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Jane, Graham und die beiden Kinder sind eine ganz normale Familie. Seit sie in das neue, teure Haus auf dem Land gezogen sind, hat Jane ihre Arbeit bei einer Londoner Filmfirma aufgegeben. Geldprobleme zwingen sie jedoch bald, ihren alten Job wieder anzunehmen und dem finsteren Ehepaar McGregor tagsüber Haus und Kinder anzuvertrauen. Jane beginnt sich als Fremde im eigenen Haus zu fühlen, denn die McGregors üben eine böse Macht über alles aus, vor allem über Graham, der lieber seine Ehe riskiert, als sich von den beiden zu trennen. Warum? Ein verregneter Sonntag bringt die Wahrheit und den Tod.
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Seitenzahl: 208
Veröffentlichungsjahr: 2021
Joan Aiken
Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Diogenes
… Aber es regnete in diesem Sommer jeden Sonntag, und auch an den meisten Werktagen. Das Gras auf den Hängen um das neue Haus wurde lang, hellgrün und schütter; breiige Pfützen welkender Kastanienblüten lagen hingeweht an den Rändern der Dorfstraße; die Veranda wurde rasch ein Wirrwarr klammer Gummistiefel und rostender Metallspielzeuge. Der Putz auf den Innenwänden trocknete langsam und ungleichmäßig, und der Anstrich schwitzte; jede Fläche, und sei sie erst kürzlich abgewischt, fühlte sich klamm und leicht schmierig an. Nachts tropfte der Regen Stunde um schlaflose Stunde auf die sorgfältig ausgesuchten, sorgfältig abgestimmten Dachziegel; Jane, die wachlag und ihm zuhörte, erinnerte sich an einen Dokumentarfilm über Pygmäen, den sie gesehen hatte; das Geräusch glich näherkommenden, winzigen Trommeln. Das Haus, in dessen Zwischenräumen sich noch kein Staub abgesetzt, keine dämmenden Flusenschichten gebildet hatten, war ein hohler Resonanzkörper und verstärkte jedes darin verursachte Ticken oder Klirren auf die Ausmaße eines Hörspiel-Melodrams. Stimmen dröhnten; die geringste Bemerkung gewann unheilvolle Bedeutung.
Jeden Tag murrte der in glänzendes schwarzes Plastik gehüllte Briefträger vor sich hin, während er die lange, matschige Auffahrt hinaufplatschte, und fragte Gott, warum die Drummonds beschlossen hatten, ihr halb hinter Bäumen verstecktes Haus in der größtmöglichen Entfernung von der Straße zu bauen.
Jane Drummond sprang eines Montagmorgens nach unruhiger Nacht aus dem Bett und rannte in ihrem kalt um ihre nackten Beine raschelnden Baumwollmorgenrock die gewienerte Kiefernholztreppe hinunter, um den schönen neuen Ofen anzuheizen.
Ihr blankgeputztes Haus lag morgenstill unter seinem Regenschleier; Graham schlief noch, das Baby auch; nur aus Carolines Zimmer wehte ein gedämpftes, unmelodisches Summen.
Plum, der Siamkater, kam, sich streckend und gähnend, aus seinem Korb; reckte die Hinterbeine, dann die Vorderbeine und rieb sich an Janes Knöcheln; geistesabwesend kraulte sie ihm den seidigen, dunkelbraunen Kopf, als sie sich bückte, um den Stapel Rechnungen aufzuheben, der auf der Fußmatte lag – zwei davon, wie sie feststellte, mit dem Vermerk ›Letzte Mahnung‹.
Unten in dem Stoß war ein richtiger Brief: viereckig, weiß, getippt, Londoner Briefmarke, adressiert an sie selbst, Mrs. Jane Dillon Drummond, Haus Wehrblick, Culveden, Kent. Aber – von wem?
Sie legte ihn beiseite, um ihn bis nach dem Frühstück aufzuheben, und machte sich daran, den Porridge zuzubereiten.
Ihre Gedanken bewegten sich in den gewohnten Bahnen.
Rechnungen. Etwas verkaufen? Nichts, was einen Verkauf lohnt. Einen Job annehmen? Aber ich habe geschworen, damit zu warten, bis Donald mindestens fünf ist. Noch viereinhalb Jahre bis dahin. Versuchen, freiberufliche Arbeit für zu Hause zu bekommen … Manuskripte lesen? Sie lektorieren? Ja, vielleicht, allerdings schlecht bezahlt. Und wir brauchen jetzt eine Menge Geld. Trotzdem, ich schreibe an Folia – heute noch – kann nichts schaden, einen Anlauf zu nehmen. Was noch? Mitmachen bei dem Preisausschreiben ›Warum mir Knusper-Schokoriegel so gut schmecken‹. Im Fußball-Toto spielen. Eine Prämienobligation kaufen. Fünf Pfund in eine Platin-Minengesellschaft investieren. Sich überfahren lassen und jemand auf enormen Schadensersatz verklagen. Auf den Strich gehen. Von einem ausländischen Filmregisseur, der zufällig durch Culveden schlendert, als potentielles Star-Material erkannt werden.
Der Porridge kochte; sie rührte ihn um und stellte ihn neben die Herdplatte.
Beim Frühstück war Graham ungewohnt heiter und ignorierte die Rechnungen.
»Gestern abend hab ich im Pub deinen Freund Tom Roland getroffen«, sagte er, während er, betont schottisch, seinen Porridge im Herumgehen aß und einmal stehenblieb, um die holländische Anrichte mit ihrer Unmenge von Glas und Porzellan zu bewundern, die alle vier Tage gespült werden mußte.
Der vierte Pub-Besuch in zwei Wochen? Graham war normalerweise ein maßvoller Trinker, wegen seines Magengeschwürs; was war denn da los?
»Wohl kaum mein Freund«, widersprach Jane sanft und schnitt für Caroline weiter Butterbrotstreifen, die sie mit braunem Zucker bestreute. »Ein paar Monate gemeinsamer Arbeit an einem Manuskript, vor fünf Jahren; das läßt sich wohl kaum als Freundschaft bezeichnen …«
»Na, jedenfalls erinnert er sich an dich. Er wohnt hier unten. Hat das umgebaute Darrhaus halbwegs den Hügel hinauf. … Carey und Wing haben den Umbau für ihn gemacht, hat er mir erzählt. Saubere Arbeit; er hat mich eingeladen, mal vorbeizukommen und es mir anzuschauen. Ich hab’ ihm einen ausgegeben –« Graham hielt abrupt inne und inspizierte eine der Fliesen im schwarz-roten Schachbrettmuster des Fußbodens. Wenn das so weitergeht, wird es Grahams Magengeschwür gar nicht guttun, konnte Jane eben noch denken, ehe er fortfuhr, offenbar mit dem Zustand der Fliese zufrieden:
»Ganz nützlich, hier jemanden wie Tom zum Freund zu haben – eindeutig die lokale Berühmtheit. An den Wochenenden hat er haufenweise Fernsehleute zu Besuch, hat mir Miss Ames erzählt; manchmal bringt sie die Überzähligen in ihrem Gästehaus unter. Könnten ganz günstige Kontakte sein. Leute, die beschließen, daß sie ein Wochenendhaus gebaut oder umgebaut haben wollen … Ich hab Tom eingeladen, vorbeizukommen und sich das Haus hier anzusehen, wann immer er Lust hat.«
Verdammt, dachte Jane. Das bedeutet die ganze Zeit mustergültige Ordnung, kein Spielzeug auf dem Boden, sonst heißt es gleich: »Angenommen, Tom Roland schaut herein?«
Warum habe ich mich überreden lassen, unsere Vorstadtwohnung, die doch vollkommen ausreichte, aufzugeben und hierher zu ziehen? Hat er gewußt, daß Tom Roland hier wohnt? War Roland der eigentliche bestimmende Faktor dafür, daß Graham darauf beharrte, sein Haus in Culveden zu bauen? Die Tatsache, daß ich einmal kurz mit ihm zusammengearbeitet habe und mich auf die Bekanntschaft mit ihm berufen könnte?
Graham hielt seine Beweggründe unter Verschluß, sie wurden nur zögernd preisgegeben, stückchenweise, wie es ihm paßte oder wenn es sich nicht umgehen ließ.
Sie betrachtete ihren Mann leidenschaftslos. Nach sechs Jahren Ehe konnte sie es sich leisten, leidenschaftslos zu sein. Aber er sah gut aus, das mußte man ihm lassen: schlank, dunkel und beinahe übertrieben schön, hätte er mit Schmachtlocke und im Rüschenhemd für ein Porträt des Jungen Kavaliers Modell stehen können.
Er stand am Fenster, trommelte mit den Fingern ungeduldig auf die rotgeflieste Fensterbank, verärgert über den Regen, der das Gras seines Rasens dünn hochschießen ließ.
»Haben wir eigentlich Bananen?« fragte er plötzlich.
»Nein, haben wir nicht. Wieso?«
»Ich könnte eine vertragen.«
»Jetzt?«
Graham nahm zum Frühstück niemals, unter keinen Umständen, etwas anderes zu sich als Porridge, Tee und ein Vierminuten-Ei; er hätte jede Abweichung von dieser Routine als unzivilisiert, unbritisch, exzentrisch, geradezu barbarisch betrachtet.
»Tom ißt immer drei Bananen zum Frühstück, hat er mir erzählt.«
Tom hier, Tom da. Erwarten wir ihn vielleicht zum Frühstück? fragte sie sich.
Sie gab Graham sein braunes Ei und seinen braunen Toast und öffnete ihren Brief. Plum hüpfte ungetadelt auf ihren Schoß und begann zu schnurren: ein lautes, freudiges Grummeln, nicht unähnlich dem Grollen des Wehrs, das nach so vielen Regennächten eine ferne, stetige Begleitung bildete, die über und neben jedem näheren Geräusch hörbar war.
»… meine Güte.«
»Was ist denn?« Grahams Stimme war nachsichtig.
»Er kommt von Folia Films. Komisch, gerade hab ich an sie gedacht. Sie wollen, daß ich ein paar Monate aushelfe; Sandy Wilshaw ist mit einer Nierengeschichte im Krankenhaus. Sie drehen einen Dokumentarfilm über britisches Porzellan; sie haben das ganze Material, sie wollen bloß, daß ich an dem Skript arbeite. Sie bieten dreihundert. Aber ich sehe nicht, wie ich das machen soll.«
Sie klang fassungslos. Dreihundert, dachte sie. Die Kohlenrechnung, die Gasrechnung, die Lebensmittelrechnung, die Umzugsrechnung, die Telefonrechnung, die Werkstattrechnung – Schonbezüge – ein Buggy – Sommerkleider für die Kinder – vielleicht würden sogar noch zehn Pfund übrigbleiben, von denen ich mir ein paar Baumwollkleider machen könnte. Vorausgesetzt, die Sonne kommt je wieder zum Vorschein.
»Kannst du die Arbeit nicht zu Hause machen, wenn sie das ganze Zeug beisammen haben?« Grahams Aufmerksamkeit war nun ganz und gar gefesselt.
»Nein. So arbeitet Folia nicht. Das funktioniert alles nach Versuch und Irrtum; ich müßte einfach dort sein, zu Skript-Besprechungen.«
»Na, dann mußt du natürlich hin. Donald ist schließlich schon sechs Monate alt und robust wie ein Pferd, der Gute; du könntest aufhören, ihn zu stillen. Es gibt ja auch noch Flaschen.«
Die gesamte Psychologie hob ihre Häupter gegen sie, wie die Hydra: Deprivation, Verlustangst, infantiles Trauma –
Aber was ist schlimmer, ein paar Monate lang die Mutter für ein paar Stunden am Tag zu entbehren oder eine Mutter zu haben, die nicht einen Moment lang frei von verzweifelter Sorge ist? Was soll man nur machen?
Und es stimmte, daß Donald ein robustes, ausgeglichenes Baby mit einer ausgeprägten Neigung zum Schlafen war. Caroline würde vielleicht darunter leiden …
»Wie dem auch sei«, sagte sie, und es war der Griff nach dem Strohhalm. »Könnten wir denn überhaupt jemand finden, der auf ihn und Caroline aufpaßt? Außer Miss Ames kennen wir keine Seele, und die hat mit ihrem Gästehaus und ihrem Café genug zu tun –«
»Och, wir finden schon jemand. Ohne weiteres. Miss Ames könnte uns wahrscheinlich eine Frau empfehlen; im Dorf gibt’s bestimmt die eine oder andere, die froh wäre, ein paar Monate lang etwas dazuzuverdienen.«
Bloß die eine oder andere tut es aber nicht, um auf meinen Donald und meine Caroline aufzupassen, dachte Jane, während sie Carolines milchverschmiertes Gesicht abwischte und sie von ihrem Lätzchen und aus ihrem Stuhl befreite.
»Lauf schon nach oben, mein Schatz; ich komme sofort nach.«
»Und das Geld können wir auch gebrauchen«, sagte Graham unwiderleglich.
Du mußt mir gerade erzählen, daß wir es gebrauchen können, schrie sie ihn innerlich an, aber er setzte sich mit großer Geste über die letzten Mahnungen hinweg.
»Übrigens trifft sich das ausgezeichnet«, sagte er. »Ich wollte dir gerade sagen, daß ich Tom Roland gestern abend seinen Luftkissen-Rasenmäher abgekauft habe – für zweihundert hat er ihn mir überlassen. Und ich schulde dem alten Saunders vom Büro ein bißchen was; hab ich letzte Woche leihen müssen, als ich ein bißchen knapp war.«
Schiere Verzweiflung war ein so vertrautes Gefühl, daß Jane einen tüchtigen Schluck von ihrem guten, heißen Kaffee nahm, ehe sie antwortete.
»Du hast einen Luftkissen-Rasenmäher gekauft? Warum denn? Was stimmt nicht mit unserem?«
»Warum?« Ihre Begriffsstutzigkeit schien ihn zu verwirren. »Na, wir müssen doch den Rasen ums ganze Haus anständig in Schuß bringen, damit es richtig zur Geltung kommt. Um Kunden zu beeindrucken. Und diese Hänge kann man mit dem alten Mäher nicht richtig machen. Begreifst du denn nicht? Dieses Haus muß ein Prunkstück werden: mein eigenes Haus, ausschließlich von mir entworfen und gebaut.«
Ausschließlich von geliehenem Geld.
»Aber ich kann keinen Luftkissen-Mäher gebrauchen«, sagte Jane ruhig. »Die sind zu schwer für mich. Der alte Mäher reicht mir völlig; schließlich mache ich ja die Arbeit.«
Graham tat die leichte Schroffheit in ihrer Stimme mit einer Handbewegung ab. »Mein liebes Kind«, sagte er ungeduldig, »diese alte Maschine war in hoffnungslosem Zustand. Und du solltest ohnehin nicht den Rasen mähen – das macht keinen guten Eindruck. Miss Ames hat gesagt, die Leute im Dorf reden schon darüber. Deswegen besorge ich jemanden, der zweimal die Woche kommt und den Garten macht. Tom hat mir von ihm erzählt – für Tom arbeitet er auch zweimal die Woche, also kann er uns ohne weiteres einschieben. Tom redet heute mit ihm und sagt ihm, er soll mal hier vorbeikommen, damit wir uns über die Zeiten einig werden.«
Und womit sollen wir ihn bezahlen, mit Blaupausen?
Sie sagte es nicht. Sie hatte es zu einer hohen Kunst entwickelt, nichts zu sagen. Sie räumte das Frühstücksgeschirr zusammen; sie rührte für die Morgenfütterung des Babys Haferflocken an.
»Da fällt mir ein«, sagte Graham, »dieser Garten-Menschich weiß nicht, wie er heißt, Tom hat’s vergessen zu sagen, aber er wohnt unten am Ende des Dorfes –, der hat eine Frau, die manchmal für Roland abwäscht, wenn er eine seiner Parties gibt. Sehr wahrscheinlich würde sie die Kinder ein paar Monate übernehmen – vielleicht hat sie selber welche. Wir brauchen diese dreihundert wirklich, wir können es uns nicht leisten, eine solche Gelegenheit sausen zu lassen. Du schreibst an Folia und sagst zu – ab wann wollen sie dich?«
»Zum nächsten Ersten.«
»Na prima, dann bleibt noch eine Menge Zeit, um jemanden zu finden. Ich frage diesen Garten-Menschen, wenn ich mit ihm spreche, und verbreite es vielleicht im Pub – so regelt man das auf dem Dorf«, sagte Graham wissend. »Und du fragst Miss Ames. Okay – bis heute abend – massenhaft Arbeit, wahrscheinlich komm ich wieder spät –«
Er stand auf, reckte sich und schickte sich an, in sein wunderschön eingerichtetes Büro zu fahren. Als sei es ihm nachträglich eingefallen, küßte er Jane flüchtig aufs Ohr; sie schaute auf den Stoß ungeöffneter Umschläge hinab.
Auf der Veranda blieb Graham stehen und strich seinem kleinen Sohn, der dort schlief, stolz und zärtlich über den Kopf; dann ging er mit einem kritischen Blick auf den schön gestalteten, aber immer noch halb wilden Garten energisch zur Garage hinüber.
Kurz darauf machte sich Jane an die Erledigung ihrer morgendlichen Pflichten.
Als sie mit der Zehn-Uhr-Fütterung des Kleinen fertig war, blickte sie gedankenvoll auf ihn hinab: fast eingeschlafen, überaus zufrieden, ein menschlicher Kokon, das putzige, verkürzte Gesicht, an dessen einer flaumiger Wange ein Tropfen Milch klebte, schon entrückt, zu buddhahafter Ruhe verklärt. Sie bettete ihn wieder in sein tragbares Kinderbett, und er seufzte wie ein Erwachsener, und seine Arme hoben sich sofort zur gewohnten Stellung, beiderseits des Gesichts, die Fäuste geballt. Warum ballten Babies die Fäuste, selbst wenn sie offenbar entspannt waren? Lag das an dem Kampf, von dem sie wußten, daß er vor ihnen lag, oder an dem Kampf des Geborenwerdens, den sie schon hinter sich hatten?
Als sie das Kinderbett auf die Veranda zurückstellte, klatschten Regenschauer an die verglasten Wände, und der Ziegelboden war dunkel vor Nässe. Sie befestigte den wasserdichten Überzug über Donalds blauer Decke.
Jenseits der Veranda herrschte völlige Stille; Regen tropfte, die Vögel schwiegen sich aus.
In einem Büro würde um diese Zeit die Post ankommen, eine Besprechung stattfinden, Kaffee getrunken werden, Telefone würden klingeln … Plötzlich kniete sie sich hin und legte das Gesicht neben den schlafenden Donald.
Gleich darauf stand sie energisch auf und ging wieder nach drinnen. Die Betten waren noch zu machen, ebenso Donalds tägliche Wäsche, und eine Einkaufsliste mußte aufgestellt werden. Caroline war glücklich damit beschäftigt, in einer Plastikschüssel auf dem Küchenboden hölzerne Garnspulen schwimmen zu lassen; der Zauber des Spielens mit Wasser verfehlte nie seine Wirkung. Ihr Pullover war vorn schon klatschnaß, aber es hatte keinen Sinn, sie umzuziehen, ehe sie die Lust verlor und sich einer anderen Beschäftigung zuwandte.
Jedenfalls, dachte Jane, wenn Graham darauf besteht, daß dieser Gärtner für uns arbeitet, werde ich ihn bitten, diesen Zaun am unteren Ende des Gartens zu reparieren; Caroline hat zwar noch nicht dorthin gefunden, aber früher oder später passiert das bestimmt, und obwohl der Zaun ganz gut aussieht, ist die Hälfte der Pfähle durchgefault, und mit dem Wehr bloß zwei Felder weiter kann man gar nicht vorsichtig genug sein.
Das kräftige Grollen des Wehrs verschaffte sich wieder Gehör, als die Wäscheschleuder surrend zum Stehen kam.
Jane rollte die Schleuder in ihre Nische zurück, überprüfte die Speisekammer, machte einen Einkaufszettel und zog sich und Caroline an, um ins Dorf zu gehen. Donald mitnehmen? Nein, lieber dalassen. Er schlief friedlich; sie würden nur zehn Minuten weg sein, höchstens zwölf. Und niemand kam zum Haus. Bis jetzt kannten sie noch niemanden. Graham schloß keine Zufallsbekanntschaften; alle seine Handlungen verfolgten einen Zweck.
Das Dorf Culveden war angeordnet wie ein Wasserlauf, der sich einen Hang hinunterschlängelt. Alte kleine Häuser waren in Falten des Hügels gebettet, als seien sie vor Jahrhunderten bei einer Flut angeschwemmt worden. Wuchtige Bäume markierten die Straßenbiegungen; es war kein Hügel, den man schnell nehmen konnte, in welcher Richtung auch immer.
Der Regen wehte in milden, wolkigen Güssen, kaum zu unterscheiden von dem Rauch, der aus den unregelmäßig verstreuten Schornsteinen aufwaberte. Wenig Leute waren an diesem wenig verheißungsvollen Morgen so früh unterwegs, aber eine Gestalt kam weit ausschreitend die schmale, gewundene Straße entlang auf sie zu.
Zu ärgerlich, sagte sich Jane und ging entschlossen hinüber zum Postamt mit seinen drei ausgetretenen Steinstufen und seinem freundlich roten Briefkasten.
Ein Ruf von hinten brachte sie zum Stehen.
»Janey! Janey!«
»Wer ist der Mann da, der dich Janey ruft, Mutter?« fragte Caroline interessiert.
»Ach, hallo«, sagte Jane und fügte sich in ihr Schicksal.
»Hast du dich denn nicht an mich erinnert?«
»Doch, natürlich. Aber ich habe nicht gedacht, daß du dich an mich erinnerst.«
Tom Roland blickte lächelnd auf sie herab. Er war ein Riesenkerl; sie hatte vergessen, wie groß er war, sogar im Verhältnis zu seiner Breite – verdammt nochmal, schließlich war es schon fünf Jahre her und hatte, wenn überhaupt, nur zwei Monate gedauert –, mit widerspenstigem, dunklem Haar, lebhaften, dunklen Augen, einem breiten, ausdrucksvollen Mund, einem Hang zu ungestümer, gallischer Gestik und einer Pfeife, die zum Entzücken zahlloser Fernsehzuschauer einfach nicht anbleiben wollte.
Er klopfte sie an der Wand des Postamtes aus und steckte sie in die Tasche.
»Du hast dich kein bißchen verändert«, sagte er und musterte sie beifällig. »Erinnerst du dich noch an diesen fürchterlichen Tag am Rangiergleis, als der Film nicht gekommen war und der Ostwind überhaupt nicht mehr zu blasen aufhörte und wir uns in einen Viehwaggon drängten und Siebzehnundvier spielten, mit einem Spiel, das nur neunundvierzig Karten hatte, und zwei davon wehte es in einen Wassertank?«
»Ganz genau.«
Was der bloß für ein Gedächtnis hatte; schließlich mußte sein Leben randvoll mit solchen Erlebnissen sein.
»Und wir wurden erst zehn vor elf mit dem Filmen fertig und kamen kurz vor der Polizeistunde in einen Pub, und sie machten uns Kakao mit Rum. Du und ich hatten ein Gespräch darüber, was wir nicht leiden können; du hast gesagt Wäscheleinen, und ich hab gesagt diese matschigen Käse in Alufolie, die sie in Flugzeugen servieren und die man nie aufkriegt. Und du hast gesagt der junge Mann, der auf Anzeigen dem Mädchen immer liebevoll über die Schulter lächelt. Und ich hab’ gesagt …«
O nein, begehrte sie im stillen auf. Wie könnte sie das vergessen?
Das war der letzte Drehtag gewesen. Glücklicherweise. Natürlich hatte es nichts zu bedeuten gehabt, aber noch Wochen nach diesem Abend, diesem unbeschwerten Geplauder, mühelos wie ein dahinfließender Bach, war sie merkwürdig benommen herumgelaufen, als sei ihr ein Glied amputiert worden und die Betäubung sei noch nicht abgeklungen, und hatte das Gefühl gehabt, sie verständigte sich mit Graham auf Sanskrit, auf Urdu, in der Taubstummensprache. Wäscheleinen konnte sie Graham förmlich sagen hören, warum zum Teufel Wäscheleinen?
Und damals war sie erst seit neun Monaten verheiratet gewesen.
Tom hatte zwei-, dreimal im Büro angerufen – damals arbeitete sie noch ganztags bei Folia – und vorgeschlagen, zusammen essen oder etwas trinken zu gehen, aber sie hatte sich ausweichend, unverbindlich gegeben; in Wirklichkeit hatte sie sich nicht getraut, ihn weiter zu sehen. Sie hatte Graham nichts von den Anrufen gesagt, sonst hätte er bestimmt darauf bestanden, daß sie Tom zu ihnen nach Hause einlud. Damals wurde Roland wegen seiner Rolle in der Unterhaltungssendung Curio Comic gerade bekannt. Wie die Dinge lagen, war Graham monatelang stolzgeschwellt mit dem Spruch hausieren gegangen:
»Meine Frau hat mit Tom Roland bei einem Film über britische Eisenbahnarchitektur zusammengearbeitet; der Tom Roland, Sie wissen schon, der Design-Experte, der in dieser Fernseh-Quizsendung auftritt … Sie kennt ihn ziemlich gut.«
In gewisser Weise war es mitleiderregend.
Glücklicherweise war Tom dann wegen irgendeines Projekts nach Kopenhagen gegangen, und ein, zwei Monate später hatte Jane aufgehört, ganztags zu arbeiten, weil Caroline unterwegs war, und damit war das ausgestanden, hatte sie erleichtert gedacht.
»… Und komischerweise wohnt ausgerechnet hier im Dorf ein perfektes Exemplar. Gleich als ich sie gesehen habe, hab ich an dich gedacht, Janey. Weißt du noch? Du hast gesagt, du könntest kleine Frauen in Jersey-Kostümen mit affektierten, zugeknöpften Gesichtern und braunem, lockigem Haar nicht ausstehen, die Hazel oder Myfanwy heißen. Beinahe hätte ich dir eine Postkarte geschickt – wenn ich deine Adresse gewußt hätte, hätte ich es getan –, so genau entspricht sie der Beschreibung. Ich kann’s einfach nicht abwarten, bis du sie siehst, ich muß versuchen, das irgendwie zu arrangieren. Deine Tochter nimmt mich unter die Lupe«, unterbrach er sich. Freundlich nickte er Caroline zu, die ihn, den orangefarbenen Regenhut von ihrem strubbeligen, dunklen Pony zurückgeschoben, stirnrunzelnd musterte; konzentriert, nicht ablehnend.
»Hallo. Ich heiße Tom. Wie heißt du?«
Aber bei Fremden blieb Caroline stumm.
»Wer ist der besondere Mann, Mutter?« fragte sie, beiseite. ›Besonders‹ war zur Zeit ihr Lieblingswort; vergangene Woche war es ›passend‹ gewesen.
»Ein alter Freund, Schatz.«
»So alt nun auch wieder nicht«, sagte Caroline kritisch.
»Deine Tochter ist kein silbernes Märchenmäuschen; nicht so wie du; wie ich sehe, hat sie viel von einer Boädicea. Ach, übrigens. Gestern abend hab ich im ›Swan‹ deinen Mann getroffen; hat er’s dir erzählt? Eigenartig, irgendwie finde ich es schwierig, ihn als deinen Mann zu sehen. Dabei mußt du schon verheiratet gewesen sein, als wir uns kennenlernten. Manche Leute stellt man sich einfach nicht als verheiratet vor. Eigentlich hab ich ziemlich Gewissensbisse, weil ich ihm meinen alten Luftkissen-Mäher verkauft habe, das heißt, er war anscheinend ganz wild darauf, ihn mir abzukaufen, obwohl ich mich darüber beklagt habe. Normalerweise schließe ich nicht dadurch Freundschaften, daß ich den Leuten Sachen andrehe. Trotzdem, Gras schneidet er immerhin; er ist bloß ziemlich schwer.«
»Ach wo, Graham ist ganz aus dem Häuschen deswegen«, sagte Jane rasch. »Ein Mäher, der Tom Roland gehört hat – das ist praktisch genauso, als hätte man Irvings Dolch. Damit wird er vor allen großtun können.«
Als die Worte ihr herausgerutscht waren, dachte sie entsetzt, warum hab ich das gesagt? Wie billig, wie dumm sich das anhört. Sie sah die Kränkung in Toms Augen und sagte sich in Panik: Nein! ich werde nie wieder so fühlen.
»Tut mir leid«, sagte sie rasch, »das war gemein und unnötig. Nein, wir brauchen wirklich einen besseren Mäher als das alte Ding, das wir haben; das Gras reicht uns fast bis zu den Ohren. Und mit dem Umzug und neuen Möbeln und so fort konnten wir uns beim besten Willen keinen neuen leisten.«
»Wir werden doch bestimmt gute Nachbarn, oder, Janey? Freunde?«
»Natürlich … Natürlich werden wir das.«
Sein Gesicht war wie eine romantische Landschaft, dachte sie. Ein Bild von Géricault, Licht und Schatten, viel Bewegung. Es verzog sich zu einem erleichterten Lächeln.
»Jetzt müssen wir aber schnellstens nach Hause«, sagte sie hastig. »Ich habe das Baby alleingelassen, es schläft auf der Veranda. Ich habe nicht damit gerechnet, länger als zehn Minuten zu brauchen; die Leute werden denken, ich bin eine richtige Rabenmutter, und sich fragen, was ich mit ihm gemacht habe. Du weißt doch, wie es auf dem Dorf ist: Diese Mrs. Drummond geht einfach einkaufen und läßt ihr Baby allein. Sie hat keine Hilfe im Haus, das weiß ich, und ihr Mann geht jeden Morgen um halb neun zur Arbeit, armes, kleines Wurm, bleibt ganz allein im Haus, jemand sollte dem Kinderschutzbund Bescheid sagen.«
»Du hast zuviel Phantasie, Janey«, sagte er lachend. »Das war schon immer dein Problem.«
Als sie wegging, bemerkte sie, daß jemand sie beide durch die beschlagene Fensterscheibe des Postamtes unverwandt beobachtete. Ein gieriges Starren aus durchbohrenden Augen.
Zum Mittagessen nach Hause zurückgekehrt, nahm Tim McGregor das schmutzige alte Fallschirmjäger-Barett ab (das zu tragen er nicht das geringste Recht hatte), warf es auf den Fernseher, ließ sich in den Korbsessel plumpsen, dessen schäbige Polster ihm wie ein Gipsabdruck paßten, und wartete darauf, daß Myfanwy die Kartoffeln hereinbrachte.
Er hatte eine Neuigkeit für sie.
Der winzige Bungalow stand etwas abseits von den anderen Häusern am unteren Ende des Dorfes. In der Zeit zwischen den Kriegen, ehe auf strikte Einhaltung der Bauvorschriften geachtet wurde, auf einem Stück Marschland erbaut, war er als Behausung der absolute Tiefpunkt, mit papierdünnen Wänden ohne Isolierung; niemand, der sich etwas Besseres leisten konnte oder lebendig und von Rheuma verschont bleiben wollte, blieb auch nur eine Woche länger darin als unbedingt nötig. Außerdem bestand das Risiko, daß, falls das Wehr je überfließen sollte, Mon Abri, wie es ironischerweise hieß, von der Flut verschlungen würde.
Aus diesen Gründen war die Miete recht niedrig.
Das ganze Haus roch nach Abflußrohren, beziehungsweise nach ihrem Fehlen. Es troff vor Feuchtigkeit und war wegen der Holunderbüsche drumherum so dunkel, daß das ganze Ausmaß seiner Verwahrlosung nur erahnt werden konnte; alles, was sich einem zufälligen Betrachter mitgeteilt hätte, war ein Gesamteindruck von Zerlumptheit, Rost, abblätternder Tapete und dem Geruch nach Kartoffeln, die täglich in alten dünnen Töpfen anbrannten.
Das einzig Saubere in dem Haus war die kleine Susan, die in ihrem rosa Baumwollkleid, mit zwei rosa Plastik-Schmetterlingen im Haar, sauberen weißen Söckchen und sauberen roten Schnallenschuhen an den Füßen, teilnahmslos auf ihrem hohen Kinderstuhl saß und ins Leere starrte.
Vor vier Jahren, im Alter von zwei, war die kleine Susan ein freudevolles, unfaßliches Jahr lang Covergirl gewesen; sie war entdeckt worden, im Zuge eines gewonnenen Preisausschreibens, das ›Sugarbaby-Seife‹ für das goldigste Baby der Saison veranstaltet hatte. Ihre Mutter hatte einen Schnappschuß eingeschickt, zusammen mit einer Seifenpakkung.
Es war wie ein Traum gewesen … Ein ganzes Jahr lang war Geld in das Haus der McGregors geströmt (die es damals gerade gut gebrauchen konnten). Das Gesicht der kleinen Susan war, in babyhaften Ernst versunken, auf den Titelseiten von Mother Magazine, Woman’s World, Ladies’ Look, ja sogar Saturday Mail erschienen, wie sie einen Schmetterling anstaunte, Seifenblasen machte, ein Kätzchen anlächelte. Sie war im Fernsehen, auf Plakatwänden, sogar auf Haferflockenpäckchen erschienen.
Ein ganzes Jahr lang hatte der Ruhm gewährt, dann waren die Versunkenheit und der Ernst der kleinen Susan irgendwie