Geschlecht. Zahl. Fall. - Marlene Streeruwitz - E-Book

Geschlecht. Zahl. Fall. E-Book

Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

In ihren Romanen wie »Flammenwand.« oder dem Covid-19-Roman zeigt Marlene Streeruwitz auf meisterhafte Weise, wie sich innere Welten erschließen lassen, wie Gefühle sichtbar gemacht werden können. Die Literatur als Mittel der Gefühlsdarstellung hat eine lange Geschichte, die Marlene Streeruwitz kritisch nachvollziehen und auf ihre gegenwärtige Relevanz hin befragen will. Was bedeutet Literatur in Zeiten von Trump, Lockdown und weltweiter Pandemie? Welche Rolle spielen Sprache und Macht? »Mein Ziel ist es herauszufinden, auf welchen Sätzen und Wortbrocken ein Schicksal beruht.« Mit ihren Poetikvorlesungen u. a. in Frankfurt und Tübingen hat Marlene Streeruwitz Standards gesetzt. Nun eröffnet sie im Frühjahr 2021 in Koblenz die neu gegründete Joseph-Breitbach-Poetikdozentur, deren Vorlesungen in diesem Band versammelt sind.

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Marlene Streeruwitz

Geschlecht. Zahl. Fall.

Vorlesungen 2021.

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortGeschlecht. Zahl. Fall.Singular und Herrschaft.Theaterschauspiel.Das Ende der Kultur und die Auslegungen.Der Kosmos der Pflege.»Reigenversuch.«Roman.»Don’t tell me. I tell you.«Texte.Le Lavabo.Oder. Der Wert des Lebens.Reigenversuch.Fabian. Der Kanzler.

Wie so ganz und insgesamt und in jedem Augenblick das Leben gelebt werden muss. Wie das Leben in jedem Augenblick immer alles meint. Dieses Wissen und das Bewusstsein davon. In der Literatur. In der Zeit des Romans. Die Literatur als die ursprüngliche Wissenschaft vom Leben gründet auf diesem Bewusstsein auch als dem Wissen voneinander. In der Pandemie. Im Alltag der aufeinander folgenden Lockdowns. Jede einzelne Person war auf genau diese Verständigung nun mit sich selbst gezwungen. Die Frage ist daher, leben nun alle Personen im Wissen ihres eigenen Romans? Konnte ein Bewusstsein davon hergestellt werden? Ist aus einem solchen Bewusstsein ein literarisch-analytischer Blick auf sich selbst möglich? Was bedeutete das für die Literatur? Was bedeutete das für die Kultur allgemein? Was für die Politik? Werden neue Zeiten anbrechen? Oder wird in der bisher eingeübten Spirale der Bewusstlosigkeiten in das Überkommene zurückgekehrt werden? Welche Selbstverständlichkeiten werden keine mehr sein? Welche vermehrt?

Über all diese Fragen im Rahmen der erst verschobenen, aber dann doch wenigstens gestreamten Eröffnung der Joseph-Breitbach-Poetikdozentur in Koblenz nachdenken und im analogen Gespräch noch einmal reflektieren zu können, dafür möchte ich der Kulturdezernentin PD Dr. Margit Theis-Scholz, dem Intendanten des Theater Koblenz, Markus Dietze, und Prof. Dr. Stefan Neuhaus von der Universität Koblenz/Landau sehr herzlich danken. Mir ermöglichte das den Anfang eines Neubeginns.

 

Marlene Streeruwitz

Geschlecht. Zahl. Fall.

Singular und Herrschaft.

Das Publikum lachte. Ich lachte nicht.

Alceste, gesungen von Hanan Alattar, hatte gerade auf Weisung von König Minos das Los gezogen, wer in das Labyrinth geschickt und dem Minotaurus vorgeworfen werden soll. Das Los fällt auf Carilda, aber Teseo will an ihrer statt zum Minotaurus hinabsteigen und das Monster besiegen.

Der Regisseur dieser Aufführung von Händels Arianna in Creta, Christopher Alden, ließ Alceste das Los aus einer altmodischen Losmaschine ziehen. Alceste musste zuerst an einer Kurbel drehen, die Lose in dem Drahtkorb durcheinanderzuwirbeln. Dann war eine Klappe zu öffnen. Die Hand war in den Drahtkorb zu zwängen, um an das Los zu kommen. Es handelte sich um ein antikes Gerät, aus dem der Bingocaller beim Spiel die Bälle holt und die jeweils gezogene Zahl ansagt. Diese Zahlen tragen die Mitspielenden in ihre Tabellen ein, und wenn eine mitspielende Person alle erforderlichen Zahlen angekreuzt hat, ruft sie »Bingo« und bekommt einen Preis.

In New York. 2005. Im Abrons Arts Center in Südmanhattan. Direkt unter der Williamsburg Bridge. Der Regisseur konnte damit rechnen, dass jede und jeder im Publikum den Vorgang verstehen würde. In dieser Aufführung wird das Ziehen eines Loses über Leben oder Tod einer Person mit dem Ziehen eines Nummernloses im überaus populären Spielen von Bingo als Zeitvertreib für ältere Personen gleichgesetzt. Mit der Bingotrommel aus den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts leitete die Regie zu der Gegenwart der Aufführung hin. Die Bingomaschine reißt die Aufführung aus der Zeit der Uraufführung in die Jetztzeit des Publikums. Mit dem erkennbar heutigeren Requisit wird die Hermetik der Zeitgebundenheit des kulturellen Projekts gebrochen.

Die Oper Arianna in Creta von Georg Friedrich Händel wurde 1734 in London uraufgeführt. Wie jedes Projekt kultureller Äußerung ist diese Oper in mehrfacher Hinsicht auf diesen Zeitpunkt zu beziehen. Händel war da nicht nur Komponist dieser Oper, er war auch Impresario. Arianna in Creta wurde im Jänner 1734 uraufgeführt, nachdem im Dezember 1733 Nicola Porporas Oper Arianna in Nasso im Lincoln’s Inn Theatre gegeben worden war. Das war eine Produktion der »Opera of the Nobility«, einer Gesellschaft, die in Konkurrenz zu Händels King’s Theatre in the Haymarket gerade gegründet worden war. Die »Opera of the Nobility« konnte mit der Unterstützung Fredericks (Friedrich Ludwig von Hannover), Prince of Wales, als Ausdruck seiner Opposition gegen den Vater rechnen. Händel wurde dagegen von King George II. und vor allem von dessen Tochter Princess Anne gefördert. King George II. war ja schon als Kurfürst von Hannover sein Auftraggeber gewesen. Arianna in Creta fällt in eine Zeit des Niedergangs der Opera seria in London, vor allem in der Konkurrenz zur populären Beggar’s Opera, die auch als Parodie auf die italienische Oper gedacht war. Der Komponist und Impresario Händel schrieb seine Opern für bestimmte Sänger und Sängerinnen. Arianna in Creta musste ohne den Starkastraten Senesino auskommen, dessen beachtliche Gage nun von der »Opera of the Nobility« bezahlt wurde. Bei Händel. Der wahrscheinlich billigere Giovanni Carestini sang die Rolle des Teseo. Anna Maria Strada war jedoch Händels Opernkompagnie treu geblieben. Die Sopranpartie konnte für ihre Stimme geschrieben werden. Wie es überhaupt darum ging, welche Sänger und Sängerinnen zur Verfügung standen, um für sie dann die Gesangspartien zu komponieren. All diese vielen Umstände bedingen ein solches Werk und setzen es in der Zeit fest. Diese Fixierung des Texts als Repräsentation aller diesen Text bedingenden Umstände in der Zeit formt eine der Autonomien eines solchen Texts.

So ein Text. Jeder Text hat viele Autonomien. Wie es ja überhaupt darum geht, die Abstrakta in einer Wendung gegen die Dominanzgewalt des Singulars dieser Worte in den Plural zu wenden. Wahrheit und Frieden. Glück und Unglück. Der Mensch. Moral. Ethik. Die Zusammenfassung dieser so riesigen und in sich widersprüchlichen Bedeutungsfelder in den einen grammatikalisch vorgeschriebenen Singular bildet jeweils eine zu benutzende Hohlform kultureller Bedeutungsdominanz. Der Singular der Abstrakta stellt die Deutungsmacht von Herrschaft her. Dieser Singular ist Herrschaft. Über die Zeitläufte hinweg widerspruchslos gemacht in der Selbstverständlichkeit solchen Singulars, sind wir der jeweiligen Deutung ausgeliefert, ohne überhaupt wissen zu können, dass wir beherrscht werden. Was Liebe ist, diktiert sich aus den kulturellen Zusammenhängen im Verhältnis zu der eigenen, gelebten Erfahrung. Aber. Die jeweilige Bedeutungsfüllung eines solchen Worts. Sie ist einerseits notwendig, das Zeichen überhaupt erkennen zu können. Dass es Liebe gibt und dass wir wissen, was dieses Bezeichnete ist, das ermöglicht Kommunikation. Aber. Der Ausschluss aller anderen möglichen Bedeutungen und die Einengung der enthaltenen Bedeutung auf den Singular der jeweiligen Kultur macht andererseits ein Gebot aus dem Wort. So und nicht anders ist Liebe zu verstehen. Jedenfalls bei uns. Dieses in aller Informalität alles bestimmende »So«. Das wird uns durch unendlich viele und komplex vermittelte Hinweise beigebracht.

Für mich als katholisch sozialisierte Person war das die romantische Liebe, die die vollkommene Selbstaufgabe verlangt. In der von der katholischen Kirche zur einzigen Möglichkeit erklärten Heteronomie war der Singular Liebe also erst die Liebe zu Jesus in vollkommener Selbstaufgabe, die dann von einer heteronormativen Liebe zu einem Mann abgelöst werden sollte. In vollkommener Selbstaufgabe so. Die Vorschrift romantischen Liebens, »Er atmet. Sie atmet in ihm.«, war im Singular Liebe eingeschlossen. Diese so früh vermittelte Gebotsstruktur hat lebenslängliche Wirkung. Es ist schwierig und schmerzvoll, diese vielen Einschlüsse überhaupt sichtbar zu machen. Die Verwendung des Singulars verhindert ja schon die Sicht auf den Widerspruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Es geht um diese eine, gültige Deutung von Liebe. Oder jedem anderen Abstraktum. Es ist dieser Singular, der der Bezugnahme der gerade lebenden Person auf sich selbst quer liegt. Die Liebe wird uns im Singular beschrieben. Die Erfahrung lässt uns dieses ideale Ding zwar nicht finden. Aber. Diese Wahrheit gegen die Einmaligkeit der Bedeutungsanhäufung des Singulars gehalten, wird als Verlust erlebt. Das Aufgeben des Singulars wird als kaum verschmerzbare Amputation gelebt.

Die Wertediskussionen unserer Kulturen handeln von dieser Aufgabe des Singulars. Kulturell. Der Singular wird uns einerseits als einzige Möglichkeit und Ziel vorgelegt. Andererseits. Im Antifaschismus. Im Antirassismus. Zunächst ging es um die Infragestellung der Singulare. Aber. Die Macht dieser Grammatik der Macht: Wir haben zwar weniger bekommen oder zustande gebracht, als diese Singulare uns versprochen oder abgefordert hätten. Denn. Es sind Lebenswirklichkeit leugnende Totalitäten, die diese Singulare herstellen. Und. Die kein einzelnes Leben erfüllen kann. Die ein einzelnes Leben aber auch gar nicht erfüllen darf. Und nicht soll. Kirchen, Unterhaltungsindustrie und Politik bauen ihre Existenz auf jeweils unerreichbaren Singularen auf. Und. Seit jeher geht es für die Macht um die Besetzung dieser Singulare als Grundlage für die Organisation der Herrschaft. Immer aber. Wir werden in Singularen wie Demut, Leistung, Begabung, Anpassung, Gesellschaft, Sozialverhalten oder Benehmen angeleitet, es unserer eigenen Unfähigkeit und unserem Unvermögen anzurechnen, das jeweilige, absichtsvoll unerreichbar formulierte Ziel nicht erreicht zu haben.

Denn. Diese Singulare anzugreifen. In Frage zu stellen. Abzulehnen. Das ist das Feld der jeweiligen Hegemonien. Die Auswahl des Inhalts der Singulare. Die Auswahl der Bedeutungen. Das ist die Macht der Herrschaften. Auf diesem Feld war und ist die Deutung all dieser Singulare die Waffe. Es sind diese Singulare, die gelebt werden müssen. Glück. Not. Angst. Tod. Aber wie zu sehen ist. Die Kritik am Singular der Abstrakta scheint durch eine neuerliche Festigung neuerlicher Füllung des Singulars zu neuen Normen der Politik des Post-Relativismus zu führen. Die laufende Verhandlung von Fragen wie: Wer darf wem sexuelle Vorschläge machen. Wer darf für welche Gruppe sprechen. Wer darf welche Sprache wie verwenden. Wer ist legitim. Wer ist verdächtig. Wer darf welche Identität behaupten. Welche Identitäten sind zulässig. Welche nicht. Diese neuen Normen regeln heute post-christliche, post-patriarchale, post-heteronorme Politik. Das ist aber eine Politik, die in ihrer Weiterführung der althergebrachten Politiken eben nur weitermacht. Die Vermutung liegt nahe, dass es nicht um die Heilung der grundlegenden Widersprüche geht. Diese grundlegenden Widersprüche wie etwa die Erhaltung struktureller Ungleichheit in der Geschlechterpolitik werden hinter den neueren Rhetoriken genauso sorgfältig konstruiert wie bisher schon. So bleibt es gleichgültig, ob political correctness vertreten oder angegriffen wird. Der basale Widerspruch wird nicht bearbeitet. Die kulturell vermittelten Ungerechtigkeiten können ungehindert weitergesponnen werden.

Der Singular in den Singularen. Geiselnahmen sind das. Geiselnahmen, die die Geiseln selbst ausführen und, in die Geiselhaft genommen, sie zwingen, sich selbst in Schach zu halten. Christlicherweise war es das freundlich-liebevoll konstruierte Gewissen, das uns an den Singular des deklariert Richtigen auslieferte. Ideologischerweise waren es die jeweiligen Deutungen von Abstrakta wie Volk, Zukunft, Ehre, Land. Immer aber geht es um vorgeschriebene Eindeutigkeiten als Ziel. Natürlich erinnert dieser Singular daran, dass es sich bei den Grundlagen unserer Kulturen um gewaltsame Eroberungen handelt. Der Singular der Abstrakta ist das Erbe daraus in der Herrschaft über auch die innere Welt der Geiseln. Im Protestantismus ging es um nichts anderes als sich zumindest aus dem Singular des Katholischen zu befreien. Aber. Herrschaft drückt sich singulär gegen die Vieldeutigkeit von Freiheiten aus. Keine neue Herrschaft hat den Singular von Freiheit abgeschafft. Und Freiheit. Im Singular liegt schon die Verhinderung eines solchen Zustands enthalten. Im Singular bleibt Freiheit als Idealform persönlichen Lebens unerreichbar. Zwar ordnen sich unsere Kulturen um solche Singulare an. Geschlecht ist so ein Singular. Mann. Frau. Eindeutigkeiten sind das, die der Vielfalt des Lebens entgegenstehen. Und damit einer demokratischen Erfassung der Vielfalt. Und. Im Plural. Geschlechter. Freiheiten. Sofort kann es 37 Geschlechter geben und die Freiheiten darin. Der Singular der Abstrakta ist ein Gefängnis, und wir sollten alles daransetzen, in den Plural zu entkommen.

2005. In der Aufführung von Arianna in Creta in New York. Längst sind wir von der sieghaften Eindeutigkeit moralisch-ethischen Wandels entfernt, wie sie in den Figuren barocker Opern zum Gegenstand künstlerischer Reflexion gemacht wurden. Der Verlauf der Geschichte in der Zeit hat uns in unseren Kulturen an einen Punkt gebracht, an dem die Liebe mit der Pflicht vereinbar geworden ist. Es hat Revolutionen und Kriege gebraucht, dem einzelnen Mann Selbstbestimmung in Liebe und Geschlecht zu erobern. Die Liebe ist – fast – nicht mehr mit jenen zerstörerischen Konsequenzen verbunden, die die gesellschaftliche Ordnung und die darin eingeschriebenen Pflichtverhältnisse niederreißen, weil es diese gesellschaftliche Ordnung nicht mehr gibt. Zumindest in unseren Verfassungen ist das so bestimmt. In unseren Verfassungen ist ja auch jeweils festgelegt, die Herrschaft des Patriarchats sei außer Kraft gesetzt. Die kulturelle gesellschaftliche Realität. Jedenfalls in Österreich. Die kulturelle Realität. Also das zu lebende Leben. Die kulturell gesellschaftliche Realität ist eine andere.

Nach 75 Jahren demokratischer Verfassung seit 1945. Und. In Österreich wird der Gleichheitsgrundsatz im Staatsgrundgesetz 1867 erstmals festgelegt. Wäre der Verpflichtung auf diese Gleichheit in unserer demokratischen Verfassung Genüge getan. Wäre dieser Auftrag wirklich umgesetzt worden. Die Lebenskulturen hätten sich mitverändert. Ich könnte keinen Aufsatz mehr darüber schreiben, dass Herrschaft und Patriarchat gleichgesetzt werden müssen. Ich sollte eine solche Behauptung nicht mehr aufstellen können. Ich sollte nicht mehr feststellen müssen, dass wir dieser Herrschaft als kulturell anerkannter, wenn nicht sogar vorausgesetzter narzisstischer Männlichkeit ausgesetzt werden. In einer realen Demokratie ginge es um Personen, die durch Empathie und Übernahme von Verantwortung den Willen der Bürgerinnen und Bürger in Regierung übertrugen. In einer realen Demokratie würden Personen die Regierungsgeschäfte übernehmen, denen klar wäre, dass es sich um eine Phase in ihrem Leben handelte und nicht um eine Karriere der Idealisierung und Selbstüberschätzung, als ginge es weiter um aristokratische Geschäfte am Hof eines Monarchen. Die Politik der demokratisch agierenden Personen würde nicht den Sinn ihres Lebens beschreiben müssen. Diese Personen hätten ein persönliches Leben, aus dem sie heraustreten und in das sie wieder zurückkehren. Die Politik dieser Personen könnte ruhig und besonnen sein, weil das politische Theater nicht für diese eine, vorgeschrieben heroische Lebenszufriedenheit des Politikers herhalten muss. Wir würden ja in demokratischer Weise im Plural miteinander verhandeln. Machiavellis Lehrbuch wäre endlich abgeschafft. Denn. Es ginge um Lebenszufriedenheiten. Und. In der Pandemie. Wir haben neue Gemeinsamkeiten gelernt. Obwohl. Die politisch eingesetzte Sprache in der Pandemie den Singular der Abstrakta in neuer Form zurückgebracht hat. Ein Vorgang, der uns noch lange beschäftigen wird. In gewisser Weise wurde ja das Abstraktum »Mensch« erneut in den Mittelpunkt all der bürokratisch-politischen Maßnahmen gestellt. Dieser existenzbeschreibende Singular ließ alle historische Entwicklung, also jede emanzipatorische Bewegung, versinken, die zu diesem Augenblick in unserer Geschichte führte. Da sind zum Beispiel immer noch auch die Auswirkungen der Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem aus der Finanzkrise 2007/2008. Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Aber. Die Aneinanderreihung von Singularen erzwang sich die Deutungshoheit, die nun wiederum selbst als Singular jene Auseinandersetzungen um sich auslöst, die schon immer zu Gewalt und der Herrschaft daraus führte. Die Reihe der Singulare lautet: Der Wert des Lebens des Menschen.

Theaterschauspiel.

Wie das in der Praxis aussehen könnte, habe ich einige Zeit vor der Pandemie in einem Theaterschauspiel zu untersuchen begonnen. In Le Lavabo. wollte ich herausfinden, wie weit der Wert des Lebens, je einzeln interpretiert, vom absoluten Ideal entfernt ist.[1] Ich wollte herausfinden, was in der Praxis zu erwarten wäre. Als Ausgangspunkt dieser Studie in Form des Texts eines Theaterschauspiels nahm ich eine Untersuchung im Economist darüber, wie sich die Befolgung von Hygieneregeln in Spitälern statistisch in den Zahlen der Toten durch Spitalsviren niederschlägt. Die Annahme ist, dass die Zahl der Toten die Einhaltung der Hygienevorschriften widerspiegelt. Damit wiederum gibt die Einhaltung der Hygienevorschriften wieder, wie hoch der Wert des Lebens der Patientinnen und Patienten veranschlagt wird. In der Statistik gab es ein Nord-Süd-Gefälle. In den Niederlanden waren die Zahlen am besten. In Griechenland und in Süditalien starben fast dreimal so viele Patientinnen und Patienten an Infektionen durch multiresistente Erreger.

Der Bericht im Economist