Herrschaft der Angst - Marlene Streeruwitz - E-Book

Herrschaft der Angst E-Book

Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

Mit Texten von Wolf Wetzel, Marlene Streeruwitz, Moshe Zuckermann, Norman Paech, Rainer Fischbach, Birgit Sauer, Farid Hafez, Michael Meyen, Diether Dehm, Gerhard Hanloser, Joachim Hirsch, Maria Wölflingseder, Imad Mustafa, Dieter Reinisch, Karl Reitter, Thomas Wüppesahl, Christian Schubert u.a. Die Machtausübung unserer Tage basiert auf mehreren Säulen. Noch immer scheint jene Definition zu gelten, mit der Antonio Gramsci vor bald 100 Jahren den (bürgerlichen) Staat beschrieb: "Hegemonie, gepanzert mit Zwang". Die jeweiligen Regierenden erkaufen die Akzeptanz zu ihrer Politik mit materiellen Zugeständnissen – so dies ökonomisch möglich ist. Parallel dazu betreiben sie eine Herrschaftstechnik, die immer offener zutage tritt: die Erzeugung von Angst. Dies ermöglicht dem Staat stärkere Befugnisse und lenkt die Aufmerksamkeit der Menschen auf das jeweilige Drohszenario. Die vermittelten Gefahren haben reale Ausgangspunkte und reichen von Terroranschlägen bis zur Ausbreitung von Viren. Dem Liberalismus ist das Autoritäre inhärent und er nutzt Bedrohungen, um die Kontrolle des sozialen Lebens auszuweiten und die demokratische Teilhabe weiter einzuschränken. Das Motto der Maßnahmen, seien es zunehmende Überwachung, Anti-Terrorgesetzgebung, Austeritätsregime, Ausgangssperren oder Lockdowns, lautet: Es gibt keine Alternative. Medien transportieren und verstärken diese Botschaft und sorgen dafür, dass die von oben verbreitete Angst nach unten in alle gesellschaftlichen Bereiche durchsickert, sodass Menschen dazu übergehen, sich gegenseitig unter Druck zu setzen, um den politischen Vorgaben Folge zu leisten. Der Sammelband "Herrschaft der Angst" setzt sich mit historischen Beispielen und Auswirkungen dieser – im Zuge der sogenannten Corona-Krise verstärkten – Strategie auseinander. Von den Notstandsverordnungen in der BRD der 1970er-Jahre über das Beispiel der israelischen Politik der Furcht bis zur Islamophobie und den Pandemie-Verordnungen reicht der Bogen der Beiträge. Dazu werden auch kulturelle und psychologische Folgen der Herrschaft durch Angst in den Blick genommen, die wiederum in negativer Weise auf die Gesellschaft zurückwirken. Ein emanzipatorischer Aufbruch ist dringend notwendig. Dafür ist eine Kritik an der verordneten Angst unerlässlich.

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Seitenzahl: 469

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Hannes Hofbauer/Stefan Kraft (Hg.)Lockdown 2020

© 2020 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-890-2(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-488-1)

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Promedia Verlag Wickenburggasse 5/12 A-1080 Wien

E-Mail: [email protected] Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhalt
Vorwort
Wie ein Ausnahmezustand gemacht w­ird
Moshe Zuckermann: Geschichte, Angst und Ideologie
Joachim Hirsch: Angst und Herrschaft – Einige staatstheoretische Überlegungen
Wolf Wetzel: Die endlose Geschichte der Ausnahmezustände (in Deutschland)
Birgit Sauer: Unsicherheitsmobilisierung, Versicherheitlichung und Regieren
Marlene Streeruwitz: Herrschaft ist Patriarchat ist alles und vor allem Angst
Norman Paech: Der unendliche Ausnahmezustand
Welche Rolle die Medien spielen
Michael Meyen: Die Medien-Epidemie – Journalismus, Corona und die neue Realität
Was gesund und was krank macht
Maria Wölflingseder: Wie Impfungen gegen Kritik immunisiert werden
Christian Schubert: COVID-19 – eine biopsychosoziale Krankheit?
Wohin die Angst vor Terror führt
Moshe Zuckermann: Angst in der israelischen politischen Kultur
Imad Mustafa: Wie in Europa Angst vor dem Islam erzeugt wird
Farid Hafez: Vom Regierungskritiker zum Terrorverdächtigen
Dieter Reinisch: Angst und Bedrohung im »Zeitalter des Terrorismus«
Was die Linke dazu sagt
Diether Dehm: Angst essen Zelle auf
Wolf Wetzel: Den Stier an den Hörnern packen
Rainer Fischbach: Krankheit und Angst, Ausgrenzung und Überwachung: die Enteignung des Lebens
Karl Reitter: Die Linke und die Angst vor Corona
AutorInnenbiografien
Der Promedia Verlag im Internet

Vorwort 

Zu Redaktionsschluss dieses Buches liegt ein Jahr der Angst hinter uns. Als sich im Frühjahr 2020 das SARS-Cov-2-Virus in Europa verbreitete, reagierten Medien und Politiker unisono mit einer gleichlautenden Botschaft. Eine Kampagne der Angst funktionierte wie ein »autoritäres Domino«, in dem sich Medien und Politik beständig gegenseitig unter Druck setzten, um ein immer stärkeres, noch furchterregenderes Bedrohungsszenario an die Wand zu malen. Von dieser Linie weicht man auch ein Jahr später nicht ab. Seien es Mutationen, zarte Öffnungsschritte, ein angeblich unzulängliches Verhalten der Bevölkerung : Noch immer dominiert in der Berichterstattung und in den Verlautbarungen der Regierungen der Ruf, man möge doch endlich die Bedrohung ernst nehmen, sich den Regeln unterordnen und dem sozialen Leben verweigern.

Dabei handelt es sich nicht um eine virologische Debatte. Sie wurde nur stetig als solche geführt, um andere Themen nicht aufkommen zu lassen. Es genügt ein Blick in die offiziellen Statistiken, um die Gefahr des Virus einschätzen zu können, an dem Menschen erkranken und sterben. Ein Weiterdenken über diesen beständig vorgebrachten Befund wäre längst an der Zeit, um zu erkennen, dass die Lockdowns verheerende soziale Folgen mit sich bringen, die vor allem die Unterprivilegierten und Verdammten dieser Welt mit voller Härte treffen. Und es reicht ein Blick in die Geschichtsbücher, um zu verstehen, mit welcher Leichtigkeit und Arroganz innerhalb eines Jahres wesentliche BürgerInnenrechte, die jahrzehntelang durch alle Bedrohungen Bestand hatten, mit einem Schlag ausgesetzt werden konnten.

Danach sollte man erkennen, dass die autoritäre und repressive Bewältigung einer Krise Mustern folgt, die den bürgerlichen – liberalen wie illiberalen – Staat seit jeher kennzeichnen. Nehmen wir als Vergleich den »Kampf gegen den Terror«, der in diesem Buch in mehreren Beiträgen analysiert wird. Die reale Bedrohung hat in ihrem Ursprung viel damit zu tun, wie westliche Allianzen heutzutage in der Welt agieren. Mit Kriegszügen in der arabischen Welt entfachte man den modernen Jihadismus, mit dem Raubbau an der Natur, riesigen und elendigen Fabrikstätten und einem seit drei Jahrzehnten attackierten öffentlichen Gesundheitswesen begünstigte man die Corona-Pandemie.

Der vermittelte Ausweg aus der Bedrohung besteht de facto in der Ausrufung des Ausnahmezustands und der Einschränkung sozialer, kultureller und demokratischer Freiheiten. Und vielleicht noch wichtiger : die mediale und auch strafrechtliche Verfolgung all jener, die dieser Entwicklung Widerstand entgegensetzen. So wie sich jeder Moslem nach jedem Anschlag von islamistischen Attentätern zu distanzieren hat, so wird auch jeder Gegner des Lockdowns und anderer Anti-Corona-Maßnahmen angeklagt, Verschwörungstheorien und anderen ausgemachten Feinden des liberalen Weltbilds Vorschub zu leisten.

Es ist beachtlich, wie sehr Margaret Thatchers Credo »There is no alternative« zu dem Leitmotiv des neoliberalen Staates wurde. Eines Staates, der von Jahr zu Jahr weniger seinen sozialen Aufgaben gerecht wird und stattdessen seine Politik immer autoritärer gestaltet. Nein, es soll keine Alternative mehr existieren zur Verfolgung von Moslems, zu Austeritätsmaßnahmen, die ganze Länder in Südeuropa in die Hoffnungslosigkeit stürzen, zur globalen und nationalen Ungleichheit, zu Ausgangssperren, zum Ausschluss des Parlaments, zu Impfungen und zur Mainstream-Meinung.

Fragen wir hoffnungsfroher : Wo kann eine Alternative entstehen ? Sie entsteht dort (und ist immer dort entstanden), wo sich Menschen Herrschaft und Angst widersetzten. Die Zeichen dafür mögen schon einmal besser gestanden sein. Denn eine Linke (wie wir sie in diesen vergangenen Monaten erleben), die in der schärfsten gesellschaftlichen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg dazu aufruft, den bürgerlichen Staat zu schützen, ja seine autoritäre Ausprägung zu übertreiben, hat ihren Anspruch auf Opposition verwirkt. Aber damit ist nur gesagt, dass emanzipatorische Positionen gegen die Herrschaft der Angst heutzutage von einigen wenigen vertreten werden. Unser Buch dokumentiert eine Auswahl dieser Stimmen. Auf dass sie mehr werden.

Wien, im März 2021 Hannes Hofbauer und Stefan Kraft

Wie ein Ausnahmezustand gemacht w­ird

Moshe Zuckermann:Geschichte, Angst und Ideologie 1

Der Konnex von Politik und Angst darf als axiomatisch gelten. Von jeher basierte die Machtausübung auf einem gewissen Maß von Angst derer, die sich der Herrschaft unterwarfen. In der Neuzeit war wohl Thomas Hobbes der erste, der diese inhärente Verbindung prägnant auf den Punkt brachte: Die durch einen fundamentalen ökonomischen Mangel hervorgerufene Gleichheit im Naturzustand schafft eine durch permanente Unsicherheit und gegenseitiges Misstrauen gekennzeichnete Realität, die zwangsläufig in den »Krieg eines jeden gegen jeden« führen muss, einen Krieg, der fortwährt, solange die Menschen »ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht« leben. Hobbes beschreibt diesen Krieg als einen Zustand beständigen Schreckens, in dem das menschliche Leben »einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« sei; nicht von ungefähr zählt er unter den verschiedenen Ursachen für das notgedrungene Übereinkommen der Menschen, sich jener »allgemeinen Macht« zu unterwerfen, die entscheidendste – »was das Schlimmste von allem ist« –, nämlich die »beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes«.2

Diese Auffassung des notwendigen Übergangs vom Naturzustand in den Zustand herrschaftlicher Souveränität diente Hobbes zur philosophischen Legitimation der absoluten Monarchie – eine mögliche, wenn auch keineswegs zwingende Folgerung, wie sich alsbald an Lockes und späterhin Rousseaus politischer Philosophie erweisen sollte. Gleichwohl erfasste Hobbes das Wesentliche: die zivilisatorische Verkettung von Politischem mit Angst. Hobbes’ Lehre bezog sich allerdings auf die reale Angst, die rational nachvollziehbare, vom Überlebensinteresse geleitete Reaktion des Geängstigten angesichts einer wirklichen Bedrohung: jeder Mensch im Hobbes’schen Naturzustand ist in der Tat durch jeden anderen potenziell bedroht. Dies sei hervorgehoben, denn mittlerweile hat der Angstbegriff eine wesentliche Modifikation erfahren, nämlich die von Freud vorgenommene Unterscheidung zwischen Realangst und neurotischer Angst. Realangst begreift Freud als »eine uns begreiflich scheinende Reaktion auf die Gefahr, d. h. auf erwartete Schädigung von außen«, wohingegen die neurotische Angst als »durchaus rätselhaft, wie zwecklos« erscheinen mag.3 Freud unterscheidet demnach zwischen der sogenannten »Signalangst«, die der Wahrnehmung realer Gefahren und der Möglichkeit, ihnen durch adäquates Verhalten zu entgehen, dient, und der neurotischen Angst, einer trügerischen, dem Menschen imaginäre Gefahren vorspiegelnden Täuschung. Die Bereitschaft, sich einer solchen Täuschung hinzugeben, erklärt sich für Freud damit, dass sie uneingestandene, von frühen Kindheitserlebnissen herrührende emotionale Bedürfnisse zu befriedigen vermag.4

Die sich auf Freud berufende Psychoanalytikerin Thea Bauriedl postuliert einen Zusammenhang zwischen der individuellen und der allgemein-politischen Dimension der Angst. Die Angst sei sowohl in der Politik als auch im persönlichen und psychotherapeutischen Rahmen immer dann »neurotisch« bzw. gefährlich, wenn sie verschoben ist, d. h., »wenn das als angstauslösend erlebte Objekt nur deshalb gefürchtet wird, weil man sich vor ihm scheinbar gefahrloser fürchtet als vor der eigentlichen Angstquelle«. Die eigentliche Angstquelle sei aber immer die zugrunde liegende Konfliktsituation. Für den neurotischen Vorgang der Verschiebung von Angst oder der Projektion von Gefährlichkeit gebe es sowohl in der Politik als auch in der Psychopathologie zahllose Beispiele. »Jeder Mensch manipuliert sich in größerem oder kleineren Ausmaß selbst, indem er seine Ängste verschiebt.« 5 Dies will wohlverstanden sein: Es geht hierbei nicht um die simple isomorphe Analogisierung von vermeintlich verschiedenen Sphären, sondern vielmehr um die Einsicht in die wesenhafte Verwurzelung des Kollektivpsychischen in der Psychologie des Einzelnen bzw. um das Postulat einer determinanten Wirkung der individuellen Triebdynamik auf die Kollektivsphäre, wie sie von Freud selber dargelegt wurde.6 Gerade deshalb sollte freilich eine Erörterung der Wechselwirkung von Individuell-Psychischem und Kollektiv-Politischem im Sinne des von Adorno seinerzeit gegen Arthur Koestler erhobenen Einwands eingeschränkt werden: »Es gibt keine ›politische Neurose‹, wohl aber beeinflussen psychische Deformationen das politische Verhalten, ohne doch dessen Deformation ganz zu erklären.« 7 Auf einer solchen Grundlage konnte denn Adorno postulieren, die Struktur des Faschismus und die gesamte Technik faschistischer Demagogen sei autoritär,8 zugleich aber auch ausdrücklich hervorheben, dass »so gewiß der faschistische Agitator bestimmte innere Tendenzen derer aufgreift, an die er sich wendet, so tut er das doch als Agent mächtiger wirtschaftlicher und politischer Interessen«.9Geschichte, Angst und Ideologie

Dieser Punkt ist für die weiterfolgenden Überlegungen von einiger Bedeutung. Er berührt das dialektische Verhältnis von als »Kitt« des sozio-politischen Systems fungierenden psychischen Bedürfnissen und selbigem System, das besagte Bedürfnisse ideologisch »erweckt«, reproduziert und affirmativ verfestigt. So besehen ist die Bedürfnismanipulation im Dienste heteronomer Interessen in zweierlei Hinsicht ideologisch: Zum einen verfrachtet sie die letzten Reste des Authentischen an den (wie immer pathologischen und deformierten) Bedürfnissen in die Tauschsphäre und objektiviert so die emotionalen Bedürfnisse zu Waren; andererseits betreibt sie die Konservierung, fortwährende Formung und gelegentliche Befriedigung nämlicher Bedürfnisse und versichert sich so ihrer Funktion als Bedürfnisse, als etwas also, das sich nur noch vermittels seiner Befriedigung eliminieren lässt (bzw. durch die Errichtung eines Systems, das der Pathologie jener Bedürfnisse für seinen Fortbestand nicht mehr bedürfte).10 Das unter anderem meinte wohl seinerzeit Alexander Mitscherlich, als er behauptete: »Die Angstbeengung, die in jeder Tradition sowohl aufrechterhalten wie in der Befolgung der Gebote beschwichtigt wird, steht uns auf Schritt und Tritt im Wege. An die Umstände sind immer harte Interessen geknüpft, man kann ihnen nur entgegentreten, wenn man die Angst überwindet, die zu ihrer Wahrung erweckt wird. Die ideologisch manipulierte Angst ist kein Schutzmechanismus der Arterhaltung, sondern eine zweifelhafte Taktik, die man am besten mit Zweifel abwehrt.« 11 Nun ist aber die Angstmanipulation nicht notwendig an konkreten Personen oder Institutionen ausmachbar. Sowenig es jemals wirklicher »Weisen von Zion« zur Verfassung und Verbreitung ihrer »Protokolle« bedurfte, so ist die Ideologisierung der Angst nicht unbedingt an ein bestimmtes Subjekt gebunden. Das ist es ja eben, was ihren manipulativen Charakter ausmacht: Objektiv dient sie immer einem bestimmten Interesse, ohne dass es der Manipulierte unmittelbar erkennt (zumeist ist er zu sehr mit seiner Angst beschäftigt), zuweilen auch ohne dass der Manipulierende selbst sich des ihn leitenden Interesses ständig bewusst wäre. Haben sich die Rationalisierungen von manipulierenden Interesseninhabern und deren »Opfer« dermaßen ineinander vermengt und verfestigt, dass sie kaum mehr auseinanderzuhalten sind, kann man von einer übergreifenden Ideologie, einem kollektiven »falschen Bewusstsein« (»nationalem Konsens« etwa), sprechen.

1 Dieser Artikel wurde 1995 unter dem Titel »Geschichte, Angst und Ideologie. Aspekte der israelischen politischen Kultur« verfasst. In diesem Band geben wir ihn in zwei Teilen wieder, der Abschnitt zu Israel findet sich im hinteren Bereich des Buches, Anm. d. Hg.

2 Thomas Hobbes, Leviathan, Frankfurt/M–Berlin–Wien 1976, S. 96 (Hervorhebung vom Autor).

3 Sigmund Freud, Angst und Triebleben, in: Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M 1982, S. 517.

4 Freud bezeichnet die in der realen Angstsituation gesteigerte sensorische Aufmerksamkeit und motorische Spannung als »Angstbereitschaft«, aus der sich die »Angstreaktion« entwickelt, die wiederum eines von beidem ermöglicht: »Entweder die Angstentwicklung, die Wiederholung des alten traumatischen Erlebnisses, beschränkt sich auf ein Signal, dann kann die übrige Reaktion sich der neuen Gefahrenlage anpassen, in Flucht oder Verteidigung ausgehen, oder das Alte behält die Oberhand, die gesamte Reaktion erschöpft sich in der Angstentwicklung, und dann wird der Affektzustand lähmend und für die Gegenwart unzweckmäßig«. Ebd., S. 518. Es sei erwähnt, dass Freud allgemein zwischen »Angst«, die sich auf den Zustand bezieht und vom Objekt absieht, »Furcht«, die die Aufmerksamkeit gerade auf das Objekt richtet, und »Schreck«, der die Wirkung einer Gefahr hervorhebt, welche nicht von einer Angstbereitschaft empfangen wird, unterscheidet. Vgl. Die Angst, ebd., S. 382.

5 Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten, München 1986, S. 29 f.

6 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M 1982, S. 61 ff.

7 Theodor W. Adorno, Bemerkungen über Politik und Neurose, in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/M 1971, S. 91.

8 Theodor W. Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/M 1971, S. 43.

9 Ebd., S. 62.

10 Man mag in diesem Zusammenhang an Adornos Diktum denken, demzufolge die totalitäre Psychologie »den Primat einer gesellschaftlichen Realität« spiegele, »welche Menschen erzeugt, die bereits ebenso irr sind wie jene selber. Der Irrsinn aber besteht gerade darin, daß die eingefangenen Menschen nur als Agenten jener übermächtigen Realität fungieren, daß ihre Psychologie nur noch eine Durchgangsstation von deren Tendenz bildet.« Adorno, (Anm. 7), S. 91.

11 Alexander Mitscherlich, Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963, S. 300.

Joachim Hirsch: Angst und Herrschaft – Einige staatstheoretische Überlegungen

Zwischen Angst und Herrschaft gibt es einen engen Zusammenhang, der jedoch einige Widersprüche aufweist. Real begründete oder strategisch geschürte Angst hat bei der Begründung und Stabilisierung von Herrschaft schon immer eine bedeutsame Rolle gespielt. Dies wird etwa deutlich bei der Entstehung des modernen Staates im 16. und 17. Jahrhundert. Der US-amerikanische Historiker Charles Tilly hat diesen als eine Art Schutzgelderpresser bezeichnet, der von den Bürger*innen Gehorsam und finanzielle Leistungen verlangt und im Austausch dafür Schutz vor äußeren und inneren Feinden bietet.12 Und Thomas Hobbes rechtfertigte damit vor dem Hintergrund der englischen Bürgerkriege den sich entwickelnden Absolutismus. Nach ihm ist im Naturzustand, also in einer sich selbst überlassenen Gesellschaft der Mensch des Menschen Wolf und deshalb schwebe Jede*r in ständiger Lebensgefahr. Dieser lebensbedrohlichen Situation sei nur abzuhelfen, wenn alle individuellen Rechte an einen absoluten Herrscher abgetreten werden, einen mit ausschließlicher Gewalt ausgestatteten »Leviathan«, der damit und als Einziger in der Lage sei, das Leben der Menschen zu schützen. Er konstruiert also einen (fiktiven) Vertrag, den die auf einem staatlich kontrollierten Territorium lebenden Menschen zugunsten des Herrschers abschließen.13

Historisch spielte der verheerende Dreißigjährige Krieg (1618−1648) in Mitteleuropa eine ähnliche Rolle bei der Durchsetzung des Absolutismus und damit des modernen Staates. Dieser Zusammenhang prägt im Übrigen staatstheoretische Überlegungen bis in die neuere Zeit. Max Weber bezeichnete das »Gewaltmonopol« als zentrales Merkmal des modernen Staates, als eine zivilisatorische Errungenschaft, die es möglich mache, Schutz vor Bedrohungen aller Art zu erhalten.14 Das Risiko, vom Nachbarn überfallen zu werden, wird dadurch immerhin geringer. Was passiert, wenn dies nicht gewährleistet ist, lässt sich nicht nur an vielen aktuellen Bürgerkriegen, sondern auch am Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft ablesen, wo dieses Gewaltmonopol nicht völlig durchgesetzt ist und der private Waffenbesitz zur Selbstverständlichkeit gehört. Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen purer Gewaltherrschaft und einer solchen, die hegemonialen Charakter hat. »Hegemonial« bedeutet, dass die Herrschenden bereit sind, in gewissem Umfang den Interessen der Beherrschten Rechnung zu tragen, also z. B. den Schutz ihres Lebens zu versprechen und damit ihre freiwillige Gefolgschaft zu erlangen.

Diese und viele andere staatstheoretische Konzepte verweisen auf einen grundlegenden Widerspruch, der darin besteht, dass in einer von Gewalt und Ungleichheit geprägten Gesellschaft Herrschaft zugleich Sicherheit bietet und Freiheit beschränkt. Die moderne liberale Demokratie kann als ein Verfahren betrachtet werden, diesen Widerspruch, wenn nicht aufzuheben, so doch dadurch handhabbar zu machen, dass die Staatsgewalt demokratischen Kontrollen unterworfen wird. Die revolutionäre Bourgeoisie schaffte es damit, den Bürgerkrieg, der den kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen immanent ist, zu vermeiden und die Freiheitsbeschränkungen, die damit verbunden sind, in ein rechtliches Regelwerk einzubinden. Mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft kam nun zum Schutz des Lebens die Sicherung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit die – eben auf das Gewaltmonopol gestützte – Befestigung der kapitalistischen Klassenverhältnisse als vorrangige Staatsaufgabe. Diese Klassenverhältnisse bedeuten aber zugleich, dass die demokratische Qualität des Staates höchst beschränkt ist, weil grundlegende, die gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen bestimmende, Entscheidungen von privaten Unternehmen getroffen werden, der Steuerstaat vom Funktionieren der Ökonomie und damit von der Profitabilität des Kapitals abhängig ist, ganz abgesehen vom privilegierten Einfluss der »Wirtschaft« auf die Politik. Der in dem Verhältnis von Angst, Freiheit und Herrschaft liegende Widerspruch bleibt also auch in der liberaldemokratisch verfassten kapitalistischen Gesellschaft wirksam.

Die Entwicklung der Nationalstaaten verlieh der Sicherheitsfrage eine neue Dimension. Die Machtauseinandersetzungen im anarchischen Staatensystem sorgten für eine ständig vorhandene Kriegsgefahr und die von der kapitalistischen Verwertungsdynamik angetriebene Staatenkonkurrenz, der Kolonialismus sowie imperialistische Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse ließen relativ privilegierte Wohlstandsfestungen entstehen, die ihre Position – teilweise durchaus demokratisch legitimiert – gegebenenfalls mit Gewalt verteidigen. Dies kennzeichnet auch die Geburt des modernen Rassismus. Aktuell geschieht dies vor allem im Zusammenhang von Flucht und Migration, die von der Bevölkerung in den privilegierten Teilen der Welt als Bedrohung und Wohlstandsrisiko wahrgenommen werden und werden sollen. Staatlich garantierte Sicherheit in der Unsicherheit gewann dadurch eine globale Dimension.

Mit der Durchsetzung des Kapitalismus entstanden aber auch ganz neue Angstpotenziale, die nicht nur der unmittelbaren Lebensgefahr, sondern dem »stummen Zwang der Verhältnisse« geschuldet sind, wie Marx schrieb.15 Die aus ihren herkömmlichen sozialen Beziehungen und Lebensverhältnissen herausgerissenen und nur noch über ihre Arbeitskraft verfügenden Menschen sahen sich der ständigen Bedrohung durch Armut, Krankheit oder Arbeitslosigkeit ausgesetzt, eine Situation, die den Bestand der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bedrohte – nicht nur in Form revolutionärer Bewegungen, sondern auch dadurch, dass die Verfügbarkeit der für die Kapitalverwertung erforderlichen Arbeitskraft überhaupt infrage stand. Die Regulierung der Bevölkerung, ihres Wachstums und ihrer Gesundheit wurde dadurch zu einer zentralen Aufgabe. Dies veranlasste die Staaten, nach und nach einige soziale Sicherheitssysteme einzuführen. Marx hat dies anhand der englischen Fabrikgesetzgebung anschaulich dargestellt.16 Beide Entwicklungen zusammen hatten den Effekt, auch die unteren Schichten an die staatliche Herrschaft zu binden. In Deutschland verfolgte die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung neben den repressiven Sozialistengesetzen erklärtermaßen das Ziel, revolutionäre Umtriebe zu verhindern. Was die Integration der sich ursprünglich revolutionär verstehenden Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staat angeht, war dies auch erfolgreich.

Der Zusammenhang von Angst und Herrschaft beinhaltet noch einen weiteren Widerspruch. Je autoritärer die Herrschaftsverhältnisse sind, desto größer ist auch das Risiko von Revolten und Aufständen. Deshalb sind auch die Herrschenden tendenziell in ihrer Sicherheit bedroht, was sie wiederum dazu veranlassen kann, zu noch härteren Unterdrückungsmethoden zu greifen. Selbst in liberaldemokratisch verfassten Staaten bleibt dieser Widerspruch bis zu einem gewissen Grad wirksam. Angst ist daher auch hier den Herrschenden nicht fremd.

Dies lässt sich in der Geschichte bis heute verfolgen. In Deutschland waren es nicht zuletzt die gesellschaftlichen Umwälzungen und die verheerenden Wirtschaftskrisen nach dem Ersten Weltkrieg, die der Nazi-Diktatur zur Macht verhalfen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Restauration der durch den Nationalsozialismus und dessen Unterstützung durch wesentliche Teile des Kapitals in Frage gestellten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sehr stark mit der Bedrohung aus dem Osten, dem Kalten Krieg und der damit verbundenen Ideologie des Antikommunismus legitimiert. Eine Folge davon war das Verbot der Kommunistischen Partei und die späteren Berufsverbote. Mit dem Datum 1968 verbindet sich nicht nur das kurze liberale und demokratische Zwischenspiel der Studierendenrevolte, sondern auch die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Sie beinhalten eine zunächst auf Vorrat angelegte Einschränkung demokratischer Verfahren und Grundrechte, die wiederum mit kriegerischen Bedrohungen gerechtfertigt wurde, aber durchaus auch auf die Herrschaftssicherung bei inneren Unruhen zielte. Immerhin erzeugte das Auftreten neuer Protestbewegungen und damit auch das allmähliche Verblassen des Antikommunismus neue Herrschaftsrisiken. Allerdings wurde damals dafür noch eine Verfassungsänderung als nötig erachtet, was bei der Corona-Krise praktisch keine Rolle mehr spielte. Es folgte der die Sicherheitsorgane – Polizei und Geheimdienste – mit weitgehenden Ermächtigungen ausstattende Erlass von Sicherheitsgesetzen und damit ein weiterer Ausbau des autoritären Staates im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die RAF in den Jahren 1977−1979 sowie später dann dasselbe und noch einmal verstärkt nach 2001, diesmal legitimiert mit der Bedrohung durch den islamistischen Terror. Charakteristisch ist dabei, dass einige der dabei installierten Kontroll-, Überwachungs- und Eingriffsrechte mit Terrorabwehr überhaupt nichts zu tun hatten, wie etwa Heribert Prantl aufgezeigt hat.17

Die Corona-Krise markiert eine neue Stufe dieser durch den Zusammenhang von Angst und Herrschaft gekennzeichneten Entwicklung, die ich, auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bezogen, als »Sicherheitsstaat 4.0« bezeichnet habe.18 Zweifellos hängt das Auftreten des COVID-19-Virus stark mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus, der damit verbundenen Industrialisierung der Landwirtschaft und der Zerstörung natürlicher Lebensräume zusammen. Es ist allerdings völlig unangebracht, wenn behauptet wird, dies wäre von irgendwelchen dunklen Mächten planmäßig ins Werk gesetzt worden. Die Pandemie wird jedoch herrschaftstechnisch benutzt, nicht nur zur Aufhebung zentraler Grund- und Freiheitsrechte, sondern auch zum weiteren Ausbau des Kontroll- und Überwachungsstaates. Zur Legitimierung der zur Eindämmung der Pandemie eingeführten Zwangsmaßnahmen hat die Regierung, unterstützt durch ihre medialen Begleiter, systematisch Ängste geschürt, um die Bereitschaft zur Hinnahme der Beschränkungen zu fördern. Ihre ziemlich disparate Krisenpolitik ist nicht allein durch tatsächlich vorhandene Informationsdefizite hinsichtlich der Wirkungsweise und der Gefährlichkeit des Virus, sondern auch durch eine durch eigene Ängste geschürte Art Panik zu erklären.

Die Furcht davor, Verantwortung für die Folgen der Pandemie übernehmen zu müssen, hat oft zu überstürzten und recht planlos eingesetzten Maßnahmen geführt. Eine sachgerechte Strategie war kaum zu erkennen. Das gilt zum Beispiel für einen vorausschauenden Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen – Alte, durch Krankheit vorbelastete oder in Sammelunterkünften Lebende – beziehungsweise für den zügigen Ausbau von Behandlungskapazitäten, was selbst nach dem ersten Lockdown monatelang versäumt wurde. Stattdessen wurden unspezifische Restriktionen für alle angeordnet. Sie hatten nicht zuletzt den Zweck, Handlungskompetenz vorzutäuschen. In Wirklichkeit also eine Inkompetenz, die ebenfalls aus Angst gespeist wurde und weitere Ängste erzeugte. Ein weiteres Beispiel ist das Chaos bei der Versorgung mit Impfstoffen, das nicht nur durch den Mangel an vorausschauender Planung, sondern auch durch die Rücksichtnahme auf die Profitinteressen der Pharmakonzerne erklärbar ist. Auf eine Beschränkung von Patentrechten, etwa durch die Ermöglichung von Zwangslizenzen für Generikahersteller, wurde verzichtet. Auch dies ist ein Hinweis auf die Grenzen staatlicher Macht und damit die Grenzen der Demokratie unter kapitalistischen Bedingungen.

Interessant ist, dass in der COVID-19-Krise tatsächlich so etwas wie die Hobbes’sche Situation entstanden ist: Die unmittelbare Furcht vor dem Tod begründet und rechtfertigt den Verzicht auf Freiheitsrechte und die weitgehende Ermächtigung des staatlichen Leviathans. Der Schutz des Lebens bekommt Vorrang vor allen Rechten, auch denen, die für ein würdiges Leben grundlegend sind. Und da das Virus sich über menschliche Träger verbreitet, werden alle anderen zum potenziellen Existenzrisiko, der Mensch also zum Menschen Feind. Dass die Natur auf diese Weise zurückschlägt, ist eine Entwicklung, die in Zukunft verstärkte Bedeutung erhalten wird, nicht nur in Form drohender neuer Pandemien, sondern auch des menschengemachten Klimawandels. Gerade dieser wird aller Voraussicht nach weitere erhebliche Einschränkungen nach sich ziehen.

Was Michel Foucault als »Biopolitik« bezeichnet hat, eine Entwicklung, die seit der Durchsetzung des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung gewann und auf eine Abstimmung von Kapital- und Bevölkerungsakkumulation zielt, hat damit einen neuen Höhepunkt erreicht. »Die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit all ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung.«19 Es handelt sich dabei um ein komplexes Dispositiv, bei dem der menschliche Körper selbst zum Ansatzpunkt von Machtstrategien gemacht wird und bei dem Fürsorge und Schutz repressive oder ideologische Herrschaftstechniken ergänzen. »Denn wenn die Macht nur die Funktion hätte, zu unterdrücken, wenn sie nur im Modus der Zensur, der Ausschließung, der Absperrung, der Verdrängung nach Art eines mächtigen Über-Ichs arbeitet, wenn sie sich nur auf negative Weise ausüben würde, wäre sie sehr zerbrechlich. Stark aber ist sie, weil sie positive Auswirkungen auf der Ebene des Begehrens (…) und auch auf der Ebene des Wissens hervorbringt. Die Macht ist weit davon entfernt, das Wissen zu verhindern, sie bringt es vielmehr hervor.«20

Der Medizin kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, wie sich aktuell an der prominenten Rolle von Ärzten und Virologen in den herrschenden Machtdiskursen zeigt. Hier verbinden und verknüpfen sich unterschiedliche Machtstrategien.

Früher konnte der Staat sagen: »Ich werde euch ein Territorium geben« oder »Ich garantiere euch, dass ihr innerhalb eurer Grenzen in Frieden leben könnt«. Das war der Territorialvertrag, und die Sicherung der Grenzen war die Hauptaufgabe des Staates. Heute stellt sich das Problem der Grenzen kaum noch. Der Vertrag, den der Staat der Bevölkerung anbietet, lautet darum: »Ich biete euch Sicherheit«. Sicherheit vor Unsicherheiten, Unfällen, Schäden, Risiken jeder Art.(…) Ein Staat, der Sicherheit schlechthin garantiert, muss immer dann eingreifen, wenn der normale Gang des alltäglichen Lebens durch ein außergewöhnliches, einzigartiges Ereignis unterbrochen wird. Dann reicht das Recht nicht mehr aus. Dann sind Eingriffe erforderlich, die trotz ihres außerordentlichen, außergesetzlichen Charakters dennoch nicht als Willkür oder Machtmissbrauch erscheinen dürfen, sondern als Ausdruck von Fürsorge.21

In Bezug auf die heutige Situation waren diese Gedanken außerordentlich vorausschauend. Und dabei verbinden und verstärken sich unterschiedliche Machtbeziehungen, so etwa staatlich organisierte Überwachung und Kontrolle mit der Beobachtung und gegebenenfalls auch Denunziation von Nachbarn und Bekannten bei wahrgenommenen Regelverletzungen.

Die staatlichen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung beschleunigen im Übrigen eine Entwicklung, die sich schon länger als Folge der neoliberalen Reorganisation des Kapitalismus nach der Krise der 1970er-Jahre des letzten Jahrhunderts abzeichnete. Sie ist gekennzeichnet durch eine wachsende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Verarmung, nicht zuletzt auch eine zunehmende Existenzbedrohung weiter Teile der Mittelschichten, gesellschaftliche Spaltungen und damit verbunden eine um sich greifende Perspektivlosigkeit. Nicht zuletzt daher rühren die immer deutlicher zum Vorschein tretende Krise der liberalen Demokratie und der darin zum Ausdruck kommende Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien. Die damit sich abzeichnende Tendenz zu autoritäreren politischen Verhältnissen wird durch die Corona-Krise nur weiter befördert.

Auffallend ist dabei, was aus der ehemaligen, im Zuge der Studierendenrevolte nach 1968 entfalteten, nicht zuletzt auf Marx, Gramsci oder Poulantzas gestützten Staatskritik geworden ist. Auf deren Grundlage wurden noch die seit den Notstandsgesetzen durchgeführten sicherheitsstaatlichen Maßnahmen mit guten Gründen kritisiert. Diesbezüglich ist in der Corona-Krise praktisch nichts mehr zu vernehmen. Tendenziell wurden von linken Kreisen eher noch härtere staatliche Eingriffe und Freiheitsbeschränkungen gefordert. Dabei hätte es eigentlich nahe gelegen, nicht nur nach dem Charakter des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft, sondern konkreter noch nach den Interessen zu fragen, die hinter der Art und Weise ihrer Durchsetzung im Zusammenhang mit der anhaltenden kapitalistischen Krise stehen. Oder zu erörtern, weshalb die Geschäfte von Internetkonzernen massiv gefördert und große Unternehmen wie beispielsweise die Lufthansa oder TUI mit massiven Subventionen gestützt wurden, während andere, nicht nur kleingewerbliche Unternehmen vor der Pleite oder Kulturschaffende vor dem ökonomischen Aus stehen. Dies ist verbunden mit einer exzessiven Staatsverschuldung, für die am Ende die gemeinen Steuerzahler*innen werden aufkommen müssen.

Immerhin ist es erstaunlich, wie umstandslos das bisher geltende neoliberale Mantra des ausgeglichenen Staatshaushalts kassiert wurde. Damit wurde ein staatlich inszenierter Konzentrations- und Monopolisierungsprozess eingeleitet, der den Übergang zu einem digitalisierten Kapitalismus befördern soll und von dem eine Lösung der schon länger andauernden ökonomischen Krise durch die Erschließung neuer Verwertungsmöglichkeiten erwartet wird. Überlegungen dazu, so wie sie etwa Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy zur Etablierung eines neuen Akkumulationsmodells vorgestellt haben, findet man in der sich als kritisch verstehenden Literatur kaum.22 Immerhin ist es bemerkenswert, dass die Börsenkurse nach dem kurzen Einbruch am Beginn der Krise inzwischen enorm gestiegen sind. Dieses Versäumnis ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie Angst Kritik an Herrschaft abtötet und diese damit stabilisiert.

Es ist abzusehen, dass die Gesellschaft als Folge der Krise einen völlig anderen Charakter erhalten wird. Die Veränderungen werden mit denen vergleichbar sein, die bislang durch verheerende Kriege verursacht wurden. Auch diese haben immer bewirkt, dass die Kapitalverwertung auf eine neue gesellschaftliche und ökonomische Basis gestellt werden konnte. Das kurze Zeitalter relativ liberaler gesellschaftlicher und politischer Zustände dürfte sich dem Ende zuneigen, nicht nur was die zunehmend autoritär agierende Staatsmaschinerie mit ihren Überwachungs- und Kontrollinstrumenten, sondern auch was den Zustand der Zivilgesellschaft angeht. Die durch die Krisenpolitik verursachte Gewöhnung an den Ausnahmezustand dürfte diese überdauern. Die Unfähigkeit von Medien und Wissenschaft, die Regierungsmaßnahmen kritisch zu überprüfen, die Neigung, diese schlicht und einfach zu rechtfertigen und damit selbst Ängste zu schüren, hat ihre Funktion als demokratisches Korrektiv ernsthaft infrage gestellt. Das dürfte Folgen haben. Ein Indiz dafür ist auch die Wandlung der Partei Die Grünen, die sich in Abkehr von ihren ursprünglich noch eher liberalen und demokratischen Traditionen zur schlichten Staatspartei gemausert hat.

Der Zusammenhang von Angst und Herrschaft wird also nicht nur in der aktuellen Situation, sondern auch mit dem Blick auf die Geschichte deutlich. Ihn aufzulösen, bedürfte es einer angstfreien Gesellschaft, einer Gesellschaft, die allen ein sicheres Leben gewährt und Freiheit mit dem Wohlergehen aller verbindet. Und die es lernt, auf rationale Weise mit dem Tod umzugehen, also ihn weder zu leugnen noch als diffuse Bedrohung wahrzunehmen, wie Stefan Kraft geschrieben hat.23 Die Vorstellung eines »Naturzustandes«, bei dem den Menschen bestimmte Eigenschaften wie eine wesensmäßige Aggressivität zugeschrieben werden, wie etwa Hobbes es getan hat, ist kaum haltbar. Wie Menschen sich verhalten, hängt sehr wesentlich von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen sie leben. Allerdings bedeutet Freiheit immer auch die Möglichkeit von Konflikten und die Frage ist, wie diese angstfrei zu bewältigen sind. Dieser Widerspruch wird bleiben und ihn zu bewältigen wäre am ehesten in einer realen Demokratie möglich, die den Menschen nicht nur beschränkte Mitwirkungsrechte an den sie betreffenden Entscheidungen einräumt, wie es gegenwärtig der Fall ist, sondern eine umfassende Selbstbestimmung und Selbstverwaltung und damit eine friedliche Aushandlung von Konflikten ermöglicht.

Unter kapitalistischen Bedingungen ist dies allerdings undenkbar. Es ist kein Zufall, dass es in der aktuellen Krise zu keinerlei Ansätzen kam, sie durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten, durch Selbstorganisation und Eigeninitiative, also demokratisch zu bewältigen. Das wäre mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen kaum vereinbar. Es ginge also darum, ganz neue gesellschaftsorganisatorische Vorstellungen und Konzepte zu entwickeln, die über Staats- und Ökonomiekritik hinausgehen.

12 Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe. Princeton 1975

13 Thomas Hobbes,: Leviathan, Frankfurt/ Main 2020

14 Max Weber, Max, Staatssoziologie. Berlin 1966

15 Karl Marx, Karl, Das Kapital, Band 1. Berlin 1969

16 ebd.

17 Heribert Prantl, Verfallsdatum? In: Süddeutsche Zeitung vom 25./26. April 2020

18 Joachim Hirsch, Sicherheitsstaat 4.0, in: Hannes Hofbauer/Stefan Kraft (Hg.), Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Wien 2020

19 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/Main 1983, S. 167

20 Michel Foucault, Analytik der Macht. Frankfurt/Main 2005, S. 78

21 Ebd., S. 139 f.

22 Hannes Hofbauer/ Andrea Komlosy, Neues Akkumulationsmodell, in: Hofbauer/Kraft (Hg.), Lockdown 2020. Wien 2020

23 Stefan Kraft , Der ausgeschlossene Tod, in: Hofbauer/Kraft (Hg.), Lockdown 2020. Wien 2020

Wolf Wetzel: Die endlose Geschichte der Ausnahmezustände (in Deutschland)

Der (drohende) Gesundheitsnotstand, der ausgerufene Corona-Ausnahmezustand seit März 2020 kostet nicht nur Menschenleben, sondern auch Nerven, Freundschaften und Erkenntnisdrang. Wer glaubte, dass das eben nur ein Gewitter ist, also auch wieder (schnell) vorbeizieht, hat sich getäuscht. Der ersten (Pandemie-)Welle folgt die nächste, und – mit dem starren, angstgewaideten Blick auf die nächste Welle – wird das, was zuvor »nur« Verordnungen waren, in ein Gesetz implantiert: man kann auch sagen, niet- und nagelfest gemacht. Das 3. Gesetz zum Infektionsschutzgesetz wurde am 18. November 2020 im Bundestag verabschiedet, mit den Stimmen der Großen Koalition (CSU/CDU und SPD). Die Partei DIELINKE stimmte dieses Mal dagegen. Die Begründung war ziemlich lau: Man müsse bei derart massiven Grundrechtseinschränkungen das Parlament miteinbeziehen bzw. die legislative Macht des Parlamentes zurückholen.

Aber was ändert sich an den massiven Grundrechtseinschränkungen, wenn der Bundestag diese mehrheitlich absegnet? Geht es nicht darum, zumal als Linke, Grundrechtseinschränkungen zu widersprechen, die erkennbar und nachweislich nicht der Gesundheit dienen und hochgradig wenig mit medizinischer Evidenz zu tun haben?

Wenn man das so – unausgeführt und grob – dahin schreibt, spürt man das Schnaufen und Stöhnen im Nacken. Aber es kommt noch schlimmer: Auf Demonstrationen der Querdenker*innen tauchte immer wieder einmal der Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 auf. Die Reaktionen von rechts bis links waren staatstragend und von extrem dünner Substanz.

Dann hat auch die AfD diesen Vergleich in den Bundestag eingeschleust und am Tag der Abstimmung mit Schildern auf die Bildschirme gebracht. Daraufhin war es ganz aus – mit einer ruhigen Betrachtung. Jetzt ging es nicht mehr um den Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933, sondern um die AfD. Plötzlich waren alle Antifaschist*innen.

Selbstverständlich ist es heuchlerisch, wenn sich die AfD zur Schutzpatronin der Rechtlosen aufschwingt. Darüber kann und muss man sich aufregen, kurz, um genug Luft für die Frage zu holen: Warum lässt sich die Linke den Kampf um Grund- und Schutzrechte aus der Hand nehmen? Warum führt sie nicht die Debatten, den Widerspruch an? Dazu gehören auch Vergleiche. Erst dann kann man erklären und begründen, was an diesem Vergleich unangemessen ist, was an einem Vergleich erkenntnisreich ist, um endlich die Sprachlosigkeit zu beenden, die die Linke zurzeit auszeichnet.

Ausnahmegesetze haben eine gemeinsame Signatur

Ausnahmezustände sind in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht neu. Trotz recht unterschiedlicher Anlässe haben sie eine gemeinsame Handschrift und helfen wilde Spekulationen darüber einzudämmen, was alles davon bleibt, selbst wenn sich niemand mehr an den eigentlichen Anlass erinnert.

Wir werden in der Folge sehen, dass alle Anlässe zu der jeweiligen Zeit sehr viele Menschen in Angst und Schrecken versetzen konnten. Je mehr Menschen diesen Angstzustand teilen, je eher sind sie bereit, die zu ihrem angeblichen Schutz notwendigen Maßnahmen zu akzeptieren. In der jeweiligen von Angst geprägten Situation ist es immer schwer, kühlen Kopf zu bewahren, ganz ruhig und umsichtig die Frage zu beantworten, ob die Maßnahmen »angemessen« sind, ob das Versprechen, uns zu helfen, zu beschützen, gehalten oder gebrochen wurde.

Es ist daher hilfreich, wenn man auf die verschiedenen Ausnahmezustände zurückblickt. In der Regel hat man retroperspektiv weitaus mehr Informationen darüber, was einem im Zustand des Schreckens verborgen geblieben ist. Und ein Zweites ist ganz wichtig: Rückblickend kann man sehr sicher sagen und beurteilen, ob die Maßnahmen tatsächlich der Gefahrenlage galten oder ob diese vor allem dazu genutzt wurden, bestimmte Ziele zu verfolgen, die mit dem Anlass nichts zu tun hatten.

Für die Einschätzung, wohin Ausnahmezustände führen (können), ist keine Fantasie gefragt. Auch Zukunftsforscher sind hier überflüssig. Ein Blick zurück genügt: Die Weimarer Republik (1918−1933) kann man mit Fug und Recht als Kornkammer von Not(stands-)verordnungen bezeichnen. Dort lässt sich in allen Nuancen und Facetten studieren, worauf sie zusteuern: Ausnahmezustände schützen nicht die Demokratie, sondern ebnen den Weg dafür, sie ganz »legal« abzuschaffen.

Anhand der zahlreichen Ausnahmezustände, die auch Nachkriegsdeutschland prägten und prägen, lassen sich ganz wichtige Frage klären:

Sind die Anlässe, die eine Bedrohungslage skizzieren, echt? Braucht man für die Bedrohungslage solche Ausnahmezustände?

Zielen die Maßnahmen, die im Ausnahmezustand getroffen wurden, auf den Anlass oder was geht weit darüber hinaus?

Wem nutzen die Ausnahmezustände? Liegt der Nutzen (alleine) in der Hand derer, die ihn verhängen?

Ausnahmezustände zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus

Ein außergewöhnlicher, schrecklicher Anlass begründet die außergewöhnlichen Maßnahmen. Im Kern geht es immer um die Außerkraftsetzung von Grundrechten, um diese zu »schützen«.

Die Vorläufigkeit wird immer betont. Die außerordentlichen Befugnisse würden einzig und alleine der Beseitigung der Gefahr dienen. Die Grund- und Freiheitsrechte, so heißt es, ruhen nur, sie werden nicht suspendiert.

Alle Beschützer versprechen dieselbe Therapie: Je mehr Macht sie in der Hand halten und durch Sonderbefugnisse erlangen, je weniger Macht die zu Beschützenden haben, desto mehr geschieht dies zum Wohl der Schutzbedürftigen.

Es gab und gibt Ausnahmezustände, die in das Leben aller eingriffen bzw. eingreifen: Das gilt für das Republikschutzgesetz (1922), für das Ermächtigungsgesetz (1933) und genauso für das Infektionsschutzgesetz (2020).

Anders sieht es bei den Antiterrorgesetzen in den 1970er-Jahren und in Folge von 9/11 aus: Im ersten Fall waren meist nur Linke betroffen oder jene, die man für Sympathisanten hielt. Der Kreis der Betroffenen war also überschaubar. Wer kein Linker war, hatte im Normalfall nichts zu befürchten, hat kaum etwas bemerkt. An dessen Alltag änderte sich nicht viel.

Das Infektionsschutzgesetz 2020 hingegen ist in vielerlei Hinsicht besonders: Es hat ein Ziel, das alle vorbehaltlos begrüßen: den Schutz unserer Gesundheit, unseres Lebens, ein geradezu rührendes Anliegen. Und es trifft nicht eine bestimmte, eingrenzbare Gruppe, sondern die ganze Bevölkerung, alle, auch wenn die Einschränkungen und Verbote auf sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten stoßen.

Die Weimarer Verfassung und der Krieg der Regierungen gegen sie

Die Weimarer Verfassung von 1919 war nicht nur dem verlorenen Ersten Weltkrieg geschuldet. Sie wurde auch unter dem Eindruck verfasst, dass viele nicht nur des Krieges, sondern auch der obrigkeitshörigen, kaiserlichen Ordnung überdrüssig waren. Der Versuch, eine Räterepublik 1918/19 durchzusetzen, war der politischen Klasse durchaus eine Warnung. Das führte zu einer bürgerlichen Verfassung, die Grund- und Freiheitsrechte festschrieb und garantierte, die man vorher nicht kannte.

Dass deutschnationale und bürgerliche Parteien sozialistische Ideen oder gar eine kommunistische Partei bekämpften, gehörte zum Grundton dieser politischen Klasse, die »nur« den Krieg verloren hatte, nicht jedoch die Macht. Doch sie hatte noch einen Feind, einen Feind unter ihren Füßen – wenn man das Bild »Wir stehen auf dem Boden der Verfassung« ernst nähme. Jene, die im Namen der Verfassung weiter die Geschicke des Landes lenken und führen wollten, hassten diese Verfassung genauso wie den Kommunismus. Sie taten von Anfang an alles, um sie auszuhöhlen, um sie unwirksam zu machen.

Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Einhaltung dieser Verfassung allen deutschnationalen bis bürgerlichen Parteien ein Gräuel war, eine Zumutung. Wenn man die kurze Zeit der Weimarer Republik Revue passieren lässt, dann bestand sie aus einer Kette von Unternehmungen, um die Verfassung Stück für Stück außer Kraft zu setzen.

Rudolf Hilferding, Publizist und zweimaliger Reichsminister der Finanzen, sah den »Staatsstreich von innen« bereits am 28. März 1930 in der Frankfurter Zeitung voraus: »Nimmt man hinzu, dass die Lähmung des Parlaments von sehr starken Gruppen direkt gewünscht und gefördert wird, so wird man verstehen, dass die eigentliche Gefahr für die Zukunft des deutschen Parlamentarismus nicht von außen, nicht von einem gewaltsamen Putsch her droht, sondern von innen her.«

Diese Klarstellung ist deshalb so wichtig, weil bis heute die Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik lautet, sie sei zwischen Links- und Rechtsradikalismus zerrieben worden. Das ist das Hauptschlagwerkzeug der Totalitarismustheorie und nicht viel mehr als eine andere Form der Kriegsgräberfürsorge. Wer das Zusammenspiel von deutschnationalen und bürgerlichen Parteien mit der NSDAP hier dokumentiert sieht, der versteht, dass die Selbstaufgabe der bürgerlichen Demokratie bis heute ein totgeschwiegenes Faktum ist. Denn ohne deren aktive Beihilfe wäre die NSDAP nie so kinderleicht an die Macht geführt worden.

Nicht der Links- und Rechtsextremismus hat die bürgerliche Demokratie unter sich begraben, sondern insbesondere das Instrument der Ermächtigungsgesetze, das die Weimarer Verfassung buchstäblich ins Koma versetzte.

Verfassungstheoretisch haben Ermächtigungsgesetze klare Grenzen: Sie dürfen bestehendes Recht, die bestehende Verfassung nicht verletzen. Sie können Machtkompetenzen verschieben, in aller Regel zugunsten der Exekutive, also der Regierung (und zulasten des Parlaments), ohne dabei die verfassungsmäßigen Rechte anzutasten. Tatsächlich wurden jedoch Grundrechte massiv eingeschränkt bzw. suspendiert. Somit hatten sie »verfassungsändernden Charakter«, obgleich die Verfassung formal unangetastet blieb. Für Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrechtler, Republikfeind und Schüler von Carl Schmitt, waren dies »verschwiegene Verfassungsumgehungen«.

Und davon gab es viele: »Von 1919 bis 1925 kamen etwa 420 ›gesetzvertretende Verordnungen‹ zustande, deren Grundlage die Ermächtigungen seit 1914 waren. Sie hatten größten Einfluss auf die ›Sozial-, Wirtschafts-, Finanz- und Justiz-Verfassung‹, von der Errichtung der Deutschen Rentenbank über Betriebsstilllegungen bis zur Schaffung der Reichsbahn und der Steuergesetzgebung.« 24

Dass genau jener Staatsrechtler wenig später – zusammen mit Carl Schmitt – zum Kronjuristen des Dritten Reiches avancierte und die Diktatur staatsrechtlich rechtfertigte, gehört zur Ironie der Geschichte.

Dass auch die SPD an den Ermächtigungen während der Weimarer Republik beteiligt war, entbehrt nicht einer selbstmörderischen Logik. Sie stimmte zahlreichen »Notverordnungen« und »Ermächtigungsgesetzen« zu, in dem wahnhaften Glauben, mithilfe der Außerkraftsetzung der Verfassung die Demokratie zu retten, um noch Schlimmeres zu verhindern. Das führte der SPD-Abgeordnete Breitscheid 1923 auf verblüffend offene Weise so aus: »Wir sind bereit, der gegenwärtigen Regierung außerordentliche Vollmachten zu bewilligen, weil wir darin das Mittel erblicken, einer illegalen Diktatur vorzubeugen.« 25

Fast im selben Atemzug behauptete er, »für die Erhaltung einer starken Demokratie« zu sein, um zwei Atemzüge später dem Verlangen Stresemanns nach einem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen.

Dieses Ermächtigungsgesetz legte nicht nur ganz viel Macht in die Hände der Exekutive (also der Reichsregierung). Es sah auch vor, dass »von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen werden« konnte.26

Gesetz zum Schutz der Republik 1922

Anlass des »Republikschutzgesetzes« war die Ermordung von Reichsaußenminister Walther Rathenau. Zu dieser Zeit war eine Minderheitsregierung unter Josef Wirth an der Macht. Unterstützt wurde sie u. a. von der SPD.

Das Republikschutzgesetz ist in mehrerlei Hinsicht etwas Besonderes. Es sollte nicht per Notverordnung, also nicht mithilfe des § 48 der Weimarer Verfassung (ein Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten im Ausnahmezustand) vorübergehend Grundrechte suspendieren, sondern in die Verfassung eingreifen, sie in ihrem Wesensgehalt verändern. Dazu brauchte man in der Weimarer Republik eine Zweidrittel-Mehrheit im Reichstag. Das bedeutet, dass dieses »Gesetz zum Schutz der Republik« substanziell viel eingreifender war, als die zahlreichen Notverordnungen, die nur in ihrer Befristung gelten sollten.

Was ermöglichte dieses Gesetz? § 1 des Republikschutzgesetzes führt aus: »Versammlungen, Aufzüge und Kundgebungen können verboten werden, wenn die Besorgnis begründet ist, daß in ihnen Erörterungen stattfinden, die zur gesetzwidrigen Beseitigung der republikanischen Staatsform oder zu Gewalttaten gegen Mitglieder der im Amte befindlichen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reichs oder eines Landes aufreizen, solche Handlungen billigen oder verherrlichen oder republikanische Einrichtungen verächtlich machen. Vereine und Vereinigungen, die Bestrebungen dieser Art verfolgen, können verboten und aufgelöst werden.« 27

Schwammiger und unbestimmter konnten die Formulierungen nicht gewählt werden, um Demonstrationen, Vereine und Organisationen mit Verweis auf § 1 zu verbieten.

Unter § 4 wird strafrechtlich verfolgt, wer zu Gewalttaten gegen Regierungsmitglieder aufruft, diese »verherrlicht oder billigt, oder wer solche Gewalttaten belohnt oder begünstigt«. Mit diesem Paragrafen werden also explizit keine Straftaten verfolgt, sondern Willensbekundungen, wobei der Vorwurf reicht, sie »begünstigt« zu haben.

Es ist sehr aufschlussreich, ein paar Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die die Debatte im Reichstag zu diesem Gesetz skizzieren. Das rechte, deutschnationale Lager wollte etwas zur Beruhigung beitragen, denn der Mord an Walther Rathenau hatte tatsächlich Millionen auf die Straße getrieben, die viel mehr forderten als die Bestrafung der Täter. Um zu verhindern, dass die Arbeitermassen die Republik selbst retten bzw. beschützen, musste man Handlungsfähigkeit demonstrieren und die Wut der Menschen kanalisieren. Man müsse »taktisch« vorgehen, so der Reichskanzler Joseph Wirth. Das ist nichts besonders Neues. Umso bemerkenswerter sind die Gründe, die die Linke (SPD/USPD) für ihre Zustimmung anführten.

Im Reichstagsprotokoll wird die Eröffnungsrede des Reichskanzlers Joseph Wirth, Mitglied der Deutschen Zentrumspartei (Vorläufer der CDU), so wiedergegeben:

Der Reichskanzler eröffnet die Sitzung und geht in längeren Ausführungen auf die Wirkungen der Ermordung Rathenaus auf die Arbeitermassen und die daraufhin einzuschlagende Richtung der Politik ein. Ausdrücklich erklärt er, daß er im gegenwärtigen Augenblick keine Möglichkeit sehe, ein Gesetz zu schaffen, das gleichzeitig den Kampf gegen links eröffne. Er warnt, es zu einer Auflösung des Reichstags kommen zu lassen mit der Parole »Mord und Wucher«. Er erwähnt eine Eingabe der Gewerkschaften zu dem Gesetz zum Schutze der Republik. Er weist auf das neuerdings erfolgte gemeinsame Vorgehen der drei Linksparteien hin und erwähnt ferner die Reduzierung des Vertrauens zur Justiz. Er selbst werde die Richtung, die zur Rettung des Reiches notwendig sei, einschlagen. Der unglaublichen Verhetzung der Rechtspresse, insbesondere der »Wulle Blätter«, müsse unbedingt ein Riegel vorgeschoben werden. Scharfes Durchgreifen sei im gegenwärtigen Augenblick unumgänglich notwendig. Die Regierung müsse handeln, wenn sie sich nicht selber aufgeben wolle. Taktisch sei notwendig, für das Gesetz zum Schutze der Republik einschließlich der Linksparteien eine Linie zu finden, die dem verfassungsändernden Gesetze eine Zweidrittel-Mehrheit sichere.28

Später mischt sich Wirth wieder in die Debatte ein:

Reichskanzler (Joseph Wirth) ergreift nochmals das Wort und weist auf die schweren Gefahren hin, die sich ergeben würden, falls das Gesetz etwa auch gegen links gerichtet werde. Ein Gesetz zum Schutze der Verfassung könne die Lage nicht meistern. Außerdem sei es unmöglich, auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung in Deutschland auf die Dauer zu regieren; hierdurch entstehe auch eine zu starke Belastung des Reichspräsidenten gegenüber der öffentlichen Meinung. Teile des Gesetzes seien sowieso gegen alle gerichtet. Er sei der Auffassung, daß die monarchistische Bewegung gerade in Bayern im Wachsen sei. Die Tätigkeit der Monarchisten sei seines Erachtens die folgende: Man wolle durch solche Bluttaten wie die Ermordung Rathenaus die Arbeiterschaft zum Aufruhr reizen, um dann im allgemeinen Wirrwarr die Regierung an sich zu reißen.

Für die SPD begründete Gustaf Adolf Bauer das Gesetz folgendermaßen:

Vizekanzler Bauer: Die Reichsregierung habe bisher immer nur gegen links gekämpft. Der Erfolg sei, daß die kommunistische Bewegung nunmehr im Schwinden sei. Sie könne jedoch jederzeit bei großen Volkserregungen wie den augenblicklichen wieder aufflackern und gewinnen. Die Regierung sei im Kampf gegen links und gegen rechts in einer durchaus verschiedenen Lage. Im Kampf gegen links werde sie von weiten Kreisen und von dem gesamten Staatsapparat unterstützt, die ihr im Kampf gegen rechts nicht ohne weiteres die volle Unterstützung gewährten. Daher müßten der Regierung zum Kampf gegen rechts größere Machtmittel an die Hand gegeben werden. Eine Verordnung genüge keinesfalls. 29

Das Gesetz wurde mit den Stimmen der USPD, SPD, DDP und Zentrum und mehrheitlich von der DVP30 am 18. Juli 1922 beschlossen.

Es gibt kaum ein besseres Beispiel für politischen Irrsinn: USPD und SPD wollten allen Ernstes die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Richter damit beauftragen, die Republik vor »monarchistischen Bestrebungen« und »Republikfeinden« zu schützen? Es gehörte sehr viel Geschichtsvergessenheit dazu, um auf diese Weise die »monarchistischen Gefahren« bekämpfen zu wollen. Als die SPD 1919 unverdienterweise an die Macht kam und mit Friedrich Ebert den Reichspräsidenten stellte, hätte sie die Forderungen erfüllen können, einen radikalen Bruch mit dem alten monarchistischen, autoritären Beamtenapparat zu vollziehen. Doch die SPD fühlte sich vielmehr denen verpflichtet, die den Ersten Weltkrieg politisch und militärisch zu verantworten hatten. Dieser Beamtenapparat sollte nun, drei Jahre später, die »Republik« im Kampf gegen rechts retten?

Was mit dem Republikschutzgesetz tatsächlich geschaffen wurde, ist etwas ganz Anderes und etwas sehr Vorhersehbares: Genau jene politischen Kreise im Apparat, die man völlig unbehelligt gelassen hatte, nahmen das »Geschenk« gerne entgegen und wendeten es in aller Gründlichkeit an: gegen links, gegen alle, die sie für links hielten. Dies ist ein bedrückendes und eindringliches Beispiel dafür, wie man mit einer »legalen Diktatur« nicht die »illegale Diktatur« verhindert, sondern ihr den Weg dorthin bereitet.

Bleibt noch die Frage zu klären, ob sich dieses Gesetz zumindest auf das Gerichtsverfahren gegen die Attentäter von Walther Rathenau ausgewirkt hat?

Vom 3. bis zum 14. Oktober 1922 wurde vor dem neugebildeten Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik gegen dreizehn Personen verhandelt. Das Verfahren endete mit vergleichsweise harten Urteilen. Diese Urteile täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass man aus den Angeklagten mehr oder weniger Einzeltäter gemacht hatte, mit durchaus ehrbaren Überzeugungen. Obgleich bereits genug Beweise vorlagen, dass die Angeklagten Mitglieder in der »Organisation Consul« waren, die einen bewaffneten Kampf gegen die Weimarer Republik proklamierten, machte man sie zu Opfern antisemitischer Hetzparolen und stellte den Mord als isolierte Tat junger unreifer Fanatiker dar. Die Urteile wurden in deutschnationalen, sogenannten »patriotischen« Kreisen gefeiert: Zwei Jahre später fand doch noch ein Prozess gegen die »Organisation Consul« statt. Von den ursprünglich 40 Verdächtigen blieben nur noch 26 Angeklagte übrig, darunter fehlte der »Consul« selbst, Kapitän Hermann Erhardt: »Der gesamte Ablauf des ganzen Verfahrens war eine Farce und endete schließlich mit sieben Freisprüchen und Haftstrafen von bis zu acht Monaten. Das war also die ›Unerbittlichkeit‹ der Republik! Die rechte Kreuzzeitung schrieb, dass der Staatsgerichtshof der OC bescheinigen musste, nur aus vaterländischen Motiven gehandelt zu haben, was ihr zu höheren Ehre gereichen würde. Das Strafverfahren war eine Niederlage des republikanischen Lagers, das diesen Prozess gefordert hatte. Und die milden Urteile waren Ansporn für das antirepublikanische Lager, den nächsten Staatsstreich besser zu machen. Das ist ihnen 1933 gelungen.« 31

Die Brüning-Ära als »Semi-Diktatur«32 – Der Teil-Staatsstreich 1932

Das Jahr 1932 markiert einen weiteren Schritt zur Demontage der bürgerlichen Rechtsordnung – ganz »legal«. Man könnte auch sagen: die bürgerliche Regierung mit dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg machte im Kleinen das vor, was dann die NSDAP (mit den Deutschnationalen zusammen) 1933 im Großen vollzog.

Reichspräsident Paul von Hindenburg verfügte am 20. Juni 1932 auf Grundlage des besagten Artikel 48 der Weimarer Verfassung die Absetzung der gewählten preußischen Regierung und setzte als »Reichskommissar« Reichskanzler Franz von Papen ein. Man könnte meinen und annehmen, dass die SPD-Regierung in Preußen das nicht tatenlos hinnahm. Den Worten nach wollte sie jedenfalls »nicht der Gewalt« weichen. Das wäre durchaus möglich gewesen, denn ihr hätte sowohl die preußische Polizei, also etwa 16.000 gut bewaffnete Polizisten, als auch eine kampfbereite Arbeiterschaft zur Seite gestanden. Statt auf die Straße zu gehen, »ging« sie nach Leipzig, um dort vor dem Staatsgerichtshof Klage gegen die Absetzung einzureichen. Ein Monat später bekam sie die Quittung: Eine einstweilige Anordnung, den Erlass Hindenburgs zurückzunehmen, wurde vom Staatsgerichtshof abgelehnt. Vier Monate später, am 25. Oktober 1932, wurde in der Hauptsache entschieden. Laut dieses Urteils war die Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juni 1932 »zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen« mit der Reichsverfassung vereinbar.

Man kann rückblickend ganz sicher sagen, dass dies der erste Probelauf dafür war, die SPD auszuschalten, nicht nur mit Hilfe von Ermächtigungen, sondern auch mithilfe des Legalismus der SPD selbst.

Heinrich Hannover (Strafverteidiger) und Elisabeth Hannover-Drück (Historikerin), kommen in ihrem eindrucksvollen Buch »Politische Justiz 1918−1933« zu folgendem bitterem Fazit: »Dass die SPD am 20. Juli 1932 nicht auf die Straße, sondern nach Leipzig ging, war die tragische Kehrseite des Legalitätsschwindels der Nazis.« 33

Mit diesem Vorlauf im Rücken, konnte die NSDAP sehr genau einschätzen, was man von der SPD zu erwarten hatte, wenn man sie ganz und vollständig ausschaltet. Ein Wissen, das sich bereits vor 1933 sehr genau und sehr präzise formulierte. So schreibt Joseph Goebbels am 20. Juli 1932 in sein Tagebuch: »Alles rollt programmgemäß ab. Bracht wird als Reichskommissar eingesetzt. Severing (SPD-Innenminister in Preußen, d. V.) erklärt, nur der Gewalt weichen zu wollen. Ein leichter Druck mit dem Handgelenk genügt. Ausnahmezustand über Berlin-Brandenburg. (…) Man muss den Roten nur die Zähne zeigen, dann kuschen sie. SPD und Gewerkschaften rühren nicht einen Finger.« 34

Dass die SPD buchstäblich an ihrer eigenen Beerdigung mitwirkte, dass sie politisch nicht im Geringsten bereit war, die Notverordnungen als ein Sortiment von Sargnägeln zu begreifen, macht eine andere Stimme deutlich. Sebastian Haffner war damals angehender Jurist und aus großbürgerlichem Hause. Er bezeichnete sich selbst als konservativ und verteilte seine Ablehnung gleichmäßig auf Faschisten und Kommunisten. Umso bemerkenswerter sind seine Beobachtungen zur Politik der bürgerlichen Parteien, die bis 1933 die Weimarer Republik prägten. In seinem Buch »Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914−1933« führt er zur Brüning-Ära aus:

»Meines Wissens ist das Brüningregime die erste Studie und, sozusagen, das Modell gewesen zu einer Regierungsart, die seither in vielen Ländern Europas Nachahmung gefunden hat: Der Semi-Diktatur im Namen der Demokratie und zur Abwehr der echten Diktatur. Wer sich der Mühe unterziehen würde, die Regierungszeit Brünings eingehend zu studieren, würde hier schon alle die Elemente vorgebildet finden, die diese Regierungsweise im Effekt fast unentrinnbar zur Vorschule dessen machen, was sie eigentlich bekämpfen soll: die Entmutigung der eigenen Anhänger; die Aushöhlung der eigenen Position; die Gewöhnung an Unfreiheit.« 35

Dass sich die SPD mehr an die (schwindende) Macht klammerte, als an die Weimarer Verfassung, die den kaiserlichen Obrigkeitsstaat hinter sich lassen sollte, ist erschütternd. Aber es ist vielleicht auch »logisch«: Wenn man selbst an der Aushebelung von Grund- und Freiheitsrechten mitwirkt, wie am »Gesetz zum Schutz der Republik« 1922, dann kann man die Guillotinierung von Grundrechten nicht anprangern, nur, weil der eigene Kopf darunterliegt.

Schaut man – ausschnittsweise – auf diese Geschichte der Notverordnungen und Ausnahmezustände zurück, so lässt sich ganz sicher eines resümieren: Die bürgerlichen Parteien, einschließlich der SPD, taten alles, um diese Verfassung in einem Maße zu demolieren, dass es nur noch ein kleiner Schritt war, sie zu verschrotten. Die Verfassungsfeinde saßen von Anfang an in der Regierung.

Ermächtigungsgesetz – »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24. März 1933

Auch diese »Ermächtigung« brauchte einen Anlass und hatte ihn gefunden: Den Reichstagsbrand, der in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 gelegt wurde. Am Tatort wurde Marinus van der Lubbe festgenommen. Ohne jegliche Beweise und Möglichkeiten der Überprüfung von Mutmaßungen wurden »die Kommunisten« für diesen Anschlag verantwortlich gemacht.

Wie dieser Anschlag aufgenommen wurde, beschreibt Sebastian Haffner als konservativer, großbürgerlicher Beobachter so: »Also die Kommunisten hatten den Reichstag angezündet. Soso. Das war schon möglich, das war sogar sehr glaublich. (…) Nun vielleicht hat es wirklich ein ›Fanal‹ für die Revolution sein sollen, und das ›entschlossene Zupacken‹ der Regierung hatte die Revolution dann verhindert. So stand es in der Zeitung, und es ließ sich hören. Komisch allerdings auch, dass die Nazis sich gerade über den Reichstag so aufregten. Bis dahin hatten sie ihn immer ›Quatschbude‹ genannt, und jetzt auf einmal war es wie eine Schändung des Allerheiligsten.« 36

Ob dieser Anschlag der NSDAP gerade recht kam oder ihr eigenes Werk war, spielt hier keine Rolle. Tatsache ist, der Anschlag kam wie gerufen. Denn danach lief alles wie am Schnürchen, Hand in Hand zwischen bürgerlichen und faschistischen Fraktionen. Für das, was im wahrsten Sinn des Wortes passieren konnte, ist also nicht nur die NSDAP verantwortlich, sondern auch alle bürgerlichen Parteien, die der NSDAP die Wünsche von den Lippen ablasen.

Der Brand war noch nicht gelöscht, da nutzte der Reichspräsident zum x-ten Mal den § 48 der Weimarer Verfassung und erließ die »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« (Reichstagsbrandverordnung). Damit wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung de facto außer Kraft gesetzt.

In dieser entscheidenden Phase der Weimarer Republik bildete die NSDAP mit den Deutschnationalen (DNVP) eine Minderheitsregierung. In ihr war alles vertreten, was die NSDAP zu einem faschistischen Ideologiemix zusammenfasste: Monarchistische, völkische, deutschnationale, reaktionäre und militaristische Gruppierungen und Gesinnungen. Gestützt wurde die Minderheitsregierung durch die Präsidialmacht des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der alles tat, um der NSDAP den Weg zur Diktatur zu ebnen.

Man war bereits geübt. Zuerst schaltete man den gemeinsamen Feind aus, die KPD. Reichspräsident Paul von Hindenburg nutzte den erklärten Notstand und sprach ein Verbot der KPD aus und die NSDAP nutzte diesen staatlichen Flankenschutz für die Eskalation ihres Terrors gegen Linke.

Ein weiteres Puzzle auf dem Weg zur legalen Etablierung der Diktatur der NSDAP waren die Reichstagswahlen vom 5. März 1933: Die Mischung aus Terror und Legalitätsschwüren hatte Erfolg: Die NSDAP kam mit einem Plus von 10,8 Prozent auf 43,9 Prozent und war damit stärkste Partei. Die SPD kam auf 18,3 und die KPD auf 12,3 Prozent der Stimmen.

Zum ersten Mal in der Weimarer Republik war damit eine parlamentarische Mehrheit aus Faschisten und Deutschnationalen gegeben. Die amtierende Minderheitsregierung unter dem Reichskanzler Hitler konnte somit weiterregieren. Dann war die NSDAP wieder am Zuge. In der Tradition bürgerlicher Regierungen reichte sie im Reichstag ein weiteres Ermächtigungsgesetz ein. Das war kein Paukenschlag mehr, sondern die Wiederholung von Hitlers Ansinnen vom Januar 1933, als die NSDAP eine Minderheitsregierung angeführt hatte. Bereits damals war klar, dass es nicht um den Schutz der Republik ging, sondern um die Beseitigung eines gemeinsamen politischen Gegners: »Bereits in der ersten Sitzung seines Kabinetts – am Nachmittag des 30. Januar 1933 – wurden die Aussichten erörtert, wie ein Ermächtigungsgesetz vom Reichstag zu erlangen sei. Dabei äußerte Hugenberg (Vorsitzender der DNVP und in dieser Zeit Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung, d. V.) ›nach der Unterdrückung der KPD sei die Annahme eines Ermächtigungsgesetzes durch den Reichstag möglich‹.« 37

Dass nun die NSDAP an der Reihe war, den zweiten gemeinsamen Feind von bürgerlichen und faschistischen Kreisen auszuschalten, die Weimarer Verfassung, ergab sich von selbst. Alle hatten sich längst daran gewöhnt, dass die Weimarer Verfassung eigentlich kaum noch zählte:

Der Gedanke, die Reichsregierung für eine bestimmte Frist zu ermächtigen, Rechtsvorschriften mit Gesetzeskraft zu erlassen, war daher der neueren deutschen Verfassungsentwicklung nicht fremd. In der Lage des Winters 1932/33 bedeutete die Vergebung solcher Ermächtigungen an die Exekutive auch deswegen nichts Außerordentliches mehr, weil der parlamentarische Gesetzgeber ohnehin durch die Notverordnungspraxis in den Hintergrund getreten war. Im Jahre 1930 waren noch 98 Reichstagsgesetze verabschiedet worden. 1931 wurden bereits 42 Notverordnungen des Reichspräsidenten erlassen gegenüber 34 Reichstagsgesetzen; 1932 ergingen 60 Notverordnungen, aber nur fünf Reichstagsgesetze.38

Dass der Übergang zwischen bürgerlicher Demokratie und Diktatur bereits fließend war, unterstreicht auch der damals gefeierte Staatsrechtler Carl Schmitt. Nicht erst für die Nazis war er in Sachen Rechtfertigung aktiv. Bereits 1932 hatte er Pläne ausgearbeitet, »mit denen eine zeitlich begrenzte legale Diktatur des Reichspräsidenten errichtet werden sollte. Carl Schmitt argumentierte in der unruhigen Endphase der Weimarer Republik mit dem englischen politischen Philosophen Thomas Hobbes. Der hatte im 17. Jahrhundert in seiner Schrift ›Leviathan‹ den Grundsatz formuliert: Auctoritas, non veritas facit legem. (Autorität, nicht Wahrheit macht die Gesetze).« 39

Die NSDAP