Auflösungen. - Marlene Streeruwitz - E-Book

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Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

Marlene Streeruwitz' Roman »Auflösungen.« entwirft ein Bild des heutigen New York New York im März 2024, wenige Monate vor der Wiederwahl Donald Trumps. Die Wiener Lyrikerin Nina Wagner hat die Sorgen um den richtigen Umgang mit ihrer Tochter und die Lügen ihres Ex-Mannes in Wien zurückgelassen und unterrichtet für ein Semester an einer New Yorker Universität. Doch die Umstände in den USA haben sich mit der Pandemie weiter zugespitzt. Die Freunde sind einem noch schärferen Lebenskampf ausgesetzt, und alle Kultur droht verdrängt zu werden. »Auflösungen.« ist ein Nachruf auf verloren gegangene Wünsche und die Bestandsaufnahme zerstörter Hoffnungen.

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Seitenzahl: 519

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Marlene Streeruwitz

Auflösungen.

New York.

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Nina Wagner, 56, Lyrikerin aus Wien, unterrichtet in New York. Im Gehen durch ihr sehr persönliches New York erzählt sich ihr ganzes Leben, sie denkt mit Klugheit, Humor und einer gehörigen Portion Selbstironie über ihre Lieben, ihre Familie und die Gesellschaft nach. Dabei beobachtet sie die US-amerikanische Umgebung und findet unerwartete Erkenntnisse über ihre aus Wien mitgebrachten Probleme. Durch einen Gewaltakt auf der Straße wird sie von der Beobachterin zur Teilnehmerin dieser Gesellschaft, bevor die Ereignisse aus Wien sie wieder einholen und viele Rätsel sich lösen.

 

Marlene Streeruwitz’ grandioser New-York-Roman ist eine Feier des Flanierens und Beobachtens, eine Hommage auf eine berauschende Großstadt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019), die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021), der Roman »Tage im Mai.« (2023) sowie die Bände »Handbuch für die Liebe.« und »Handbuch gegen den Krieg.« (2024). 

Inhalt

Volume 1.

Nach der Rückkehr aus Bozen.

Volume 2.

Volume 1.

Standing Still and Walking in New York.[1]

Die Frau war sofort zu sehen. Die Frau lag ganz vorne auf dem Boden. Sie war vom Gate her den Gang heruntergekommen und hatte die Frau liegen gesehen. Die Einwanderungsbehörde für Personen mit ESTA und Visa Waiver aus der europäischen Union die erste Abteilung. Es stand kaum jemand an, und die Frau war zu sehen. Die Frau lag knapp an der breiten, leuchtend gelben Linie, über die eine in die USA eintrat. Diese leuchtend gelbe Linie, die so sorgsam bewacht wurde. Sie war einmal achtlos über diese Linie geraten und war von dem Sicherheitsbeamten sofort mit der Deportation bedroht worden.

Sie fädelte sich in die langen Gänge zwischen den Seilen hin zur Passkontrolle ein. Ging in der vorgeschriebenen Einserreihe. Wanderte um die Kurven. Schaute den immer selben Personen bei den Kehren wieder ins Gesicht. Um sie. Spanisch sprechende Passagiere. Dann standen sie alle lange.

Sie konnte die Frau auf dem Boden nicht mehr sehen. Sie dachte, dass sie wegen dieser Frau so lange stehen bleiben mussten. Sie stellte sich vor, dass Rettungsleute diese Frau versorgten. Sanitäter. Die Frau war sehr still gelegen. Ein Kleiderbündel.

Sie standen. Jemand sagte, dass sie schon 15 Minuten da herumstünden. Sie stand still. Sie hätte auf ihr Handy schauen müssen, die Zeit zu wissen. Riesige Plakate wiesen darauf hin, dass nicht telefoniert werden durfte. Rund um sie sprachen alle an ihren Handys. Sie kramte ihren Pass heraus und hielt den fest. Sie wollte keine Probleme. Es half nichts, die Zeit zu wissen. Es konnte Stunden dauern, bis eine durch die Einwanderungsbehörde durch war. Sie starrte vor sich hin. Sie wollte nichts riskieren und das Handy in die Hand nehmen. Sie musste nach New York kommen. Ihr Seminar sollte am nächsten Tag beginnen. Der neue Anfang.

Dann die Frau wieder. Beim Vorrücken. Immer, wenn sie rechts außen diese Kehre machte, konnte sie die Frau sehen. Die lag, wie sie sie von weitem gesehen hatte. Regungslos. Auf dem Bauch. Ein Arm neben dem Kopf. Der linke Arm über die gelbe Linie geworfen. Das Gesicht nach links gewandt. In Richtung USA. Beim Näherkommen. Dunkelbraunrot Erbrochenes lag vor ihr ausgebreitet. »Das Erbrochene ist schon in den USA.«, dachte sie. »Entry permitted.«

Ein Sicherheitsbeamter kam gegangen. Er ging langsam. Blieb weit vor der Frau stehen. Ob sie Medikamente nehme? Er rief das der Frau zu. Er sprach in ein Walkie-Talkie. Eine Sicherheitsbeamtin kam. Sie ging ebenso langsam. Sie trug riesige Bündel Papierhandtücher. Sie trat an die Frau heran und ließ die Papierhandtücher auf das Erbrochene fallen. Dann ging sie wieder weg. Der Beamte schlenderte auf seinen Posten zurück. Er teilte die Passagiere in Gruppen ein, die sich dann an den ihnen bestimmten Schaltern anstellen mussten. Er schickte Gruppen an die Schalter ganz rechts. Die Personen mussten an der Frau vorbei. Auf beiden Seiten wurde an der Frau vorbeigegangen. Alle. Jede Person. Es wurde kurz vor dieser Frau am Boden verharrt. Dann gingen alle sehr schnell an der Frau vorbei.

»Bürokratenballett.«, dachte sie. Die erste Annahme war wohl, dass diese Frau sich die Einreise in die USA erschleichen wollte. Dass sie etwas eingenommen hatte, das sie erbrechen machte. Damit sie abtransportiert werden müsse und und so die Einreise geschafft hätte. Wahrscheinlich kam das oft vor. Beide. Der Beamte und die Beamtin. Sie waren gelangweilt gewesen. Verlangsamt. Ihr. Ihr machte die Bewegungslosigkeit der Frau Angst. Sie hoffte, irgendjemand würde sagen, dass er oder sie Mediziner sei, und sich zu der Person hinunterbeugen. Aber niemand kam der Frau nahe. Sie lag still. Der Berg von Papierhandtüchern neben ihr aufragend. Blütenweiß. Oben.

Sie umklammerte ihren Pass. Sie konnte nichts tun. Niemand konnte etwas tun. Niemand durfte etwas tun. Die Bürokratie musste ihren Lauf nehmen. Die Frau musste nachweisen, wirklich krank zu sein. Und jeder, der sich der Frau zubeugen wollte. Es würde eine Komplizenschaft vermutet werden und die Sache noch komplizierter machen. Ein Komplott würde vermutet werden. Alle würden zum Verhör abgeführt werden.

Sie kannte das. Sie kannte diese Räume, in denen eine auf die Vernehmung warten musste. Sie war da immer wieder gesessen. Vor langer Zeit. Vor sehr langer Zeit. 15 Jahre? Nein, mehr. Sie hatte an der Universität von Tucson ihr Seminar abgehalten. Abhalten wollen. Der Franzi war beim Turnen ein Mattenwagen aufs Bein gefallen, und das Bein war gebrochen. Der Georg hatte sich um das kranke Kind nicht kümmern können. Nicht rund um die Uhr. Der hohe Beamte. Sie. Sie hätte die Franzi mitnehmen wollen. Mit der Franzi ein halbes Jahr in den USA leben. Aber der Georg hatte das nicht erlaubt. Er hatte darauf bestanden, dass die Franzi in Wien bleiben müsse. Er hatte mit dem Gericht gedroht. Sie hatte nach Wien zurückfliegen müssen. Aber eine Mitarbeiterin an der Universität hatte die verfrühte Abreise damals nicht aus ihrer Akte bei der Homeland Security ausgetragen. Ihre Akte nahm seit damals an, dass sie in den USA verblieben war. Also widerrechtlich. Das war immer schnell geklärt. Aber sie hatte oft stundenlang warten müssen, diesen Stempel für die Einreise zu bekommen.

Das war auch interessant gewesen. Während der Covid-Epidemie und der bürokratischen Bewältigung davon. Sie war wieder einmal weggeführt worden und hatte in einem Warteraum sitzen müssen. Sie hatte die Maske abnehmen wollen. Luft holen. Sie hatte die Maske sofort wieder aufsetzen müssen. Genau vorgeschriebene Vorgänge. Sie hatte nur kurz aufstehen wollen, sich zu bewegen. Sie war angeschrien worden und von da an bewegungslos sitzen geblieben. Aber die Beamten und Beamtinnen rundum. Die saßen da hinter hohen Kathedern. Man musste zu ihnen hinaufschauen. Die waren aber alle in den Raum nach rechts verschwunden. Waren nach langem erst wieder herausgekommen. Kopfschüttelnd. Verärgert. Vergnügt. Plaudernd. Kommentierend. Hatten sich lachend die Masken wieder aufgesetzt. Sie war dann irgendwann aufgerufen worden und hatte ihren Stempel bekommen. Und diesmal. Auf dieser Reise. Jetzt. Sie hatte alles für das Visum in Ordnung bringen können. Nancy vom Institut an der Universität in New York hatte ihr geholfen. Es war ein gutes Gefühl, sich so sicher sein zu können. Nancy hatte ihr versprochen, dass es kein Problem geben könne. Sie habe alles geregelt. In dem Raum rechts. Damals. Eine Frau hatte mit dreißig Katzen in die USA einreisen wollen, und alle hatten diese Frau sehen müssen. Die Neugierde hatte die Beamten in Personen verwandelt. Für kurze Zeit. Sie hätte diese Katzenfrau auch gerne gesehen. Und vor allem die Katzen.

Sie war an die gelbe Linie vorgerückt. Sie musste selber an der Frau am Boden vorbeigehen. Sie schaute die Frau nicht an. Sie bemerkte aber trotzdem, dass die Frau einen schwarzen Schal mit kleinen weißen Tupfen um den Hals geschlungen hatte. Wie abgestimmt mit dem Weiß der Papierhandtücher. Beim Vorbeigehen zum zugewiesenen Schalter musste sie wieder an der Frau vorbei. Die Frau bewegte sich nicht. Sie hatte sich in der halben Stunde, die sie nun angestanden war, nicht bewegt. Sie lag so, wie sie sie von der Ferne gesehen hatte. Ein dunkles Kleiderbündel auf dem Boden.

Sie musste schluchzen. Kurz. Sie machte es richtig. Sie machte alles richtig, indem sie nichts machte. Indem sie sich jede Hilfe für diese Frau verbot. Alle machten es richtig, dieser Frau nicht zu helfen. Sie ballte die Hände. »Es ist richtig.«, murmelte sie sich zu. Und dann gleich die Angst doch wieder. Wer sagte, dass Nancy es richtig gemacht hatte. Mit ihrem Visum.

Der Mann vor ihr am Schalter. Er suchte seinen Pass erst am Schalter aus seiner schwarzen Umhängetasche. Er sprach die ganze Zeit mit dem Beamten. Der antwortete nicht. Sie seufzte. Würde das lange dauern? Aber dann. Der Beamte musste ihr zweimal zuwinken, an den Schalter zu treten. Sie war in eine Lähmung versunken gewesen. Sie musste sich einen Ruck geben. Sich aufrichten. Tief Luft holen und an den Schalter eilen. Sie antwortete auf sein »How are you doing today.« mit »I am fine. Thank you.«. Sie hörte ihren deutschen Akzent. Überdeutlich. Sie sollte sich um ihre Aussprache kümmern. Einen Kurs machen. Dann fiel ihr gleich wieder ein, dass sie diesen Wunsch jedesmal an dieser Stelle hatte. Anpassung, um unbemerkt zu sein. Sie schüttelte den Kopf. Der Mann schaute auf. Aber es war wirklich alles in Ordnung. Iriskontrolle. Fingerabdrücke. Visum. »Have a good time.«, sagte der Mann, und sie musste lächeln. Wie dankbar eine doch gleich sein konnte, dachte sie. Diesmal. Sie kam aus der immigration rechtzeitig heraus. Ihr Koffer schwamm ihr gerade auf dem Gepäckband entgegen. Sie wälzte den schweren Koffer vom Band und eilte durch die Zollkontrolle. Es waren keine Formulare mehr auszufüllen gewesen wie noch vor kurzem. Sie ging durch. Eine alte Frau mit buntem Kopftuch wurde befragt, ob sie Würste in ihrem Koffer habe. »Sausages.«, rief der Beamte immer wieder. »Kalbasa.«, dachte sie. Aber sie sagte nichts. Das mussten die längst wissen. Die wollten nur in keiner anderen Sprache fragen.

Taxis wurden an einem Schalter zugewiesen. Sie hatte nichts im Voraus gebucht. Sie musste sich anstellen. »4 Washington Square Place. Manhattan.« Die Frau schaute nach. Nickte. Rief einem Mann zu, dass er an der Reihe sei. Ob sie mit Karte zahlen könne, fragte sie. Die Frau schaute sie erstaunt an. »What else?«, fragte sie zurück. Der Mann nahm ihr den Koffer aus der Hand und ging voran. Sein Auto war kein yellow cab. Er fuhr einen himmelblauen Toyota SUV. Er hievte den Koffer auf den Rücksitz. Sie musste sich auf den Beifahrersitz vorne setzen. Im Kofferraum sei kein Platz. »Things.«, sagte er und fuhr an. »Manhattan?«, rief er. Sie sagte nichts. Er hatte die Adresse auf einem A4-Blatt ausgedruckt bekommen.

Beim Fahren. Sie fuhren die langen Überführungen vom LaGuardia weg. Sie hörte eine Rettung hinter ihnen. Das Heulen der Rettungssirene kam näher. Die Rettung überholte sie. Der ansteigende Alarmton lange neben ihnen. Der Taxifahrer fuhr gleich schnell wie das Rettungsauto. Dann aber fuhr die Rettung davon, und der Signalton fiel in das vibrierende Heulen zurück. Sie hoffte, dass in diesem Rettungswagen die Frau war, die auf dem Boden gelegen hatte.

***

Der Taxifahrer sprach am Telefon. Ununterbrochen. Er saß vorgebeugt und sprach vor sich hin. Sie dachte, er spräche Urdu. Aber sie war nicht sicher. Sie schaute hinaus. Sie war in den USA. Sie seufzte. Das war so ein losgelöster Zustand. In den USA sein. Anders als in Paris oder in Berlin. Hier. Nichts forderte ihr eine Beurteilung ab. Hier. Sie konnte alles anschauen, ohne Stellung nehmen zu müssen. Sie wusste auch nichts. Sie wusste nicht, warum diese Hallen signalrot stattlich dastanden und die nächsten aus Wellblech gemacht waren und die Wände eingesunken, sich Buschwerk angesiedelt hatte. Sie fragte sich nicht, warum alles so hässlich und verkommen war. Sie staunte. Sie musste lachen. Hier. Sie wurde zum Kind. Das war naiv, aber angenehm. Fuhr sie immer noch zu den Rettern? Wien war doch von der Roten Armee von den Nazis befreit worden. 168000 Soldaten aus der Sowjetunion waren getötet worden. Sie überlegte, was der Leon sagen würde. Dann fiel ihr schon wieder der Georg ein. Wegen der Franzi. Sie setzte sich gerade auf. Lehnte sich in den Autositz zurück. Sie war jetzt hier. Sie war allein. Sie begann ein neues Leben. Sie musste sich nicht festlegen. Sie durfte sich dankbar an die Befreiung von Wien erinnern. Sie musste nicht den Vorschriften der Kommentare im Standard folgen und nichts Russisches mehr richtig finden. Sie durfte geschichtlich denken. Und wie interessant. Dazu hatte sie den Kontinent verlassen müssen. Wie verwirrend. Wann war klares Denken möglich?

Sie fuhren eine Abfahrt, die in eine Abfahrt mündete und in wieder eine. Und Leon. Immer noch. Nicht zurückgelassen. Er war mitgekommen. Sie beugte sich vor. Sie fuhren auf Überführungen hoch über Wohngebieten. Von oben in die swimming pools zu sehen. Beim Einordnen nach links. Der Taxifahrer musste sich den Platz erkämpfen. Er bremste. Ihr Koffer fiel gegen ihren Sitz. Prallte zurück. Landete im Spalt zwischen den Vordersitzen. Sie musste sich abschnallen, den Koffer wieder zurückzuschieben. Der Taxifahrer fuhr und redete weiter. Er schaute nicht einmal, was sie da unternahm.

Im Midtown-Tunnel dann endlich. Sie war froh. Der Taxifahrer ließ große Abstände zwischen ihnen und dem Auto davor. Den FDR Drive erkannte sie dann noch. Dann bog der Mann ab. Schmale Straßen. Baumbestanden. Ohne Bäume. Highrises. Niedrige Stadthäuser. Pizzerien. Thailändisch. Kurdisch. Sie kannte sich nicht aus. Sie konnte keine Straßenschilder lesen. Der Fahrer fuhr zu schnell. Sie fischte ihr Handy aus dem Rucksack. Suchte google maps. Sie musste erst noch den Flugmodus ausschalten. Sie sollte ihren Standort preisgeben. Aber es funktionierte nicht. Sie solle die Optionen »Standortdienste« aktivieren, stand weiter auf dem display.

Der Fahrer wand das Auto durch schmale Straßen. Er querte breite Straßen. Sie schaute immer zu spät vom Handy auf, um die Straßenschilder erkennen zu können. Der Taxifahrer hatte sein Telefon abgestellt. »What address.«, fragte er.

Sie wiederholte das Ziel. Er tippte etwas in sein GPS ein. Fuhr weiter dabei. Die Gegend wurde immer abgewirtschafteter. Die Geschäfte verschlossen. Aufgelassen. Verlassen. Die Straßen voller Müll. Während des Fahrens. Der Mann tippte auf seinem Handy am Armaturenbrett herum. Eine Maschine rasselte im Handschuhfach. Der Mann hielt an. Sie seien hier, sagte er und machte das Handschuhfach auf. Er holte das Kartenlesegerät heraus. 95 Dollar mache die Rechnung aus. Es wären aber 75 Dollar ausgemacht, sagte sie. Es kämen die Tunnelgebühren und die Straßengebühren dazu, sagte er. Sie zahlte. Was sollte sie sonst tun. Sie stieg aus und hievte den Koffer vom Rücksitz. Der Mann war am Lenkrad sitzen geblieben und fuhr sofort ab.

Das Haus, vor dem der Taxifahrer gehalten hatte, war verkommen. Heruntergekommen. Alles an dem Gebäude war grindig. Die Fenster. Die Glasflächen in der Tür. Die Fensterrahmen staubverkrustet. Ein Schaufenster nach links von Plakaten und Ankündigungen dick überklebt. Das Papier in Fetzen abgelöst und hing herunter. Die Eingangstür schmutzüberzogen. An der Wand. Das Glas der Kamera vom Intercom eingeschlagen. Die Fassade schmutzverkrustet. Es hatte gerade geregnet, und das Regenwasser tropfte zäh vom Staub die Wand herunter. Sie ging, die Schildchen unter dem Intercom zu lesen. In diesem Haus sollte sie wohnen? Sie trat wieder zurück. Hielt Ausschau nach der Hausnummer. Der Platz für die Hausnummer heller als die Fassade rundherum. Aber keine Hausnummer. Sie suchte wieder auf google maps. Google maps befahl ihr, ihren Standort preiszugeben. Sie machte die e-mails auf. Nancy hatte ihr die Adresse gemailt. Sie scrollte. Fand die mail nicht. Rund um sie der New-York-Sound. Eine Polizeisirene ganz nah. Kam näher. Passierte die Kreuzung vor ihr. Fegte mit Dopplereffekt vorbei. Sie holte tief Luft. Ja. Das war New York. Und sie war hier zu Hause. Sie war hier zu Hause. Seit die Franzi allein gelassen werden konnte. Sie kannte das doch. Das war ihr vertraut. Aber wo befand sie sich. Welche Adresse war das hier. Konnte das stimmen?

Aber es konnte stimmen. Sie kannte das. Academic housing. Das konnte ziemlich lausig sein. Die academicians wenig ordentlich, die in diesem housing untergebracht wurden, und niemand, der sich darum kümmerte. Die Gleichgültigkeit der Weite.

Sie ging wieder an die Haustür, die Namensschilder an den Glocken zu studieren. Aber wie immer. Es standen keine Namen neben den Klingelknöpfen. Ihre Apartmentnummer war 10/5. Sie fand keinen 10. Stock, und die Nummerierung der Apartments ging nur bis 4. Und wo war ein super. Sie sollte ihre Schlüssel von dem bekommen. Kurz. Alle Müdigkeit fiel über sie her. Und gleich der Vorwurf, dass sie das alles ja nicht machen müsste. Machen hätte müssen. Von Wien weg. Den Problemen aus dem Weg. Und das war es ja auch nicht. Weg. Einfach weg und alles neu. Irgendwie. Noch einmal.

Und wenn sie nun in einem so verkommenen Haus wohnen musste? Sie konnte sich den Geruch im Stiegenhaus vorstellen. Und wie die Kakerlaken in den Küchenkästen raschelten. Auf Horatio Street war das so gewesen. In der Wohnung da. Wie sie nichts kochen hatte können, weil sie die Kakerlaken sonst aufgeschreckt hätte. Die Küchenkästen durften da nicht aufgemacht werden. Sonst. Die saßen in der ganzen Wohnung herum. Nein. Die Küchenkästen mussten geschlossen bleiben. Die Kakerlaken weggesperrt und essen nur draußen. Außerhalb der Wohnung. Und in einem solchen Gebäude. Kakerlaken waren zu erwarten. Schaben hießen die in Wien. Das Wort. Ein Dunst aus Unaussprechlichem war das. Schäbigkeit. Die Rattenplage fiel ihr wieder ein. Und wie es in regelmäßigen Abständen in der New York Times Berichte gab, dass es neue Methoden im Krieg gegen die Ratten gebe. Krieg. Das waren die USA. Ließen die Probleme groß werden und führten dann aber gleich Krieg. Den Müll in Plastiksäcken auf die Gehsteige legen und sonst auch nicht so ordentlich. Die Ratten füttern und dann den großgefütterten Tieren den Krieg erklären. Sie konnte sich vorstellen, wie die Ratten in dem Haus vor ihr die Stiegen aus dem Keller herauf. Die schnüffelten sich so weiter. Die trippelten von Fressbarem zu Fressbarem. Immer geschäftig auf der Suche nach Nahrung. Wenn sie hier wohnen musste. Das war Abstieg. Es reichte, die Ratten auf der Straße zu sehen.

Sie wandte sich von dem Haus ab. Kehrte dem Haus den Rücken. Hielt ihren Rucksack vor der Brust. Lehnte sich gegen ihren Rollkoffer. Suchte die Telefonnummer von Nancy. Sie musste im Institut anrufen. Sie atmete tief ein. Sie wollte nicht verzweifelt wirken. Cool. Sie sagte sich vor, cool bleiben zu wollen. Da. Der Taxifahrer in seinem himmelblauen Toyota hielt auf der Straße neben ihr. Der Mann beugte sich vom Fahrersitz dem offenen Fenster des Beifahrersitzes zu. »This is not the address.«, rief er und klickte die Türen auf. Sie hievte ihren Koffer auf den Rücksitz zurück. So schnell wie möglich. Stieg ein. Der Mann fuhr an. Er fuhr schnell. Kurvte eilig. Wieder hatte sie Mühe, die Straßentafeln zu lesen. Es waren Namen auf den Tafeln. Keine Nummern. Wo war sie.

Der Mann hielt vor einer langen Reihe zweistöckiger hellgelber Häuser in englischem Stil. Terraced. Stufen zu den Eingängen. Daneben Stufen zum Eingang ins basement hinunter. Rundbögen um die Haustüren. Das Universitätslogo an den Türen. Die Büsche in den Vorgärten begannen gerade auszutreiben. Ein grüner Hauch. Ein Park nach rechts hinüber. »This is Washington Square.«, sagte der Mann. Sie schaute sich um. So hatte das auch 1880 ausgesehen. So hatte sie sich das vorgestellt. »Thank you.«, sagte sie zu dem Taxifahrer. »That was most kind.« Er hatte einen Fehler korrigiert. Das war erfreulich. Er hatte seinen Fehler wieder gutgemacht. Sie wäre noch lange da gestanden. Vor dem schrecklichen Haus. Der Mann grinste. Sie suchte 20 Dollar aus der Geldbörse und legte sie ihm in seinen Kaffeebecherhalter. »Thank you.« Sie stieg wieder aus. Holte wieder ihren Koffer vom Rücksitz. Hob wieder den Koffer auf den Gehsteig und schaute sich um. Sie rollte den Koffer die Häuser entlang.

Die Nummer 3. Bei näherem Besehen. Diese Häuser waren ähnlich heruntergekommen wie das, vor dem sie gestanden hatte. Es waren die Vorgärten und der Park, die alles netter erscheinen ließen. Die Fenster hier. Sie waren an vielen Stellen gebrochen und mit Klebeband zusammengeflickt. Die Fassaden fleckig und rissig. Bei der gelben Farbe war das nicht gleich zu sehen gewesen. Die Fensterrahmen hätten längst neu gestrichen gehört. Der Lack an den Eingangstüren brüchig und abgebröselt. Unter den Glocken waren Schilder mit Anweisungen angebracht. Bei einem Haus sollte eine einfach eintreten und für das Tutorial in den zweiten Stock hinaufkommen. Ein älterer Mann kam aus dem Haus Nummer 7. Sie sprach ihn an. Er stand oben an der Haustür. Sie rief ihm hinauf, ob er wisse, wo Washington Square Place sei. Der Mann schüttelte den Kopf. Er stopfte die Zigarette, die er aus der Packung geholt hatte, in die Packung zurück und holte sein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Er war groß. Hager. Füllige weiße Haare. Ein schöner alter Mann. Er suchte in seinem Handy. Sie müsse nur da weitergehen, sagte er und wies die Straße hinunter. Die Universität. Die wäre in diese Richtung. Welches Institut sie suche? »German Studies?« Ja. Da. Geradeaus. Der Mann war auf dem Stiegenabsatz vor der Haustür stehen geblieben. Er steckte das Handy weg. Holte die Zigarette wieder aus der Packung. »See you around.«, sagte er und zündete die Zigarette an. Er lächelte sie durch den Dunst des ersten Zugs an. Sie lächelte zurück. Bedankte sich. »Yes. See you.«

Sie ging in die angewiesene Richtung. Hier. Der Gehsteig glatt. Der Koffer leicht zu rollen. Vor dem schrecklichen Haus. Im Gehsteig die Risse waren kantig hoch aufgeworfen und holprig gewesen. Sie kam an die Ecke. Sie sah das Schild »Deutsches Haus«. Hier war sie oft gewesen. Lesungen und Diskussionen. Sie musste lachen. Straßennamen. Sie merkte sich keine Straßennamen. Wusste keine Straßennamen. Auch in Wien nicht. »Blindflug.«, dachte sie. Aber so. Alles blieb eine Überraschung. University Place. »How fitting.« Sie holperte mit dem Koffer über die Pflastersteine der Straße. Das Institut auf der anderen Straßenseite. Es war neben der Tür angeschrieben. Sie hatte die falsche Adresse gesucht.

***

Sie schloss die Tür hinter Dr. Hilling. Ging ans Fenster zurück. Die Aussicht. Dr. Hilling hatte gemeint, die Aussicht auf Südmanhattan sei etwas ganz Besonderes. Sie. Sie wohne in einem kleinen Haus hier in der Gegend ganz ohne jede Aussicht. Und dann war sie gleich gegangen. Hatte noch einmal hinausgeschaut. Das Institut, hatte sie gemurmelt. Sie müsse sofort dahin zurück. Bürokratie und sonst alles. Und ob sie zum Vortrag am Abend kommen werde, hatte sie gefragt. Ihre Antwort hatte Dr. Hilling gar nicht abgewartet und war hinaus. Sie stand am Fenster. Es war nett von dieser Frau gewesen, sie hierherzubringen. Der knappe Ton. Das war wohl das Deutsche. Und der Fehler in der Adresse? Sie hatte Washington Square Place angegeben gehabt. Sie wohnte aber in Washington Square Village. Das Institut war auf University Place. Am Institut. Sie hatten alle über das Abenteuer mit dem Taxifahrer gelacht. Und es war ihre Schuld. Sie las oft Angaben nicht genau genug. Und Nancy war genauso nett gewesen, wie ihre e-mails versprochen hatten.

Jetzt einmal. Sie war angekommen. Sie musste lachen. Das schreckliche Haus und wie sie sich gleich gefürchtet hatte. Und wie weit weg das schon wieder war. Hier. Ein Wohnzimmer mit kitchenette. Ein Schlafzimmer mit einem riesigen Bett. Badezimmer. Einbaukästen. Alles ziemlich sauber. Oftmals überstrichen. Alles à la Fernsehserie späte 80er Jahre. Die Küche hätte aus Full House sein können.

Sie öffnete den Brief von der Gebäudeverwaltung. Sie wurde herzlich begrüßt und informiert, was sie alles nicht machen solle. Wieder wurde ihr verboten, Möbel aus der Wohnung zu entfernen. Aber wer machte so etwas? Sie hatte ein Stipendium in Aarau nicht angenommen, weil ihr da ein Vertrag zugeschickt worden war, in dem ihr ein Strafgeld angedroht wurde, sollte sie Möbel auf die Straße stellen. War so etwas überhaupt noch ein Vertrag? Das war doch ein einziges Diktat an Vorschriften. Als müsste ununterbrochen das Schlimmste verhütet werden, und sie war von vorneherein schon als Täterin erkannt. Das waren Versicherungsabsicherungen. Einengungen. Der Park von Laxenburg. Sie war da immer hingefahren. In Mondnächten. Der Park im Vollmond. Das schöne Unheimliche. Romantik pur. Und jetzt. Von der Versicherung zugesperrt. Gegen Eventualitäten abgesperrt. Und sie in Passivität gedrängt. Der Zugang verweigert, weil etwas geschehen konnte. Konjunktiv. Was für ein herrliches Werkzeug der Verdächtigungen. Wie hier. Jetzt. Ihr Wohlverhalten. Es schien ja nur als Null auf. Als Nichts. Nichts gemacht, wenn das Verbrechen das Maß war und sie nichts verbrach. Nicht beschreibbar. Eine folgsame Person. Ach. Das war wieder dieses Christliche. Du sollst nicht. Sie schaute hinaus. »Du sollst nicht depressiv sein.«, sagte sie laut.

In dem Brief. Sie erfuhr noch, wo die Müllschlucker zu finden waren. Wann die Klimageräte montiert werden würden. Hunde waren erlaubt, aber an der Leine zu führen. Von Katzen war nicht die Rede. Rauchen war überall verboten. Die Telefonnummern des supers und der Internetcode waren angegeben. Sie trug beides in ihr Handy ein. In den Laptop. Sie ließ das Handy auf Flugmodus. Nur keine Gebühren. Geld. Sie musste vorsichtig sein. Sie saß auf dem Sofa. Von da aus waren nur die Silver Towers zu sehen. Sie sollte in diesem Gebäude unterrichten. Weiter hinten Häuser aus dem 19. Jahrhundert. Eingerüstet. In den Silver Towers. Ganz oben. Im letzten Stockwerk. Hinter einem Fenster. Es brannte ein Licht. Ein sehr starkes Licht. Es stach auch bei Tageslicht störend in die Augen. Blendete. Sie musste aufstehen und die Jalousien links herunterlassen. Es waren Texte gekommen. Mails. WhatsApp-Nachrichten. Die Franzi. Die Brigitte. Das Institut. Jack und Henry. David. Frau Jana. Nur Frau Jana wollte nicht wissen, ob sie gut nach New York gekommen sei. Frau Jana fragte, wann sie kommen solle. Hatte sie der Frau Jana nicht abgesagt? Sie hatte doch alles geregelt. Sie stand vom Sofa auf. Setzte sich an das Pult vor dem Fenster. Schaute hinaus. Leon hatte sich nicht gemeldet.

Hier. Es war Nachmittag. In Wien. Da war es halb 9 am Abend. Der Leon. Wo war der. Die Brigitte. Die saß vor dem Fernsehapparat. Die Franzi in ihrer Wohnung. Die kochte für ihren Vater. Wahrscheinlich. Damit der ein gesundes Essen bekäme. Die Franzi. Die war im Wettstreit mit der Geliebten ihres Vaters. Mit den Geliebten. Wollte den Vater reformieren. Vegetarisches Essen und Wasser mit Zitronensaft statt Wein und Whisky. Die Franzi. Zum Vater übergelaufen. »Desertiert.«, dachte sie und war gleich wieder traurig. Sie hatte für die Deserteure aus Russland und der Ukraine demonstriert. Dass die Asyl bekommen sollten. Die waren Helden für sie, weil sie nicht töten wollten. Und trotzdem. Der Vergleich stimmte. Sie musste aufstehen. Im Zimmer herumgehen. Die gläserne Platte auf dem Esstisch in der Ecke mit einem Geschirrtuch abwischen. Die Franzi war zum Feind übergelaufen. Zur Kriegspartei. Zur Vatermacht der Landnahme der Machtloseren. Der Minderen. Der Regierbaren. Herrschaft. Die Franzi wollte ihren Kampf nicht mitmachen. Nicht mehr. Hatte sie verlassen. Sie. Die Mutter als Nation, die verlassen werden konnte. Als Land. Als abzulehnendes Gebot, dem die Wahrheit verweigert werden konnte. Die Franzi wollte den Vater entschuldigen. Hatte sich zu ihm geflüchtet. Glaubte nur noch ihm. Hielt ihr vor, sie mit Fake-Geschichten von ihm ferngehalten zu haben. Feministische Propaganda habe sie gemacht. Und das war nicht so. Der Georg log. Manipulierte das Kind. Die junge Frau. Die Franzi war ein sehr hübsches Spielzeug für ihn. Wie alle Frauen. Es war Missbrauch. Aber der Georg. Der wusste gar nicht, was das war. Eine Person. Eine andere Person als er. Der kannte nur sich und bezog alles auf sich. Und dagegen hatte sie verloren. Diesen Krieg.

Sie ging auf die Toilette. Grüne Handtücher auf dem Badewannenrand gestapelt. Das Waschbecken hatte einen langen Riss quer durch. Es tropfte aber nichts durch. Sie schaute genau. Und sie sollte auspacken. Sich einrichten. Duschen. Umziehen. Hunger? Sie hatte keinen Hunger. Aber sie sollte etwas essen. Die normalen Essenszeiten hier gegen den Jetlag einhalten. Also Essen besorgen. Hinausgehen. Die Umgebung erkunden. Die Umgebung erobern. Sich verschaffen. Sie musste lachen. Als Friedensaktivistin. Sie sollte sich nicht in Kriegsvokabeln ergehen. Surveillance. To conquer. Sie stellte sich vor, mit einem Fallschirm zu landen und sich einen Burger bei McDonald’s besorgen.

Der Fallschirm. Die Ausstellung in Stuttgart. Beuys. Und alles Lüge. Und wie die Lüge Phantasie genannt wurde. Weil so viele so viel in Beuys’ Arbeiten investiert hatten. Wie bei Trump. So viele investiert. In seine Person. Fangemeinde. Gläubige. Dann wurden die Lügen alternative facts genannt.

Sie nahm den Schlüssel. Das war ein einfacher Schlüssel für ein Zylinderschloss. Sie ging in die Küche. Kramte in den Laden. Die Laden voll mit Zurückgelassenem. Sie fand rot-weiß gestreiftes Garn. Sie wickelte das Garn ab. Machte es an der Türschnalle der Eingangstür fest. Flocht einen dicken Zopf und befestigte den Schlüssel daran. Sie behielt den Schlüssel dann in der Hand. Zur Sicherheit. Der Schlüsselbund in Wien war so dick. So nicht verlierbar. So ein einzelnes Schlüsselchen. Sie ging hinaus. Zögerte einen Augenblick. Die Tür fiel zu. Ein dumpfer lauter Knall. Ein sehr lauter Knall. Sie ging schnell zum Lift. Aber es wurden keine Türen geöffnet und nicht nach Ruhe geschrien. Hinter der Tür gegenüber von ihrer hatte sie Personen sehr laut weiterreden gehört. Eine asiatische Sprache.

Im Lift. Sie war wieder traurig. Weinerlich. Diese Neuanfänge. Sie wusste genau, dass sie bald alles kennen würde. Ihr alle Wege geläufig. Sie orientiert sein würde. Sich auskennen. Es halte jung, sich immer neuen Herausforderungen zu stellen. Wurde gesagt. Im Augenblick. Sie wusste nicht, woher sie die Energie nehmen sollte. Sie ging langsam. Das nächste Whole Foods war auf Union Square. Das war zu weit weg. Sie musste einen Supermarkt in der Nähe finden. Und sie war sich selbst auf den Leim gegangen. Ein Bedürfnis zu entwickeln, sich von allem und allen abzutrennen, wo sie sich doch von nichts und niemandem trennen konnte. Sich anklammern musste. Wegen ihrer Verlassensängste. Ihre mit Therapeutinnen herausgearbeitete und bestätigte Diagnose »Verlassensängste«. Das Ergebnis der Therapien war dann nur, dass sie genau wusste, wie die Verlassensangst hergestellt worden war. Wie der Vater sie verschwörerisch angelächelt hatte. Wie die Mutter total aufgeputzt ins Vorzimmer gestürmt gekommen war. Bereit, die Welt zu erobern. Und vor allem die Männer in dieser Welt. Und wie sie dem Vater zurückgelächelt hatte. Beruhigend verschwörerisch. Sie würde schon funktionieren. Ihm keine Probleme machen. Sie nicht. Die gute Tochter. Und wie die beiden dann davon. Das Sängerehepaar aus dem Chor der Volksoper. Jeden Abend. In der Erinnerung war das jeden Abend gewesen. Und der Vater. Sie doch schon so groß und alleine bleiben könne. Können müsse. »Und zieh den Schlüssel heraus«, hatte der Vater beim Lift stehend ihr zugerufen. »Sonst müssen wir dich wieder aufwecken.« Sie. Sie hatte die Tür leise ins Schloss fallen lassen. Hinter den beiden. Sie hatte den Schlüssel umgedreht und im Schloss gelassen, damit niemand. Deswegen aber hatte sie dann wach bleiben müssen. Sie hatte ins Stiegenhaus hinaus horchen müssen, ob die Eltern mit dem Lift heraufkamen. Erst wenn sie die Eltern kommen hörte, hatte sie den Schlüssel herausgezogen. Leise und war dann ins Bett und hatte die Bettdecke über den Kopf gezogen. Jeden Abend. Jeden Abend neu. Aber niemandem gesagt. Nicht sagen hätte können. Sie hatte die Angst tief in sich verschlossen. Hatte das richtig gemacht. Für sich damals. Hatte das für richtig halten müssen. Für den Vater. Damit die Mutter keine Probleme machen sollte. Keinen Grund für Probleme. Keine Szene. Damit die Mutter nicht wieder sagen konnte, dass doch er das Kind haben hatte wollen. Sie ja nicht. Der Lift kam unten an. Ging klingelnd auf. Eine Familie wartete. Eltern. Zwei Kinder. Ein Buggy. Ein Tretroller. Ein kleiner schwarzer Hund. Sie ging schnell vorbei. Lief aus dem Haus hinaus. Wandte sich nach rechts.

Der Himmel jetzt mehr bewölkt. Die Sonne immer wieder kurz heraußen und alles überhell und dann gleich wieder schattig. Sie atmete tief. Es roch nach feuchter Erde. Die Bäume und Sträucher noch ohne Blätter. Aber Märzenbecher blühten und die Tulpen schon offen. Sie ging Washington Square Village entlang. Den ganzen Block. An der Ecke nach Westen ein Supermarkt. Morton Williams. Vor dem Supermarkt eine Gruppe alter Männer. Homeless. Sie saßen in der Sonne. Sie waren vergnügt und riefen den Vorbeigehenden Obszönitäten zu und tranken ihr Dosenbier. Sie eilte vorbei. Im Supermarkt. Obst. Gemüse. Fertiggerichte. Käse. Sie wollte nicht kochen. Sie füllte Huhn und Reis vom warmen Buffet in einen Plastikbehälter. Was brauchte sie noch. Frühstück. Sie ging zurück. Ein übergroßes Dinkelcroissant. Butter. Orangenmarmelade. Kaffee. Sie schob den Einkaufswagen im Supermarkt herum. Sie ging kreuz und quer. Wanderte an den Wänden aus Cornflakes-Packungen und Chips-Angeboten entlang. Am Ende. Sie nahm drei Flaschen San Pellegrino. Der einzige Luxus. Der Einkauf kostete 36,40 Dollar. Die Kreditkarte funktionierte nicht. Sofort der eiskalte Schreck, nicht bezahlen zu können. Lebensbedrohlich. Aber die Bankkarte funktionierte. Der Kassierer wünschte ihr einen schönen Tag. Er hatte die Einkäufe in Plastiksäcke verpackt und hielt ihr die hin. Sein Lächeln riss sie aus ihrer Dumpfheit, und sie beeilte sich, zurückzulächeln und ihm auch einen schönen Tag zu wünschen. Sie ging lächelnd davon. Sie lächelte sich durch die Zurufe der homeless hindurch. Die hatten sich auf Bänke entlang eines Zauns zu einem allotment gesetzt. Gleich hinter ihnen schnitt eine Frau mit riesigem Strohhut die Hecke. Die große Heckenschere blitzte in der Höhe der Hälse der homeless in der Sonne auf.

Sie ging zurück. Das Lächeln hatte die Müdigkeit vertrieben. Dieses Gefühl, alles hinge nur so irgendwie an ihr. Kein Teil von ihr wäre mit dem anderen fest verbunden. Sie würde essen und dann auspacken und dann zu diesem Vortrag im Deutschen Haus gehen. Sie gehörte jetzt zu dieser community. Wissenschaft. Germanistik. Literatur. Und sie als Schreibende. In gewisser Weise war sie Gegenstand. Zumindest Auskunftsperson. Und diese Seite ihres Lebens. Da war doch alles richtig. Im möglichen Maß war da alles richtig. Aber nur ein Teil. Sie konnte diesen Teil nicht auf alle anderen Sphären ausdehnen. Sie war Autorin, und das nur beim Schreiben. Und nicht sonst. Nicht beim Haug am Obkircher Markt. Oder beim Mittagessen. Oder im Kaffeehaus. Die Autoren, die sie kannte. Die hatten das so verinnerlicht. Die waren das immer. Jederzeit. Für sie. Sie verwandelte sich in die Schreibende und dann gleich wieder zurück und war die Mutter gewesen. Oder die Geliebte. Die Ehefrau nicht. Da hatte sie noch nicht geschrieben. Der doorman grüßte sie, als hätte sie schon immer hier gewohnt. Sie ging durch die Halle, als wäre sie da nun immer schon gegangen. Der doorman hatte auf ihre Plastiksäcke geschaut und genickt. Der rechte Lift war herunten. Die Tür offen. Sie stieg ein. Eine ältere Frau kam gelaufen, und sie hielt ihr die Tür offen. Die Frau stürzte in den Lift. Bedankte sich atemlos keuchend. Lachte. 10. Stock? Da müsse sie auch hin. Sie hieße Norma Finkelstein und sie wohne seit 30 Jahren in diesem Haus. »How nice. I am Nina Wagner.«, sagte sie. Sie habe die Wohnung im 10. Stock für dieses Semester. »Then we will become good friends.«, rief Norma Finkelstein. Nina solle doch gleich morgen um 11 Uhr zu ihr auf einen Kaffee kommen. »Start things.«, sagte sie und lachte. Der Lift hielt. Norma Finkelstein lief den Gang nach rechts hinunter. »Number eleven.«, rief sie beim Davoneilen.

Sie trug ihre Einkäufe in das Apartment. Verschloss die Tür. Ließ den Schlüssel stecken. Wie sicher war eine in diesem Haus? Und wie eilig die Hilling davongegangen war. Musste sie sich dazu etwas denken? Nicht einmal ein Glas Wasser. Aber vielleicht trank die Frau kein Leitungswasser. Obwohl man das in New York konnte. Das war ihr oft erklärt worden. »One of the few public services working.«, hieß es. Sie räumte die Einkäufe ein. Stellte alles in den Eiskasten. Sie zerschnitt das Hühnerfleisch mit einem Gemüsemesser. Es war das einzige Messer. Sie mischte den Reis mit dem zerstückelten Fleisch auf einem Teller. Kinderessen, dachte sie und setzte sich auf das Sofa. Der Esstisch mit der Glasplatte. Es war zu dunkel in der Ecke da. Sie legte sich einen Polster auf den Schoß und stellte den Teller ab. Auf dem Teller. Ein braungraubeiges Gemisch. Kein Nährwert. Nur Füllung. Sie aß.

Diese Finkelstein. Die war. Wie alt war die. 80? Oder älter. Und so ungebremst. Einfach nicht gebremst. Das war attraktiv. Und das war diese Frau. Interessiert. Lebhaft. Teilnehmend. War das der Unterschied zum Jungsein? Nicht mehr interessant, sondern interessiert? Und war sie deshalb so beleidigt auf die Welt? Weil sie diese Umstellung machen musste? Nur mehr interessant, wenn sie sich für die anderen interessierte? Von sich absah? War es das, was ihr die Franzi vorwarf? Nur an sich zu denken? Aber als Mutter. Sie hatte dieses Kind. Sie hatte sich immer auf dieses Kind bezogen. Sie hatte gar keine eigene Geschichte bekommen in all dem Jammer. So allein. Alleinerzieherin. Was für ein Wort. Aber alles beschrieben. Schon im Klang. Und warum konnte die Franzi nicht verstehen, dass diese eine Handlung vom Georg. Dass dieses Verlassen. Dass das bis zum heutigen Tag ihr Leben bestimmte. Weiterhin. Und deshalb nie selbstbestimmt. Alles auf diesen einen Augenblick zurückging. Unveränderbar zwingend sich alles darauf zurückführte und von ihm bestimmt war.

Sie kaute an dem süßlichen Hühnerfleisch. Musste den Kopf schütteln. Sie war jetzt hier. Ein Exil und ein neuer Anfang. Ein ruhiges Leben. Abgetrennt. Stilles Arbeiten. Vorsichtiges Schreiben. Ungestörtes Dastehen. Unbehelligt existieren. Auf sich konzentriert. Hier. Sie konnte. Sie sollte. Lernen. Erobern, fiel ihr wieder ein. Sie musste die Leere in sich. Die Leere, wo ihr die Liebe fehlen gemacht wurde. Sie musste diese Leere zur Säule nehmen und sich anlehnen. Aber die Schwere in der Brust. »Du musst nicht immer Reden halten, als wäre Aufbruch zur Schlacht.«, sagte sie sich. Murmelte sie vor sich hin. Sie konnte nicht mehr essen. Sie stellte den Teller in den Eiskasten. Zwischenlager, dachte sie. Sie würde das nicht essen. Aber das Essen gleich wegzuwerfen war auch nicht möglich.

Sie ging ans Fenster. Sie würde jeden Tag ein Gedicht schreiben und am Ende alles vernichten. Sie würde die Leere einfach nach außen stülpen. Sie setzte sich wieder auf das Sofa. Ließ sich zur Seite sinken. Schaute in den Himmel hinter den Silver Towers hinauf. Beim wordle in der New York Times war sie zwei Punkte unter dem New Yorker Durchschnitt. Donald Trumps Prozess sollte demnächst beginnen. An ihrer Universität war die Stellungnahme für die Palästinenser verboten worden. Wie würde sich das auf sie auswirken. Und warum hatten die alle nicht A Farewell to Arms gelesen. Niemand. Aber wirklich keine Person konnte noch einen Krieg beginnen, nachdem dieser Roman gelesen worden war. Und. Wie nett diese Nancy war. Und ihre pakistanische Kollegin. Den Namen von der. Sie musste Nancy fragen, wie der ausgesprochen wurde. Es war so überzeugend hier. Namen mussten richtig ausgesprochen werden. In Wien. Da holperten die über fremdklingende Namen und entschuldigten sich nicht einmal. Bei der Promotion von der Iris. Die Professorin an der Akademie hatte jeden Namen falsch ausgesprochen und war ärgerlich geworden. Nicht über sich. Da waren die elitär genug, keinen Fehler bei sich zu suchen. Nein. Die hatte den Namen vorgeworfen, so schwierig zu sein. Die Schuld bei den Namen gesucht.

***

Sie saß völlig erstarrt. Wo war sie hier? Was war das jetzt gewesen? Wo war sie hingeraten? Ein sehr alter Mann stellte der Vortragenden eine Frage. Er sprach sehr leise. Holte weit aus. Er bezog sich auf die Romantik. Er zitierte lange Passagen von Goethe. Er lobte die Vortragende für ihre Genauigkeit.

»I now sometimes encounter feminist aspects. I mean. Feminist aspects are coming up, but I did not yet confront that. It was so much more important to me to save all these wonderful thoughts.«, rief die Vortragende dem alten Mann zu. Und das war es gewesen. Denktourismus. Diese Frau hatte Texte aus dem 18. Jahrhundert besucht. War durchgeschlendert und hatte ein paar Fotos mitgebracht. Wiedergaben davon, was so einer sich Ende des 18. Jahrhunderts gedacht hatte. Die Vortragende. Sie hatte nicht erklärt, warum sie sich mit diesen Gedanken beschäftigte. Sie bewahrte sie. Erhielt sie. Erfreute sich an den Gedanken dieser Männer wie an Pflanzenarten, die gefährdet waren. Sie nahm die Gedanken dieser Männer und legte sie zwischen Löschblätter zum Pressen in Lexika. Sie presste die Gedanken. Gepresste Gedanken. Harold Bloom fiel ihr ein. Dem hätte das gefallen. Eine hübsche junge Frau, die Männergedanken rettete. Sollte sie etwas sagen? Sollte sie nach dem Kontext fragen? Sollte sie fragen, wie der Kampf dieser Männer gegen ihre eigene subalterne Position die Subalternität der Frauen selbstverständlich einschloss. Verstärkte. Würde es diese junge Frau in irgendeiner Weise berühren, dass sie aus diesen Texten weggedacht war und dass das so blieb. So viel sie auch retten wollte. Sie. Sie als Autorin. Als gegenwärtige Autorin. Sie wurde von dieser konservativen jungen Frau gerade begraben. Diese konservative junge Wissenschaftlerin begrub sich gerade selbst und riss sie nur einfach mit. Machte sich und sie und alle Frauen unsichtbar unter dem unbewusst normativen Blick eines solchen Historismus. Aber es war ja Gegenwart. So wie das hier besprochen wurde, war das gegenwärtig. Das war der Rückgriff auf dieses Ringen, wer nun die Gewalt bekam, ohne auf die eigene Gewalttätigkeit einzugehen.

Wie würde das auf Englisch gesagt werden müssen? Ihr Englisch noch holprig. Sie blieb zwischen den Sprachen hängen. Hatte immer die Vokabel der anderen Sprache bereit. Ja. Holprig. Sie musste sich erst eingewöhnen. Auf Englisch denken. Alles auf Englisch. Träumen auf Englisch. Vielleicht kam sie dann von den Vorstellungen weg. Wie. Aber es war ihr Körper. Sie seufzte. Es ging nicht um Sprechen. Ihr Körper wünschte es sich. Sich mit ihm. Sich wieder mit ihm und nur das und nur er und wieso. Es war doch. Erwachsen? Sie hatte gedacht, es war erwachsener Sex gewesen. Und das so besonders. Ohne Rücksichten. Kein Kind mehr in der Wohnung. Und wie lange hatte das gelernt werden müssen, dass es nicht mehr notwendig wäre zu horchen. Wie lange hatte sie weiter gehorcht, obwohl das Kind längst ausgezogen war. Und nichts passieren konnte. Nicht mehr. Verhütung. Was für ein Wort. Frei. Sie hatte sich frei gefühlt und vertraut. Mit ihm. Und er nicht. Wahrscheinlich. Und wollte sie es noch wissen? Es wurde blasser. Das Begehren. Noch. Sie saß da und wünschte sich in die Nacht zurück und wie er die Augen schmal gemacht hatte. Dabei. Aber es war blasser. Auch zwischen Löschblätter gelegt und in das Lexikon zum Pressen und verblassend.

Ein jüngerer Mann. Er saß gleich vor ihr. Ein großer Mann. Sportlich. Er meldete sich zu Wort. Ob die Vortragende in irgendeiner Weise feministische Theorien eines postcolonial turn zu ihren Thesen in Beziehung bringen habe können? Die Vortragende zog die Schultern hoch. Ja. Sie könne schon sehen, dass das möglich sei. Dass das vielleicht sogar nötig sein könnte. Aber dafür habe sie noch nicht Zeit gehabt. Der Moderator schaute sich nach weiteren Wortmeldungen um. Die Leiden des jungen Werthers fielen ihr ein und wie selbstverständlich dieser Mann sich einordnete in seine subalterne Position. Wie eine solche Untertänigkeit aber wieder auf andere Gruppen mit Herrschaftsblick hinunterschauen konnte. Wie hieß der Verlobte von Charlotte? Wie sich eine solche Untertänigkeit weiterschrieb. Wie solche Verhältnisse sich weiterschrieben. Weitergaben. Wie die damaligen Machtverhältnisse, in den Gedanken verborgen, sich erhalten hatten. Wie die alles Weitere immer begründet hatten. Wie die zum Heute geführt. Aber dann. Sie lehnte sich wieder zurück. Es war nichts zu sagen. Diese Vortragende. Sie war US-Amerikanerin. Sie schaute auf europäisches Denken als etwas Überwundenes. Europäisches Denken war exotisch für sie. Diese Frau hatte keine Angst, dieses Denken könne sie betreffen. Und betraf sie. Dieses Denken. Das erhielt die privaten Hierarchien, weil es nur für die Denkenden gedacht gewesen war. Und die Denkenden. Das waren die Männer gewesen. Diese Frau. Sie war auf der Seite Trumps. Sie erfüllte nur die kompliziertere Seite solchen Denkens in diesen Hierarchien. Sie folgte der Version der Verfassung, die die Gedanken der framers wörtlich auslegten und die Frauenrechte einschränkten. Wie das damals selbstverständlich gewesen war und für heute weitergedacht wurde. Von den Rechten. Aber sie hatte das nicht in academia erwartet. Wie weit Europa und die USA auseinandergeraten waren. Seit 9/11.

Draußen. Eine Glasscheibe trennte den Vortragssaal von der Eingangshalle. Plötzlich Getümmel. Rufe. Geschrei. Eine Ansammlung. Von der Straße hereinkommende Studentinnen. Aus dem Hörsaal rechts herausströmende Studentinnen. Eine dichte Masse. Drängelnde Personen in beide Richtungen. Der Sicherheitsbeamte vom Empfang bahnte sich einen Weg durch die dichte Menge. Er hielt einen Arm hoch erhoben und steuerte auf die Mitte der Menge zu. Er rief etwas. Im Tumult war das nicht zu verstehen. Dann. Einen Augenblick. Eine Lücke bildete sich. Der Sicherheitsbeamte hatte die Lücke fast erreicht. Ein junger Mann stand plötzlich allein da. Die anderen wichen von ihm zurück.

Aus dem Vortragssaal. Es war eine Theateraufführung hinter Glas. Die Geräusche gedämpft. Die action überklar im starken Licht aus dem Vortragssaal in die Halle hinaus. Ein Terrarium.

Der Sicherheitsbeamte hatte den allein dastehenden jungen Mann erreicht. Alle anderen Personen standen still. Sahen zu. Warteten ab. Der Sicherheitsbeamte. Er kam von hinten an den jungen Mann. Der trug eine Palästinenser-Kufiya um den Kopf geschlungen. Auf seinem Rücken. Er trug eine palästinensische Fahne wie ein Cape. Der Sicherheitsbeamte zeigte mit dem Finger auf den jungen Mann. Er sagte etwas. Der junge Mann sah sich um. Wandte sich gleich wieder ab und wollte weg. Der Sicherheitsbeamte zog etwas aus einem seiner Holster. Er hielt einen Taser hoch. Der junge Mann drehte sich dem Sicherheitsbeamten zu. Hob die Arme. Einen Augenblick. Die beiden Männer standen einander gegenüber. Still. Dann sprang der Sicherheitsbeamte den jungen Mann an und taserte ihn am linken Oberarm.

»Nein.« Sie hatte es laut ausgerufen. Alle im Vortragssaal wandten sich ihr zu. Sie zeigte auf die Szene hinaus. »Das ist doch unmöglich. Der hatte doch hands up gemacht.«, rief sie. Der jüngere Mann. Der, der nach den feministischen Aspekten gefragt hatte. Er war auch aufgestanden. Stand dicht neben ihr, die Vorgänge genau sehen zu können. »Er hat die Palästinenseruniform an.«, sagte er.

Draußen. Der junge Mann. Vom Tasern. Er war in die Knie gesunken. Der Kopf gebeugt.

Sie wollte zur Tür. »Das ist gefährlich. Das kann.«, schrie sie. Der jüngere Mann. Er war groß und kräftig. Er hielt sie am Arm fest. »Campus policy.«, sagte er. »Aber das kann tödlich sein. Tasern. Ich weiß es. Ich habe das recherchiert. Ganz genau.« Sie wollte sich losreißen.

Draußen. Die Studenten und Studentinnen. Alle trugen Berge von Büchern herum. Hefte. Laptops. Alle waren beladen. Hatten die Hände nicht frei. Einen Augenblick. Sie waren daran, den Sicherheitsbeamten und den jungen Mann einzukreisen. Den Kreis um sie zu schließen. Dann fluteten alle auseinander. Es wurde wieder geschrien. Laute Rufe. Ein Trupp von Sicherheitsleuten stürzte von der Straße in die Halle herein. Sie bekamen freie Bahn. Niemand stellte sich ihnen in den Weg. Sie konnte noch die weißen Plastikfesseln am Gürtel eines der Polizisten sehen. Die Sicherheitsleute umzingelten den jungen Mann. Der wurde zu Boden geworfen. Umstellt. Die Sicherheitsleute verdeckten jede Sicht. Schafften den jungen Mann hinaus.

Es gab Rufe. Aber einzeln. Vom Rand der Halle. Der Sicherheitsmann, der hier Dienst machte, scheuchte alle zur Tür. Er riss die Doppeltür auf. Befestigte sie, und fast alle gingen davon. Eine junge Frau blieb an die Wand gelehnt sitzen. Sie hatte den Kopf nach hinten gelegt und weinte. Sie hielt ihren Laptop umklammert, und die Tränen rannen ihr das Gesicht hinunter.

»Schock.«, dachte sie und entwand sich des Griffs des Manns. Sie waren aneinandergelehnt stehen geblieben. Hatten die Ereignisse gemeinsam gelähmt verfolgt. Sie schaute dem Mann ins Gesicht. Der lächelte beruhigend. »Nobody was shooting. That’s something.«, sagte er. »And the talk today was the most academic lecture in antifeminism I ever heard.«, antwortete sie. Er zuckte mit den Achseln. »We are here in a nation divided.« Er deklamierte es und grinste. »Sie sind die DAAD-Professorin für dieses Semester. Die Lyrikerin.«, stellte er fest. »Kommen Sie mit zum Abendessen?« Sie schaute sich um. Alle anderen hatten sich hinter dem Katheder versammelt. Sie kannte niemanden. Nancy war nur am Anfang da gewesen. Die Hillinger war nicht gekommen. Die hatte wohl eine Konfrontation mit der Neokonservativität einer sehr jungen Wissenschaftlerin vermieden. Sie schüttelte den Kopf. Er schaute sie fragend an. »Beim Essen sind alle sehr nett. Sehr zivilisiert. Wir streiten uns hier nicht.«, sagte er. »Wir lauschen.«, und er lachte darüber, wie er »lauschen« gehaucht hatte. »You have a lot to talk about.«, erwiderte sie ihm lachend. »Nip in the bud.«, hörte sie aus der Ecke hinter dem Katheder. »Actually. I am not invited.«, sagte sie und ging.

Sie ging weg. Der Sicherheitsbeamte saß wieder hinter seinem Empfangstisch. Die Türen geschlossen, und sie stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, sie aufzubekommen. Sie ging nach Süden. Im convenience store einen Block weiter. Sie kaufte eine Tafel Lindt-Schokolade mit 75 % Kakaoanteil. Sie überlegte, eine Flasche Wein zu nehmen. Dann nahm sie aber doch nur eine große Flasche Poland Spring und eine Orange. Sie stopfte alles in den Rucksack und ging zu ihrem Apartment zurück. Für sie war es 1 Uhr in der Nacht. Die Müdigkeit war verflogen. Das pulsierende Dröhnen im ganzen Leib vom versäumten Schlaf ließ sie schnell gehen. Zurück. Hinsetzen. Nachdenken. Leon. Sie hätte ihm erzählen wollen. Eine Nachricht schicken. Sich an ihn wenden. Wie sie das gemacht hatte. Bis dahin. Ach. Sie konnte zu Jack und Henry hinauf in die 38. Straße fahren. Denen erzählen. Aber wie würde Henry reagieren. Der war Professor in Columbia. Da ging es noch viel kontroverser zu. Die hatten besonders strikte Regeln und lösten dauernd irgendwelche Versammlungen auf. Und dieser junge Mann. Natürlich hatte er es provoziert. Obwohl. Sie hatte nicht gesehen, dass er irgendetwas gemacht hatte. Er war wohl auf dem Weg zu einer Vorlesung gewesen. Er hatte nur dieses Palästinenserzeug angehabt. Wenn er etwas gerufen hatte. Sie hatte nichts gehört. Kleiderregeln, dachte sie. Wie undemokratisch, und das Kopftuchverbot fiel ihr ein. Das Kopftuchtrageverbot für kleine Mädchen, das die Regierung Kurz-Strache erlassen hatte. Dieses Verbot. Es war in aller Stille vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben worden. Das würde hier auch so sein. First Amendment Rights. Aber bis dahin wurde getasert. Wenn einer ein schwaches Herz hatte. Und wer konnte ein starkes Herz voraussetzen und einfach tasern. Dieser security man. Wie selbstverständlich der gleich. Aber protestiert hatte auch niemand. Obwohl. Das wusste sie nicht. So am Ärmel festgehalten von diesem Germanisten. Der war ein Deutscher. Sie musste herausfinden, wer das war. Die zwanzig Personen, die bei dem Vortrag gewesen waren. Die hatten alle einander gekannt. Sie war die einzige Fremde gewesen.

Sie ging durch den kleinen Park zwischen den Blocks von Washington Square Village. Sasaki Gardens. Reihen um Reihen rosarot blühender Bäume. In der tiefen Dämmerung. Die Blüten glühten dunkelrosa im beginnenden Dunkel.

***

Sie erinnerte sich an die Nacht als ein endloses Überlegen, ob sie dem Leon einen Text schicken solle. Ein langes Gedicht? Sehr explizit? Wie las das jemand dann, der sehr explizit mit ihr gewesen war? Sie musste aber auch geschlafen haben. Das Bett zerwühlt. Die Daunendecke am Fußende zusammengeballt und ihr nur der Kunstfaserüberzug zum Zudecken geblieben. Sie war von der Kälte aufgewacht. Sie hatte das Fenster offen gelassen. Zu heiß. Zu kalt. Zu laut. Die Straße unter ihrem Fenster wurde repariert. Während der Nachtstunden. Um Mitternacht herum. Der Asphalt war abgetragen worden. Weggefräst. Scheppernd dröhnend. Aber sie hatte das Fenster nicht schließen können. Die frische Luft wichtiger.

Sie taumelte auf. Es war 8 Uhr. Das war spät. Sonst. Wenn sie sonst in New York angekommen war. Sie war immer schon um 6 Uhr auf der Straße gewesen. Von der Wiener Zeit aus dem Bett getrieben. Auf der Suche nach Kaffee und Croissants. Das war lustig gewesen. Besonders wenn die Franzi mit war. Mitgewesen war. So früh. Sie hatten alle Bäckereien auf 10th Avenue weit hinunter gekannt, wenn sie so hellwach verschlafen nach Kaffee gesucht hatten. Sie taumelte ins Badezimmer. Küche. Kaffee und das Croissant vom Supermarkt. Sie saß auf dem Sofa. Hätte schlafen mögen. Konnte aber nicht mehr schlafen. Warum hatte sie sich das angetan? Warum diese Reise? Aber das war auch wie jedes Mal. Wie immer am ersten Morgen. Sie hatte das Beistelltischchen knapp neben das Sofa geschoben, die Kaffeetasse gleich zur Hand zu haben. Sie nippte am Kaffee. Bustelo. Das trank sie hier. Das war belangloser Kaffee. Aber sie konnte Unmengen von dieser Sorte trinken. Filterkaffee. Dafür hatte sie alles in der Küche vorgefunden. Auch die Filtertüten. Es war nett, sich eine Vorbewohnerin vorzustellen, die auch Filterkaffee getrunken hatte. Diese Person hatte sehr lange, schwarze Haare gehabt. Sehr starke schwarze Haare. Die waren im Abflusssieb der Badewanne angesammelt gewesen. Sie hatte sie mit Klopapier herausgefischt. Academic housing.

Sie seufzte. Konnte Leon Literatur lesen. Der war ein Rechtsanwalt. Seine Texte das genaue Gegenteil von ihren. Seine mussten die Tatbestände in unbedingte Tatsächlichkeiten zwingen. Seine sollten diese eine Sichtweise erzwingen. Ihre. Sie schaute zum Fenster hinaus. Die Morgensonne. Von der Fassade der Silver Towers gespiegelt, fiel dieses gespiegelte Licht in ihr Zimmer. Second-hand-Morgensonne, dachte sie. Eine kleinere Portion. Blasser. Und in ihren Texten. Da waren die Tatsächlichkeiten bedingungslos. Zur freien Verfügung. Kein Urteil durfte sich da andeuten. Sich frei bewegen. Sich frei bewegen in so einem Text. Frei sein. Und deshalb. Ja? Gerade deshalb einander. Also. Erkennen? Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. Brach das Croissant. Biss hinein. Kaute. Trank. Hatte den Mund voll süßen Breis. Schluckte. Seufzte. Trank Kaffee. Ja, doch. Es war das biblische Erkennen gemeint. Und war das das Missverständnis? Konnte Leon ihr nicht in ihre besondere Welt folgen? Oder wollte er nicht? Oder wusste er gar nicht, dass es diese Welt gab? Konnte er einer Frau im Denken folgen? Aber es hatte doch so ausgesehen. Die Gespräche. Sie waren einander gefolgt. Hatten einander auf diese Reisen mitgenommen. Oder ließ sich das nicht zusammenführen. Das Denken und das Bett? Sie ließ sich zusammensinken. Er würde so ein Gedicht als Auskunft über sie flach lesen und nicht als Ort des Zusammentreffens sehen. Hätte sie doch nicht mit ihm ins Bett gehen sollen? Hatte sie sich den einzigen Leser, den sie sich gewünscht hätte. Hatte sie sich den damit. Verdorben? Hätte sie unerkannt bleiben müssen? Hätte sie die biblische Erkenntnis ablehnen müssen, diese andere Erkenntnis mit ihm zu teilen. Oder mit ihm ins Bett und keine Texte lesen lassen? Erklärten sich so die einfachen Hausfrauen der großen Männer? Ein Oder gegen das Entweder?

Nur. Der Leon. Der war in den 70er Jahren jung gewesen. Damals. Die 68er. Die hatten die Vulva vergesellschaftet und die Personen rund um dieses Organ in Entfremdung versinken lassen. Damals. Die Brigitte sagte immer, es wäre genug gewesen, eine Futt zu haben. Mehr war nicht zur Kenntnis genommen worden. Die stellte das ganz kühl fest. Und ganz kühl ghostete die jetzt die Männer beim internet dating. Wie jeder grausliche Mann rief sie einfach nicht mehr an, wenn es nicht gepasst hatte. Und nein. Sie durfte nichts an den Leon schicken. Schreiben. Fragen. Sie musste ihren Wunsch, sich ihm zu zeigen. Sie musste das niederringen. Dringlich. Sie stand auf. Musste aufstehen. Ans Fenster gehen. Das war Sich-Fesseln. Eine Selbstfesselung nach der anderen. Um normal zu erscheinen. Für normal genommen zu werden. Irgendwie normal dazustehen. Einen Augenblick lang. Sich durch das Fenster werfen und in seine Arme fliegen. Sich umfangen fühlen. Brust an Brust. Aber es würde nicht funktionieren. Er würde erstaunt von seinem Schriftsatz aufschauen und sie bitten, auf dem Besuchersofa Platz zu nehmen. Ein anzügliches Lächeln? Ein sehr schmales anzügliches Lächeln. Überschwang nicht. Nein. Überschwang nie.

Sie schaute nach, wie das Wetter werden würde. 6 bis 16 Grad Celsius und Sonne am Nachmittag. Was also anziehen. Sie musste lachen und holte den schwarzgrauen Hosenanzug aus dem closet. Dieser Hosenanzug. Der würde ihre Uniform für die nächsten Wochen werden. Und sie musste strikt bleiben. Sie musste. Ihr Honorar betrug 6000 Dollar insgesamt. Als Blockseminar ging sich das aus. Die Preise im Supermarkt. Für ein ganzes Semester reichte das nicht. Sie sollte Buch führen, und sie legte die Rechnung vom Vortag in das Schulheft noch aus Wien. In New York. Sie freute sich schon auf das Einkaufen in einem Papiergeschäft. Es gab hier Schulhefte mit den buntesten Bildern außen. In allen Farben. Comicfiguren. Hello-Kitty-Kätzchen. Pokémonfiguren. Superhelden. Landschaftsbilder. Tierbilder. Sporthelden. Blumenmuster. Das gab es mittlerweile auch in Wien so. Aber das Format nicht. Fast quadratisch und schmaler liniert und sehr glattes Papier. Darauf zu schreiben. Es ging schneller.

Sie blieb sitzen. Las die New York Times. Sie suchte, ob der Vorfall vom Vortag es in die Zeitung geschafft hatte. Aber es wurde nur von Campusunruhen in Columbia und Harvard berichtet. Geldgeber wurden zitiert, die drohten, den Universitäten das Geld zu entziehen. Einer hatte gleich damit angefangen. Das war in Yale. In Yale war ein Protestcamp vor der Beinecke Library entstanden. Sie erinnerte sich an den Platz und wie beeindruckt sie gewesen war. Wie luxuriös diese Bibliothek ausgestattet worden war. Welches Privileg das gewesen war, dort zu arbeiten. Wie hieß der Architekt? Buns irgendetwas. Sie googelte. Gordon Bunshaft. Donald Trumps Prozess sollte am nächsten Tag beginnen. Im mittleren Osten. Die New York Times erwähnte in ihrem Beitrag zu den Vergeltungsschlägen gegen den Iran die Provokation der Iraner durch Israel nicht mehr. Aus dem Iran gab es keine genauen Nachrichten. Eine Galerie von Ayatollahs war als Bild dazugestellt. Sie klickte schnell das wordle an. Sie brauchte lange. Das Wort war »Daily«. Aber sie hatte es in vier Zügen geschafft und lag weiter zwei Punkte über dem New Yorker Durchschnitt. Sie suchte ihre Unterlagen zusammen. Legte ihre Bücher und Papiere sorgsam auf dem Pult am Fenster auf. Auf dem Glastisch konnte sie nicht arbeiten. Die Glasplatte. Sie würde Schmerzen in den Ellbogen bekommen. Die Kälte. Und keine Aussicht von dort. Und sollte sie wirklich zu dieser Frau gehen. Heute. Um 11 Uhr. Solche Einladungen. Das konnte auch nur eine Höflichkeit gewesen sein. Ein anthropologisches Problem. Wie verhielt sich der Stamm hier? Ihre Freunde hätten es alle ernst gemeint. Aber dann musste sie etwas mitbringen. Blumen. Und dann musste sie sich beeilen. Sie ging ins Badezimmer.

Es gab keine Handdusche. Nur den fixen Duschkopf von oben. Sie musste sich die Haare mit einem Handtuch hochbinden. Das Handtuch fiel während des Duschens herunter. Die Haare wurden nass. Sie musste sie waschen. Das war ärgerlich. Die Haare mussten vollkommen trocken werden. Es war kalt draußen. Eine Verkühlung. Sie hatte einen Haarföhn im Kasten im Vorzimmer gesehen. Ihre Geräte. Sie hatte wieder die Zwischenstecker vergessen. Sie musste wieder neue kaufen. Das war jedes Mal so. In der Lade in ihrem Badezimmer war eine große Sammlung von solchen Steckern zu finden. Und Sonnenschutz musste sie besorgen. Auf der Wetter-App war ihr geraten worden, von 10 bis 16 Uhr Sonnenschutz anzuwenden. Die UV-Strahlen schon so stark. Ohne ihren Bürstenföhn. Sie konnte die Haare nur glatt föhnen und in einem Zopf hochstecken. Spießig. Und warum hatte sie nicht besser vorgesorgt. Sie mochte nicht in den Spiegel schauen beim Föhnen. Sie sah müde aus. Das war schlimmer als alt aussehen. Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Wangen. Klopfte mit den Fingern die Knochen um die Augen ab. Lymphdrainage. Sie sah aber keinen Erfolg.

Es war dann schon nach 10 Uhr, und sie machte sich auf den Weg zum Supermarkt. Blumen von da. Die Sonne schien. Die frühen Blättchen an manchen Bäumen glänzten. Die Baumblüten prangten. Die Tulpen waren fast abgeblüht. Die Rosenstöcke zeigten winzige Knospen. Ein schöner Tag. Im Supermarkt gab es Tulpen und Rosen. Sie wählte Rosen. Kleine rosarote Rosen in Bündeln an einem Stiel. Sie nahm fünf solche Stiele. Sie nahm noch gleich das Croissant für den nächsten Tag. An der Kasse. Sie musste lange warten. Es war nur eine Kasse besetzt. Eine Schlange hatte sich gebildet. Eine schwarze junge Frau an der Kasse und ein supervisor neben ihr. Sie wurde wohl eingeschult. Der Mann griff der jungen Frau immer wieder dazwischen und verbesserte etwas. Dann fragte die junge Frau etwas, und der Mann erklärte. Sie rückte nur langsam vor. An der Reihe. Die junge Frau griff nach links von ihr und riss Papier von einer dicken Rolle Packpapier ab. Sie wickelte die Rosen in das Papier. Der Mann nahm ihr den Strauß aus der Hand und schlug das Papier am Ende ein. So viel vom Papier hätte sie sparen können, sagte er. Die junge Frau schaute ihn an. Dann sagte sie den Betrag. Sie zahlte bar. Sie hatte das Bargeld mitgenommen, das sie vom letzten Besuch in New York übrig hatte. Es kostete 35 Dollar.