht scharf. »Von einer Lehrerin wird keine Schönheit verlangt; tatsächlich ist sie ein Nachteil, da sie zu ungesunder Schwärmerei unter den Schülerinnen und unziemlicher Beachtung durch Gastlehrer führt.«

Aha, meine Freundin, dachte Lady Morningquest; also daher weht der Wind? Sanft bemerkte sie: »Trotzdem, es ist ein einnehmendes kleines Gesicht.«

Eher für die Bühne als fürs Klassenzimmer geeignet, überlegte sie, während sie das ausdrucksvolle Antlitz von Miss Paget musterte. Wenn sie irgendwelche schauspielerischen Talente hätte – und nicht die Tochter eines Gentleman wäre –, hätte sie als Soubrette auf der Bühne ihren Weg machen können. Ihr Gesicht war reizvoll und eigenwillig, mit weit auseinanderstehenden dunklen Augen und einer hübschen, geraden kleinen Nase. Dunkle, kräftig gezeichnete Augenbrauen bewahrten sie vor Fadheit, desgleichen ein bezaubernd geschnittener Mund, der stets zum Anflug eines Lächelns verzogen zu sein schien, selbst wenn sie ernst war. Das dunkle, in der Nackenbeuge zu einem Knoten zusammengefaßte Haar war so fein und weich, daß hinten zarte Strähnen entschlüpften und sich auch über ihre Stirn kräuselten, was ihrer Erscheinung etwas reizend Kindliches verlieh. Neben ihren stämmigen Schülerinnen betrachtet, schien sie mehr ein Kind zu sein als jene – bis sich ihre feste, selbstsichere Stimme vernehmen ließ.

»Sachte, Leonore – vorsichtig durch die Tür. Siehst du – da kommt Monsieur Patrice – du willst ihn doch nicht erschlagen!«

»Quoi donc – mon cousin – was tut er denn hier um diese Zeit?«

Madames Stirn umwölkte sich zusehends, während die Schülerinnen respektvoll beiseite traten, um einen schmächtigen, lebhaften Mann ihres Alters, oder ein wenig jünger, zum Podium vorzulassen.

»Ah – Miladi Morningquest – bonjour …« Er machte eine hastige, nervöse Verbeugung in Richtung der vornehmen Besucherin, aber Lady Morningquest merkte ihm an, daß er sie zum Teufel wünschte. An seine Cousine gewandt fuhr er schnell fort:

»Marthe, da haben wir die Katastrophe! Ich sagte dir doch, was dabei herauskommen würde, wenn man dem nichtswürdigen Mädchen erlaubte, zu ihrem jour de fête nach Hause zu fahren …«

»Was?« rief Madame Bosschère, die mit geradezu telepathischer Geschwindigkeit die Bedeutung seiner Worte erfaßt hatte. »Doch nicht Ottilie de la Tour? Willst du damit sagen, daß ihr ein Unglück zugestoßen ist …?«

»Was hast du denn erwartet? Vor nicht ganz fünf Minuten hat ein Diener das hier abgegeben!« Wütend, fast zähneknirschend schwenkte er ein zerknittertes Stück Papier mit einer eingeprägten Krone. »Hat sich ihre elende Nase gebrochen, als sie im Park eines der Pferde ihres Vaters ritt – ohne Erlaubnis, wie ich wohl kaum hinzuzufügen brauche! Ich wünschte, es wäre ihr Hals gewesen! Nun schreibt ihre schwachsinnige Mutter, daß sie in ärztlicher Obhut ist und nicht zur Schule zurückkehren kann. Du reste, was würde mir ein Hamlet nützen, dessen Nase mit Heftpflaster verklebt ist? Ich würde zum Gespött meiner Kollegen im Seminar. Oh, diese kretinösen, kichernden Mädchenbälger mit ihren fêtes und Parties und nichts im Kopf außer ihrem Vergnügen – wie kann man etwas mit ihnen anfangen? Ich würde sie alle am Hals zusammenbinden und in der Seine ersäufen! Warum um Himmels willen hast du ihr nur erlaubt, vor der Aufführung nach Hause zu fahren?«

»Mein lieber Cousin – ihr Vater ist der Graf von …«

»Graf von – chose!« knurrte Monsieur Patrice. Es war offenkundig, daß er in höchst gereiztem Zustand und vor Erbitterung fast außer sich war. Er war ein dunkler, bläßlicher Mann, glattrasiert und flink in seinen Bewegungen. Er trug sein Haar en brosse, unmodisch kurz, und war sehr schlicht in einen schwarzen Anzug von klerikalem Gepräge mit einem über die Schulter geworfenen Gelehrtentalar gekleidet. Kein eindrucksvoller Mann auf den ersten Blick, dachte Lady Morningquest; was ihn allerdings bemerkenswert machte, war der intelligent funkelnde Blick seiner Augen, die von dem dunklen Purpurgrau einer Gewitterwolke waren. Sein Mund war dünn und unstet, seine Stirn von Gedanken gefurcht.

Madame sagte besänftigend: »Gibt es denn keine Zweitbesetzung, mon cousin? Es ist ein Jammer mit Ottilie, da gebe ich dir recht, sie ist dünner als die meisten dieser paysannes, sie hat eher die Erscheinung von Hamlet, aber trotzdem …«

»Fifine Tournon!«

Madame sah ihn verwirrt an, dann fiel es ihr ein.

»Oh, mon Dieu! Ans Sterbebett ihres Vaters gerufen!«

»Begreifst du jetzt? Es ist die Krise – die Katastrophe – das Chaos!«

In dieser verzweifelten Lage wurde Madame zu einem Napoleon. Mit gerunzelter Stirn überlegte sie einen Augenblick, dann verfügte sie: »Es gibt nur eine Möglichkeit. In einem solchen Fall wie diesem muß man les convenances außer Kraft setzen – wie unsere liebe Freundin und Besucherin hier gewiß bereitwillig zugeben wird …«

»Gewiß doch!« sagte Lady Morningquest hastig. »Aber Madame – Professor Bosschère – meine lieben Freunde, verzeihen Sie mir – ich bin entsetzlich de trop, und Sie müssen mich tausend Meilen weit weg wünschen. Ich werde mich entfernen, denn ich habe in Brüssel ein Dutzend Besorgungen zu erledigen. Es bekümmert mich, Sie in einer solchen Notlage allein zu lassen, aber ich bin sicher, daß sich in so befähigten Händen alles von selbst einrenken wird – bis ich heute abend zurückkehre, werden Sie einen Ersatz eingewiesen haben …«

Sie hätte ebensogut mit der Topfpalme neben ihr reden können. Keiner ihrer Gesprächspartner schenkte ihr die geringste Aufmerksamkeit.

»Marthe, ich bin erleichtert, daß du mit mir einer Meinung bist!« rief Professor Patrice aus. »Ich wußte, du würdest es genauso sehen wie ich; es gibt nur einen Menschen, der den Part kennt und die Rolle außerdem so kurzfristig übernehmen und mit Intelligenz spielen kann …«

»Ja, mein Cousin, du hast recht, aber, mon Dieu, man wird sich um die Delegierung so vieler Aufgaben kümmern müssen; nun laß mich einmal sehen – wie können wir das alles bewältigen …«

»Francine!« Patrice ergriff ein vorbeikommendes Kind am Arm. »Lauf, such Mademoiselle Paget, und bring sie her.«

»Ich werde Sie einstweilen verlassen«, wiederholte Lady Morningquest.

Madame überdachte immer noch das Tagesprogramm.

»Da ist das Essen zu beaufsichtigen – aber das kann die alte Roussel tun; ja, und Elène kann die Eltern begrüßen und nach den ersten paar Minuten die Preisverleihung leiten –, denn ich werde so kurz vor der Aufführung zu beschäftigt sein. Elène kann das – zwar nicht mit meinem Schliff, aber durchaus geschickt. Es wird überdies eine wertvolle Erfahrung für sie sein, da sie lernen muß, sich in vornehmer Gesellschaft zu bewegen.«

Patrice blickte verwirrt.

»Sie – Mademoiselle Paget – die Eltern begrüßen? Die Preise verteilen? Was soll das heißen?«

»Du willst doch wohl nicht Roussel sie begrüßen lassen? Die arme Frau würde vor Schreck tot umfallen und sich völlig verheddern. Und Maury hat nicht genug Schliff. Nein, wenn ich die Rolle des Hamlet übernehmen soll – und ich sehe nicht, wer das sonst könnte –, muß sich die kleine Paget für den ersten Teil des Nachmittags behelfen, so gut sie kann.«

»Du – du – übernimmst die Rolle des Hamlet?«

Nun war es an dem Professor, fassungslos zu blicken; tatsächlich nahm er die Ankündigung auf, als wäre sie eine Kanonenkugel gewesen.

»Aber natürlich! Wer denn sonst?« Madame schien gleichermaßen verblüfft. »An wen hattest du denn gedacht?«

»Na an sie, natürlich – Mademoiselle Elène!«

Zum erstenmal, während sie die beiden Gesichter beobachtete, wie sie, bleichwangig, rotwangig, einander trotzten, meinte Lady Morningquest in den eckigen Kinnen, der glatten Struktur der Wangen und den schmalen, festlippigen Mündern eine verwandtschaftliche Ähnlichkeit zu entdekken. Aber die Augen waren verschieden, ihre trüb vor Entsetzen, seine vor Entschlossenheit glühend.

»Mais – c’est une bêtise – inouï –!«

»Ich werde Sie Ihrer Diskussion überlassen«, wiederholte die Besucherin und empfing endlich ein hastiges, aufgeregtes Nicken von ihrer Gastgeberin und eine kurze Verbeugung von dem Professor. Wohl kaum eine Diskussion, dachte Lady Morningquest, insgeheim in sich hineinlachend, während sie die drei Stufen vom Podium herabstieg und dabei sorgsam ihre grauen Spitzenröcke hob, um sie vor dem Kalkstaub und den Palmensporen zu schützen. Denn Madame sagte gerade mit leiser, vibrierender Stimme: »Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß Elène Paget die Rolle des Hamlet spielt!«

»Aber sie kennt sie – sie ist bei allen Proben als Anstandsdame dabeigewesen …«

»Erstens hat sie im Laufe des Tages viel zu viele andere Pflichten wahrzunehmen, von denen sie unmöglich entbunden werden kann. Zweitens, wie könnte ich denn ihrem Vater in England etwas Derartiges erklären? Es wäre épouvantable – ganz unziemlich. Ein junges Mädchen, in meiner Obhut! Alle Welt würde es als grobes Pflichtversäumnis meinerseits ansehen. Wohingegen ich, die Directrice, eine Witwe und Frau von Welt – für mich ist es gewiß ungewöhnlich, aber ich bin über jeden Skandal erhaben, und für die Eltern wird es eine Ermutigung sein zu sehen, wie ich an den Beschäftigungen der Kinder teilnehme …«

»Aber …!«

»Sag nichts mehr, Patrice! Ein Disput über diese Angelegenheit kommt überhaupt nicht in Frage.«

Als Lady Morningquest die schwarz-weiß geflieste Halle durchquerte, sah sie Miss Paget atemlos und rosenwangig aus dem Garten hereinlaufen. »Sie haben nach mir geschickt, Madame?« hörte die Besucherin sie fragen.

»Ah, ja, mein Kind, wir haben hier eine kleine Krise …«

Lady Morningquest erlaubte sich beim Gedanken an das nun folgende Dreiparteiengespräch ein kleines ironisches Lächeln. Patrice ist seiner Cousine nicht gewachsen, dachte sie; Madame Bosschère wird sich gewiß durchsetzen. Nur der Himmel weiß, was sie aus der Rolle des Hamlet machen wird – eine vierzigjährige Directrice! Jetzt tut es mir leid, daß ich es nicht geschafft habe, Giles nach Brüssel mitzuschleppen. Aber es ist nur gut, daß sie Ellen nicht erlauben will, die Rolle zu übernehmen – eine Vorliebe für Amateur-Theateraufführungen ist eine Komplikation, die wir im Hôtel Caudebec nicht gebrauchen können.

In diesem Moment bemerkte die Frau des Botschafters das Kommen ihrer Tochter, der winzigen blonden Charlotte, die, wie ihre übrigen Schulkameradinnen, mit Kattunkittel und Papierlockenwicklern bekleidet war.

»Mama! Du bist hier! Grâce à Dieu! Leonore sagte, sie hätte dich gesehen. Bist du gekommen, um mir Glück zu wünschen?«

»Mein liebstes Kind! Sachte, ich bitte dich – du wirst meine Coiffure ruinieren! Und – gütiger Himmel – schau dich nur an! Du siehst absolut verboten aus! Wenn dein Vater dich jetzt sehen könnte – und auch noch in der Eingangshalle …«

»Ach, heute kümmert das niemand«, sagte Charlotte fröhlich. »Und es sieht’s ja auch keiner, außer dem alten Philipon, und der ist halb blind. Aber komm doch in den kleinen Salon.«

Charlotte zog ihre Mutter in ein kleines Empfangszimmer, das mit Polsterstühlen und Sofa in grauem Brokat, einem grünen Porzellanofen, glitzernden Lüstern und einem Wandtischchen steif möbliert war.

»Hör doch, Mama!« sagte sie. »Es ist so aufregend. Ottilie de la Tour, die den Hamlet spielen sollte, hat sich die Nase gebrochen, und deshalb bekommt jetzt Miss Paget die Rolle. Wir sind alle so entzückt!«

»Wer hat dir das gesagt?« fragte ihre Mutter und dachte dabei, wie schnell sich in einer Schule Gerüchte verbreiteten.

»Oh, das weiß doch jeder. Du reste, wer könnte sie denn sonst übernehmen? Oh, ich bin so glücklich! Ich bete Miss Paget an – sie ist mein beau idéal! Wenn ich mir vorstelle, mit ihr als Hamlet Ophelia zu spielen – Véronique und die anderen sterben alle vor Neid. Unsere ganze Klasse betet den Boden an, auf dem sie wandelt …«

»Dann seid ihr eine Bande sehr alberner Mädchen«, antwortete ihre Mutter streng und zog bei sich den Schluß, daß es nur gut war, daß Ellen Paget Madames Anstalt verlassen würde. »Und auf jeden Fall irrt ihr euch gewaltig. Madame Bosschère wird die Rolle selbst übernehmen.«

»Was?« Charlotte sank auf komische Weise die Kinnlade herunter. »Nein, Mama, das kannst du doch nicht ernst meinen? Aber Monsieur Patrice würde das doch nie, nie zulassen. Er verehrt Miss Paget. Er hätte sie von Anfang an den Hamlet spielen lassen, wenn Madame es erlaubt hätte. Jetzt wird sie einfach nachgeben müssen.«

»Das wird sie keineswegs! Und sie hat völlig recht. Les convenances wären grob verletzt.«

»Aber warum? Wenn es sich für mich schickt, die Ophelia zu spielen …«

»Das ist etwas ganz anderes. Du bist erst fünfzehn. Aber Miss Paget ist eine junge Dame, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdient.«

»Ich sehe nicht, was das damit zu tun hat. Ohnehin wird sie das nicht mehr lang sein. Alle sagen, daß Monsieur Patrice sie ganz bestimmt heiratet. Wir werden alle zusammenlegen, sobald er sich erklärt, und einen wunderschönen silbernen Tafelaufsatz kaufen, in den alle unsere Namen eingraviert sind. Nicht daß er auch nur annähernd gut genug für sie wäre, der verbiesterte alte Kerl! Aber man sieht ihm an, daß er für sie schwärmt – seine Blicke folgen ihr die ganze Zeit.«

»Charlotte!« rief Lady Morningquest scharf. »Ich wünsche, daß du aufhörst, solchen lächerlichen Unsinn zu reden. Er schadet beiden Seiten und entbehrt, da bin ich sicher, jeder Grundlage.«

»Nein, Mama, das stimmt nicht. Véronique hat gehört, wie er Miss Paget im Musikzimmer seine chère petite amie nannte.«

»Charlotte, ich wünsche nichts mehr von diesem unbedachten und widerwärtigen Klatsch zu hören. Monsieur Patrice würde Miss Paget ohnehin nicht heiraten können; wußtest du nicht, daß es in dem Seminar, dem er angehört, Bedingung ist, daß er Junggeselle bleibt? Er darf nur aufgrund einer Sondergenehmigung hierher kommen, um in der Schule seiner Cousine zu unterrichten.«

»Nun ja, wenn er Miss Paget heiratete, könnte er das Seminar verlassen – nicht wahr? –, und sie könnten irgendwo zusammen eine Schule eröffnen«, wandte Charlotte ein, doch sie wirkte ob dieser Neuigkeiten ein wenig erschrocken.

»Charlotte, ich wünsche kein weiteres Wort zu diesem Thema zu hören. Es ist vulgär, boshaft und, da bin ich sicher, reine Erfindung. Nun gehe ich in die Stadt, um Spitze zu kaufen, und ich schlage vor, daß du dich dem Studium deiner Rolle widmest, anstatt dich in unbesonnenen Spekulationen zu ergehen.«

»Oh, ich kann sie gut genug«, antwortete Charlotte heiter. »Die Rolle der Ophelia ist nicht sehr lang, weißt du. Und Miss Paget hat mich abgehört. Au revoir, Maman, chérie, à ce soir!“, und sie hüpfte durch die Halle davon.

Sehr nachdenklich ging Lady Morningquest zu ihrem Wagen hinaus und ließ sich durch den laubbedeckten Faubourg und die rue Royale entlang fahren. Sie beachtete nicht die stattlichen Häuser aus rosenroten Ziegelsteinen oder farbig getüncht zu beiden Seiten der breiten Straßen. Sie ignorierte die blühenden Bäume, Weißdorn und Kastanie in ihrem Frühlingsschmuck, Pappeln und Lorbeer im Park, wo kleine Mädchen in Krinolineröcken Reifen warfen. Sie war taub für das fröhliche Glockengeläute, das den Geburtstag von Saint-Annodoc feierte.

Tue ich recht daran, dieses Mädchen nach Paris zu verpflanzen? fragte sie sich.

 

Festlichkeiten in Madame Bosschères Pensionat in Brüssel waren überaus lebhafte Angelegenheiten; Madame, bekannt als strenge Erzieherin und argusäugige Zuchtmeisterin während der Schulstunden, machte gern deutlich, daß sie, wenn ihre Schülerinnen sich gut benommen und fleißig gearbeitet hatten, bereit war, sie zu verwöhnen.

Außerdem war es eine gute Werbung für die Schule.

Madames Veranstaltungen waren berühmt. Oft holte sie von außerhalb Brüssels Künstler – Opernsänger, Puppenspieler, Zigeuner mit dressierten Tieren – her. Und ihre Diners waren superb; die Hauptgerichte wurden von Brüsseler Lieferanten zubereitet, doch die Schulköchin arbeitete schon Tage vorher, um die belgischen pâtisseries vorzubereiten, die gâteaux und galettes und pâtés à la crème, die eine Spezialität des Hauses waren.

Eine weitere, von Konkurrenten auf dem Schulsektor viel belästerte Neuerung war ihre Gewohnheit, zu diesen Parties junge, unverheiratete Männer zuzulassen, Brüder und Cousins der höheren Töchter. Keine andere Schule in Brüssel gestattete einen solchen Verstoß gegen die Konventionen. Diese gefährlichen männlichen Gäste wurden jedoch strikt abseits gehalten; tatsächlich dachte Ellen Paget oft, daß Madame Bosschères Parties für sie entsetzlich langweilig, wenn nicht geradezu fegefeuerhaft sein mußten. Zwar durften sie am Essen teilnehmen, indes an einem ihnen allein vorbehaltenen, besonderen Tisch unter dem wachsamen Auge von Monsieur Patrice; sie durften sich die Theateraufführung ansehen, von Sitzen weit hinten in der Salle; doch wenn der Ball begann, wurden sie in einer Ecke des großen Carré buchstäblich eingefriedet, und es war ihnen unter keinen Umständen gestattet, sich unter die jungen Damen zu mischen. Gleichwohl verlieh ihre Anwesenheit als Zuschauer den Vorgängen Reiz; die Mädchen, die miteinander oder mit Vätern und verheirateten Lehrern tanzten, wurden zu frischerer Anmut und Lebhaftigkeit angeregt.

Das verlorene Häuflein der Junggesellen war auch heute abend wie gewöhnlich da, von einer roten Samtschnur und einer Reihe Azaleen in Töpfen eingepfercht: eine Schar geschniegelter und gebügelter junger Belgier, die meisten ebenso schwerfällig wirkend wie ihre Schwestern auf der Tanzfläche und, teils mit sehnsüchtigem Interesse, teils mit resignierter Apathie, die Rüschchenwolke von Demoiselles anstarrend, die in oft geübten Walzern und Quadrillen vorbeiwirbelte.

Ellen, die diese Ecke auf ihrem routinemäßigen Rundgang durchquerte, verspürte einen Stich des Mitgefühls für die unverheirateten männlichen Gäste. Sie glichen Straßenbengeln, dachte sie, die sich ohne Hoffnung die Nasen am Schaufenster eines Bäckers plattdrücken.

Flüchtig fiel ihr eine vorsichtige Bewegung zweier weißgekleideter Mädchen ins Auge, die in ihre Richtung schwebten.

»Elfy, Eponine! Was macht ihr hier?«

»Es ist so heiß, Mademoiselle Elène; wir wollten in den Garten gehen und frische Luft schnappen.«

»Ein merkwürdiger Weg, den ihr da nehmt! Die Türen sind jedenfalls verschlossen. Ihr werdet durch die Salle zurückgehen müssen; und wenn ihr wirklich hinausgeht, dann holt euch zuerst eure Umschlagtücher aus dem Armoire.«

Niedergeschlagen zogen sich die Mädchen zurück, enttäuschte Blicke auf die Reihe der Junggesellen werfend. Bei einem Blick in dieselbe Richtung bemerkte Ellen zu ihrer Verblüffung unter all den hellblauen Augen und flachsblonden flämischen Haarschöpfen ein Paar auf sie gerichteter, vertrauter, ironischer, dunkelgrauer Augen in einem schmalen, klugen, ungeduldigen Gesicht; und sie wurde in wohlbekanntem, neckendem Ton begrüßt.

»Sieh da, sieh da, meine liebe Nell! Wie immer auf dem Posten, wie ich sehe! Immer noch in der Rolle des weiblichen Drachens tätig, oder heißt es Dragoner? Die Knute auf der Schulter, das Entermesser gezückt, die Wölfe von der Herde fernhaltend, wie?«

»Du liebe Güte, Benedict!« Ellen versuchte, ihr überraschtes Zusammenzucken beim Anblick ihres Stiefbruders zu verbergen. Sie faßte sich und warf ihm dann einen kühlen, überlegenen Blick zu. Es war ein Spiel, das sie bei ihren seltenen Begegnungen spielten; er versuchte, sie zu einer aufbrausenden Antwort (oder, als sie jünger gewesen waren, zu physischer Gewalt) zu provozieren; während sie, sosehr sie seine Ausfälle auch stachen, ihrerseits alles daransetzte, Gelassenheit zu bewahren und nach Möglichkeit eine vernichtende Antwort zu geben, die ihn sprachlos machen würde; nur war es ihr bis heute nie ganz gelungen, das fertigzubringen.

»Warum um alles in der Welt bist du nach Brüssel gekommen?« erkundigte sie sich. »Ist das nicht dein letztes Trimester in Oxford? Solltest du dich nicht auf deine Abschlußprüfungen vorbereiten?«

»Oh, ein Student kann nicht immer nur büffeln. Prüfungen sind dermaßen Glückssache«, erwiderte er leichthin. »Trotzdem, ich glaube nicht, daß ich durchrass’le. Und da ich für den diplomatischen Dienst vorgesehen bin, ist es wichtig, daß ich in den Sprachen gut abschneide. Dominic Arundel und ich haben beschlossen, unserem Verstand eine Ruhepause zu gönnen und ein, zwei Wochen zu schwänzen. Zunächst haben wir die Absicht, beim Bakkarat in Paris unser Vermögen zu ergänzen, aber da ich weiß, daß meine liebe Mama die große Wut befallen würde, wenn sie hörte, daß ich Oxford während des laufenden Trimesters verlassen habe, dachte ich, ich würde vielleicht ihre Gunst gewinnen, wenn ich einen Umweg über Brüssel machte, um ihr über dich und deine Aktivitäten Bericht zu erstatten.«

»Du dachtest nichts von alledem«, gab Ellen ruhig zurück. Sie lehnte sich für einen Moment an einen Stuhl. Der Tag war bemerkenswert aufreibend gewesen. Im Laufe des Nachmittags war das für die Jahreszeit außergewöhnlich warme Maiwetter von einer Reihe heftiger Gewitterschauer unterbrochen worden, die die Schülerinnen und Gäste ins Haus getrieben und in der Folge zu Überfüllung und übermäßiger Hitze geführt hatten. Mittlerweile herrschte eine Atmosphäre wild-hysterischer Fröhlichkeit. Madames Darstellung des Hamlet, für die meisten Schülerinnen gänzlich unerwartet, hatte zu dieser hektischen Stimmung beigetragen; die Mädchen waren mittlerweile in einem Zustand unbekümmerter, kichernder Ausgelassenheit, die jeden Augenblick ausarten konnte. Ellen wünschte von Herzen, der Abend wäre zu Ende. Die Anwesenheit ihres Stiefbruders trug nicht dazu bei, ihre Erschöpfung und Niedergeschlagenheit zu lindern. Sie sagte: »Du weißt sehr gut, daß es, solange ich nicht in Petworth bin und nicht in irgendeiner Weise Schande über mich bringe, Lady Adelaide vollkommen gleichgültig ist, ob ich in dieser oder in der nächsten Welt bin.«

»Touché, liebe Stiefschwester! Du hast meine Mama aufs Haar genau eingeschätzt.« Benedicts Gesicht entspannte sich zu einem raschen, boshaften Grinsen. »Zwischen mir und Easingwold ist der Stand der Dinge ganz ähnlich. Ein älterer Bruder, der zwischen einem selbst und der Earlswürde steht – was für ein großer Klotz von einem lästigen Menschen er doch ist! Noch schlimmer als eine Stiefmama, die im Hause keine Konkurrenz in Form einer bezaubernden jungen Stieftochter duldet.«

»Du brauchst keine zuckersüßen Gemeinplätze an mich zu verschwenden, Benedict. Heb sie dir für deine weiblichen Bekanntschaften auf.«

»Du mußt lernen, Komplimente zu akzeptieren, ohne auszukeilen, Nell; als dein Stiefbruder halte ich es für meine Pflicht, dir diese Ermahnung mitzugeben. Das ist kein feines Benehmen. Was ich sagte, war alles andere als ein zuckersüßer Gemeinplatz. Dein Aussehen hat über alle Maßen gewonnen. Du hast jetzt so viel mehr Ausdruck. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß sich eine solche Veränderung in – wann haben wir uns doch gleich das letzte Mal gesehen? Bei dieser gräßlichen Hochzeit, als sich deine Schwester Catherine die Hand ihres Nagelhändlers und dreißigtausend pro Jahr sicherte? Vor achtzehn Monaten? Damals warst du noch bemerkenswert unscheinbar, das versichere ich dir!«

»Merci du compliment, Monsieur«, sagte Ellen kühl. »Aber ich fürchte, ich kann nicht länger verweilen und mir deine Schmeicheleien anhören – ich habe verschiedene dringende Pflichten zu erledigen. Ich hoffe doch, du wirst das Spielen genießen. Wie bist du übrigens hier hereingekommen?«

»Indem ich deine Madame Bosschère hofierte, natürlich. Ich bin mit René de la Tour hergekommen. Madame war uns beiden gegenüber erstaunlich umgänglich. Und ich muß sagen«, fügte Benedict hinzu, indem er spontan in schallendes, jungenhaftes Gelächter ausbrach, das ihn einen Moment lang viel jünger und ganz anders aussehen ließ, »es hat sich gelohnt zu kommen, allein schon um Madame die Rolle des düsteren Dänen spielen zu sehen! Es war köstlich! Eine fünfzigjährige Lehrerin als Prinz von Dänemark! Ich hätte nie erwartet, Shakespeare auch nur halb so sehr zu genießen. Als Uncle Harry mich und Easingwold ins Haymarket zu ›Coriolanus‹ mitnahm, fand ich es entsetzlich langweilig. Aber deine geschätzte Directrice mit ihren Brüsseler Kehllauten ›Sain odärr nischt sain‹ hadern zu hören …«

»Pst, Benedict! Sie ist vierzig, nicht fünfzig! Und jemand könnte dich hören!«

»Nicht bei all diesen ehrbaren Bürgern, die auf ihren Fiedeln herumquietschen wie schwachsinnige Tölpel. Ich sage dir, während all dieser Monologe ein ernstes Gesicht beizubehalten, war das Schwierigste, was ich je getan habe.«

»So?« sagte Ellen kühl. »Ein ausgezeichnetes Training für deine diplomatische Karriere, hätte ich gedacht. Ich bin sicher, Madame wäre erfreut, von deinen Bemühungen zu erfahren.«

»Du hättest die Rolle bestimmt besser spielen können!«

»Danke. Aber ich fürchte, ich muß dich jetzt verlassen.« Sie wandte sich zum Gehen. Er hielt sie zurück, indem er ihr Handgelenk ergriff.

»Lauf nicht weg, Nell! Hör zu – kannst du dich nicht später mit René und mir auf ein Kotelett im ›Jardin des Lauriers‹ treffen?«

»Mit zwei jungen Männern zu Abend essen? In einem öffentlichen Restaurant? Bist du verrückt? Wir werden ohnehin die halbe Nacht damit beschäftigt sein, die Möbel zurückzustellen.«

»Ach so, na dann.« Er schien von ihrer Weigerung nicht übermäßig erstaunt oder niedergeschlagen. »Hättest du Lust, morgen auszufahren?« meinte er, als sei es ihm gerade eingefallen.

Sie war überrascht, sagte aber bestimmt: »Das kommt nicht in Frage. Morgen ist ein normaler Schultag.«

»Na gut – dann – erzähl Mama, wenn du das nächstemal nach Hause schreibst, nicht, daß ich nicht mein Bestes getan habe, um dir etwas zu bieten!«

Die Haltung von Ellens Kinn verriet, daß sie seinen guten Absichten keinen sehr hohen Wert beimaß, und daß ihre Korrespondenz mit seiner Mutter nicht von sonderlich herzlicher oder ausführlicher Art war. Wieder versuchte sie, ihr Handgelenk aus seinem Griff zu lösen, und bemerkte gleichgültig: »Ich nehme an, du hast mir keine Neuigkeiten von zu Hause zu berichten?«

»Keine von irgendwelcher Bedeutung«, antwortete er in gleichem Ton. »Tatsächlich bin ich seit Ende der Jagdsaison nicht mehr unten gewesen – und damals blieb ich nur eine Woche; die Jagd von Petworth ist eine jämmerliche Angelegenheit. In der Hermitage schien damals alles wie üblich zu sein: Meine Mama war in ihrer üblichen kribbeligen Stimmung und beklagte sich über ihre langweiligen Nachbarn; dein jüngerer Bruder war mager und schweigsam, wie immer; unsere kleine Schwester ein ebenso widerwärtig verzogener Balg wie nur je; und dein Papa gab in gewohntem Stil den Ton an. Nichts Neues. Doch – warte: Der alte Kater ist gestorben.«

»Was?« rief Ellen, ehe sie sich beherrschen konnte, in aufrichtig bekümmertem Ton aus. »Mein Kater Nibbins? Aber – er war doch noch nicht so alt.«

»Nein, weißt du, ich glaube, er wurde von einem Fuchs erwischt, oder so etwas Ähnliches, wie mir Vicky erzählte. Sie war ziemlich betrübt deswegen. Ah, da geht René und gibt mir Zeichen – er hat genug, der arme Kerl. Gute Nacht, Nell.«

Er ließ ihre Hand los, entfernte sich rasch zwischen den anderen, schwarzberockten jungen Männern und war gleich darauf verschwunden.

Ellen stand einen Augenblick da und starrte ihm nach, mit geballten Fäusten und zurückgebogenem Kopf. Sie holte mehrmals tief und abgerissen Atem, als sei sie gelaufen. Sie fühlte sich gereizt und wundgerieben, wie immer nach einem ihrer Gefechte mit Benedict. Dann, dem äußeren Anschein nach wieder gefaßt, wollte sie sich eben entfernen, als Madame Bosschère, deren Luchsaugen nichts entging, sie aufhielt. Madame hatte mittlerweile natürlich ihren Schultalar abgelegt und prangte in schwarzem Samt, rostbrauner Spitze und einer mit Ziermünzen besetzten Haube; sie war im Carré umhergeschossen wie ein Komet und hatte dafür gesorgt, daß allen Eltern eine angemessene Begrüßung zuteil wurde.

»Ah, ma chère Elène – Sie haben also Ihren Bruder, den Ehrenwerten Benedict, gesehen! Das ist gut, das ist recht. So ein ausgezeichneter junger Mann – gebildet, gut erzogen, durchaus schätzenswert. Und stimmt es, daß er eines Tages Vicomte sein wird?«

»Nein, Madame«, sagte Ellen, nun wieder mit einem Anflug von Gleichgültigkeit in ihrem Tonfall. »Der ältere Bruder ist Lord Easingwold. Benedict ist lediglich Honourable – es sei denn, natürlich, sein Bruder stürbe.«

»Ah, bien sûr. Wie auch immer, er ist von vornehmer Geburt, das erkennt man an seinem Blick, und wird gewiß seinen Weg machen. Nun, mein Kind, ich möchte mit Ihnen ein Gespräch über Ihr künftiges Wohlergehen führen. Sie müssen später, wenn die Gäste gegangen sind, in mein Boudoir kommen.«

»Heute nacht noch, Madame? Aber – es wird spät werden – nach Mitternacht, sehr wahrscheinlich.«