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Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Gleich zwei Könige machen Yeva den Hof! Abgeschieden und zur Fügsamkeit erzogen schwankt die letzte Thronerbin zwischen Entsetzen und Begeisterung. Doch bevor sie ihre Wahl treffen kann, stürmen feindliche Soldaten den Sommerpalast. Verzweifelt sucht Yeva Schutz in den weitläufigen Grabanlagen ihrer Vorfahren – und trifft dort auf ihr Schicksal: Aus der Grabkammer des Reichsgründers erhebt sich ein stummer, lange toter Krieger. Ariz mit dem eindringlichen Blick ist nicht nur dazu bestimmt, die Prinzessin zu beschützen, sondern rüttelt Yeva auch auf, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Kann Yeva ihr Reich retten und Ariz erlösen? Und will sie Letzteres überhaupt?
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Ariz
Tanja Rast
Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!
Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:
www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen
Yeva gab vor sich selbst zu, dass sie die Hauptstadt Bentanes Hald nicht mochte. Sie sehnte sich zurück zur Winterresidenz oben in den Bergen, wo die Luft frischer und nicht so drückend war, wo der Fluss noch nicht nach Fäulnis stank und im Prinzip nur aus flüssigem Dünger bestand.
Sie rümpfte die Nase und wedelte mit einem parfümierten Tuch vor ihrer Nase herum. Bestimmt roch sie selbst nicht besser als das grüne Wasser, das sich träge am Sommerpalast, der Hauptresidenz des Königreiches Bentane vorbeiwälzte. Bei dieser Schwüle halfen weder ein morgendliches Bad noch Duftöle. Sie fühlte sich erhitzt und verschwitzt und sehnte die kühlen Abende, ja selbst die eisigen Nächte herbei. Diese Gegensätze zermürbten sie langsam, aber sicher, und sie war doch erst seit vier Tagen im Palast.
Aber es half alles nichts. Ihre Anwesenheit stellte eine Pflicht dar. Ihr Onkel war verstorben und wurde seit Tagen für die Bestattung vorbereitet. Gleich nach seiner Krönung vor über zwanzig Jahren hatte er mit dem Bau seiner Grabkammer begonnen. In diesem Reich zahlte es sich aus, gut vorbereitet zu sein. Sobald sein Leichnam in der Grabkammer abgelegt worden war, stand die Krönung von Yevas Vetter auf dem Plan der Priester. Auch dieser Feierlichkeit musste Yeva beiwohnen, bevor er ihr hoffentlich erlaubte, sich wieder in den Winterpalast zurückzuziehen, wo sie seit frühester Kindheit gelebt hatte.
Sie tupfte sich Schweiß von der Stirn und betete verzweifelt um eine milde Brise. Zumindest im Palast der Toten sollte es kühler sein.
Sie wandte sich vom Fenster ab, das nur einen tristen Blick auf den grünen Strom vor den Palasttreppen bot, und schlenderte erschöpft von der ungewohnten Hitze zu ihrem Bett.
Nur eine Weile ausruhen, bevor sie nach einer Dienerin klingelte, damit diese ihr beim Ankleiden half und sie danach mit allem verfügbaren Erbschmuck behängte.
Yeva stöhnte verzweifelt auf. Sie wollte nach Hause. Dies war niemals ihr Heim gewesen. Vielleicht würde die schwüle Wärme ihr nicht so schrecklich zusetzen, wenn sie zumindest von Zeit zu Zeit die Hauptstadt hätte besuchen dürfen. Aber ihr Onkel hatte ihren Erziehern, Lehrern und Kindermädchen stets befohlen, mit ihr im Winterpalast von Tuvone zu bleiben.
Was hatte ihm das gebracht? Eine schwitzende Nichte, der vor der Bestattungsfeierlichkeit graute und die sich nichts sehnlicher wünschte als einen kalten Wind vom Gebirge her.
Auf jeden Fall würde sie keinerlei fromme oder segenswünschende Gedanken bei der Bestattung hegen, sondern sich nur weit weg von Hitze und Gestank wünschen. Wie Menschen hier leben und fröhlich aussehen konnten, war ihr ein Rätsel.
Sie streckte sich auf dem Bett aus, legte die Füße auf ein mit Troddeln verziertes Kissen und dämmerte Halbschlaf entgegen, als vor ihrer Zimmertür der Wachwechsel stattfand. Vier riesige Kerle, die mit viel Waffengeklirr die anderen vier ablösten. Phantastisch. Sie stopfte sich die Finger in die Ohren und wünschte, die Männer würden leiser sein.
Das Klopfen an der Tür vernahm sie trotzdem. Sie nahm die Finger wieder aus den Ohren, setzte sich auf, strich ihr Kleid glatt und rief die Aufforderung zum Eintreten.
Drei Dienerinnen betraten das Zimmer. Eine trug eine große Holzschatulle, in der sich ganz bestimmt der gesammelte Schmuck der Jahrhunderte befand. Die beiden anderen keuchten unter der Last einer Kleidertruhe.
Yeva seufzte. Wo war die Zeit geblieben, die sie zum Ausruhen hatte nutzen wollen?
»Gepriesene, es ist Zeit, sich umzukleiden.«
»Ich weiß.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, und die beiden Frauen mit der Kleidertruhe atmeten auf, als sie die schwere Kiste abstellten und den Deckel aufklappten.
Sie traten einen Schritt zurück und lächelten, als ob sie Beifall erwarteten. Yeva stand auf und ging langsam zur Truhe, um voller Abscheu hineinzusehen: Seide, Spitzen, noch mehr Spitzen und zahllose Ellen Tüll versprachen ungemütliche und viel zu warme Kleidung. Edelsteine in dunklen, beinahe blutigen Farben waren auf den schimmernden Stoff genäht.
Sie seufzte erneut, streckte die Arme zu den Seiten aus und schloss ergeben die Augen, als die drei Frauen sich regelrecht auf sie stürzten, ihr das schlichte Leinenkleid auszogen, sie mit Parfüm besprühten und ihr die Haare hochsteckten, bevor sie duftendes Öl auf Yevas Rücken verteilten.
Yeva hörte das Rascheln des Kleides, das ihr Vetter und wahrscheinlich alle seine Ratgeber für die Bestattung eines Königs als angemessen betrachteten. Sie fühlte glatten, weichen Stoff auf der Haut, viele Hände, die an ihr herumnestelten – und das Gewicht einer vollen königlichen Robe.
Artig hielt sie still und ließ sich ankleiden, bis eine Dienerin sie auf einen Hocker hinab drückte, ihr die Sandalen auszog und ein anderes Paar anzog.
Erst als ein Kamm an Yevas Haaren zerrte, öffnete sie die Augen wieder. Vor ihr stand ein hoher Spiegel, in dem sie erschrocken die Fülle des schwarzen Gewandes betrachten konnte. Sie sah aus wie ein gemästetes Schwein in schwarzer Spitze, verdammt!
Bald war sie zurück im Winterpalast, sagte Yeva sich entschlossen. Da konnte sie wieder bequeme Hosenkleider tragen, in denen sie atmen und sich bewegen konnte. Sie wusste sicher, dass ihren Vetter der Schlag treffen würde, sollte er sie jemals in einem dieser bequemen Kleidungsstücke sehen. Aber der kam ja niemals in den Winterpalast, insofern konnte es ihr egal sein, was er dachte.
Ein wenig war sie auf ihn gespannt. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Auch an ihren Onkel besaß sie nur ganz dunkle Erinnerungen. Als sie kleiner gewesen war, war er manchmal zu Besuch in den Winterpalast gekommen. Diese seltenen Visiten hatte er nach dem Tod ihrer Mutter eingestellt. Yeva war damals noch zu klein gewesen, um der Obhut ihrer Kinderfrauen entzogen zu werden. Der Leichnam ihrer Mutter war hierher geschafft und in einer der zahllosen Grabkammern beigesetzt worden.
Sie nahm sich vor, ihre Anwesenheit in Bentanes Hald zu nutzen, um das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Irgendeine Dienerin oder einer der stets anwesenden Leibwächter würde schon wissen, wo genau es sich befand.
Während die Frauen an ihr herumzupften, dachte Yeva über ihren Vetter nach. Er musste etwa in ihrem Alter sein und war nun außer ihr das einzige lebende Mitglied der Königsfamilie. Eigentlich eine Frechheit, dass er sich nicht einmal bei ihr hatte blicken lassen. Selbst wenn er vor Trauer außer sich war, sollte die simple Höflichkeit eines gemeinsamen Teetrinkens doch möglich sein?
Ihre Haare türmten sich über ihrem Kopf auf. Nun war die Schmuckschatulle an der Reihe. Beklommen fragte Yeva sich, ob die Dienerinnen wirklich wussten, was sie da taten. Sie hatte keine Lust, vollkommen aufgedonnert zum Gespött der Höflinge zu werden, weil die Frauen maßlos übertrieben.
Schwere Goldketten wurden ihr um den Hals gelegt, und Yeva hatte das Gefühl, von dem schieren Gewicht niedergedrückt zu werden.
Broschen, ein Diadem, Armreifen und kleine Klammern, die ihr auf die dunklen Locken geschoben wurden, vervollständigten das Bild überladenen königlichen Pomps.
Und das alles nur, um durch die Tunnel des Palastes der Toten hinter einem Sarg herzugehen. Wenn sie in diesem ganzen Zeug überhaupt gehen konnte und nicht nach wenigen Schritten vor Überanstrengung zusammenbrach. War das einem Trauerzug angemessen, wenn sie klimperte und klapperte wie eine Horde Wildtreiber?
Noch eine Woge Parfüm wurde über sie ergossen, dann verließen die Dienerinnen knicksend und mit gesenkten Blicken das Zimmer.
Yeva rang in ihrer Duftwolke nach Atem und hatte das Gefühl, dass die ganzen Öle und Wässerchen einen pelzigen Belag auf ihrer Zunge hinterließen. Das fing ja gut an.
Priester, Dienerinnen und natürlich die Leibwächter eskortierten Yeva fast zwei Stunden später durch hallende Flure des Palastes.
Sie war zornig. Die ganze Zeit hatte sie in dem steifen Kleid auf dem Hocker gesessen und darauf gewartet, dass man sie abholte. Warum waren die Dienerinnen so früh gekommen? Es fühlte sich an wie Schikane, als hätte Vetter Mynco sie wissen lassen wollen, wo ihr Platz in dieser Welt, diesem Königshaus und in der Wertschätzung ihres Vetters war. Sie hoffte von Herzen, dass er eine schrecklich herrschsüchtige Frau geheiratet hatte, die ihm nicht einen ruhigen Moment gestattete!
Sie vertrieb sich sehr angenehm die Zeit ihres Marsches durch scheinbar endlose Flure damit, sich diese Frau vorzustellen. Natürlich eine Adlige aus gutem Hause. Als zukünftiger König hatte ihr Vetter Mynco ja eine gewisse Verpflichtung. Außerdem achtete er bestimmt darauf, dass die Mutter seiner Erben eine gewisse Stellung innehatte und ihre Familie einen wichtigen Bündnispartner darstellte.
Diese Frau war gewiss wunderschön. Und kälter als die Winter in Tuvone. Yeva malte sich vergnügt aus, dass Myncos Ehefrau versessen nach Luxus war und stundenlang mit ihrem Mann zankte, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Ja, jetzt ging es ihr ein bisschen besser.
Ihre Laune hob sich noch ein wenig mehr, als sie die zweite Gruppe ihrer Leibwächter entdeckte, die vor einem großen Portal ausharrte und sich wohl diesem Zug anschließen würde. Vielleicht löste sie auch ihre jetzigen Begleiter ab.
Sie wusste nicht, wie viele Leibwächter Mynco als notwendig erachtete. Doch es schienen wahre Heerscharen zu sein, die sich ständig in Yevas Nähe aufhielten, stumm und wachsam neben ihr hergingen oder rund um ihre Zimmer patrouillierten.
Im Winterpalast hatte sie solche Einengungen niemals erleben müssen. Auch hier erstaunte sie es. Was sollte ihr hinter den schützenden Mauern von Bentanes Hald, hinter den Verteidigungsanlagen des Palastes schon zustoßen können?
Der Grund, warum sie den neuerlichen Zuwachs an Beschützern jetzt mit einem leisen Erröten und einem mühsam unterdrückten Lächeln begrüßte, ragte hünenhaft auf und sah in seiner Rüstung allzu gut aus: Luvon.
Was es genau war, das ihr so behagte, konnte sie nicht einmal sagen. Sie hatte den vagen Verdacht, dass es sein träges Lächeln war. Er hatte die Anlieferung ihres umfangreichen Gepäcks überwacht und dabei einfach nur still mitten im Zimmer gestanden, das durch seine jeden überragende Größe zusammenzuschrumpfen schien.
Als er Yeva angesehen hatte, hatte er gelächelt. Freundlich, ein Bauernlächeln, ohne Hintergedanken, dessen war sie sich sicher. Er war einfach der erste Mensch im Sommerpalast von Bentanes Hald gewesen, der sie freundlich angesehen hatte. Der Erste und bislang Einzige, der Yeva als Mensch wahrzunehmen schien – und nicht nur als Kostbarkeit der königlichen Familie, als Artefakt und Schatz.
Er und seine Kameraden öffneten nun das Portal und gingen voraus. Das Sonnenlicht stach Yeva zuerst in die Augen, bevor es auf ihrem Kopf brannte und sie unter zahllosen Schichten schwarzer Seide, Spitze und Tüll heftig zum Schwitzen brachte. Sie fühlte das warme Salzwasser an ihrem Körper hinabrinnen. Und sie war erst drei Schritte aus der relativen Kühle des Palastes getreten.
Die Leibwächtertruppe um Luvon schloss zu ihr auf. Jetzt befand sie sich in einem wahren Pulk von Begleitern. So war immerhin jemand in der Nähe, falls sie von der Hitze ohnmächtig werden sollte.
So riesig der Sommerpalast auch war, so stellte er nur ein Staubkorn im Vergleich zum Palast der Toten dar. Jeder Herrscher seit Anbeginn des Reiches war dort beigesetzt. Zusammen mit seinen Ehefrauen, Kindern, Neffen, Nichten, Geschwistern und engsten Freunden und Beratern. Sowie seinen zänkischen Schwiegermüttern und bestimmt dem einen oder anderen peinlichen Großonkel.
Die Sagen berichteten vom Reichsgründer, der nach dreihundert Regierungsjahren hier seine letzte Ruhe gefunden hatte. Vielleicht hatte sogar der schreckliche Verwandte in seiner Nähe liegen. Yeva kämpfte Gelächter nieder.
Was vielleicht einmal als Tempelbau über der Grabkammer des allerersten Königs begonnen hatte, stellte nun einen Irrgarten aus Gängen, Kammern, Treppen und kleinen Andachtsräumen dar. Die Größe der Heiligen Hallen wurde nach der Bedeutung des Königs bemessen, hieß es. Yeva dachte frech, dass die Großartigkeit sich wohl eher nach dem Reichtum des Herrschers richtete.
Der Palast der Toten erinnerte Yeva nicht nur von ungefähr an einen riesigen Weinstock. Jede Grabanlage stand für eine Traube. Und so ballten sich Bauwerke unterschiedlichster Epochen und ebenso mannigfacher Baustile zu einem kolossalen Komplex. Irgendwo unter all dem Marmor, Sandstein und Schiefer konnte ein Suchender den ersten Sakralbau vielleicht noch entdecken – wenn er lange suchte und viele, viele Kerzen zur Verfügung hatte. Und einen langen Faden, mittels dessen er nach etlichen Tagen oder Wochen auch wieder nach draußen fand.
Der kleine Tross hielt an. Es duftete nach dem Räucherwerk, das zwei Hilfspriester in kleinen Eisenpfannen rechts und links des anführenden Geistlichen verbrannten.
Posaunen erklangen. Yeva sah zur Seite. Dort schwang im Sommerpalast ein großes Tor auf. Mädchen tanzten heraus und warfen weiße Blütenblätter in die Luft und auf den Boden, bis der raue Pflasterstein unter einem dicken Teppich verborgen lag. Immer mehr Mädchen strömten hervor, bis die weiße Schicht vom Tor bis zum Palast der Toten reichte.
Nicht ein Lufthauch regte sich zwischen den beiden Gebäudekomplexen, und die Blütenblätter lagen still auf den Pflastersteinen.
Dann rollte der Katafalk auf den weißbesäten Hof. Größer, als Yeva jemals ein solches tuchverhangenes Gestell gesehen hatte, stark genug, nicht unter dem immensen Gewicht von Leichnam, Blumenschmuck und hölzerner Totentruhe zusammenzubrechen.
Keine Zugtiere, die das schwere Monstrum bewegt hätten. Tiere galten als unrein, wenn es um die Bestattung eines Königs ging. Stattdessen schufteten die höchsten Adligen des Landes, um den Katafalk über das Pflaster zu rollen.
Unter Posaunenklang schob die Prozession sich über den Hof bis zum Portal des Palastes der Toten. Dort standen weitere Priester, die inmitten einer Wolke von Räucherwerk kaum auszumachen waren.
Yeva sah Mynco – zumindest war sie sich ziemlich sicher, dass der Mann in schwarzen Roben und mit zahllosen Goldbehängen ihr Vetter sein musste. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater erschien Yeva deutlich, und niemand – nicht einmal sie selbst – trug so viel Geschmeide wie er.
Er ging alleine. Schade, keine streitbare Ehefrau.
Im Schutze der Rauchschwaden betrachtete sie ihn genau. Klein. Mit Müh und Not war er ebenso groß wie sie. Seine Hautfarbe war bleich, aber das konnte Yeva freundlich der Trauerzeit zuschreiben. Vielleicht war Mynco ja wirklich außer sich über den Verlust des Vaters. Das runde, blasse Gesicht des Thronfolgers jedenfalls wirkte vollkommen ausdruckslos.
Als sie strauchelte, war Luvon sofort an ihrer Seite, packte wortlos ihren Oberarm. Yeva fing sich leicht wieder, und der Leibwächter ließ sie umgehend los.
Die Adligen schoben und zogen den Katafalk in eine große Eingangshalle des Palastes der Toten, wo die Männer erst einmal verschnauften, während der Rest der Prozession in der backenden Hitze vor den Toren verharren musste. Nur Mynco samt seines Trosses sowie Yeva mit ihrer Leibwache konnten in den Schatten treten.
Die Adligen taten ihr leid. Wahrscheinlich hielten sie es für die höchste Ehre und Auszeichnung, dass sie sich so abschuften durften. Aber sie sahen elend, schweißtriefend und vollkommen erschöpft aus.
Nun traten die Priester vor. Die Luft wurde dick vom Rauch ihrer Kohlepfannen. Sie schoben einen leichteren Wagen herbei, der lautlos auf kleinen Rädern über den Marmorboden rollte.
Die Adligen wuchteten den vergoldeten Sarg auf ihre Schultern, wankten einige Schritte vorwärts, und die Priester schoben den Wagen unter die Totenlade.
Allgemeines Aufatmen, und Yeva legte die Hand fest auf ihren Mund, um nicht kichern zu müssen. Sie fing einen Blick von Luvon auf, der diese Bewegung offenbar gesehen und augenscheinlich richtig gedeutet hatte. Ein Lächeln blitzte in seinen Augen auf, und Yeva sah rasch zu Boden auf ihre staubigen Röcke, denn Luvons träges Lächeln war beinahe zu viel für ihre Selbstbeherrschung.
Es ging leicht bergan. Der Gang zog sich wie eine Spirale nach oben. Die Luft war erheblich kühler, schmeckte nach Sand und wie gekocht und dann abgekühlt. Wie oft kamen Menschen hier herein? Betraten die Priester wirklich täglich den gigantischen Totenpalast, um Speiseopfer und Blumen zu bringen?
Eines Tages, das wurde Yeva in diesem Augenblick klar, würde auch ihr Leichnam durch diesen steinernen, von Menschenhand geschaffenen Irrgarten geschafft werden, damit sie in einer Grabkammer nahe der ihres Onkels zur letzten Ruhe gebettet werden konnte. Sie erinnerte sich kaum an den Bruder ihrer Mutter. Ein ihr Fremder lag in dem prächtigen Sarg, der auf dem Wagen durch die Tunnel und Hallen gefahren wurde.
Sie empfand sich als eine Unbekannte zwischen all jenen, die sich um die Ehre stritten, den toten König ein paar Meter weit schieben zu dürfen. Mynco war ihr fremd, und sie wusste nicht, ob er Beileid wünschte, ob er überhaupt traurig war. Er sah sehr stolz und würdevoll aus, aber das konnte durchaus Maskerade sein. Sie betrachtete ihn genau. Wie alt mochte er sein? Sie meinte, dass er älter war als sie selbst. Aber die Erinnerung konnte täuschen. Mynco war pausbäckig, was schlecht zu seiner ernsten Miene passte, untersetzt und hatte leicht krumme Beine, die sich nach außen wölbten. Er blickte stur geradeaus und schritt langsam und sehr königlich hinter dem Sarg seines Vaters her. Aber Yeva sah kein Gefühl in seinem runden Gesicht.
Immer weiter schraubte sich der Weg nach oben, bis eine weitere Halle erreicht war, in der leichtbekleidete Mädchen auf dem Boden hockten und die Ankömmlinge furchtsam betrachteten. Sklavinnen, vermutete Yeva, die an den Mädchen vorbeiging und sie dabei neugierig ansah, bevor sie angesichts der tränennassen Gesichter den Blick abwandte. Ihr wurde übel, als sie verstand. Klein und kalt nistete eine Kugel Widerwillen in ihrem Bauch und behinderte sie beim Atmen. Als sie die Mädchen zuerst gesehen hatte, war sie dumm genug gewesen, sie um die leichte Bekleidung zu beneiden.
Yevas Onkel wurde in einem vergoldeten Sarg zu Grabe getragen. Garantiert trug sein Leichnam Schmuck und wertvolle Gewänder. Und war literweise mit Duftölen begossen worden, weil eine Leiche nach drei Wochen bei dieser Bruthitze natürlich stank. Das war alles, was der tote König an weltlichen Dingen in seine Grabkammer bekam. Das und eine Handvoll seiner liebsten Sklavenmädchen.
Der Trauerzug stoppte, und Yeva sah wieder zu den Mädchen, denen ein Priester ein Getränk in Weinschalen servierte.
Gift. Entweder, um die armen Dinger sofort umzubringen, oder um sie zumindest zu betäuben, sodass sie ohne Kreischen und Gegenwehr in die Grabkammer getragen werden konnten. Sobald der letzte Trauergast diese Kammer verlassen hatte, würde sie für den Rest der Ewigkeit versiegelt werden.
Yeva hoffte, dass es ein schnellwirkendes Gift war, sodass diese bedauernswerten Sklavinnen nicht in ihrem Gefängnis wieder aufwachen und noch einige Stunden oder Tage leben würden, bis sie erstickten oder verdursteten.
Sie schämte sich mit einem Mal, zum Königshaus zu gehören, den Toten im Sarg zumindest offiziell Onkel nennen zu dürfen. War es üblich, einem Verstorbenen solche Grabbeigaben zu schenken? Yeva fand es barbarisch und grausam. Widerlich und einfach nur scheußlich.
In einer Grabkammer nicht weit von Yeva entfernt regte sich etwas einen Herzschlag lang und fiel dann wieder zurück in den Staub der Jahrhunderte.
Nach einem anstrengenden Tag, der durch sein steifes Zeremoniell und die Opferung der Sklavenmädchen – obwohl nicht direkt beobachtet – gründlich verdorben worden war, wuchs das Heimweh wie ein wildes Kraut in Yeva. Sie wollte nur noch weg von all den Höflingen, ihrem fremden Vetter und dem Prunk des Königspalastes von Bentanes Hald. Das ganze Königreich konnte ihr gestohlen bleiben, wenn sie nur ungestört nach Tuvone zurückkehren und dort den Rest ihres Lebens verbringen durfte.
Sie wusste, wie sie auf gefühlsmäßige Anspannung reagierte, und hatte Angst, in diesem kaltherzigen Palast nachts mit rasendem Herzen und zerfasernden Bildern im Hirn zu erwachen.
Aber statt Ruhe und ein wenig Zurückgezogenheit stand ihr ein großes Bankett am Vorabend der Krönung bevor. Sie kannte nicht einen der Würdenträger, die sich im Großen Saal einfinden würden. Ihr war mehr als nur unbehaglich deswegen zumute. Sie wollte nicht daran teilnehmen, wagte aber nicht, Kopfschmerzen oder eine andere leichte Erkrankung vorzuschützen. Immerhin hing es auch von der Gnade ihres Vetters Mynco ab, ob und wann sie nach Tuvone zurückkehren durfte.
Sie betrachtete sich im Spiegel, während die Dienerinnen sie umkleideten. Dunkelgrün, immer noch trist genug, um dem Anlass der Trauerfeier angemessen zu sein. Aber während das Schwarz ihre Haut hatte teigig aussehen lassen, stand Grün ihr, und sie wusste es. Auch der Schmuck fiel deutlich bescheidener aus, was Yeva als Wohltat empfand.
Als sie fertig gekleidet, frisiert, parfümiert und geschmückt war, übergaben die Dienerinnen sie an die Leibwache. Vier Männer. Einer davon Luvon. Das versöhnte Yeva zwar nicht mit ihrem Schicksal, aber es wurde dadurch ein wenig leichter.
Seine Augen schienen einen Herzschlag lang aufzuleuchten, als er sie ansah, aber es war so schnell vorbei, dass Yeva vermutete, sich das nur eingebildet zu haben. Außerdem war der Mann nichts weiter als ein Soldat aus der unteren oder mittleren Volksschicht. Wenn sie so töricht wäre, diesen Umstand zu vergessen, konnte sie sicher sein, dass Luvon selbst und vor allem ihr Vetter es nicht einen Wimpernschlag lang aus dem Sinn verlieren würden. Andererseits war das vielleicht eine Möglichkeit, Mynco dazu zu bewegen, sie möglichst schnell wieder in den Winterpalast abzuschieben. Die verwilderte Base, die nicht einmal die Grundregeln des höfischen Anstands verstand.
Der Große Saal war im Prinzip eine überdachte Terrasse mit breiten Öffnungen in alle Richtungen. Seidenschals flatterten als Vorhänge zwischen Säulen, und eine muffig warme Brise strich durch die versammelte Oberschicht Bentanes.
Yeva versuchte, einen Überblick zu gewinnen, während sie durch diese Menschenmasse zum Hohen Tisch der Frauen geführt wurde. Männer und Frauen speisten getrennt, aber nur eine Reihe Topfpflanzen bildete die Grenzlinie zwischen den Tischen. Gespräche waren möglich – wenn Yeva denn jemanden gekannt hätte, mit dem sie sich unterhalten wollte.
Von der erhöhten Position ihres Platzes bekam sie zumindest einen Eindruck von Größe und Pracht des Saals. Das Gesamtbild von Seide, Spitzen, Vogelfedern und Edelsteinen schien ihr erdrückend. Hunderte von Gesichtern sahen zu ihr auf. Männer und Frauen des Reiches, die in der Hierarchie hoch genug standen, um zum Trauerbankett eingeladen worden zu sein.
Sie erspähte ausländische Würdenträger. Natürlich, dies war Myncos erster öffentlicher Auftritt als Nachfolger seines Vaters. Noch war er ungekrönt, aber das war nur noch eine Formsache, vermutete Yeva. Es gab niemanden, der ihm die Königswürde streitig machen könnte. Die weibliche Linie sprang nur im Notfall ein, falls kein männlicher Erbe überlebt hatte. Zumindest in der Theorie, denn in Bentane hatte noch nie eine Königin regiert. Die einzige Kandidatin für diese sehr unwahrscheinliche Nachfolge war Yeva. Und niemand hier konnte erwarten, dass sie – fern vom Hof erzogen, in Staatsdingen vollkommen ahnungslos und ohne die geringste Anhängerschaft – ihrem Vetter wider die Erbfolge in die Quere kommen würde.
Yeva sah sich um und versuchte, sich so viele Gesichter wie möglich einzuprägen. Die Abgesandten der Nachbarreiche waren leicht zu erkennen. Ihre Kleidung und auch ihre Tischmanieren unterschieden sich krass von denen Bentanes. Die Männer schienen sich auf ihren flachen Sitzkissen nicht ganz wohl zu fühlen, der Tisch dadurch noch niedriger als ihre Knie. Sie hockten da, fand Yeva erheitert, wie verkümmerte Affen.
Eine Dienerin in fremdartiger Kleidung huschte hinter den Ehrentischen entlang und fiel hinter Yeva auf die Knie. Die Dienerin verharrte schweigend, bis Yeva fand, das Mädchen lange genug ignoriert zu haben.
»Du darfst sprechen.«
»Gepriesene, Seine Königliche Hoheit Renan von Govil schickt dir dieses Geschenk und bittet um die Gnade einer Unterredung.«
Das Geschenk lag in der gesäuberten Schale einer Muschel, deren Deckel halb aufgeklappt war. Formvollendete Perlen schimmerten im Kerzenlicht. Yeva war reichen Schmuck gewöhnt, aber diese Halskette besaß eine schlichte Schönheit, die dem Erbschmuck Bentanes vollkommen abging.
Trotzdem verzog Yeva keine Miene. »In Bentane ist es nicht üblich, dass Herrscher fremder Reiche eine Frau aus königlicher Familie ansprechen.«
»Seine Königliche Hoheit Renan von Govil kennt und respektiert die Gebräuche Bentanes. Er bittet um Vergebung und die Unterredung, Gepriesene.«
Yeva spürte hinter sich eine Bewegung, hörte das Klirren einer Rüstung und verstand, dass Luvon soeben dicht zu ihr getreten war.
Sie wandte sich halb um und sah ihn fragend an. Sie brauchte Führung und Hilfe, denn sie war überfordert.
Er nickte nur, als sie ihn ansah, dann trat er wieder – bis auf die Geräusche seiner Rüstung – lautlos zurück.
Gut, ob es sich nun gehörte oder nicht, sie würde nicht alleine sein, und Luvons Nicken sagte ihr, dass er sie nicht einen Herzschlag lang aus den Augen lassen würde.
»Ich gewähre deinem König eine kurze Unterredung. Aber er muss sich im Klaren sein, dass ich Dinge des Staats und der Regierung nicht mit ihm besprechen werde.«
»Seine Königliche Hoheit Renan von Govil wird dir dankbar sein. Ich bin dir dankbar. Ich werde Seiner Königlichen Hoheit Renan von Govil deine Nachricht überbringen, Gepriesene.«
Wenn das Gespräch mit Renan ebenso verlief wie mit seiner Dienerin, würde Yeva gleich nach der Begrüßung zu schreien beginnen. Wie versessen musste ein Mann auf seine Titel sein, dass diese arme Dienerin die Ehrenbenennung in jedem Satz zu verwenden hatte?
Die Frau entfernte sich, und Yeva hob die Hand und krümmte die Finger in einem knappen Wink. Leises Klirren – zusammen mit dem Duft von Leder und einem frischgeschrubbten Männerkörper – kündigten Luvons gehorsames Nähertreten an.
»Ich werde diesen fremden Herrscher keinesfalls in meinen Privaträumen empfangen«, sagte sie leise.
Sie sah aus den Augenwinkeln, dass der Leibwächter nickte.
»Nun?«, fragte sie leicht ungeduldig nach. Sie hatte Sorge, dass Mynco irgendwie eingreifen würde, wenn er diese Unterhaltung bemerkte.
»Der Sonnensaal, Prinzessin. Dort arbeiten tagsüber die Verwalter des Reiches. Es ist deiner Position angemessen.«
»Und du kannst es gut überwachen?«
»Sehr gut, Gepriesene.«
Sie nickte, und der große Mann kehrte zu seinem Platz an der Wand zurück.
Sie musste den Kopf senken, denn ihre Wangen glühten aufgrund ihrer offensichtlichen Verwegenheit, einen fremden Herrscher zu empfangen. Noch mehr aber schoss ihr das Blut ins Gesicht, da sie soeben einen Leibwächter zu ihrem Vertrauten erhoben hatte. Luvon musste noch viel besser als sie selbst wissen, dass Yeva mit dieser Unterredung gegen die Gebräuche bei Hof verstieß, und doch machte er sich zu ihrem Komplizen in dieser Sache. Sein Wagemut erfüllte sie mit Aufregung.
Sie trank einen Schluck Wasser. Falls Mynco bemerkte, dass seine Base eine Vorliebe für einen gewissen stattlichen Beschützer entwickelte, wäre das gar nicht gesund für Luvon.
Doch bevor sie weiter nachdenken konnte, wie sie unbemerkt in den Sonnensaal gelangen sollte – nur von Luvon begleitet, um dort sehr ungehörig Renan von Govil zu treffen –, trat eine weitere Dienerin zu ihr.
Im Gegensatz zu dem Mädchen aus Govil sprach dieses freche Ding Yeva umgehend an: »Gepriesene, Seine Königliche Hoheit Mynco von Bentane gewährt dir nach dem Bankett eine Audienz.«
Damit verschwand das Mädchen wieder und ließ Yeva kochend vor Empörung zurück. Mynco war noch keine Königliche Hoheit! Das war es, woran sie sich festklammerte. Das war er erst morgen nach der Krönung. Bis dahin durfte er sich Gepriesener nennen, mehr nicht. Diese Überheblichkeit, ihr eine Audienz aufzuzwingen! Ebenso gut hätte sie ihn zu sich zitieren können. Aber sie hätte brav ihren eigenen Titel verwandt und keinen geborgten. Soeben hatte Mynco es vollbracht, seine Base gehörig gegen sich einzunehmen.
Sie sah zu den Tischen, an denen Renan von Govil sitzen musste. Dann auf die Muschelschale, in deren Innerem die Perlenkette milchig und weich leuchtete. Energisch schob sie das Geschenk in ihre Tasche und suchte die Fremden mit Blicken ab, wer denn der König von Govil sein könnte.
Die Männer sahen ungewöhnlich aus. Kurzes Haar, bartlos, die Haut ein weicher, heller Ton wie Blütenblätter. Keiner von ihnen war so überladen geschmückt wie Yeva oder der hassenswerte Mynco, wie die Bürger Bentanes. Doch Yeva sah reiche Stofffalten, in denen Silber blitzte, hier und da einen winzigen Ring im Ohrläppchen. Stattliche Männer, alle, wie sie da waren. Welcher war denn nun der König?
Sie hielt die Luft an, als sie den einen entdeckte, der sich gerader hielt, der mehr Würde als der Rest verströmte. Sie sah nur sein Profil, das von einer Adlernase dominiert wurde, die ebenso hart gezeichnet war wie seine kraftvolle Kieferlinie.
Dann trafen sich ihre Blicke. An Blumenkübeln und vielen duftenden Menschen vorbei. Zwischen den dahinhastenden, schwitzenden Dienern.
Seine Augen waren so strahlend blau wie Edelsteine, leuchteten in dem hellhäutigen Gesicht mit der eindrucksvollen Nase, den edel geschwungenen Augenbrauen und blieben ganz ruhig, keinesfalls frech oder anmaßend. Sie schimmerten wie Sterne am Nachthimmel, und Yeva hoffte, dass es ein Lächeln war, das sie so glänzen ließ.
Sie lief rot an, fühlte die Hitze aus ihrem Inneren aufsteigen und Busen und Hals rot färben. Rasch schlug sie die Augen nieder, starrte auf ihren vollen Teller und fühlte, wie ihre Ohren immer heißer wurden.
Sie lugte zu Mynco, der wie ein überfütterter, kleiner Junge an seinem Tisch hockte und mit fettigen Fingern mehr Essen in sich stopfte.
Renan hatte sie durch Dienerin und Geschenk höflich behandelt, und er sah auf jeden Fall hundert Mal mehr nach König aus als der dicke Mynco. Renan von Govil war ein großer, stattlicher Mann, dessen Haltung ebenso Würde ausstrahlte wie seine breiten Schultern Kraft.
Na gut. Zuerst die Audienz mit Mynco, dann das Treffen mit Renan im Sonnensaal.
Die Dienerin geleitete Yeva durch hallende Gänge, in denen es nach Räucherwerk, Fackelruß und viel Duftöl roch. Warum Mynco nicht einfach im Bankettsaal auf sie gewartet hatte, um sie mit sich zu führen, zeigte Yeva den Rangunterschied, und wie wichtig Mynco sich nahm.
Luvon folgte im angemessenen Abstand, und Yeva hoffte, dass er sich nach der Ankunft zur Audienz umgehend darum kümmerte, Renan ein wenig zu vertrösten.
Sie war müde und verschwitzt, als die Dienerin endlich vor einer hohen Tür stehenblieb. Wächter harrten bewegungslos davor aus. Das Mädchen klopfte, die Soldaten öffneten, und Yeva trat ein, ihren eigenen Leibwächter zurücklassend.
Mynco stand vor einem Altar, auf dem Schalen mit Räucherwerk Schwaden aufsteigen ließen. Er drehte sich sofort um, als Yeva den Raum betrat, betrachtete sie von oben bis unten, während sie in einem Knicks versank, der sie dank der die schweren Roben beinahe am Boden festhielt.
»Ah, Base Yeva. Tritt näher, Kind. Ich habe eine großartige Neuigkeit für dich.«
Er klang genauso blasiert, wie er aussah, fand Yeva, kam aber gehorsam zu ihm und betrachtete ihn interessiert. Er war blass, das Gesicht sah aus wie Hefeteig, in dem Rosinen – seine Augen – tief eingesunken waren. Er besaß kaum Wimpern.
»Das königliche Blut fließt in deinen Adern, meine Teure.«
Danke, das weiß ich. Und mir ist sogar klargeworden, dass ich derzeit deine Erbin bin, weil du kein herrschsüchtiges Eheweib hast, das dir ein halbes Dutzend Söhne schenkt.
»Ich werde dich heiraten.«
Sie wusste, dass sie ihn dämlich anglotzte. Mit allem hatte sie gerechnet – nicht damit. »Du wirst … mich …«
»Ich denke doch, dass die hohe Ehre dich nicht gänzlich unerwartet trifft.«
»Das ist nicht das Wort, nach dem ich suchte«, schnappte sie, als ihre Zunge die erste Schreckstarre abschütteln konnte.
»Du hast das richtige Alter, siehst gut genug aus und bist von königlichem Blut. Du wirst mir Söhne schenken. Du kannst gehen. Mehr habe ich dir nicht zu sagen.«
»Ich möchte nach Hause.« Yeva fand selbst, dass es jämmerlich klang.
»Mach dich nicht lächerlich, Base. Bentanes Hald ist dein Heim. Ich werde dich anständig behandeln, solange du mir keinen Grund für anderes Verhalten gibst.«
»Vetter, du verstehst mich nicht …«
»Ich erfasse an deiner unangemessenen Aufsässigkeit, dass diese Eröffnung dich überrascht. Dies erstaunt mich. Du solltest von deinen Erziehern besser vorbereitet worden sein. Eine Frau hat zu schweigen und solche Entscheidungen hinzunehmen. Trotz und Dummheit, Base Yeva, nehme ich nicht hin. Ich werde dir beides austreiben, solltest du bei unserem nächsten Zusammentreffen noch eines von beiden aufweisen. Jetzt geh. Ich habe zu tun.«
Ich muss fliehen, dachte sie verworren und stolperte zur Tür. Als hätten die Wachen nur auf die nahenden Schritte gehorcht, schwang das Portal auf, und Yeva schwankte auf den Gang.
Keine Dienerin, kein Luvon. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo ihre Zimmer lagen. Als ob sie dort Schutz zu erwarten hätte! Hastig und durch die voluminösen Röcke behindert eilte sie den Gang entlang, von dem sie hoffte, ihn auf dem Hinweg bereits beschritten zu haben. Bestimmt kam Luvon ihr gleich entgegen, nachdem er mit Renan gesprochen hatte.
Sie fühlte das Gewicht von Muschelschale und Perlenkette in ihrer Tasche. Aber was hatte das jetzt noch zu bedeuten? Ihr Vetter würde sie heiraten, und niemals würde sie Tuvone wiedersehen, wo sie glücklich und frei gewesen war.
Stattdessen würde dieser teigige Kerl sie in sein Schlafzimmer sperren und dort – wahrscheinlich weder rücksichtsvoll noch besonders gut – besteigen, um seine widerlichen, krummbeinigen Söhne in ihren Schoß zu pflanzen.
Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte!
Flucht, hämmerte es in ihr. Du kannst weglaufen.
Wohin? Wo würde Mynco sie nicht finden? In Tuvone würde er als Erstes nach ihr suchen. Er hatte ihr bereits Strafe angedroht, falls sie ihm nicht gehorchen sollte. Sie zweifelte nicht einen Herzschlag lang, dass er diese Warnung ernst gemeint hatte. Sie musste sich fügen. Sie wollte nicht, aber es gab keinen Ausweg.
Ein Schluchzen der Wut und Verzweiflung schüttelte sie. Dann keimte Hoffnung. Hatte er erst zwei oder drei Söhne, würde er seiner Frau vielleicht überdrüssig werden. Möglicherweise entließ er sie dann nach Tuvone in eine Art Exil. Drei, vier Jahre, dann durfte sie unter Umständen zurück nach Hause! Drei oder vier Jahre, in denen sie nachts in seinem Bett liegen und gefügig sein musste. Möglicherweise starb sie auch bei der Geburt oder im Kindbett – wie so viele andere Frauen im Reich. Nein, es war hoffnungslos.
Im Palast der Toten regte sich erneut etwas, hob den Kopf und schien zu lauschen. Doch kein Ton konnte durch die vielen Tausend Quadratfuß Stein dringen. Dieses Mal sank die Gestalt nicht zurück in die dicke Staubschicht.
Yeva bekam keine Luft mehr und kämpfte verzweifelt darum, nicht in einem der hallenden Flure die Fassung zu verlieren. Hier konnte ihr jederzeit ein Diener, ein Wächter begegnen, und niemals wollte sie diesen einfachen Menschen zeigen, dass auch eine hochgeborene Prinzessin manchmal nur noch heulte, weil es sonst nichts mehr gab.
Sie wollte ihre Gemächer erreichen, sich den schrecklichen Putz vom Leib reißen, ins Bett kriechen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Dort konnte sie dann weinen, sich wirre Pläne zu ihrer eigenen Rettung ausdenken, von denen sie keinen einzigen ausführen konnte und durfte.
Doch sie erreichte die Zimmer nicht. Etwas Großes trat ihr in den Weg, und Yeva konnte im flackernden Licht einer rußenden Laterne zuerst nicht erkennen, wer das war. Dann sah sie die Augen, und Erinnerungen überfluteten sie.
Renan von Govil. Der Sonnensaal. Luvon. Ein Treffen, das durch ein Geschenk und viel Höflichkeit eingeleitet worden war. Nicht jetzt. Vielleicht niemals.
Sie hob abwehrend die Hand, und der breitschultrige Mann überwand die kurze Strecke zu ihr mit raschen Schritten, die etwas von der Geschmeidigkeit eines großen Raubtieres hatten.
Schon war er bei ihr und legte ihr große, warme Hände auf die Schultern. »Gepriesene. Weine nicht. Erzähl mir, was dich so erschüttert hat.«
Sie schüttelte den Kopf. Auf gar keinen Fall! Weder würde sie sich an seiner breiten, allzu einladenden Brust ausheulen, noch konnte sie einem Fremden auch nur ein Wort von dem anvertrauen, was zwischen ihr und Mynco vorgefallen war.
Yeva verstand schlagartig und schmerzhaft, dass sie niemanden hatte, mit dem sie darüber sprechen konnte und durfte. Sie war alleine. Hier gab es nur Mynco, vielleicht Luvon, ganz bestimmt nicht Renan.
Der irrwitzige Plan, sich noch in dieser Nacht Luvon hinzugeben, flackerte wie ein Strohfeuer in ihrem entsetzten Hirn auf. Der Wächter würde ihr gehorchen müssen. Mynco würde schäumen, den Mann hinrichten lassen – und sie? Yeva wusste es nicht. Verbannung, Kerkerhaft oder Tod. Heiraten würde er sie nicht mehr wollen. Doch der Preis schien ihr zu hoch – nicht nur um ihretwillen. Vielmehr ging es ihr um Luvon, den sie schutzlos der Wut seines Königs aussetzen würde.
»Komm hier entlang«, sagte Renan sanft und führte sie zu einer großen Flügeltür. »Hier ist der Sonnensaal.«
Sie ließ sich von ihm leiten. Mit einem Mal schöpfte sie Hoffnung, die gleich aber wieder erlosch wie eine kleine Kerze, die Mynco in die Wasser des Flusses drückte.
Das Geschenk, Renans Sanftheit, die tiefe, ein wenig träge Stimme. Ein König, der nachts durch einen Palast streifte, um eine junge Frau zu suchen, die ihm ein Gespräch versprochen hatte. Seine Höflichkeit und offenkundige Besorgnis.
Aber nein. Was konnte Renan von Govil schon tun? Mynco um ihre Hand bitten, da der zukünftige Herrscher von Bentane sie doch zu seiner eigenen Braut auserkoren hatte? Lachhaft. Mynco war ein verwöhnter Weichling, der es gewohnt war, alles zu bekommen, was er nur wünschen konnte. Er würde seinen Anspruch nicht aufgeben, nur weil ein fremder König ihn darum bat.
Aber warum um Erlaubnis fragen? Konnte Renan nicht vielleicht einfach mit ihr durchbrennen?
Sie sah auf in das kantige Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen, der gebogenen Adlernase und den Sternlichtaugen.
Doch was würde das für sein Königreich bedeuten? Sie wusste nichts von Govil, hatte den Namen des Reiches heute das erste Mal vernommen.
War eine Frau – war sie selbst und höchstpersönlich – es wert, dass ein Mann ihretwegen einen Krieg riskierte?
Bitte, riskiere es. Rette mich. Bring mich fort von hier an einen Ort, an dem mein widerlicher Vetter mich niemals erreichen kann. Wo ich atmen kann, ohne Angst haben zu müssen, wo die nächtlichen Bilder mich nicht erreichen können. In ein Land, in dem ich ich selbst sein darf.
Aber kein verantwortungsbewusster Herrscher würde diese Grenze überschreiten, dessen war Yeva gewiss. Sie mochte Renan. Sein fremdartiges Äußeres imponierte ihr, seine sanfte Höflichkeit ließ ihre Knie weich werden. Aber wäre er der Mann, den sie in ihm zu sehen hoffte, wenn er im Schutze der Gastfreundschaft die Frau raubte, die ein anderer heiraten wollte? Wenn er die Hand des neu zu krönenden Königs von Bentane zurückstieß, weil Renan ein Weib besitzen wollte, das ihm nicht zustand? Wenn er sich so weit gehen ließ und einen Krieg gegen das ihm schutzbefohlene Volk riskierte, weil er die Prinzessin von Bentane in seinem Schlafzimmer haben wollte?
Nein. Er konnte sie ebenso wenig retten, wie sie auch nur daran denken durfte.
Er brachte sie zu einer Bank und drückte Yeva behutsam auf seidene Kissen nieder, bevor er sich selbst vor ihr auf ein Knie fallen ließ und ernst in ihr Gesicht sah.
Wie seine Augen leuchteten! Wie gut ihm das kurzgeschnittene Haar stand, das die beinahe militärische Strenge seines kantigen Gesichts noch betonte, den hellen Hautton Lügen strafte. So sah niemand aus, der sich darauf beschränkte, nur in Sicherheit zu verweilen und hinter den Linien zu regieren. Jeder Zoll an diesem Mann sprach von Kraft, der klare Blick von Entschlossenheit.
Doch nun lag eine gewisse Milde auf den Zügen, als Renan Yeva genau zu mustern schien. »Es ist offensichtlich etwas vorgefallen, Gepriesene, das dich aus deinem Gleichgewicht gebracht hat. Die denkbar schlechteste Gelegenheit also für mich, mein Anliegen vorzubringen und womöglich weiteren Kummer auf dein Haupt zu häufen. Gestatte, dass ich dich in deine Gemächer begleite. Wir können morgen sprechen.«
Morgen ist es zu spät. Morgen bekommt Mynco seine langersehnte Krone und wird vor versammeltem Hof seine Absicht erklären, mich zu seiner Königin zu machen. Ich wünschte, ich wäre tot. Nein, ich wünschte, er wäre tot.
Trotzdem nickte sie, kämpfte um ihre Fassung und schaffte ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es halbwegs echt und tapfer aussah. Renan wirkte wie ein Schrank, ein Fels. Massiv und beruhigend alleine wegen seiner muskelschweren Gestalt.
Er erhob sich und bot Yeva den Arm.
Sie wünschte sich, dass sie ihm sagen dürfte, wie es stand, was Mynco ihr gesagt hatte. Aber sie wagte es nicht.
Stattdessen legte sie die Fingerspitzen auf den starken Arm unter dem Seidenärmel und ließ sich von diesem wildfremden König, der ihr so vertraut erschien, aus dem Sonnensaal auf den Gang führen.
Dort stand Luvon mit vollkommen ausdrucksloser Miene und schloss sich dem königlichen Paar wortlos an.
Zwei Männer führten sie durch den nächtlichen Palast, und sie begegneten sonst keiner Menschenseele. Einmal meinte Yeva, einen gedämpften Schrei gehört zu haben. Aber keiner ihrer Begleiter zuckte auch nur. Sie musste sich geirrt haben.
Kurz vor Erreichen ihrer Gemächer fiel Luvon ein wenig zurück.
Renan lächelte auf Yeva herab. Schneeweiße, ebenmäßige Zähne blitzten dabei auf, bildeten einen Konterpunkt zu den strahlenden Augen. »Sorge dich nicht, Gepriesene. Schlaf in Ruhe. Wir sprechen uns morgen, wenn ich auf eine zweite Gelegenheit hoffen darf.«
Sie nickte wortlos. Es würde kein zweites Gespräch geben. Mynco würde seine Ehepläne in alle Welt ausposaunen, und Yevas Schicksal war besiegelt.
Sie trat in ihre Zimmer und blieb still stehen. Ihre Hände entwickelten ein Eigenleben und wollten sich ineinander verknoten. Mit einem Mal verließ die Anspannung Yeva. Sie warf sich aufs Bett und gab sich einem Tränenstrom hin, der ihren ganzen Körper schüttelte und ihr für etliche Augenblicke beinahe den Atem raubte.
Rotverquollen und mit Schluckauf setzte sie sich schließlich auf und riss sich im Dunklen den Schmuck und das allzu stoffreiche Kleid vom Körper. Sie warf alles auf den Boden, stürzte zu ihrer eigenen Wäschetruhe und zerrte aus deren Tiefen trotzig eines ihrer Hosenkleider hervor. Diese Nacht durfte sie noch sie selbst sein, alleine schlafen – eine kleine Gnadenfrist. Sie zog sich an, und erst dann zündete sie ein Licht an, setzte sich auf das Bett und weinte noch still ein wenig weiter.
Sie hatte Heimweh. Mehr als das erschien ihr die bisher gelebte Freiheit nun umso kostbarer, da Yeva wusste, dass das alles endete. Morgen früh war ihr Leben, wie sie es kannte und sorglos geliebt hatte, vorbei.
Sie blieb bei Kerzenschein sitzen und trauerte Tuvone nach. Den Wäldern, den langen Spaziergängen, dem Fluss, wie er nur nahe dem Winterpalast floss: sauber und frisch, kein träger Moloch, der sich dreckbeladen in seinem Bett wälzte.
Wie Mynco …
Sie fühlte Dunkelheit an ihrem Bewusstsein ziehen, um sie in die Tiefe zu tragen. Samtig und vertraut. Ein Teil von Tuvone, denn nun regte sich diese Gabe das erste Mal seit der Ankunft in Bentanes Hald. Yeva atmete tief ein, ließ sich auf die drängende Finsternis ein, die sie mit bunten Bildern lockte, ihr Dinge zeigen wollte, von denen Yeva nicht wusste, wo sie herkamen, ob sie wahr wurden oder wirklich geschehen waren. Bilder, die sie schon ihr ganzes Leben begleiteten. Wenn sie Angst hatte, kamen sie zu ihr aus der Dunkelheit, wenn sie sich nur darauf einließ.
Sie sah warmes Licht, Feuerschein. Davor eine dunkle Gestalt, die vornübergebeugt still stand, die Klinge eines Schwertes behutsam vor sich auf den Boden gestützt. Das Licht der Flammen wurde kälter, durchscheinend und wechselte die Farbe von rot zu grün.
Yeva fuhr hoch und atmete keuchend ein, als sie – dieses Mal ganz sicher – einen Schrei vernahm. Halberstickt und wie abgerissen klang er.
Auch jene Gestalt im Staub wandte den Kopf mit einem Ruck. Sehnige Finger umspannten fest ein Schwertheft. Kein Laut war zu vernehmen außer einem leisen Knarren wie vom Leder einer Rüstung. Kein Atemzug, kein Herzschlag. Wie eine nasse Decke lag Finsternis über der Gestalt.
Yeva saß noch einen Moment wie erstarrt auf dem Bett. Dann sprang sie auf und hastete zum Fenster, zerrte die Vorhänge beiseite und lehnte sich weit nach draußen, lauschte angespannt und meinte, nun auch Waffengeklirr zu vernehmen.
Eisig überlief ein Schauder sie. Wer auch immer dort kämpfte, wer auch immer angegriffen hatte: Mynco war nicht der Einzige, der dem Raub der Krone im Weg stand. War der fette kleine Prinz von Angreifern oder Aufständischen erst aus dem Weg geräumt, würde die Jagd auf die letzte Thronerbin, die Letzte des Königsgeschlechts beginnen.
Da war es nur ein äußerst schwacher Trost, dass sie einer Besteigung durch den Vetter entging.
Sie rieb sich die Stirn. War es dies, was die Bilder ihr hatten zeigen wollen? Oder stammten diese Zeichen aus der Vergangenheit des Reiches? Es war vollkommen einerlei und in ihrer jetzigen Lage ohne Bedeutung. Es brannte im Palast, die Bilder hatten ihr Flammen gezeigt. Götter, sie musste hier weg!
War ihr Flucht vor wenigen Stunden noch als unsinnig erschienen, begriff sie nun, dass dies ihre einzige Möglichkeit darstellte. Die Kämpfe fanden im Inneren des Palastes statt. Yeva sah Licht, das im Laufschritt durch die Gärten und halboffenen Gänge getragen wurde. Sie hörte Waffenklirren und nun immer deutlicher Schreie. Es wurde innerhalb der schützenden Mauern gekämpft. Kein Pöbel, der vor den Toren stand, sondern Bewaffnete im Allerheiligsten.
Yeva schnappte nach Luft. Das konnte einfach nicht sein! Nicht Bentanes handverlesene Garde! Doch falls die Angreifer vor Leibwächtern und Soldaten bei Yeva ankamen, war sie verloren. Es war egal, wer das Schwert führen würde, das die Letzte des Königshauses erschlug. Sie wusste nicht, wer Freund oder Feind war. Sie war auf sich alleine gestellt. Je schneller sie diese Tatsache ihrem benebelten Verstand vermitteln konnte, desto besser!
Sie rannte zu ihrer Truhe und zerrte eine Tasche ins Kerzenlicht. Nur ein Leinenbeutel, in den Yeva in fliegender Hast einen Mantel, ein zweites Hosenkleid, Sandalen und dann einer plötzlichen Eingebung folgend auch die Perlenkette von Renan stopfte. Den Schmuck des Königshauses warf sie zu Boden. Der konnte Verfolger ablenken. Sollten sie die grässlichen Klunker ruhig an sich nehmen. Alles, was ihr nun einen Vorteil, einen kleinen Vorsprung verschaffte, war ihr recht.
Sollte die Garde die Angreifer zurückschlagen, konnte Yeva hierher zurückkehren und hoffen, dass zumindest Mynco seine Krönung nicht mehr erlebte.
Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Mynco aus dem Weg bedeutete, dass zumindest ein zweites, ruhigeres Gespräch mit Renan möglich war. Dass auch der fremde König in diesem Moment vielleicht schon tot und erschlagen in einer Blutlache lag, verdrängte Yeva entsetzt.
Sie huschte barfuß zur Tür, lauschte und schob die Pforte dann auf. Ein hastiger Blick nach rechts, ein zweiter nach links. Der Gang lag leer und verlassen.
Sie wusste genau, wo sie sich zumindest für einige Stunden verbergen konnte. Nur musste sie den Palast der Toten erst einmal ungeschoren erreichen.
Sie erinnerte sich genau des Weges, den die Trauerprozession genommen hatte. Doch Yeva war sich sicher, dass es einen kürzeren und weniger offensichtlichen Weg gab.
Sie lief lautlos den Gang entlang. Jetzt – in diesem feindlichen Klima, im verhassten Palast – kam ihr das Leben in Tuvone zur Hilfe, wo sie sich nachts durch den Palast geschlichen hatte, um ihre Lehrer und Betreuer gegeneinander auszuspielen und zum Narren zu halten.
Ihr Orientierungssinn war gut, und sie war es zumindest ein wenig gewohnt, auch alleine klarzukommen – und sich zurechtzufinden, ihrem Gespür zu folgen.
Sie huschte lautlos durch leere, dunkle Flure, bis sie an die Außenseite des Palastes kam. Säulen trugen ein gewölbtes Dach, und in der Nachtbrise wehende Vorhänge waren alles, was nun noch zwischen ihr und der freien Fläche des großen Platzes lagen. Behutsam drückte Yeva den feinen Stoff zur Seite und spähte nach draußen.
Niemand zu sehen.
Sie atmete tief durch und schlüpfte zwischen Stoffstreifen ins Freie, klammerte sich am Vorhang fest und war so unsichtbar.
Es war gar nicht so weit bis zum Eingang des Totenpalastes. Fackeln brannten rechts und links des Tores, das selbst um diese Tageszeit einladend offen stand.
Würden dort Priester sein? Oder lag der gewaltige Bau der verstorbenen Herrscher Bentanes nachts wirklich verlassen?
Yeva sah um sich, aber die Kämpfe schienen sich auf andere Bereiche des Palastes zu beschränken. Noch. Die Geräusche allerdings waren lauter geworden und schienen auch näherzukommen. Sie trieben Yeva zur Eile an.
Sie stieß sich ab, floh aus der Deckung der Vorhänge und rannte mit langen Sätzen über den freien Platz direkt auf den Eingang des Palastes der Toten zu.
»Halt!«, brüllte ein Mann hinter ihr.
»Da rennt jemand!«, schrie ein Zweiter.
Yeva beschleunigte nur noch mehr. Sie flog nahezu durch das Portal, warf es hinter sich zu und starrte entsetzt, da es keinen Riegel gab. Natürlich nicht. Wer sollte das Tor denn von innen verschließen? Staubige Königsleichen?
Lampen brannten rund um sie herum, und Yeva ergriff eine kleine Öllaterne, deren gelber Schein durch Glas geschützt war. Yeva konnte nicht darauf hoffen, dass der gesamte Totenpalast beleuchtet war.
Sie lief wieder los. Noch lange war sie nicht außer Atem. Unter anderen Bedingungen hätte ihr dieses Versteckspiel sogar Spaß machen können – um Mynco zu foppen und zur Weißglut zu ärgern, dass seine Braut lieber zu den Toten flüchtete, als in sein Bett zu kommen. Aber Mynco war möglicherweise schon erschlagen. Wer auch immer hinter ihr her war: Es erschien ihr besser, sich zu verbergen und morgen bei Tageslicht vorsichtig Ausschau zu halten, wer als der Sieger aus dieser Nacht hervorgegangen war.
Jetzt galt es, einen stillen Winkel des Totenpalastes zu finden – und zwar schnell.
Das Glas schützte die Flamme vor Zugluft, sodass Yeva ungestört laufen konnte, ständig auf der Suche nach einem kleinen Nebengang, der weit genug entfernt vom Hauptportal lag. Noch hörte sie keine Verfolger. Doch sie war entdeckt worden.
Erkannt?
In den letzten Tagen war sie nur in Staatsroben herumgelaufen, beladen mit genug Schmuck für vier bis fünf Frauen. Sie bezweifelte, dass jemand sie in ihrem jetzigen Aufzug für die Erbprinzessin halten konnte. Möglicherweise für eine Dienerin oder Magd. Und eine solche würde man doch nicht unbedingt verfolgen, nicht wahr?
Die Hitze des Tages hielt sich noch in dem gewaltigen Gräberkomplex. Die Luft roch schwer und süß nach Räucherwerk, Harzen und Parfumölen. Überreste der Bestattung, vermutete Yeva, die sich an solch normalen Dingen des Lebens festklammerte, um nicht zu sehr auf das Poltern von Männerstiefeln zu achten.
Fieberhaft rannte sie die Wendelschnecke nach oben, immer weiter nach oben, bis ein dunkler Gang sich auftat, in dem keine Lampen brannten. Perfekt!
Yeva hetzte in den Tunnel, leuchtete vor sich den Boden ab, der ebenso sauber war wie überall sonst im Tempelbezirk. Auch hier brodelte die Luft schwer von Düften.
Sie lief, bis sie zu einer weiteren breiten Spirale kam, die stufenlos in die Tiefe führte.
»Da war Licht! Es bewegt sich!«, brüllte jemand hinter ihr, und vor Schreck hätte sie beinahe die Lampe fallen lassen. Stattdessen sah sie sich in wachsender Angst nach einem Versteck um, entdeckte nichts – und blies die Lampe aus.
Finsternis, vollkommen, tintenschwarz fiel in den Gang, und nun konnte Yeva von der ersten Wendelrampe aus schwachen Lichtschein und Bewegung erkennen.
Sie unterdrückte mühsam ein Keuchen des Entsetzens und tastete sich in die Spirale hinein. Immer an der Wand entlang. Es gab keine Stufen, die sie hinab fallen konnte, und so entwickelte Yeva eine gewisse Geschwindigkeit, während sie über und hinter sich die gefürchteten Männerstiefel poltern hörte. Sie selbst war lautlos auf nackten Sohlen unterwegs und flog Runde um Runde hinab.
Ihre Augen tränten, so sehr bemühte sie sich, die absolute Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Sie brauchte eine kleine Nische, in die sie kriechen konnte, sodass die Männer an ihr vorbeirannten.
In der Dunkelheit erhob sich die Gestalt, richtete sich langsam, beinahe würdevoll auf, ließ den Kopf nach vorne auf die Brust sinken, während sehnige Finger das Schwertheft erwartungsvoll umspannten. Kein Atemzug, um den Körper auf einen möglicherweise bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Aber alle Sehnen waren angespannt, Muskeln stahlhart in Erwartung eines Einsatzes. Leise vibrierte der Stahl des Schwertes, als die Schwingungen des Körpers sich durch das Heft übertrugen. Einsatzbereit und wachsam stand die eindrucksvolle Gestalt still da. Wartete ab wie seit Jahrhunderten. Doch jetzt mit einer neuen Aufgabe, die greifbar schien.
Yeva floh die Wendelung weiter hinab. Wie tief befand sie sich nun? War sie noch im Grabbau selbst, oder wand diese Spirale sich bis unter die Erde?
Sie hatte jedes Gefühl für Entfernungen, für die zurückgelegte Strecke vollkommen verloren. Nur noch die Wand an ihrer Seite und die Schritte hinter ihr hatten Bedeutung für sie. Die Männer waren ebenfalls in der schneckenförmigen Rampe in die Tiefe unterwegs. Sie hatten Licht und bewegten sich rasch, während Yeva in Dunkelheit entlang der Außenwand der Spirale rannte.
Ihre Füße schmerzten von der Kälte des glatten Steins. Hier lag eine dünne Sandschicht, vielleicht war es auch Staub. Sie hinterließ eine Spur!
Ihre Atemzüge kamen nun rascher, und sie kämpfte darum, so leise wie möglich zu sein. Hier musste doch irgendwo eine Nische sein! Irgendein Versteck, ein abzweigender Gang, wo sie sich hinter Grabschmuck verbergen konnte!
Mit einem Mal nahm sie vor sich ein Schimmern wahr, bog zur Seite ab und fand sich in einem breiten Gang, der durch blaue Lampen beiderseits beleuchtet wurde. In winzigen Nischen standen die Lichter und spendeten gleichmäßiges Licht.
Yeva atmete schaudernd tief ein und rannte los wie von Geistern der Unterwelt gejagt. Das Licht half ihr – aber es würde auch ihren Verfolgern dienen. Irgendwo musste ein Versteck sein!
Aber der Gang war gerade, schnörkellos, die Leuchten die einzige Verzierung.
Yeva hetzte weiter, bis vor ihr ein großes Portal erschien, flankiert von zwei mannshohen Leuchtern, in denen blaue Flammen geräuschlos brannten.
Fahrig und mit rasendem Herzen sah sich Yeva um und entdeckte endlich ein Versteck: eine kleine Nische, in der eine Steinfigur stand. Yeva quetschte sich an der Statue vorbei in die schützende Dunkelheit hinter der steinernen Gestalt, atmete lautlos tief ein, machte sich so klein wie möglich.
Sie wusste, vor wessen Grab sie angekommen war, hinter wessen Statue sie sich nun verbarg: Hier lag der Gründer des Reiches. Die Schriftzüge über dem Portal schrien das in die Welt hinaus. Hier lag Belram der Große, der Erste und Einzige. Der Mann, der den Palast der Toten begründet, die wilden Völker geschlagen und Bentanes Hald gebaut und befestigt hatte. Der Herrscher, der angeblich dreihundert Jahre lang regiert und zahlreiche seiner Söhne, Enkel und sogar Urenkel überlebt hatte, bevor er das weitere Schicksal von Bentane in die Hände des jüngsten Sohnes gelegt hatte. Ihr Urahn.
Bitte, bitte, Belram, wenn du mich hören kannst. Ich bin deine Tochter. Die letzte Erbin deines Hauses, wenn meine Befürchtungen und Hoffnungen wahr sind und Mynco tatsächlich ermordet worden ist. Ich habe solche Angst, und sie sind hinter mir her. Großer Belram, Vater der Könige, Herrscher von Bentane. Ich brauche Hilfe, ich habe solche Angst, dachte sie panisch, während die Schritte näherkamen.
»Hier! Spuren im Staub. Eine Sackgasse. Sie muss hier irgendwo stecken. Das Miststück haben wir gleich.«
Sie zitterte krampfhaft, klammerte sich an der Statue fest und machte sich so klein wie möglich. Gleich waren sie bei ihr, würden sie aus dem Versteck zerren. Sie konnte kaum noch atmen. Ihr Mund war staubtrocken. Jeder Muskel bebte, jedes Haar hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen schmerzten.
Sie fühlte den Boden vibrieren. Männerstiefel, nahende Gefahr, heranrasender Tod – oder Schlimmeres.
Warum hatte sie Renan nicht gesagt, was sie bewegte? Vielleicht hätte er sie fortgeschafft. Vielleicht wäre er jetzt noch bei ihr.
Renan. Luvon. Mynco.
Lebte überhaupt noch einer dieser drei? War denn niemand hier, um sie zu schützen?
Licht fiel auf sie, und Yeva unterdrückte nur durch größte Anstrengung einen Schrei des Entsetzens.
»Hab ich dich, Schlampe.«
Eine Hand griff nach ihr, und Yeva wich weiter zurück. Der Boden bebte erneut, dann ein Donnerschlag wie von berstendem Stein. Ein Felsbrocken so groß wie Yevas Faust raste aus der blauschimmernden Dunkelheit und traf den Kerl am Kopf. Blut spritzte. Die Augen des Mannes rollten in den Höhlen zurück, bis nur noch rotgeädertes Weiß zu sehen war. Dann brach der Angreifer zuckend zu Boden, und eine zweite Gestalt schob sich in Yevas Gesichtsfeld.
Die blauen Flammen reflektierten von der Rüstung. Winzige Metallscheiben auf Leder, jede kleine Platte ein funkelnder Stern.
Hünenhaft, breitschultrig in einem Panzer, der die Gestalt noch eindrucksvoller aussehen ließ. Feine, beinahe weiße Haare in einem Pferdeschwanz, ein Schwert, ein Rundschild.
Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr, wie um sie vor ihren Verfolgern abzuschirmen.
Sie sah nur lange Beine in Panzerschienen, den breiten Rücken und eine Haltung, die an ein großes, träge lauerndes Raubtier erinnerte. Bereit zum Zuschlagen.
Belram, Vater der Könige, der Große und Einzige. Ich danke, danke dir. Sie konnte kaum noch klar denken, nur die hünenhafte, wuchtige Gestalt vor sich anstarren, die sich hart umrissen gegen den gelblichen Lampenschimmer der Angreifer abzeichnete, vom blauen Licht der Grabkammer umschlossen.
Renan? Nein, nicht Renan. Noch schwerer und größer als der fremde König.
Yeva verstand erst jetzt, dass ihr Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen.
Dann griffen die Kerle an, die ihr bis hierher gefolgt waren. Sie konnte an dem Hünen vorbei nicht genug sehen, wusste nicht, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich rasant. Nicht mehr nur Angst um sich selbst, sondern auch um ihren unvermutet aufgetauchten Retter und Verteidiger.
Er sprang vorwärts, mitten in den Pulk hinein. Blaues Licht gleißte auf der Schwertklinge, die der Mann in einer kraftvollen Bewegung zur hohen Decke des Ganges zucken ließ und dann mit einem gewaltigen Hieb niedersausen ließ.
Sie spaltete einen Schädel, bevor sie direkt am Heft abbrach.
Yeva stieß ein entsetztes, atemloses Keuchen aus, sprang in der Deckung der Statue auf die Füße und umklammerte den Stein, sog Atem in ihre Lungen und hielt einen Schrei nur knapp zurück.
Der Mann flog zur Seite, riss den Arm in einer knappen, kraftvollen Bewegung hoch und rammte einem weiteren Angreifer den Ellenbogen gegen den Kehlkopf. Es knackte und knirschte entsetzlich. Der Widersacher ging wie ein knochenloses Bündel zu Boden, und nur einen Wimpernschlag später war Yevas Verteidiger mit dem Krummsäbel des Toten bewaffnet und wirbelte leichtfüßig in einen blaublitzenden Windmühlenschlag, der sich in rote Tropfenspuren verwandelte und Blut gegen die Gangwände schleuderte.
Körper schlugen schwer auf dem Boden auf. Schwarze Lachen breiteten sich aus, und der Hüne sprang über die Erschlagenen hinweg und setzte drei Männern nach, die ihr Heil in der Flucht suchen wollten.
Sie kamen nicht weit. Yevas Retter war zu groß und schnell. Er holte sie leicht ein, und wieder blitzte der Stahl auf, schwarzschimmernd im blauen Licht.
Die Präzision des Hünen war atemberaubend. Seine Schnelligkeit erschreckend angesichts seiner hochaufragenden Größe. Nichts, was so schwer und groß war, sollte sich so rasch bewegen können. Yeva spürte, wie ihre Lippen sich verzogen. Sie hätte beinahe mit den Fingerspitzen nach ihrem Mund getastet, bis sie verstand, dass sie lächelte.
Nicht ein Laut von dem Hünen, der nach dem letzten Fall eine starre Haltung wie zu einem letzten Gruß einnahm, bevor er zu Yeva, die noch hinter der Statue Belrams stand, zurückkehrte.
Unwillkürlich hielt Yeva die Luft an, als sie nun das erste Mal das Gesicht ihres Verteidigers klar sehen konnte.
Sonnenverbrannt, sodass seine Haut dunkler noch als ihre eigene war, wie gegerbtes Leder spannte sie straff über einem totenschädelartigen Gesicht, in dem nur die Augen zu leben schienen.
Ihre Farbe war im blauschimmernden Licht nicht zu erkennen, aber sie leuchteten wie von einem inneren Feuer erhellt.
Yeva musste den Kopf in den Nacken legen, um zu diesem dunklen, starren Gesicht aufzusehen.
Einen Herzschlag lang bohrte sich der Blick der flackernden Augen in ihre, dann zuckte ein Mundwinkel, und der Hüne fiel vor ihr auf ein Knie, beugte den Nacken und verharrte still, die bluttriefende Waffe auf den Boden aufgestützt.
Ehrbezeugung. Götter. Wie konnte er wissen, wer sie war? Woher war er so plötzlich genau in dem Augenblick aufgetaucht, da sie ihn gebraucht hatte?
Vorsichtig kam sie hinter der Statue Belrams hervor, trat auf Mauerbruchstücke, auf feinen Staub, bis sie direkt vor ihrem Retter stand, der sich nicht rührte, nur vor ihr kniete, nicht zu ihr aufsah.
»Danke«, brachte Yeva leise hervor und wusste, dass es nicht genug war. Doch sie zitterte am ganzen Körper und war vor Entsetzen und Angst zu Tode erschöpft. Die Anwesenheit ihres Retters und seine flackernden Augen trugen nicht dazu bei, dass das Entsetzen sich legen konnte. Kein Mensch hatte solche Augen, in denen Flammen loderten und irrlichterten.
Ihr Blick flog durch den Gang, der vor wenigen Augenblicken kahl, schmucklos und sauber gewesen war.
Jetzt war er ein Schlachtfeld. Blutlachen und schwarze Spritzer verunzierten den kalten Stein und zeugten von der Gewalt, zu welcher der Hüne fähig war.
Jetzt erst begriff sie, was sie hörte. Ihren eigenen Atem, ihren rasenden Herzschlag in den Schläfen. Kein Laut von jenem Krieger, der wie ein Göttergeschenk zu ihrer Rettung gekommen war. Kein Knarren von Leder, kein Klirren oder Schaben von Metallplatten seiner Rüstung.
Er atmete nicht. Der gewaltige Brustkorb verharrte in totaler Reglosigkeit, die Schultern hoben und senkten sich nicht.
Nach der blitzartigen Bewegung, nach der Vernichtung, die er so überraschend gesät hatte, sollte er keuchen von der Anstrengung. Aber er war wie die steinerne Statue hinter ihr. Vollkommen still.
Sie starrte auf ihn hinab, auf das wie gesponnenes Stroh wirkende helle Haar auf dunkler Haut, auf den starken Nacken.
Demut oder sklavischer Gehorsam?