Flammenwand. - Marlene Streeruwitz - E-Book

Flammenwand. E-Book

Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

Stockholm im März. Nach einem schweren Winter hat es immer noch minus 15 Grad, und das Eis knirscht unter Adeles Schritten. Als sie von Einkäufen zurückkehrt, sieht sie ihren Geliebten von weitem das Haus verlassen und geht ihm nach. Je näher sie ihm kommt, desto unsichtbarer wird er. Warum laufen wir immer den gleichen Bildern hinterher? Worauf ist eigentlich Verlass? Und warum muss die Liebe zur Hölle werden? In einer Welt, in der sich die Warteschleife als Wahrheit erweist, bewegt sich Adele auf dem schmalen Grat zwischen Befreiung und Selbstverlust: »Sie durfte sich nicht aus sich selbst verjagen lassen. Sie musste langsam und vorsichtig denken.« Durch eine verräterische Liebesgeschichte entfaltet sich in Marlene Streeruwitz' furiosem Roman die Krise der Gegenwart. »Flammenwand.« steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019.

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Marlene Streeruwitz

Flammenwand.

Roman mit Anmerkungen.

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Inhalt

[Widmung]Montag, 19. März 2018. Stockholm.Mittwoch, 21. März 2018. Stockholm.Donnerstag, 22. März 2018. Stockholm. Helgagatan.Sonntag, 1. April 2018. Wien.Montag, 16. April 2018. Wien.Dienstag, 17. April 2018. Wien.Mittwoch, 18. April 2018. Wien.Donnerstag, 19. April 2018. Wien.Sonntag, 22. April 2018. Im Zug nach Liechtenstein.Montag, 23. April 2018. Im Zug von Feldkirch nach Wien.Dienstag, 24. April 2018. Wien.Mittwoch, 25. April 2018. Wien.Donnerstag, 26. April 2018. Wien.Freitag, 27. April 2018. Wien.Montag, 30. April 2018. Wien.Dienstag, 1. Mai 2018. Wien.Mittwoch, 2. Mai 2018. Wien.Donnerstag, 3. Mai 2018. Wien.Dienstag, 8. Mai 2018. Berlin.Mittwoch, 9. Mai 2018. Berlin.Donnerstag, 10. Mai 2018. Berlin.Freitag, 11. Mai 2018. Berlin.Montag, 14. Mai 2018. Wien.Donnerstag, 17. Mai 2018. Wien.Samstag, 19. Mai 2018. Wien.Pfingstsonntag, 20. Mai 2018. Wien.Pfingstmontag, 21. Mai 2018. Wien.Dienstag, 22. Mai 2018. Wien.Mittwoch, 23. Mai 2018. Wien.Donnerstag, 24. Mai 2018. Wien.Freitag, 25. Mai 2018. Wien.Samstag, 26. Mai 2018. Wien.Montag, 28. Mai 2018. Wien.Mittwoch, 30. Mai 2018. Wien.Donnerstag, 31. Mai 2018. Fronleichnam. Wien.Samstag, 2. Juni 2018. Ulm.Dienstag, 5. Juni 2018. Wien.Sonntag, 10. Juni 2018. München.Dienstag, 12. Juni 2018. Von Wien nach Paris. Nicht nach Berlin geflogen.Mittwoch, 13. Juni 2018. Nicht in Berlin.Donnerstag, 14. Juni 2018. Wien.Sonntag, 17. Juni 2018. Wien.Montag, 18. Juni 2018. Wien.Dienstag, 19. Juni 2018. Wien.Mittwoch, 20. Juni 2018. Wien.Donnerstag, 21. Juni 2018. Wien.Samstag, 23. Juni 2018. Wien.Sonntag, 24. Juni 2018. Wien.Montag, 25. Juni 2018. Wien.Dienstag, 26. Juni 2018. Wien.Mittwoch, 27. Juni 2018. Wien.Donnerstag, 28. Juni 2018. Wien.Samstag, 30. Juni 2018. Wien.Sonntag, 1. Juli 2018. Wien.Montag, 2. Juli 2018. Wien.Mittwoch, 4. Juli 2018. Wien.Donnerstag, 5. Juli 2018. Wien.Freitag, 6. Juli 2018. Wien.Samstag, 14. Juli 2018. Wien.Samstag, 28. Juli 2018. Wien.Sonntag, 29. Juli 2018. Wien.Samstag, 4. August 2018. Wien.Montag, 20. August 2018. Wien.Dienstag, 21. August 2018. Wien.Mittwoch, 22. August 2018. Wien.Sonntag, 26. August 2018. Wien.Montag, 27. August 2018. Wien.Mittwoch, 29. August 2018. Wien.Freitag, 31. August 2018. Wien.Samstag, 1. September 2018. Wien.Sonntag, 2. September 2018. Wien.Montag, 3. September 2018. Wien.Dienstag, 4. September 2018. Wien.Donnerstag, 6. September 2018. Wien.Freitag, 7. September 2018. Wien.Samstag, 8. September 2018. Wien.Sonntag, 9. September 2018. Wien.Montag, 10. September 2018. Wien.Dienstag, 11. September 2018. Wien.Mittwoch, 12. September 2018. Wien.Donnerstag, 13. September 2018. Wien.Dienstag, 18. September 2018. Düsseldorf.Donnerstag, 20. September 2018. Berlin.Sonntag, 23. September 2018. Berlin.Donnerstag, 27. September 2018. Paris.Dienstag, 2. Oktober 2018. Wien.Mittwoch, 3. Oktober 2018. Wien.Freitag, 5. Oktober 2018. Wien.Samstag, 6. Oktober 2018. Wien.Montag, 8. Oktober 2018. Wien.Dienstag, 9. Oktober 2018. Wien.

… für Adèle Hugo …

Montag, 19. März 2018. Stockholm.[1]

»Bandit« stand oben auf dem Poster. Die Schrift rot. Im glitzerwelligen Wasser ein Ruderboot zu sehen. Ein junger Mann im Boot. Liegend. Sich sonnend. Der Oberkörper nackt. Von oben aufgenommen. Von hoch oben. Der sich sonnende Mann im Ruderboot klein in der Mitte des Posters. Rund um ihn das Wasser. Himmelblau. Dünkler Blau. Weiß die Schatten der Wellen in der Tiefe. Glitzernd die Sonne auf der Oberfläche. »Vietnam« stand in Dunkelblau quer unten geschrieben. »Vietnam«.

Sie ging schnell aus der Mall hinaus. Sie schaute gerade vor sich hin. Schaute von dem Plakat weg. Sie wollte dieses Plakat nicht sehen. Nicht genauer. Sie wollte auch den alten Mann neben dem Plakat nicht anschauen. Die Mall war voll von solchen alten Männern. Sie standen ruhig da. Sie sahen niemanden an. Beobachteten nichts. Schienen auf nichts zu warten. Es ging wohl um die Wärme.

In der Kälte draußen. Der Winter habe sich immer weiter in den März verschoben, war ihr gesagt worden. Stockholm könne erst Mitte April mit wärmeren Temperaturen rechnen. In der Kälte. Sie ging so schnell wie möglich. Das schnelle Gehen. So konnte sie das Einsacken des Körpers in der Mitte einfangen. Das Einsacken ins Gehen schieben. Vorgebeugt das Elend weiterzerren.

»Vietnam«. Das war eine Bilderstrecke für sie. Fernsehbilder. Unerlaubte Fernsehbilder. Sie war klein gewesen. Damals. Der athletische junge Mann im Kanu. Sie ging gleich wieder von Foto zu Foto. Ein dämmriger Saal. In Los Angeles. Ein kleiner abgedunkelter Saal. Die Fotos alle im gleichen Format. Gerahmt. Sie hatte die Rahmen in Erinnerung. Oder doch nicht. Auf den Fotos die jungen Männer. Im Wasser. Im Schilf. In Büschen. Zwischen Bäumen. Sie lagen ebenso hingestreckt. Die Arme weit ausgebreitet. Die Köpfe geneigt. Nach hinten überstreckt. Die Uniformen. Als hätte ein junger Mann für alle Fotos Modell gestanden. Aber sie waren alle tot. Jeder. Sie lagen mit aufgeschossenen Leibern auf Böschungen. Verstümmelt. Zerrissen. Auf den Fotos. Die Köpfe waren unverletzt gewesen. Die Gesichter verschlossen. Ohne Auskunft. Es waren US-Soldaten gewesen. Auf diesen Fotos. Geschlachtete Götter. Und nur ein Ausschnitt in dem dunklen Saal. Im Los Angeles County Museum. Es war heiß gewesen da. Sie war allein da gewesen. War schnell durchgegangen. Alle diese Fotos zu einem geworden. Schwarz und weiß. Ein junger Mann aufgebahrt. Im seichten Wasser. Und das nur ein Teil des Leids. Ein Ausschnitt. Gewählt, einen kleinen Saal im Museum zu füllen. Mehr war nicht zugemutet worden. Und jetzt das Wasser blau. In allen Tönen blau. Und der junge Mann sonnte sich.

Sie ging den langen Weg zur Wohnung zurück. Der Weg durch den Park vereist.

Mittwoch, 21. März 2018. Stockholm.[2]

Es gibt Personen, die sind ein Mittelpunkt. Die Personen rund um sie wissen das. Diese Personen können selbst ein Mittelpunkt sein und trotzdem auch zu anderen Mittelpunkten gehören. Sie hatte eine solche Person sein wollen. Ihr Vater war das gewesen. Er war ein Mittelpunkt gewesen und hatte sich auf andere Mittelpunkte beziehen können. Er hatte immer gewusst, wie die Personen rund um ihn eingeschätzt werden mussten. Wenn er mit der Mutter über seine Kollegen gesprochen hatte, dann war er der Reihe nach alle durchgegangen. Er war mit fast allen per du gewesen, und alle hatten kurze Vornamen oder Spitznamen gehabt. Es waren Protokolle gewesen. Der Harry hatte eine Stunde versäumt und war nicht zuverlässig. Der alte Schwuppsi war an dem Tag nicht in den Prater gefahren, seinen Spaziergang zu machen. Er hatte den Vater in der Schule aufgesucht und ihn eine halbe Stunde aufgehalten. Der Matzl hatte die 7. Klasse nicht im Zaum halten können, und der Lärm war bis in die Direktion zu hören gewesen. Der Vater hatte nichts gemacht. Noch nicht. Aber er würde mit dem Matzl reden müssen. Das war schon häufiger vorgekommen. Der Vater konnte sich das nicht erklären. Auf dem Sportplatz waren die Klassen vom Matzl immer diszipliniert. Wenn es um Personen gegangen war, die selbst ein Mittelpunkt waren, dann stellte der Vater sich selbst Fragen und beantwortete sie selber. War der alte Haas bereit, über seine Nachfolge zu reden? »Nein.«, hatte der Vater dann gesagt. »Aber über Nachfolge im Allgemeinen kann gesprochen werden, und das werden wir bei der Rede zum Jahrestag der Befreiung machen.« Der Vater hatte immer wir gesagt, wenn er von sich gesprochen hatte, und die Mutter hatte genickt. Ihr hatte dieses Wir genügt. Sie hatte gedacht, mit diesem Wir sei sie miteingeschlossen. Aber das war nicht der Fall gewesen. Über die Familie hatte der Vater nämlich nichts gewusst. Er hatte nicht einmal Ratschläge für seine Familie gewusst. Er hatte wohl auch seine Kinder und die Schwiegermütter in das Wir eingerechnet. Er war aber über jedes Versagen in seiner Umgebung erstaunt gewesen. Es hatte ihn traurig gemacht, wenn er zusehen musste, wie ihr Bruder oder sie die falschen Entscheidungen getroffen hatten oder erfolglos geblieben waren. Es hatte ihn aber nie lange beschäftigt. Sie hatte dann entdeckt, dass sie ihm auch jedes Mal eine andere Geschichte über ihr Studium oder die Reisen erzählen konnte. Er hatte ihr zugehört und alles gleich wieder vergessen. Das hatte nicht bedeutet, dass er sie nicht liebte. Sie war als seine Tochter mit ihm im Mittelpunkt. Aber alles an ihr, was nicht seine Tochter war, das gab es für ihn nicht. Das war genauso für die Mutter gewesen und für ihren Bruder. Ihr Bruder hatte deshalb nie etwas über sie wissen können. Für ihren Bruder war sie immer schon ein Rätsel geblieben. Lange Zeit hatte sie sich gesagt, dass ihr diese Situation die Geschwisterrivalität erspart habe. Aber dann hatte sie sich zugeben müssen, dass eine Geschwisterrivalität eine Existenz als Schwester bedeutet hätte und nicht als Rätsel. Das mit dem Rätsel war von Anfang an so gewesen. Alles, was anders als bei ihrem Bruder gewesen war, war mit Erstaunen beantwortet worden. Immer war gesagt worden, dass sie anders sei und alles anders mache. Am Ende hatte sie das Erstaunen übernommen und wunderte sich über sich selbst. Sie hatte noch als kleines Mädchen begonnen, sich selbst zuzusehen und über sich selbst den Kopf zu schütteln. Aber immer erst nach den Taten und Entscheidungen. Sie hatte einen Teil in sich, der vorausstürmte und sich in der Welt festlegte, und der andere Teil kam nachgegangen und staunte darüber, was nun wieder alles geschehen war. Noch in der Pubertät hatte das mit den Männern begonnen. Sie war mit den Männern mitgegangen und hatte dann wochenlang über die Vorkommnisse nachdenken müssen. Das hatte sie abwesend erscheinen lassen und unerreichbar. Das wiederum hatte sie geheimnisvoll und interessant gemacht. Konsequenterweise ging sie nur mit Männern mit, die selber Mittelpunkte waren oder Mittelpunkte zu werden versprachen. Sie ließ sich in diese Mittelpunkte aufsaugen und blieb dann leer zurück. Sie war erschöpft von diesen Ausflügen ins Geschlechtliche. Aber es war alles auch gleichgültig gewesen. Sie hatte mit der Zeit gelernt gehabt, ihren Teil daran richtig zu spielen.

 

Kalte Kunstwerke von ihrer Seite. Eisschlösser im Mittelpunkt. Nach dem Ende jeweils. Sie wunderte sich höchstens, es nicht früher begriffen zu haben. Das Ende bedeutete, aus dem Mittelpunkt herausgeraten zu sein. Einen Augenblick die Balance verloren und sichtbar geworden. Dem Mann sichtbar geworden. Und nicht von ihm verschlungen. Für dieses Verschlingen. Sie erwartete den äußersten Hunger nach ihr. Nur die rasendste Leidenschaft ließ es ihr zu, sich diesem Verschlingen hinzugeben. Sie musste ja jedes Mal die Mutter töten und sich an ihre Stelle setzen. In ihrem Kosmos musste sie das, und sie konnte keine Rücksicht darauf nehmen, was das für den jeweiligen Mann bedeutete. Dieser nun. Er hatte seine Mutter mit dreizehn verloren. Sie hat lange gerätselt, was das bedeuten konnte. Nachdem die freundlichen Interpretationen durchdekliniert waren, hatte sie zugeben müssen, dieser Mann hatte auch seine Mutter in sich gemordet. Sein Hass auf diese Mutter war grenzenlos. Seine Mutter. Für ihn. Sie hatte ihn verlassen. Er hatte die Umstände dieses Verlassens gleich erzählt. Gleich zu Beginn. Gleich als erste Geschichte aus seinem Leben. In einem Bett aus Blut und Scheiße hatte er sie fast leblos vorgefunden. Er hatte das Sterbezimmer verlassen müssen und sich nie von ihr verabschieden können. Wegen ihres Bluts und ihrer Scheiße. Das warf er ihr vor. Er warf ihr vor, von ihrem Mann, seinem Vater, noch zu Lebzeiten betrogen worden zu sein. Er warf ihr vor, dass sein Vater sie durch die Frau dieses Betrugs ersetzt hatte. Er warf ihr den dicken Arsch dieser Frau vor. Er warf der toten Mutter vor, diese Frau auch Mutter genannt zu haben und nicht Tante, wie das auch vorgeschlagen worden war. Er warf seiner toten Mutter das kleinbürgerliche Benehmen ihrer Nachfolgerin vor. Er warf seiner leiblichen Mutter die Sünden seines Vaters vor. »Ist interessant, eine Frau zu betrügen.«, hatte der Vater später einmal zu ihm gesagt. Hatte er ihr so erzählt. Die tote Mutter dieses Manns. Sie war die Hüterin allen Hasses. Aber tot so. Gemetzelt. In kleine Stückchen zerrissen. »Sie hat mir die Musik beigebracht. Die klassische Musik. Jeden Sonntag hat sie mir eine Schallplatte vorgespielt. Jeden Sonntagmorgen.« Und er hatte sich angewidert abgewandt.

 

So im Mittelpunkt einverleibt. So entstand keine Abhängigkeit. Jedenfalls nicht von der Person. Oder den Personen, die dann später kamen. Sie hätte ihren Zustand auch nicht Unabhängigkeit nennen können. Aber es ging nicht um die Personen, es ging um den Ort, den diese Personen bieten hatten können.

Donnerstag, 22. März 2018. Stockholm. Helgagatan.[3]

Sie sah seine Schuhe. Sie eilte die Stiegen von Ringvägen zu Helgagatan hinauf. Er kam gerade aus dem Tor von Helgagatan 36 gegangen. Seine Füße waren auf der Höhe ihres Kopfs. Als ginge sie selbst mit diesen Füßen in diesen Schuhen, beeilte sie sich, ihm nachzukommen. Auf seine Höhe hinaufzukommen. Er ging schnell. Stieß seine Füße ab, und der Kies auf dem Eis knirschte unter seinem Tritt. Er entfernte sich schnell. Sie lief die Stufen hinauf. Sie musste achtgeben. Auf den Stufen hatte sich viel Kies angesammelt. Lag hoch aufgeschüttet, und es war leicht, auf dem Kies auszurutschen. Oben angekommen. Er war schon an der Ecke zu Hallandsgatan angekommen. Bog nach rechts. Sie stand einen Augenblick. Wieso hatte sie nicht gerufen. Seinen Namen. Laut. Erschallen lassen. Er war nicht mehr zu sehen. Sie ging zum Tor in den Hof zu ihrem Haus. Zögerte. Sie ging dann auch Helgagatan in Richtung Hallandsgatan hinauf. In Richtung der kleinen hölzernen Kirche. Jedes Mal dachte sie, sie sollte diese Kirche ansehen. Hineingehen. Oder zumindest um diese kleine, hölzerne Kirche herumgehen. Kleine, hölzerne Kirchen waren ihr aus der Literatur bekannt, und hier war eine kleine, hölzerne Kirche zu besichtigen. Sie ging schneller. In welche Richtung mochte er gegangen sein. Sie lief die Stufen zu Götgatan hinunter. Er saß am Fenster von Gunnarsons Specialkonditori und textete. Er saß auf dem Tisch aufgestützt. Sein Handy ein wenig von sich weggehalten. Er brauchte dann keine Brille. Er hatte die Lippen zusammengepresst. Er machte das, wenn er sich konzentrierte. Er textete. Sie lief an den Auslagenfenstern vorbei und schaute auf ihrem Handy nach. Wartete. Sie ging ein Stück weiter. Lächelte. Hielt das Handy in der Hand in der Manteltasche. Sie ging vor sich hin. Überlegte, was sie ihm antworten wollte. Auf seine Anzüglichkeiten. Sie war fast an der Kreuzung bei Södermalmspladsen angelangt. Der Text war nicht gekommen. Konnte das so lange dauern.

Sonntag, 1. April 2018. Wien.[4]

Es war immer noch Winter. Auf den Wiesen in den Parks und in den Innenhöfen lag der Schnee kniehoch. Die Märzsonne ließ die Oberfläche nass flimmern. Die Nachtfröste froren alles wieder zu Eis. Der Streukies lag fast so hoch wie der Schnee auf den Wegen und Straßen. Der Wind wirbelte Staubwolken auf. Die Autos rissen den Staub weiter. Auf Ringvägen fuhren die Autos besonders schnell. Der Staub stand über der Straße, und sie beeilte sich, auf den Hügel hinaufzukommen. Dem Staub zu entkommen. Sie musste aber umkehren. Der Weg durch den kleinen Park zu Helgagatan hinauf war nicht asphaltiert, und das Schmelzwasser bedeckte schlammige Stellen und riesige Eisplatten. Sie hatte nicht die richtigen Schuhe für einen solchen Weg an. Sie war nicht sicher, ob ihre Stiefel wirklich wasserdicht waren. Dick gefütterte Gummistiefel wären da richtig gewesen. Sie lief auf den Gehsteig von Ringvägen zurück. Die Stiege den Hügel hinauf war frei. Sie musste nur achtgeben, nicht auf dem Streukies auf den Stufen auszurutschen. Sie hatte die Sonne im Rücken. Der Schnee glitzerte weiß. Das Eis auf dem Weg und den Wiesen glänzte. Das Schmelzwasser in den Fußspuren schimmerte. Sie stieg die Stufen hinauf. Sie lächelte. Von Helgagatan aus. Der Kopf der von unten heraufsteigenden Person stieg da in die Höhe. Ruckweise. Eine holprige Erscheinung war das. Nicht das Entschweben von Himmelfahrten. Die Mühseligkeit des Irdischen. Und jetzt erschien sie so. Sie blieb stehen. Die Straße gerade in Augenhöhe. Sie keuchte ein wenig vom Stiegensteigen. Holte sie bei diesem keuchenden Atem besonders viel Staub in sich. Und wie war es gekommen, dass die Lunge wichtiger geworden war als das Herz. Sie wollte gerade wieder beginnen hinaufzusteigen. Er kam aus dem Haus. Sie sah ihn von unten. Schräg. Seine Schuhe waren das Größte. Sie konnte seine Schuhsohlen genau sehen. Er ging schnell. Weg von ihr. Helgagatan hinauf. Er hatte schon längst weg sein wollen. Er hatte gesagt, auch gleich weggehen zu wollen. Sie rief »Gustl. Gustav.«. Er ging davon. Sie konnte seinen Kopf nicht sehen. Er ging vorgebeugt. Gegen den Anstieg der Straße vorgebeugt. Sie eilte die Stufen hinauf. Ein Auto kam von unten gefahren. Sie musste warten. Er war weit vorne. Sie steckte die Hände in die Manteltaschen und folgte ihm. Er wollte in das Café auf Götgatan. In der winzigen Wohnung, die sie in Stockholm gemietet hatten. Er könne keine Zweizimmerwohnung in seiner Spesenabrechnung unterbringen. In der winzigen Wohnung. Es gab da nur eine Nespressomaschine, und sie hatten keine Kapseln nachgekauft gehabt. Sie war deshalb weggegangen. Kaffee einkaufen. Er hatte nicht warten wollen, und jetzt wäre es sich ja doch ausgegangen. Sie frühstückten beide nicht. Nur Kaffee. Aber das war in fast allem so. Sie waren einander in fast allem ähnlich.

Sie ging. Sie hatte keine bestimmten Pläne. Sie konnte diesem Mann in Ruhe folgen. Sie holte tief Luft. Es war so luxuriös. Sie musste diesem Mann nicht nachlaufen. Sie konnte ihm in Ruhe nachgehen. Es war alles so in Ruhe. Und wie sie sich das glatte Hinaufschweben einer Himmelfahrt gedacht hatte, spürte sie jetzt das Zurücklehnen in diese Ruhe. Diese Sicherheit. Die Arme weit ausgebreitet und auf den Rand des Sofas oben gelegt. Die Beine übereinandergeschlagen. Das obere Bein leicht wippend. So sah sie sich in diese Ruhe zurückgelehnt. Lächelnd. Sicher. Keine Angst. Sie beugte den Kopf. Das war wohl der Preis, dachte sie. Das ordnete sich alles um seine Impotenz an. Gab es eigentlich ein anderes Wort dafür. Versagen. Unfähigkeit. Das bezeichnete das nicht. Erektionsstörung. Das stimmte nicht. Es war nichts gestört. Es war nicht da. Nicht mehr. Oder schon lange nicht. Es musste geredet werden. Über das Zusammen. Und das hatte er gemacht. Das machte er. Reden. Er hatte sie mit seinen Beteuerungen festgehalten. Immer wieder. Immer wieder hatte sie gefragt. Fragte sie. Und immer wieder. Er beteuerte. Hatte beteuert. Jedes Mal beteuerte er, sie zu lieben. Insgesamt und unverbrüchlich. Und es war ausgeglichen. Er glich seine Unfähigkeit aus. Es gab nur diese Annäherungen nicht. Dieses Einander-Zurücken. Näher kommen. Nahe sein. Sie konnte nichts verlangen. Konnte nicht verlangen, befriedigt zu werden. Es war nicht möglich, ihm nahezukommen. Sie fürchtete Zurückweisung. Die Erinnerung daran, dass er das nicht konnte. Sie fürchtete das für ihn und dann erst für sich. Sie fürchtete das totale Ende durch das Aussprechen der Tatsachen. Aber solche Rücksichten. Er machte alles so viel zärtlicher. Geschwisterlicher. Er war nicht so fremd wie die Liebhaber, in deren Keuchen sie sich ohnehin nicht verlieren hatte können.

Montag, 16. April 2018. Wien.[5]

Sie lief die Stufen hinauf. Wenn sie sich beeilte, dann war er vielleicht noch da. Dann konnten sie den Kaffee zusammen trinken. Sie rutschte auf dem Kies. Es war noch immer Winter. In der Märzsonne. Am Tag stand eine dünne Schicht Wasser auf dem Eis auf den Wegen, und der Schnee auf den Wiesen glänzte feucht. In der Nacht fror alles wieder zu Eis. Auf den Stufen zu Helgagatan hinauf. Sie musste achtgeben, nicht auf dem Streukies auf den Stufen auszurutschen. Sie ging schnell. Sie hatte überlegt, schon im Supermarkt in der Mall einen Espresso zu trinken. Es hätte aber zu lange gedauert. Es war niemand hinter der Kaffeetheke gestanden, und sie hatte ihm gesagt, sie wolle sich beeilen. Er hatte gesagt, er wolle auf sie warten. Sie beeilte sich. Sie freute sich auf den Kaffee in der Wohnung und wie sie einander anschauen würden. Am Frühstückstisch. Er amüsiert lächelnd. Sie den Kaffee gierig trinkend.

Sie sah ihn, da war sie auf den Stufen gerade hoch genug hinaufgekommen, den Gehsteig von Helgagatan zu sehen. Er kam aus dem Hof des Hauses und bog in die Straße ein. Weg von ihr. Sie schaute tief unter ihm auf der Stiege stehend auf die Sohlen seiner Schuhe. Wenn er geschaut hätte. Er hätte nur ihren Kopf sehen können. Er ging weg von ihr. Auf die kleine hölzerne Kirche zu. Sie rief. »Gustl.«, rief sie. »Gustav.« Aber sie war außer Atem vom Stiegensteigen. Sie war zu weit weg und zu tief unten. Niemand konnte sie da hören. Sie lief zu ihm hinauf. Lief ihm nach. So schnell sie konnte. An der Straße oben. Sie musste über eine Eisplatte im Straßengraben balancieren. Die Morgensonne hatte diese Stelle noch nicht erreicht. Das Eis spiegelglatt und der Kies versunken ins Eis eingeschlossen wie Bernstein. Sie ging vorsichtig. Setzte Fuß vor Fuß. Auf dem Gehsteig dann. Sie konnte ihn nicht mehr sehen. Er war weit oben nach rechts eingebogen.

Sie lächelte. Er hatte doch nicht auf den Kaffee warten können. Sie ging hinter ihm her. Er war auf dem Weg zu dieser Konditorei an den Stiegen zu Götgatan. Seit sie in die winzige Wohnung in Stockholm eingezogen waren, hatte sie jeden Tag da gefrühstückt. Sie hatte nicht dahin gehen wollen. Heute. Sie hatte nur Kaffee trinken wollen. Einen guten Kaffee hatte sie haben wollen und nichts essen. In dieser Konditorei. Bei Gunnarsons Specialkonditori. Da war der Kaffee bitter und das Gebäck ihr zu süß. Aber sie würde sich zu ihm setzen. Da. Sie würde ihre Tasse auf den Tisch stellen und sich hinsetzen. Sie würde ihn anschauen und lächeln müssen und daran denken. Wie jeden Morgen. Mit ihm.

Jeden Morgen zog er sie zu sich. Legte sie neben sich und machte es ihr. Er schlief nicht mit ihr. Er befriedigte sie. Er hielt sie mit dem einen Arm um die Schultern umfangen. Er hielt sie so, dass er es bequem dabei hatte. Der linke Arm um die Schultern. Die rechte Hand zwischen ihren Beinen. Die Finger gleitend. Suchend. Wissend. Wenn sie einmal schaute. Wenn sie ihr Gesicht von seiner Schulter weggedreht und in sein Gesicht schaute. Er hatte die Augen geschlossen. Seine Miene. Verschlossen. Kein Gefühl zu lesen. Erst das Lächeln beim Frühstückskaffee die Verständigung darüber. Bis dahin keine Antwort auf ihr heftiges Atmen und ihr Stöhnen, und sie gefangen blieb im Liegen neben ihm. Jeden Morgen. Sie ging schneller. Das wissende Lächeln. Sein wissendes Lächeln. Es war die Erlösung. Jeden Morgen. Die Freigabe. Jeden Morgen. Sie war zum Supermarkt gelaufen. Hatte sich den Espresso versagt. Da. War zur Wohnung zurückgeeilt. Sie hatte zu diesem Lächeln zurückmüssen. Die Verzauberung aufheben. Sie freigeben. Sie ging rascher.

Sie bog um die Ecke. Schaute zur kleinen, hölzernen Kirche hinüber. Seit sie hier wohnten, wollte sie diese Kirche besichtigen. Aber sie kam nie zu den Öffnungszeiten vorbei. Das war hier nicht katholisch und die Kirchentür immer zu öffnen. Hier gab es Öffnungszeiten. Eine protestantische Person. Die trug ihre Bibel ja immer in sich. Da war kein Haus notwendig. Jede Person war das Haus. Und war das wichtig. Er war katholisch erzogen. So wie sie.

Sie ging. Der Kies knirschte unter ihren Sohlen. Den Hügel hinab lag alles im Schatten. Es war kalt. Sehr kalt. Sie ging auf die Stiege zu, die zu Götgatan hinunterführte.

Ein Mann in dunkelblauer Uniform fotografierte einen Lieferwagen. Er ging rückwärts. Schaute auf das Display seines Handys. Sie musste ausweichen. Der Mann versuchte das Halteverbotsschild und das Nummernschild des Autos auf ein Bild zu bringen. Er hob und senkte das Handy. Ging weiter die Straße zurück hinauf. Stieg vom Gehsteig auf die Straße. Auf den Gehsteig zurück. Hinkte ein paar Schritte mit einem Fuß auf dem Gehsteig und dem anderen auf der Straße. Sie eilte an ihm vorbei. Sie hörte das Klicken der Kamerafunktion. Der Mann sprach mit sich. Er knurrte und atmete tief. Einen Augenblick. Sie hatte Lust, stehen zu bleiben und den Mann anzustarren. Ihm zuzusehen. Ihn zu kontrollieren. Kalt hätte sie ihn ansehen wollen. Die Arme vor der Brust verschränkt. Ihn verachtend, wie er so eifrig polizeilich vorging. Ihm ihre Verachtung klarmachen. Aber sie war schon zu weit von ihm weg. Er war nach hinten oben gegangen und hatte sich schon abgewandt. Sie hätte ihm nachlaufen müssen und sich ihm in den Weg stellen. Sie war auch schon an den Stiegen angekommen und begann, die Stufen hinunterzuspringen.

Dienstag, 17. April 2018. Wien.[6]

Er sagte »Treppen« zu diesen Stiegen. Noch bevor sie den ersten Schritt eine Stufe hinunter gemacht hatte, musste sie an die Strudlhofstiege in Wien denken. An diese Landschaft, die das war. Jugendstil. Ein Lueger-Auftrag. Wie war das mit dem Antisemitismus. Lueger war durch und durch Antisemit gewesen. Sie hatte x-mal in Wien unterschrieben, dass das Lueger-Denkmal entfernt werden müsse. Dass es unmöglich wäre, für einen solchen Antisemiten ein Denkmal herumstehen zu haben. Aber dieses Denkmal. Das war auch Jugendstil. Wie die Strudlhofstiege. Stängelige Linien. Florale Flächen. Zartes Geäst. Erdacht Natürliches. Poesiealbumsranken. Die Natur als Erhofftes. Eine Lüge. Die Wirklichkeit die Fabriken der Vorstädte und der überfüllten Quartiere. Von da war das Geld gekommen, das die Jugendstilornamente bezahlte. Und dahin hatte Doderer sich zurückversetzt. Wie hatte einer 1946 bis 1948 einen Roman über die Jahre 1923 bis 1925 schreiben können. Müssen. War das, weil er damit vor seinen Eintritt in die da in Österreich verbotene NSDAP zurückgehen konnte. In das Reich seiner reichen Familie in das Jahr 1911 zurückreiste. Die NSDAP-Folgen ausblenden konnte. Kein Krieg. Kein Holocaust. Aber Zustimmung dazu durch Auslassung. Sie hatte das in Wien schon oft vorgefunden. Zustimmung durch Auslassung. Fragen ausblenden und damit preisgeben. Nicht einmal diskutieren. Verständnislos die Augen weiten und den Kopf schütteln. Mitleidig dreinschauen, wenn eine darauf bestand, in der weiblichen Form genannt zu werden. Wäre das nicht eigentlich schiach, sagte dann der Kollege Dengler, wenn das große I auf der Homepage des Instituts verwendet wurde. Es waren nur die erforderliche Internationalität und die EU-Vorschriften, die die weibliche Form auf der Homepage beließen. Auslassung. Das hätten die Kollegen lieber gesehen. Ins Unsichtbare vernichten. Wie den Holocaust. Und das vernichtet Unsichtbare als Gespenst auferstehen zu lassen. Aus Angst vor einer Leere, in die die Wahrheit sich drängen könnte. So war dieser Roman ja auch. Überfülle. Ablenkung. Mäander. Gegengerichtetes. Bis die Oberfläche dicht genug und die Gespenster nicht mehr zu riechen. Es wurde ja viel darüber spekuliert, wie es roch. In diesem Roman. In diesem Roman roch es oft schrecklich. Personen stanken da. Und war das Bürgerlichkeit. Konnte das Bürgerlichkeit sein. In so einem Nachverfahren. Konnte einer vor den Holocaust zurückgehen. Im Jahr 1946? Ein Nazi. Konnte er das. Und war der Nationalsozialismus dann nicht in das geschildert Bürgerliche der Strudlhofstiege eingenäht? So wie der Antisemitismus von Lueger im Verschönernden des Jugendstils der Strudlhofstiege eingefangen ist. Passepoil war das. Vorstoß nannte er das. Dünne Bänder in den Rand eingenäht. So war das mit diesen Romanen. Eingenähte Wulste rund um Mittelpunkte. Frogging hieß das auf Englisch. Wie nannten die Schweden das. Mit ihren Bergmans und Strindbergs. Das Kaputte als Blaupause des Richtigen. Familiengeschichten der Familienzerstörung. Die Freiheit darauf beschränkt, es zu erzählen. Sie schüttelte den Kopf. Das bedeutete doch, dass sie in einem Bergman-Film sitzen bleiben hätte müssen und dann an der Freiheit Anteil haben hätte können. Kaum war die Leinwand dunkel. Das Buch geschlossen. Dann. Die Verhältnisse krochen wieder über eine hin und der Zwang, sich einem anderen Mittelpunkt zuzuwenden. Einen Mittelpunkt suchen zu müssen. Unterschlüpfen zu können. Um Aufnahme betteln, die Bitterkeit des Ausschlusses wissend. Manchmal wünschte sie sich, nie einen Roman in die Hand bekommen zu haben. Nie diesen Auffaltungen einer anderen Phantasie ausgeliefert gewesen zu sein. Dann musste sie lachen. Sie hüpfte die Stiegen hinunter. Hielt sich am Geländer fest. Die Strudlhofstiegenleute. Sie waren Gefangene. Der Nazi Doderer war ihr Erzeuger. Ein Nazierzeuger. Da war nicht einmal Freiheit während des Lesens. Und das hatte sie ja auch. Sie hatte Doderer zum Altpapier gegeben. Neue Seiten aus den alten. Und sie hatte gelernt, die Bücher erst am Tag der Entleerung der Altpapiercontainer hineinzuwerfen. Es gab die Männer, die die Altpapiercontainer durchsuchten. Die nahmen sich Magazine heraus. Die Bücher. Kataloge. Sie hatte gedacht, es könnte um Pornographie gehen. Aber es ging wohl um die Möglichkeit, etwas weiterverkaufen zu können. Weiterverwertung. Frauen hatte sie an den Altpapiercontainern noch nie gesehen. Einmal war sie mit den Stefan-Zweig-Büchern angekommen, da hatte der Müllmann den Container schon wegrollen wollen. Sie könne doch nicht Bücher wegwerfen, hatte er gesagt. Sie hatte gelächelt und die Bücher in den offenen Container geworfen. Jemand anderer könne das doch lesen, hatte der Mann gesagt. »Es geht nicht um die Bücher.«, hatte sie geantwortet und sich gefühlt, als hätte sie eine Bücherverbrennung veranstaltet. Aber das hatte sie nicht. Und das war ja auch so ein Vorgang. Es waren die Bücherverbrennungen zu einem Tabu gemacht worden. Die Verbrennung ihrer Bücher war vor die damit gemeinte Vernichtung der Autoren und Autorinnen geschoben worden. Es war der Umgang mit der Sache Buch geregelt. Die Vernichtung der Autoren und Autorinnen dahinter versteckt und das Denkmal des Antisemiten hoch aufgerichtet. Diese Vernichtungsmetapher war zu einem Sinnbild geworden. Es war wichtiger gemacht worden als der in der Metapher gemeinte Tatbestand. Die Vernichtung von Personen. Bücher wurden nicht mehr verbrannt. Personen vernichtet. Weiterhin. Weltweit. Überall. Der Müllmann. Ihre Mutter hätte ihn noch Mistbauer genannt. Dieser Gemeindebedienstete. Er hatte sich abgewandt. Hatte den Container in den Mechanismus eingehängt. Ließ ihn aufheben und kippen. Beim Kippen und bei dem Geräusch, wie das Papier und ihre Bücher in den Müllwagen rutschten. Es hatte nach Wasser geklungen. Ein Schwall. Der Mann hatte ihr den Rücken zugekehrt. Aber wie hätte sie ihm so schnell erklären sollen, dass alle diese Bücher einen Mittelpunkt vortäuschten und nur dazu da waren, dem Schreiber ein Leben zu verschaffen, aber niemanden in dieses Leben mitnahmen. Dass das Verkündigung war, aber ohne die Gründung einer Gemeinde. Verführungen. Dass ein Buch wie die Strudlhofstiege die zu kommenden Gespenster bannte, und sich am Gefühl gütlich tat, sie im Keller zu wissen. Dass die Pietisten recht gehabt hatten, Romane zu verbieten. Eine bürgerliche Konstruktion. Kapitalistisch. Leben und Arbeit streng getrennt. Der Mittelpunkt aus der Arbeit ins Leben gezwungen und nur der am Leben, der sich so einen Mittelpunkt aus der Arbeit in sein Leben zwingen konnte. Die rund um ihn. Die mussten die Luft des Mittelpunkts atmen, ohne dort zu sein. Eiserne Lungen waren das. Diese Romane.

Auch auf den Stufen zu Götgatan hinunter lag der Streukies hoch aufgeschichtet. Aller Kies dieses langen Winters war da angesammelt. Am Rand bildete er eine schiefe Ebene zwischen den Stufen. Sie musste den Arm ausstrecken, sich am Geländer festhalten zu können. Am Rand nur dieser rutschige Kies. Das kalte Metall des Geländers. Sie musste an das Plakat in der Shopping-Mall vorhin denken. Während ihr das Bild des muskulösen jungen Manns, in der Badehose im Boot liegend, vor Augen war, spürte sie den rissigen Lack des Stiegengeländers in der rechten Hand. »Vietnam« war am unteren Rand des Plakats geschrieben gestanden. Sie hatte die Handschuhe nicht an. Hatte sie in die Umhängtasche gestopft. Sie ließ das Geländer los. Steckte die Hand in die Manteltasche. Sie war ja fast schon in der Wärme der Konditorei. Auf dem Stiegenabsatz. Sie querte nach links. Die Stiege teilte sich. Sie ging links hinunter. Die Auslagenscheiben der Konditorei spiegelten. Sie konnte noch nicht in das Lokal sehen. Sie sprang die Stufen hinunter. Rutschte. Fing sich. Sah sich hinunterpurzeln und ihm zu Füßen. Er hatte bis jetzt jedes Mal einen Tisch gleich an den Glasfenstern zur Terrasse auf dem Stiegenabsatz ausgesucht. Sie sah sich auf dem Stiegenabsatz vor der verschlossenen Tür zum Lokal liegen. Abgerutscht. Hinuntergerollt. Staubig. Verwurschtelt. Lachend. Und er hinter der Scheibe. Aufgesprungen. Erschrocken. Sie rufend. Aber sie hätte nichts hören können. Hier. Heraußen. Eine Pantomime. Drinnen. Der Straßenlärm von Götgatan hätte alles übertönt.

Und dann sah sie ihn. Er saß an dem Tisch, auf den er schon das erste Mal zugestrebt war. Nur einmal in den vergangenen Tagen war der Mann mit den schönen weißen Haaren schon da gesessen. Sie hatten in den zweiten Raum nach vorne gehen müssen und sich da ans Fenster setzen. Mit Aussicht auf die Straße. Sie schaute auf ihn. Er saß nach vorne gelehnt und starrte auf sein Handy. Er textete. Sie klopfte nicht an die Scheiben. Sie eilte die Stiegen hinunter.

Mittwoch, 18. April 2018. Wien.[7]

So von oben aufgenommen und gekippt. Auf das Plakat gekippt. Sie war ja auf das Plakat zugegangen wie auf eine Wand. Das Plakat über dem Ausgang der Shopping-Mall Ecke Götgatan und Ringvägen. Die alten Männer waren zur rechten Seite an der Wand gestanden. Sie war an ihnen entlanggegangen wie an einer Parade. Diese alten Männer waren so still dagestanden, als wären sie Soldaten und hielten Wache. Nur ihre Schlaffheit hatte sie davon unterschieden. Und jeder war anders schlaff gewesen. Die drei alten Männer auf der Bank links. Die waren noch nicht so alt gewesen. Hatten sie deswegen sitzen müssen. Hatten sie noch nicht gelernt gehabt, so in sich zusammengesunken dazustehen. Vor sich hinzuschauen. Gerade vor sich hin. Nach vorne. Und jederzeit hätte ein Schild um den Hals hängen können. »Arbeitslos.« hätte darauf stehen können. »Hungrig.« »3 Kinder.« Aber das waren alles Pensionisten. In Schweden verhungerte niemand. Und die Männer auf der Bank. Die waren vielleicht wirklich Arbeitslose. Der dunkelhäutige Mann war in der Mitte gesessen. Das hatte friedlich ausgesehen. Und sie dachte jetzt über diese Männer nach, um sich den Gedanken an Vietnam zu ersparen. Dabei hatte sie mit dieser Zeit nichts zu tun. Da war sie gerade erst auf die Welt gekommen. Aber es war zu Lebzeiten. Lebzeiten. Zu Lebzeiten. Das entschied über etwas. Da war alles erträglicher. Irgendwie. Oder doch nicht. 1965 hatte der Vietnamkrieg begonnen. Die Bürgerrechtsbewegung. Zu ihren Lebzeiten. Sie fühlte sich verknüpft damit. Fühlte sich mit diesen Vorgängen in Beziehungen. Was hätte sie fühlen müssen, wäre sie zur Zeit des Holocaust auf der Welt gewesen. Sie hatte ihre Eltern beobachtet. Die hatten sich nicht beirren lassen. Sie dagegen. Sie hatte es nie so weit gebracht, einen sicheren Stand in der Zeit zu finden. Der Holocaust. Die Unveränderlichkeit der Geschichte. Dieser Geschichte. In der Ohnmacht diesem Vergangenen gegenüber. Es stürzte sie in Belanglosigkeit. In eine ganz besondere Belanglosigkeit. Sie war belanglos gemacht worden. Das konnte sie wissen. Sich sagen. Sich vorsagen. Aber diese Belanglosigkeit hielt sie fest. Lähmte sie. Nach all den ausgelöschten Leben. Nachdem die Belanglosigkeit so furchtbar regieren hatte können. Nachdem nichts mehr gegolten hatte und kein Leben gezählt hatte. Nichts, was ihr geschah, konnte ihr diesen Ort in der Zeit geben, an dem sie von Belang gewesen wäre. Sie hatte diesen Ort von der Liebe erwarten müssen. Sie hatte darauf warten müssen, dass eine Liebe daherkäme und ihr sagte, dass sie wichtig war. Unverzichtbar. Sie hätte sich sagen wollen, dass er das tat. Dass er ihr in der Antwort »Ich dich.« diesen Ort zugesprochen hätte. Aber es war sie. Sie musste den Satz sagen. Sie sagte »Ich liebe dich.«, und er antwortete »Ich dich.« Es war Widerhall. Sie stand auf Götgatan. Vor der Tür zu Gunnarsons Specialkonditori.

Dieser Wolfgang hatte gesagt, dieses Café gäbe es schon sehr lange. Aber es sah nicht so aus, als sollte dieses Lokal noch lange bestehen. Es gab keine Bedienung mehr. Die Gäste ließen ihre Selbstbedienungstabletts auf den Tischen zurück. Sie hatten jedes Mal den Tisch erst abräumen müssen, bevor sie ihre Tabletts hinstellen hatten können. Die Einrichtung war aus den 80er Jahren. Vom Braunviolett von damals war nur das Braun übrig. Das war ein deprimierender Anblick. Er hatte recht gehabt, sich ans große Fenster auf die Terrasse zum Stiegenabgang hinaus zu setzen. Aber in solchen Dingen hatte er immer recht, und sie waren sich einig. Sie waren einander einig. Sie hätte sich auch nur an dieses Fenster setzen wollen. Den Blick hinaus. Und nur kurz. Ihm ins Gesicht und sein Lächeln. Die verzauberte Prinzessin freigebend. Für den Tag. Ihr Merlin. Er war ihr Merlin. Einen Augenblick lang. Ihr Wunsch nach ihm. Sein Lächeln. Sein Geruch. Sein Körper der warme Schatten ihres Schlafs. Seine Stimme. Sie hätte in ihn schmelzen wollen. Sich in ihm auflösen. Nichts mehr wissen als seine Dunkelheit. Nie mehr die Augen öffnen.

Sie rang um Atem. Sie war im Atemholen steckengeblieben. Sie stand vor der Tür. Zwischen zwei Atemzügen. Sie atmete tief ein und wandte sich ab. Sie ging an der Tür vorbei. Sie ging nach Norden weiter. Sonne auf dem Gehsteig. Kurz.

So von oben gesehen. So von hoch oben. Das Wasser. Das Boot. Der Mann im Boot liegend. So musste das für die Bomberpiloten ausgesehen haben. Damals. Heute benutzten die Satellitenbilder. Da fuhr die Kamera auf das glitzernde Wasser zu und nicht mehr der Blick des Piloten. Aber gekippt. Das blieb es. Der Drohnenlenker allerdings saß vor dem Bildschirm wie sie vor dem Plakat. Der Drohnenlenker schoss aus dem Sitzen. Die Bomben damals waren noch auf eine Wirklichkeit abgesetzt worden. Der Bomberpilot von damals. Er hatte alles gesehen. Er musste seine Bilder in Traumsequenzen verwandeln. Gegen das Trauma der Wirklichkeit. Der Drohnenlenker. Er bekam den Traum schon fertig vorgesetzt. Opfer konnten da herausgeschnitten werden. Alles schon digitalisiert. Jeder seine eigene Armee. Sie wollte umkehren. In das Café gehen. Sich ihm gegenüber setzen. Lächeln. Den Satz sagen. Sie ging weiter.

Donnerstag, 19. April 2018. Wien.[8]

Das Nicht-schlafen-Können. Alle klagten. Konnten nicht schlafen. Andere mussten essen. Dauernd. Magenschmerzen. Rückenschmerzen. Kopfschmerzen. Die eine Kollegin konnte den Arm nicht mehr heben. Sie ging mit dem rechten Arm an den Körper gepresst. So tue es am wenigsten weh, sagte sie. Und außerdem. So könne sie keinen Hitler-Gruß machen. Und alle nickten. Keiner lachte mehr. Es war ein grimmiges Nicken. Wenn sie sagte, dass es sich bei ihr aufs Schlafen auswirke, war dieses Nicken die Antwort. Es war eine richtige Sprache geworden. Eine Sprache in Symptomen. Sie waren versammelt worden, ihre Strafe zu bekommen. Sie waren die anderen. Nicht das Volk. »Jetzt bekommt ihr eure Strafe.«, hatte die Mutter gesagt, wenn der Vater in die Wohnung zurückgekehrt war. Am späten Nachmittag. Die Eltern waren auf der Veranda gesessen. Der Vater hatte ein Bier zu trinken bekommen. Für Kaffee wäre es zu spät gewesen. Die Mutter trank nichts. Sie saß dem Vater gegenüber. Der Vater hatte den Blick auf die Baumwipfel im Innenhof des Blocks hinter ihr. Die Stimme der Mutter. Das war eine Geständnisstimme gewesen. Die Mutter hatte die Verfehlungen ihrer Kinder gestanden. Ein Singsang war das gewesen. Eine Litanei. Jeden Tag. Der Vater hatte das Bier getrunken. Er hatte hinausgeschaut. Hinter die Mutter. Die Strafe war dann nicht jedes Mal gekommen. Ihr Bruder und sie waren an die Küchentür gedrängt gestanden und hatten gelauscht. Die Köpfe weit vorgestreckt. Ein Ohr den Tönen entgegenhaltend. Wenn der Vater nicht gleich zu reden begonnen hatte, dann waren sie ins Kinderzimmer davongestürzt. Der Vater hatte sie dann vor ihren Hausaufgabenheften sitzend gefunden, wenn es begonnen hatte. Oft hatte er aber auch gelacht. Nach einer langen Pause hatte er aufgelacht. Leise. »Der Lauser.«, hatte er gesagt, und was die Mutter doch für eine Mühe habe. Mit diesem Sohn. Sie. Die Tochter. Sie war nicht vorgekommen. Sie war auch bei den Strafen nicht ernst genommen worden. Ein Rutenstreich. Der Bruder oft zehn.

Die Ruten waren vom Krampus gebracht worden. Es war längst klar gewesen, dass der Pfarrer Leichtfried den Nikolaus spielte und der Messner den Krampus. Die Ruten waren mit den roten Zellophansäckchen mit den Schokoladenikoläusen verteilt worden. Die Ruten waren den Eltern übergeben worden. Jedes Jahr war eine Rute verbraucht gewesen. Der Bruder hatte das Hemd ausziehen müssen und war auf den Rücken geschlagen worden. Bis er das erste Mal gesagt hatte, dass der Schularzt seine Klasse zu untersuchen begonnen habe. Der Bruder war nicht in die Schule gegangen, in der der Vater Direktor war. Damals. Es hatte die Debatte begonnen, ob Kinder geschlagen werden sollten oder nicht. Der Vater hatte mit der Mutter darüber geredet. Laut. Wütend. Aber das begriff sie jetzt erst. Damals. Der Vater hatte zu zögern begonnen. Hatte nicht mehr mit diesem leeren Gesicht auf die nackte Haut des Bruders eingeschlagen. Sie hatte er dann ganz ausgelassen. Der Bruder hatte trotzdem geweint. Ihre ersten Erinnerungen waren dieser Bub. Trostlos schluchzend. Auf seinem Bett sitzend. Am Tag. Das war streng verboten gewesen. Sich ins Bett zu legen. Während des Tages. Auf dem Bett sitzen war eigentlich auch verboten. Erschöpft waren sie gewesen. Alle. Danach. Erschöpft und leer. Und die Regeln außer Kraft. Danach. Und jetzt. Wenn sie zurückdachte. Für sie. Es war das Elend des Bruders, das ihr diese Angst machte. Bis dahin war sie gut aufgehoben. In ihren Erinnerungen. Wenn ihr aber einfiel, wie sie gerufen hatten »Er kommt. Er kommt.«. Und sie waren hysterisch lachend im Kinderzimmer herumgelaufen. Ein Hochgefühl war das gewesen. Ein Kitzel. Das Anschleichen durch die Küche. Das Belauschen der Eltern. Sie hatten einander an der Hand gehalten. Der Bruder hatte sich an sie gedrückt. Oder sie an ihn. Aneinander. Er hatte ihr den Mund zugehalten. Bis sie es gelernt gehabt hatte. Da, an der Küchentür zum Esszimmer und um die Ecke in die Veranda horchend. Lauschen. Mäuschenstill zu sein. Aufgeregt. Erregt. Vor Kichernmüssen platzend. Da war sie aufgenommen gewesen. Dann. Nach den Schlägen. Der Bruder war dann bald wieder wütend geworden. Auch weil sie nicht ordentlich geweint hatte. Sie hatte nicht geweint. Weinend bettelnd. Wenn der Vater das bemerkte. Bemerkte, dass sie ungerührt war. Kein Mitgefühl mit ihrem Bruder. Kein Mitleiden. Dann nahm er sie auch heran. Er nannte das so. Herannehmen. Aber sie hatte auch dann nicht geweint, und der Bruder hatte sie wiederum dafür gehasst. Das Elend. Nach dem Lauschen ins Kinderzimmer zurückgestürzt. Am Tisch sitzend. Die Schritte des Vaters vernehmend. Hörend. Da waren sie beide schon in das kommende Elend versunken gewesen und allein. Für sich. Kein Händehalten. Kein gemeinsames Kichern unterdrückt. Und so war das jetzt. In Wien. Sie war glücklich, dieser Stimmung entkommen zu können.

Sie hatte dieses Karenzjahr schon lange geplant gehabt. So konnte sie jetzt vor der rechtsradikalen Regierung flüchten. Er lebte in Berlin. Sein Arbeitsaufenthalt in Stockholm war ein Glück. Hier. Hier konnte sie schlafen. Hier wollte niemand die alten Strafen einführen. In Wien. Zuerst einmal hatte diese Regierung die Noten für Schulkinder wieder eingeführt. Die Noten waren für die ersten Klassen abgeschafft gewesen. Die Kinder waren von den Lehrerinnen und den Lehrern in ein paar Sätzen beschrieben worden. Die Kinder waren in den Mittelpunkt gestellt gewesen. Jedes Kind. Sie waren der Mittelpunkt gewesen, und die Schule hatte ein Raum der Entfaltung werden sollen.

Diese Regierung. Die Eltern wurden für die benoteten Kinder zur Rechenschaft gezogen. Es wurden hohe Geldstrafen für Verfehlungen der Kinder diktiert. So. Es war sichergestellt, dass das mit dem Strafen der Kinder wieder begonnen wurde. Es waren alle Mechanismen zurückgebaut worden, das zu gewährleisten. Sie bekam Brechreiz, wenn sie daran dachte. Etwas Zischendes. Etwas sausend Zischendes machte sich in ihrer Kehle spürbar. Und sie beugte sich. Wenn sie an die Vorgänge denken musste, die da ausgelöst. Wie so ein kleines Kind in die Noten gepresst dem Vater gegenüberstand, der eine Strafe bezahlen musste. Schuldige Kinder wurden so gemacht. Von außen. Wieder das Selbst genötigt. Kein Platz. Keine Bewegung. Wie schon unter Maria Theresia. Gerade so viel Selbst, dass die Person brav funktionierte. Keine Unze mehr. So wurden Lasten gemacht, die das ganze Leben beschweren konnten. »Miese Voraussetzungen.« hatte der Chefarzt der Krankenkassa gesagt, als er ihr die Zulassung für eine Psychotherapie bestätigen musste. Nun war ein ganzes Volk in diese miesen Voraussetzungen zurückgekehrt. Und manche konnten schon den Arm nicht mehr heben. Um sich zu retten.

Sie ging. Vor dem Eingang zu einem Kleiderdiscounter standen drei Romafrauen. Die eine kannte sie. Die saß immer vor diesem Geschäft. Ein McDonald’s-Trinkbecher stand vor ihr auf dem Gehsteig. Die Frau hieß Maria. Sie hatte sie gefragt. Diese Maria saß jeden Tag da. Sie hatte ihr bisher jeden Tag 10 Kronen gegeben. Die Frau hatte sie jedes Mal begrüßt, als kennten sie einander schon lange. Die drei Frauen redeten miteinander. Lachten. Dann wandten sie sich ab und gingen auch Götgatan hinauf. Sie gingen langsam. Schlenderten. Lachten laut. Sie ging noch langsamer. Diese Frau. Diese Maria. Die wollte heute nichts von ihr. Die war in ihrer Welt. Sie fühlte sich zurückgelassen. Ein bisschen.

Sie ging langsam. Brodelte vor sich hin. Schaute in die Auslagen. Dann ging sie wieder schneller. Sie musste einen Kaffee trinken. Musste. Sie sollte umkehren. Zurückgehen. Sich zu ihm setzen. Ihn anlächeln. Und sie konnte nicht. Es wollte nicht. In ihr. Etwas. Sie ging weiter. Ein kleines Glücksgefühl breitete sich aus. Sie ging davon, und es machte sie leicht. Sie ging dahin. Entkommen. Sie fühlte sich aus einem Turm entkommen. Sie musste lachen. Wie hatte sie sich von den Umständen in Wien so niedermachen lassen können. Sie würde ihm eine Liebeserklärung texten. Er hatte ja auch nicht auf sie gewartet.

 

Wunderwerke des Schweigens. Kein Wort. Erzählungen. Er erzählte. Aber er sagte nie, was das bedeutete. Für ihn. War das der Schlüssel. Er sagte auch nie etwas währenddessen. Er keuchte nicht einmal. Er blieb ruhig, während sie sich aufbäumte. Keuchte. Schrie. Redete. Flüsterte. Aber sie war nicht seine Therapeutin. Oder wollte er das. Nein. Er wollte das nicht. Er wehrte sie ab. Wenn sie sich ihm so näherte. Er legte sie gleich so neben sich, und sie wurde scheu und konnte ihn nicht mehr berühren. Er wies sie ab. Jeden Morgen wies er sie ab. Genau genommen wies er sie ab, indem er sie befriedigte.

In den Internetforen. Da priesen Männer diese Technik. Nur so würde ihnen ihre Liebe erhalten bleiben. Ihre Frauen. In den angeratenen Gesprächen. Da sollte darüber gesprochen werden, ob es ihr unbedingt wichtig wäre. Unverzichtbar. Die Penetration. Aus Liebe wäre dieser Verzicht schon leistbar. Und er. Derjenige. Er müsse sich ihr widmen. Sich ihr so hingeben. Und dann. So wurde versprochen. Manchmal löse das Problem sich derart. Und. Alles würde wieder gut. Gelänge wieder. Käme in Ordnung.

Sie war zu stolz. Ein solches Gespräch. Ein solches Eingeständnis. Sie liebe ihn. Das sagte sie. Es war sein Anteil, es zu verneinen. Seine Aufgabe sogar. Er war der Mächtigere. Er bestimmte. Sie konnte sich ihm nicht mehr nähern. Die Sorge, ihn zu erinnern. An dieses Nichts. Nicht-Funktionieren. Sie hatte ihm diese Sphäre übergeben. Das musste er wissen. Er wusste das auch. Wenn sie ihm textete, wie das gehen sollte. Das alles. Dann schrieb er ihr, dass Begehren nicht verginge. Deshalb. Sie hatte einmal begonnen zu beschreiben, was das für sie bedeutete. Und dass sie sich das anders. Vorgestellt hatte. Gedacht. Geträumt. Er hatte sie traurig angesehen und hatte sich ein Buch geholt. Er war dann in seinem Lesesessel gesessen und war erst um 3 Uhr am Morgen ins Bett gekommen. Die Anspannung. Bis dahin. Die Erwartung. Sie hatte keinen Augenblick geschlafen gehabt. War im Dunkeln gelegen. Nackt. Er duldete kein Nachtgewand. Die Dunkelheit war in Spiralen vor ihr auf- und abgetanzt. Bis sie selbst sich hinaufgerissen und aufs Bett geworfen gefühlt hatte. Von der Dunkelheit schwindelnd. Aufgespannt. Jeder Herzschlag eine Stunde. Das Ende da gelernt gehabt. Oder das Ende da hätte lernen können. Sie hatte es überstanden. Sie hatte die dreihundert Jahre, die das gedauert. Sie hatte sie überstanden. Durchgestanden. Eine Kriegerin des Schweigens, war sie in tiefen Schlaf versunken, sobald sie seinen Körper neben dem ihren gewusst hatte. Hand in Hand. Hand in Hand waren sie eingeschlafen.

Sonntag, 22. April 2018. Im Zug nach Liechtenstein.

Sie schaute die Stiegen hinunter. Das Café war von da noch nicht zu sehen. Sie stieg hinunter. Sie wusste, er saß an einem der Tische, die vom Stiegenabsatz aus zu sehen sein würden. Im Sommer standen Tische hier heraußen. Jetzt. Im Winter. Der Eingang war nur von der Straße unten möglich. Sie musste die Stufen hinuntersteigen und dann im Café wieder hinaufgehen. Sommer. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Sie ging langsamer. Sie konnte sich auch ihn nicht vorstellen. Bei Levinas hatte sie gelesen, dass das Liebe bedeutete. Tiefe, innige, unbedingte Liebe. Liebe eben. Wenn einer oder eine das Gesicht der geliebten Person so unbeschreiblich in sich trug. Das wäre dann Liebe. Aber sie war nicht sicher. War er ihr entfallen. Hatte dieser Blick so von unten auf ihn. Der Blick auf seine Schuhsohlen und wie er da weggegangen war. So rasch. So entschlossen. So zielgerichtet. Hatte er sich da entfernt und ihr Bild von ihm mitgenommen. War das, weil sie sich ganz genau vorgestellt hatte, wie sie die Kaffeemaschine mit diesen neugekauften Kapseln füllen würde. In der Wohnung. Wie die grüne Anzeige der Kaffeemaschine aufleuchten würde und sie darauf drückte. Ihm die Tasse reichte. Wie das Lächeln über dieser Geste schweben sollte. Das Einverständnis. Nach der Trennung in die befriedigte Person und den Befriediger. Aufgehoben. Wieder einig. Einander anschauend. Gegenrichtung. Und dann in dieselbe Richtung. Auf dem Schlafsofa sitzend. Das Gesicht der anderen Person kein Spiegel. Der Blick aufgesogen. Einander alles. Aber wie sollte sie ihn nun erkennen, wenn er so bildlos in ihr.

Sie stieg die Stufen hinunter. Langsam. Vorsichtig. Zögernd. Es war nicht genug. Sie wünschte sich seinen Leib gegen ihren. Atemloses Aufbäumen gegeneinander. Ineinander. Verkrallt. Gefangen. Verfangen. Verhakt. Sie wollte von ihm umfangen sein und ausgefüllt. In den ersten zwei Nächten war das so gewesen. Warum war das nicht. Nicht mehr. Nicht gelungen. Das sei plötzlich so gewesen, hatte er gesagt. Beim Duschen hätte er es bemerkt. Auf einmal. Geduld. Wenn es einmal gelungen sei, dann gelänge es auch wieder. Aber das war nicht so.

Und seit da. Sie hatte keine Antwort gewusst. Und keine Frage. Wenn er sie liebte. Wenn er »Ich dich.« sagte. Sagen konnte. Er musste das verantworten. Es war er. Sein Körper. Im Internet riet man zu Vorsicht. Vorsichtige Gespräche. Das richtige Setting. Viel Zeit. Vielleicht ein Gläschen. Entspannt. Verständnis. Geduld. Rücksicht. Pornographie. Die richtige Stimmung. Die richtige Gesprächsführung. Eine Inszenierung wurde vorgeschlagen. Takt und Einfühlung. Kein Zwang. Kein Druck. Nur Freundlichkeit und Verstehen. Freiheit. Es müsse ihm die Freiheit gegeben werden.

Die Freundinnen hatten gelacht. Jede kannte eine solche Geschichte. Rat wusste keine.

 

Es hatte sie immer schon interessiert, wie das vor sich ging. So eine Massenvergewaltigung. Im Krieg. Wie die Männer einander zusahen. Und Komplizen wurden. Dabei.

 

Die Freundinnen. Sie hatten dann darüber geredet, wie das nun mit dem Austrocknen zu erwarten war. Auch darüber war gelacht worden. Keine hatte etwas bemerkt gehabt. Sie waren alle knapp um die fünfzig. Wenn es sich lohnen würde, sie würde alles machen dafür, hatte Brigitte gesagt. Wenn es sich lohnen würde. Das zweite Mal hatte sie resigniert geklungen.

Sie hatte den Freundinnen nichts erzählt. Nie. Sie hatte allgemein geredet. Es war natürlich klar gewesen, dass es sich um eine Erfahrung handelte. Aber sie hatte nichts von ihm erzählt. Oder über ihn. Die Freundinnen hatten sie gefragt, wie sie das schaffe. Ihre Figur. So schlank. Sie hatte ihnen nicht erzählt, dass sie fast nichts mehr aß. Sie hatte Angst, ihr Körper könne sich verändern. Und er. Könnte es Abscheu sein. War sie doch zu alt. War sie nicht genug Versprechung. Es war keine Überlegung von ihr gewesen. Sie war sicher gewesen. In ihrem Körper. Der Gedanke, nicht attraktiv genug zu sein. Sie hatte daran nicht gedacht. Das kam aus den Internettexten. Da wurde gesagt, Frauen von impotenten Männern. Die machten sich solche Vorwürfe. Aber das konnte es nicht sein. Konnte er sonst sagen, dass sie schön sei. Er sagte das so, wie sie ihre Liebe erklärte. Sie sagte »Ich liebe dich.«, und er sagte »Du bist schön.«. War es falsch, so keine Sorge zu haben. Sich in seinen Beteuerungen sicher zu fühlen. Wusste er alles über sein Begehren. Konnte sie sicher sein, er war sich sicher in diesen Beteuerungen. War sie das alles, was er da sagte. War sie glatt genug. Feucht genug. Straff genug. Angespannt genug.

Montag, 23. April 2018. Im Zug von Feldkirch nach Wien.[9]

So ein Satz. Das war doch ein Vertrag. Und in der Antwort angenommen. »Ich dich.« und »Du auch.«.

 

Sie zögerte. Ging noch langsamer. Wenn sie so auf ihn zuging. Sie fürchtete, es könne ihm so gehen wie ihr und er erinnere sich nicht an sie. Erkenne sie nicht. Schaute ihr entgegen, und seine Augen blieben leer. Füllten sich nicht. Nichts stiege auf in ihnen. Und die Leere triebe sie an ihm vorbei, obwohl sie ihm in die Arme fallen hätte wollen.

 

Plötzlich. Sie wurde von entsetzlichen Bildern überfallen. Das passierte von Zeit zu Zeit. Sie hatte noch nie einen Zusammenhang mit dem Augenblick gefunden, in dem sie diese Bilder sah. Die Bilder waren Überfälle. Kamen aus dem Nichts. Sie sah dann in Auslagen Frauen, die da lagen und denen gerade die Brustwarzen abgeschnitten wurden. Männer standen in der Mitte der Straße. Es waren ihnen die Hosen hinuntergezogen worden, und die Stromkabel wurden gerade an ihren Penissen und ihren Hoden befestigt. Die Leiber dieser Menschen waren wundenübersät. Die Gelenke grotesk verzerrt. Die Köpfe geschoren. Das Geschlecht war nicht immer gleich deutlich. Nicht immer zu erkennen. Schweigend waren diese Menschen ihren Peinigern ausgeliefert. Bewegungslose Gesichter. Die Peiniger über die Leiber gebeugt. Die Peiniger nie ganz zu sehen. Zu identifizieren. Die Peiniger so belanglos wie die Opfer. Manchmal waren es Bildschirme, auf denen sie diese Vorgänge sehen musste. Auf der Stiege zu Götgatan hinunter sah sie einen Mann in einem Zahnarztstuhl festgeschnallt, und es wurde an seinen Zähnen gebohrt. Die Hände des Manns waren grauweiß vor Anstrengung, wie sie um die Armlehnen des Sessels geklammert waren. Ein anderes Zeichen des Schmerzes dieses Manns gab es nicht. Der Peiniger war über ihn gebeugt und verbarg das Gesicht des Gequälten. Dieses Bild hatte sie in einer Dokumentation gesehen. Es war darum gegangen, wie die Nazifolterer in einem Schloss in der Nähe von Frankfurt die CIA-Folterer im Foltern unterwiesen. In dem Schloss war mittlerweile ein Luxushotel eingerichtet. Sie war mit ihrem Mann damals manchmal da gewesen. Zum Essen. Vor der Scheidung. Und sie hatte nichts von der Nachkriegsgeschichte des Schlosses gewusst.

Dienstag, 24. April 2018. Wien.[10]

Sie blieb rechts. Drückte sich am rechten Stiegengeländer entlang. Blieb auf der rechten Seite des Stiegenabsatzes. Lief die rechte Stiege zu Götgatan hinunter. Links. Auf der linken Stiege. Sie hätte an ihm vorbeigehen müssen. Sie hatte ihn gleich gesehen gehabt. Er saß an dem Tisch am Fenster. Fast jeden Morgen waren sie an diesem Tisch gesessen. Seit sie in Stockholm angekommen waren. Sie hatten hier gefrühstückt. Danach war er zu seiner Tagung gegangen. Im Finanzministerium. Sie war in die Wohnung zurückgekehrt oder war noch ein Stück mit ihm mitgegangen. Am Morgen. Sie waren immer zusammen gewesen. Bisher. Waren nebeneinander diese Stiegen hinuntergestiegen. Der Kies unter seinen Ledersohlen laut knirschend. Er hatte sie an der Hand genommen. Beim Hinuntersteigen. Fürsorglich war das gewesen. Fürsorglich, und sie hatte sich in Sicherheit gedacht. Diese Sicherheit. Es hatte sie großzügig gemacht, und sie hatte dem Mann mit den weißen Haaren zugelächelt, obwohl er an dem Tisch am Fenster gesessen war.

Der Mann hatte dichte, schlohweiße Haare. In langen Wellen zurückgekämmt. Er saß in einem hellen Kamelhaarmantel im Lokal. Er saß lange da und schaute vor sich hin. Er war auch jeden Tag da gewesen, und sie hatten über ihn gesprochen. Ob der Weißhaarige wieder an ihrem Tisch sitzen würde, hatte er schon beim Zusperren der Wohnungstür gefragt. Wäre es nicht lustig, an jedem Tisch in diesem Café gesessen zu sein, hatte sie gefragt. Er hatte den Kopf geschüttelt. Er war territorial. Sie durfte nicht in seinem Lesesessel sitzen. Niemand dürfe das, hatte er ihr erklärt. Niemand. Das habe also nichts mit ihr zu tun.

Aber er war ein Einzelkind. Sie konnte das verstehen. Er hatte nicht gelernt, dass eine andere Person die Pinsel beim Malen nicht reinigte und ins saubere Wasser tauchte und die Farben im Malkasten, schmutzig vermischt, alle bräunlich wurden. Er kannte es nicht, dass er die Farben erst mit einem feuchten Tuch abwischen musste, um zu den richtigen Farbtönen zu kommen. Er wusste nicht, dass jedes Mal ein Stofffetzen von der Mutter zu erbetteln gewesen war. Wie der Malkasten unters fließende Wasser gehalten werden musste und dann der Farbenschmutz weggewischt, die Farben aber sehr schnell aufgebraucht waren. Sie hatte dann eine Aquarelltechnik entwickelt. Dünn wässrig verschleierte Farben. Der nächste Malkasten konnte erst wieder zu Weihnachten oder zum Geburtstag erwartet werden. Von der Mutter war sie einmal gescholten worden, die Farben so zu verschwenden. Dann wieder hatte es Mitleid gegeben, und sie hatte Farben in Tuben bekommen. Der Bruder hatte dann die Tuben vorne ausgequetscht, und sie hatte die Tuben hinten aufschneiden müssen, um die Farben aufbrauchen zu können. Es war ärgerlich gewesen. Es hatte sie wütend gemacht. Sie hatte wütende Bilder gemalt. Die Bilder hatten den Vater verstört. Die Bilder waren nicht in der Küche an die Tür geklebt worden. Es waren keine Bilder geworden, auf die Eltern stolz sein hätten können. Der Bruder hatte es aber nie gelernt. Er hatte es nicht lernen müssen. Er solle netter zu seiner Schwester sein, hatte es geheißen. Wie er ihren Malkasten behandelte. Das war allen gleichgültig.

 

Sie hatte seinen Umriss gesehen. Seine Gestalt. Er war über den Tisch gebeugt gewesen. Über sein Handy. Er hatte sie nicht gesehen. Sie stürzte die Stufen hinunter. Einen Augenblick. Er durfte sie nicht sehen. Sie lachte auf. Hysterisch. Das war ein hysterisches Lachen. Aber die Angst, von ihm gesehen zu werden. Die Angst hatte sich im Bauch zusammengeballt. Kein Schmerz. Ein hässliches Wohlgefühl war das. Auf Götgatan ging sie nach links. Lief an der anderen Stiege schnell vorbei Wenn er sich noch weiter vorbeugte und aus dem Fenster schaute. Er konnte sie wahrscheinlich auf der Straße gehen sehen. Sie erwarten. Erwarten, dass sie die Stufen im Lokal heraufgelaufen käme. Suchenden Blicks. Erwartungsvollen Blicks. Strahlend lächelnd. Das Lächeln zwischen ihnen sie zu ihm führte, in einem Kuss zu enden. Eine Aufhebung des Abstands. Innigkeit.

Sie spürte ihre Lippen auf seinen. Sein Geruch. Seine Wärme. Und sie konnte die Tür zu Gunnarsons Specialkonditori nicht aufmachen. Nicht aufstoßen. Wie geschleudert ging sie an der Tür vorbei. In den Auslagen. Die Osterdekorationen. Osterhasen. Ostereier. Osterküken. Osterhexen. Leuchtendes Gelb. Rot.

Mittwoch, 25. April 2018. Wien.[11]

Sie ging auf Götgatan in Richtung Gamla stan. Kaffee. Sie musste Kaffee haben. Er hatte getextet. Er war vorgebeugt gesessen und hatte auf sein Handy gestarrt. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen gehabt. Das obere Bein noch einmal hinter das andere geschlungen. Er hatte gerade an sie geschrieben. Er hatte gerade an sie getextet. Sie suchte ihr Handy in der Handtasche. Hielt es in der Hand. In der Manteltasche. Jeden Augenblick würde es vibrieren und seine Nachricht ankündigen. So im Gehen. In der Erwartung seiner Nachricht. Sie ging schnell. Machte große Schritte. Lächelte. Sie fühlte sich sicher. Die Kälte. Diese minus 15 Grad. Ein Abenteuer. Rund um sie. Alle gingen schnell. Drei Romafrauen standen in der Mitte des breiten Gehsteigs und mussten umrundet werden.

Donnerstag, 26. April 2018. Wien.[12]