Partygirl. - Marlene Streeruwitz - E-Book

Partygirl. E-Book

Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

Urlaub in Havanna, Partys in Italien, Bars in Wien. Nichts hilft gegen die Leere im Leben Madelines. Es ist ein Leben, das um ein furchtbares und unausprechliches Geheimnis kreist. Marlene Streeruwitz' großer Familienroman auf der Folie von E.A. Poes Erzählung "Der Untergang des Hauses Usher" reicht vom Jahr 2000 bis zurück ins 19. Jahrhundert.

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Marlene Streeruwitz

Partygirl.

Roman

Roman

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Inhalt

Partygirl.Oktober 2000.April 1997.Juni 1994.Juni 1989.März 1984.August 1981.Februar 1976.Dezember 1973.September 1968.Juli 1965.Mai 1960.September 1957.Juni 1950.
Partygirl.

Oktober 2000.

Chicago.

Die Glocke schlug an. Kalte Luft strömte herein. Der Mann lehnte mit der Schulter gegen die Glasscheibe der Tür. Er schob die Tür weiter auf. Hielt ein Bündel schwarzer Kleidung mit beiden Händen. Madeline konnte die Schrift auf der Tür hinter ihm sehen. Die rosaroten Buchstaben in 2 Bögen übereinander. »Crystal« groß geschrieben. »Cleaner« darunter. Kleiner. Der Mann trat an den Ladentisch. Legte die Kleidungsstücke ab. Die Tür fiel zu. Die Glocke schlug wieder an. Madeline stand von ihrem Hocker auf. Ging nach vorne. Der Mann grüßte nicht. Er antwortete nicht auf ihr »What can I do for you«. Er sah auf die Kleidungsstücke hinunter. Schob sie zurecht. Schob sie ihr zu. Madeline begann zu sortieren. 2 Herrenhosen. Schwarz. Mit glänzenden Satinstreifen an der Seite. 2 Frackoberteile. Schwarz. 2 Kummerbünde. Schwarz glänzend. 2 schwarze Rollkragenpullover aus Seide. 2 Capes. Weite, lange, schwere, schwarze Capes. Glänzend rot gefüttert. Madeline nahm ein Cape und ging nach hinten. Mr.Kowalski lag nach hinten gelehnt in seinem Bürosessel. Er sah zum von der Decke hängenden Fernsehapparat hinauf. Madeline mußte zweimal »Mr.Kowalski« sagen. Mußte ihn anstoßen. Mußte ihn leicht mit dem Finger gegen den Arm stoßen. Mr.Kowalski hielt die Fernbedienung hoch. Schaltete den Fernsehapparat aus. Er schüttelte den Kopf. Schaltete wieder ein. Kippte den Sessel nach vorne. Saß aufrecht. Beugte sich über das Cape auf dem Tischchen vor ihm. Er rieb den Stoff zwischen den Fingern. Im Fernsehen lief die Jerry-Springer-Show. Das Publikum buhte jemanden aus. Klatschte zu einem Sprechchor. »Cheat. Cheat. Cheat.« Jerry Springer fragte eine Frau. Fragte sie immer wieder. Was sie nun machen wolle. »What are you going to do?« Mr.Kowalski murmelte »Halloween«. Abfällig sagte er das. »15 Dollars.« Madeline ging nach vorne. Die Rechnung machte 82 Dollar aus. Der Mann fragte, was da so teuer sei. Madeline rechnete ihm die einzelnen Beträge vor. Er fände das zuviel. Er nahm die Rechnung in die Hand. Las. Rechnete nach. Sah auf. Er sah durch die Tür auf die Straße hinaus. Die Aufschrift jetzt von hinten zu lesen. »latsyrC renaelC.« Unter dem C von »Cleaner« war der Klebstoff hervorgequollen. Es sah aus wie ein französischer Accent cédille. Der Mann überlegte. Er nickte dann und gab ihr die Rechnung zurück. Von hinten war Musik zu hören. Und ein Aufruf. Wenn die Schwiegermutter zu fett wäre. Wenn man sich für die fette Schwiegermutter schämen müsse. Dann solle man sich melden. Anrufen. Dann solle man die Nummer 1–800-JERRY SPRINGER anrufen. Man könne auch an eine Adresse in New York schreiben. Oder an [email protected] mailen. Der Mann griff unter seinen grauen Stoffmantel nach hinten. Er holte seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Legte die Börse vor sich auf den Ladentisch. Faltete den rosaroten Abholschein. Schob ihn in das hinterste Fach der Börse. Steckte die Börse wieder ein. Der Mann stand da. Er schaute auf die Kleider. Er brauche alles am nächsten Tag, sagte er. Fordernd sagte er das. Bestimmt. Ab Mittag könnte er alles abholen, sagte Madeline. Sie hatte begonnen, die Zettelchen mit den Nummern an die Kleidung zu heften. Wie lange sie offen hätten, fragte der Mann. Bis 7 Uhr. Madeline lächelte den Mann an. Er starrte sie an. Madeline lächelte weiter. Montag bis Freitag bis 7 Uhr, sagte sie. Später ginge es nicht, fragte der Mann. Er sah auf die Kleider. Nein, sagte sie. Später ginge es leider nicht. Madeline lächelte. Dann müsse er versuchen, vor 7 da zu sein. Der Mann sagte das vor sich hin. Zu sich selber. Er würde das versuchen. Der Mann drehte sich weg und ging. Die Glocke schlug an. Kühle Luft wehte herein. Die Glocke schlug an. Dann war die Tür wieder zugeschlossen. Der Mann ging draußen nach rechts. Damen Avenue hinunter. Richtung Wicker Park. Er ging an der Auslage rechts von der Tür vorbei. Er hatte die Hände in die Manteltaschen vergraben. Ging vorgebeugt. Als kämpfe er gegen einen Sturm. Es ging aber kein Wind. Die Styroporschachteln und Plastiksäcke an den Mauerbögen unter der Brücke der Blue Line lagen unbewegt. Die Tür zu Second Chance auf der anderen Straßenseite stand offen. Sharon lüftete. Die Sonne schien. Ein schöner Herbsttag. Die Bäume in Wicker Park waren fahlgelb und goldgelb. Die goldgelben Blätter. Das waren Ahornbäume. Das wußte sie. Die fahlgelben Bäume. Die kannte sie nicht. Sie kannte nur die Bäume zu Hause. Föhren. Buchen. Blutbuchen. Birken. Trauerweiden. Sie war nicht sicher, Tanne und Fichte auseinanderhalten zu können. Aber die Bäume hier. Die fahlgelben Blätter waren lang und oval, und aus der Nähe waren sie gelb und grün gefleckt. Madeline trug die Kleidungsstücke zu den Containern hinter den gereinigten Kleidern. Sie streifte mit dem Arm die Plastikhüllen entlang. Hörte dem Knistern zu. Wenn sie diesem Knistern zuhörte, dann war das mit dem Geruch nicht so schlimm. Der Mann hatte sie nicht einmal angesehen. Warum sollte sie seine Kleider riechen. Es stieg ein trockener Geruch auf. Nicht stark. Trotzdem ging sie schnell. Warf die Kleider in die verschiedenen Container. Mäntel ganz hinten. Herrenkleidung davor. Die Rollkragenpullover. Wo sollten die hinkommen. Wohin gehörten die Kummerbünde. Sie warf alles den Hosen nach. Mr.Kowalski rief nach ihr. Rief sie zu sich. Er lag in seinem Bürosessel. Weit nach hinten gekippt. Er nahm sie am Arm und zeigte hinauf. Er lachte. Er preßte den Mund zusammen und lachte. Sein Bauch und seine Schultern zuckten. Ohne einen Laut. Er zeigte auf den Bildschirm hinauf. Riß sie am Arm. Er hielt sich an ihr fest. Zeigte auf den Bildschirm. Und lachte. Auf dem Bildschirm kniete eine Frau vor einem Mann nieder. Die Frau war dick. Sehr dick. Sie hatte Mühe, sich hinzuknien. Sie mußte sich am Boden abstützen. Die Frau lag einen Augenblick auf allen vieren vor dem Mann. Sie richtete sich mühselig auf. Kniete aufrecht vor dem Mann. Sie bat den Mann, sie nicht zu verlassen. Die Frau sank nach hinten zurück. Kniete zusammengesunken. Sie drehte den Kopf zur Seite. Den Mann über sich ansehen zu können. Sie hielt die gefalteten Hände hoch. Sie verspräche, nie wieder an ihm herumzunörgeln. »Never again«, sagte sie. Der Mann stand über ihr. Sah auf sie hinunter. Der Mann war noch dicker als die Frau. Sie sah zu ihm hinauf. Hielt ihm die gefalteten Hände entgegen. Der Mann trat einen Schritt zurück. Verschränkte die Arme. Die Frau wollte aufstehen. Er riß die Arme hoch. Machte einen Schritt auf die Frau zu. Schrie die Frau an. Eine Hure sei sie. Eine Schlampe. Ein Flittchen. Eine Hure. Das Publikum brüllte. Die Frau sank wieder zusammen. Kauerte auf dem Boden. Mr.Kowalski wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Er schlug gegen Madelines Arm. Dann kam Werbung. Mr.Kowalski schloß die Augen. Er drückte ihren Arm noch einmal. Ließ sie los. »My god«, keuchte er. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. Fing wieder zu lachen an. Keuchte. Sank erschöpft zurück. Mußte weiter lachen. Lag lachend in seinem Bürosessel. Madeline ging nach vorne. Stand hinter dem Ladentisch. Sie schob die Heftmaschine, den Rechnungsblock und den Kugelschreiber auf dem Tisch zurecht. Sie sah hinaus. Die Sonne erreichte die Schrift an der Tür nicht mehr. Von hinten kam Musik. Das Rauschen einer Meeresbrandung. Wellen. Eine Frauenstimme. Sagte etwas. Madeline setzte sich auf den Hocker. Sharon gegenüber hatte die Tür zugemacht. Niemand ging auf der Straße. Ein Zug donnerte oben in Richtung down town. Madeline begann zu zählen. Würde die erste Person bei 19 oder bei 20 aus der Station kommen. Sie ging an den Ladentisch vor. Beugte sich über den Tisch. Wollte den Ausgang besser sehen. Eine junge Frau kam schon bei 17 aus der Station heraus. Die Frau war blond. Klein. Zart. Sie trug eine rote Lederhose und eine braune Bomberjacke aus Satin. Jacke und Hose glänzten in der Sonne. Die Hose siegellackrot. Die Frau lief. Sie lief die Stufen zur Station herunter. Nach rechts. Sie hastete am Crystal Cleaner vorbei. Sie lief nach vorne gelehnt. Lief auf den Zehenspitzen. Wegen der hohen Absätze. Madeline ging zum Hocker zurück. Bis 17 war noch nie jemand oben aus der Blue Line ausgestiegen und die Stiegen herunter und durch die Schalterhalle und herausgekommen. Hinter Madeline war wieder das Publikum der Jerry-Springer-Show zu hören. Kniete die Frau immer noch vor dem Mann. Hatte sie die Werbung hindurch nicht aufstehen können. Oder hatte sie nicht aufstehen dürfen. Madeline saß vorgebeugt. Sie sah ihre Hände an. Sprechchöre von hinten. Die Sonne draußen. Ein Zug in Richtung O’Hare zu hören. In diese Richtung waren die Züge immer nur kurz zu hören. Die Häuser hinter dem Crystal Cleaner dämpften das Dröhnen. Warum wollte sie solche Bilder nicht sehen. Warum störten sie solche Bilder. Immer noch. Madeline beugte sich vor. So weit vorgebeugt, konnte sie von Mr.Kowalski nicht gesehen werden. Sie hatte den Container für die Wäsche zum Waschen hinter ihren Hocker geschoben. Zwischen sich und Mr.Kowalski hinten. Wenn er zu seinem Fernsehapparat hinaufschaute. In seinem schwarzen Kunstlederbürosessel nach hinten gekippt. Er konnte sie dann nicht sehen. Madeline beugte sich weiter vor. Solche Bilder. Da. Bei solchen Bildern. Sie beugte sich noch weiter vor. Lag mit dem Oberkörper auf den Oberschenkeln. Spürte ihren Busen gegen ihre Oberschenkel. Bei solchen Bildern. Wenn doch alles nur gespielt war. Mit ziemlicher Sicherheit war das alles gespielt. Aber warum wußte sie, wie sich das anfühlte. Warum wußte sie immer, wie das war. Dazuknien. Die fetten Schenkel und der Bauch und keine Balance und keine Kraft aufzustehen und überhaupt keine Kraft rasch aufzustehen. Und weg. Weggehen. Einfach weggehen. Sie war dünn. Sie selbst war dünn. Sie war zu dünn, sagte Rick. Und sie war nie dick gewesen. Sie war in ihrem Leben nie dick gewesen. Und sie war nicht der Einbrecher auf dem Polizeivideo. Der Einbrecher, der angebrüllt wurde. Den die Polizisten gestellt hatten und anbrüllten. Der die Arme in die Höhe reißen mußte. Sich hinlegen. Hinwerfen. Kommandos. Immer und immer wieder wurden die Kommandos geschrien. Daß er sich hinlegen solle. Und die Kommandos wurden weitergeschrien. Nachdem der Mann längst auf dem Asphalt gelegen. Der Asphalt rauh gegen die Hüftknochen. Kalt. Staubig roch. Kiesel spitz in Bauch und Oberschenkel. Die Sonne schien auf die Straße draußen. Die Sonne schien genau den anthrazitfarbenen Asphalt von Damen Avenue entlang. Die Sonne beschien die Fahrbahn. Schien genau zwischen die schmalen Gehsteige rechts und links. Es mußte 11 Uhr sein. Ungefähr um 11 Uhr stand die Sonne in Richtung Damen Avenue. Madeline saß vorgebeugt. Sie sah ihre Hände an. Von hinten Sprechchöre. Ein Zug in Richtung down town. Das Rattern und Donnern noch lange zu hören. In dieser Richtung. Madeline saß da. Sie sollte den Container mit der Waschwäsche zum Golden Cleaner bringen. Mrs.Kowalski machte die Waschwäsche. Mrs.Kowalski bügelte noch selber. Mr.Kowalski im Crystal Cleaner sah fern und schrie Sheila und Madeline an. Und Mrs.Kowalski bügelte im Golden Cleaner. Stand im Dampf. Mr.Kowalski war allergisch gegen Dämpfe. Deswegen wurde im Crystal Cleaner im Keller gearbeitet. Sheila tauchte mit dem Lastenaufzug ganz hinten auf dem Gang auf. Holte die Container und brachte die gereinigten Kleider auf langen Kleiderständern aufgehängt herauf. Madeline mußte die Drahtkleiderbügel mit einem Papierschoner überziehen. »We Appreciate your Patronage« stand unter einem großen »Thank you« und einer gezeichneten Orchidee geschrieben. Und kleiner »We Try to Deserve it by Giving Your Garments the Best of Care«. Die Schrift mußte so auf die Drahtkleiderbügel geklebt werden, daß die Bügel nach rechts zeigten. Damit die Kleider alle in einer Richtung aufgehängt werden konnten. Am Anfang hatte sie das falsch gemacht. Madeline zog die Plastikhüllen über die fertigen Kleider. Mr.Kowalski sah fern. Er lag in seinem Sessel. Sah fern und schrie sie und Sheila an. Sie sollten ihm dankbar sein. Er gäbe ihnen Brot. Schließlich. »A living«, schrie er dann. »You couldn’t make a living without me.« Er wurde rot im Gesicht und lief aus dem Geschäft hinaus. Nach rechts. Damen Avenue hinunter. Weg vom Crystal Cleaner und vom Golden Cleaner. Wenn Mr.Kowalski zurückkam, roch er noch mehr nach Bier. Dann steckte er ihnen beiden 10 Dollar zu. Sheila sagte nichts und ging in den Keller zurück. Sheila sagte nie etwas. Madeline brachte Sheila butterfinger mit. Von Ed’s convenience store. Gleich hinter der Brücke. Sheila nahm die butterfinger. Steckte sie in die Schürzentasche. Sheila ging dann. Sheila lächelte nicht einmal. Ed sagte immer, sie solle sich etwas aussuchen. Es gab nur marsbars und butterfinger. Aber sie überlegte jedesmal. Vielleicht mochte Sheila keine butterfinger. Vielleicht sollte sie Sheila einen marsbar mitbringen. Madeline nahm dann jedesmal butterfinger. Sie gab sie Sheila. Sheila nahm die Packung und steckte sie in die Schürzentasche. Dann ging sie. Sheila trug Kleiderschürzen. Blaue Kleider ohne Ärmel aus Kattun. Mit kleinen roten und weißen Mustern. Sternchen oder Herzchen oder winzige Blumensträußchen. Blaue Kleider ohne Ärmel. Vorne zu knöpfen, und der Halsausschnitt mit roten oder blauen Bändern gesäumt. Die Hansi hatte in ihren Kleiderschürzentaschen Wiener Zuckerln herumgetragen. Die Wiener Zuckerln hatten eine weiße, harte Oberfläche gehabt. Und eine dunkle, weiche Füllung. Die Wiener Zuckerln waren nicht aufzubeißen gewesen. Man hatte sie lutschen müssen. Der Gaumen war dann ganz rauh gewesen. Aber es waren die ersten Süßigkeiten. Nach dem Krieg. Die butterfinger hatten eine Karamelschicht und waren außen genauso hart. Wahrscheinlich waren für Kleiderschürzentaschen solche Süßigkeiten das beste. Sie konnten nicht schmelzen. Und Sheila hatte recht, nicht zu lächeln. Oder sich zu bedanken. Madeline gab ihr die butterfinger, weil sie selbst so etwas nicht aß. Nie essen würde. War Sheila aus Korea. Mr.Kowalski redete manchmal über die Koreaner. Was das für gute Soldaten gewesen wären. Wie furchtlos. Wie ausdauernd. Und wie pünktlich und sauber dieses Volk wäre. Oder kam Sheila aus einem anderen Land da. Sie arbeite seit 30 Jahren im Crystal Cleaner, sagte Mr.Kowalski. Aber er wußte nicht, wo sie wohnte. Sheila hatte ihre Tasche stehengelassen. Madeline hatte sie ihr bringen wollen. Oder sie anrufen. Madeline hätte ihr die Tasche gebracht, wenn sie nicht zu weit weg wohnte. Aber Mr.Kowalski wußte die Adresse nicht. Die Tasche war stehengeblieben, und die Milch hatte am nächsten Tag sauer gerochen. Mr.Kowalski suchte ein neues Programm. Über Mittag sah Mr.Kowalski Wildwestfilme. Oder eine von den Krimiserien. »Matlock« sah er manchmal. Mr.Kowalski zappte. Stimmen. Musik. Geräusche. Gespräche. Er blieb bei einem Cartoon. Verzerrte Stimmen und nervös rasende Musik. Die Sonne hatte die erste Stufe zu Second Chance erreicht. Auf der anderen Straßenseite. Mr.Kowalski zappte weiter. Ein Western. Sehnsuchtsvolle Musik und Pferdegetrappel. Madeline saß. Sie saß weit nach vorne gebeugt. Über die übereinandergeschlagenen Beine gelehnt. Der Bauch den rechten Oberschenkel entlang. Sie preßte den Bauch gegen den Oberschenkel. Schob den Arm zwischen Bauch und Oberschenkel. Sie preßte das Zwerchfell gegen den Arm. Drückte die Luft aus dem Brustkorb. Zwang sich, die Luft anzuhalten. In den Schwindel hinein die Luft anzuhalten. In das aufsteigende Schwimmen im Kopf hinein hielt sie die Luft an. Kälte stieg auf. Ein dünner Film Schweiß überzog die Handflächen kalt schmierig. Madeline atmete aus. Ließ sich ausatmen. Sie schloß die Augen und ließ den Atem entgleiten. Die Glocke schlug an. Madeline stand auf. Sie lächelte. Sie konnte den Mann nur undeutlich sehen. Er hielt ihr einen Schein hin. Madeline nahm den Zettel und ging zu den Kleiderständern rechts. Madeline versuchte, die Zahl auf dem Zettel oben zu lesen. Sie konnte nichts sehen. Alles war ungenau. Undeutlich. Alles schwamm vor ihren Augen. Schwamm vor und zurück. Madeline hielt sich an einem Kleiderständer fest. Sie ging den schmalen Gang zwischen den Kleiderständern nach hinten. Tastete sich die Stangen der Kleiderständer entlang. Plastikhüllen rund um sie. Sie griff links hinauf. Griff nach irgendeinem Kleiderbügel. Ein Kleid hing unter der Plastikhülle. Ein dunkles Kleid. Madeline sah auf die Nummer auf dem Abholschein auf dem Kleiderbügel. Sie hob das Kleid herunter und nahm den auf den Kleiderbügel aufgespießten Abholschein in die Hand. Sie sah auf die beiden Zettel. Sie konnte nichts entziffern. Aber sie hatten keine gelben Scheine. Sie hatten rosarote Abholscheine. Der weiße Abholschein blieb beim Kleidungsstück. Der rosarote wurde mitgenommen. Sie hatten keine gelben Scheine. Madeline ging zurück. Es müsse sich um ein Mißverständnis handeln, sagte sie. Er habe vielleicht etwas falsch verstanden. Der Abholschein hier. Der könne nicht von hier sein. Sie hätten rosarote Abholscheine. »You see«, sagte sie und hielt dem Mann den Block hin. Madeline legte seinen Zettel auf den Tisch. Sein Abholschein wäre gelb, sagte sie. Bei ihnen wäre »Crystal Cleaner« schwarz aufgedruckt. Auf seinem stünde »Crystal Cleaner« in Hellblau. Woher er diesen Schein habe. Auf ihrem fände sich Adresse und Telefonnummer. Auf seinem stünde nur der Name. »Crystal Cleaner«. Der Mann sah sie an. Er habe diesen Abholschein bekommen. Und diese Adresse. Er solle die gereinigte Kleidung abholen. Und »Crystal Cleaner«. Das stimme doch. Da stehe es ja. Madeline lehnte sich gegen den Ladentisch. Das Stehen war schwierig. Ihre Knie nicht fest. Ein Einknicken jederzeit möglich. Sie mußte flach atmen. Sie hätte sich gegen den Mann lehnen mögen. Gegen diesen Mann. Gegen ihn und seine Arme um sie und sie in der Wärme davon. Wieder atmen. Oder atemlos. Aber im Umfangen und Küssen. Die Münder innen. Die Zungen ineinander verschlungen. Sich mit ihm hinfallen lassen. Sie hätte tief atmen können. Sie hätte sofort tief atmen können. Sofort ganz tief atmen. Ganz tief die Luft einziehen. Madeline ging nach hinten und hängte das Kleid an seinen Platz zurück. Sie suchte nach der Nummer davor. Raschelte die Plastikhüllen entlang. Der Mann stand da. Starrte den Abholschein auf dem Ladentisch an. Madeline ging nach vorne. Sie nahm den gelben Schein und ging zu Mr.Kowalski. Sie hielt Mr.Kowalski den Schein hin. Über ihm. Auf dem Bildschirm sprachen 2 Männer in Wildwestkleidung miteinander. Sie saßen auf Pferden. In einer Wüste. Nackte Berggipfel sandfarben im Hintergrund. Mr.Kowalski nahm den Schein. Er blieb nach hinten gekippt liegen. Hielt den Schein in die Höhe. Im Crystal Cleaner habe es nie gelbe Abholscheine gegeben, sagte er. Er sah weiter auf den Bildschirm hinauf. Madeline nahm den Schein und ging nach vorne. In diesem Crystal Cleaner hätte es nie gelbe Abholscheine gegeben, sagte sie zu dem Mann. Sie legte den Schein wieder hin. Setzte sich auf ihren Hocker. Sie sah zu dem Mann hinauf. Er stand da. Sah auf den gelben Schein vor sich. Drehte ihn um. Madeline sah ihm zu. Wie das sein könne, sagte er. Er verstünde das nicht. Von wem er den Abholschein denn habe, fragte sie. Sie sah wieder klarer. Konnte den Mann genauer wahrnehmen. Der Mann war klein. Er hatte sehr kurze graue Haare. Die Haare waren den Hinterkopf hinauf geschoren und oben zu einem Seitenscheitel frisiert. »Das ist schrecklich«, sagte er. Leise. Auf deutsch. »Sprechen Sie deutsch«, fragte Madeline. »Ich war Deutscher. Früher.« Der Mann sagte das langsam. Und es handle sich um die Kleider seiner Frau. Er sprach wieder englisch. Es handle sich um die Kleider seiner Frau und seiner Schwiegertochter. Diese Kleider solle er abholen. Er sah sie an. Er hatte feuchte Augen. Er weinte. Er stand da. Die Hand mit dem Schein zitterte. Die Muskeln an seinem Hals waren angespannt. Die Sehnen zeichneten sich scharf ab. Der Mann preßte die Lippen flach gegeneinander. Eine Träne rollte über seine braungebrannte, rotgeäderte Wange. Über seine rechte Wange. Das Ganze sei eine wahre Katastrophe. Und sie müsse etwas tun. Es müsse sich doch etwas machen lassen. Madeline stand auf. Der Mann war kleiner als sie. Er trug Anzug und Krawatte und ein weißes Hemd unter dem Trenchcoat. Madeline ging an das andere Ende des Ladentisches. Die Telefonbücher lagen in einem Fach unter dem Telefon. Sie griff nach dem Branchenverzeichnis. Beim Hinunterbeugen ein Schwindel. Stärker als beim Aufstehen. Der Schwindel zog sie nach vorne. Sie mußte sich mit der Hand abstützen. Ihr Herz. Das Herz schlug schwer und majestätisch. Zog nach unten. Stolpernd und laut. Madeline hielt sich am Tisch fest und horchte. Sie hörte ihrem Herzen zu. Bis sie es dann nicht mehr spürte. Madeline blieb vorgebeugt stehen. Über das Herz gebeugt. Sie hob das Telefonbuch aus dem Fach. Schob es auf dem Tisch dem Mann zu. Sie stand nach vorne gebeugt. Auf dem Tisch aufgestützt. Sie hätte ihre Brille nicht da. Er müßte selbst nachsehen. Er müßte selbst nachschauen, wo sein Crystal Cleaner wäre. Der Crystal Cleaner mit den gelben Abholscheinen. Madeline richtete sich auf. Sie ging zum Hocker. Setzte sich. Die weiche Müdigkeit nach diesen Schwindelanfällen. Der Mann nahm das Telefonbuch. Er sah sie an. Ernst. »In unserem Alter kann man ohne Brillen nicht leben«, sagte er. Mißbilligend. Vorwurfsvoll. Sein Deutsch war amerikanisch gefärbt. Er sagte »in auunsierjem« und »Barilljen« und »Läjben«. Madeline haßte ihn. Sie war nicht in seinem Alter. Sie sah nur fürchterlich aus. Sie hatte immer jünger ausgesehen. Viel jünger hatte sie ausgesehen. Mr.Kowalski hielt sie für 40. Und auch wenn sie so alt wäre wie dieser Kerl. So verbraucht sah sie trotzdem nicht aus. So verkniffen. So verspießert. Er war sicher schon 70 und konnte sich nicht erinnern, wohin er seine Kleidung zum Reinigen gebracht hatte. Der Mann blätterte im Telefonbuch. Er könne sich das nicht erklären. Er fände nur diesen einen Crystal Cleaner. »Why don’t you call your wife«, fragte Madeline. Sie wollte nicht mehr deutsch sprechen. Mit ihm. Der Mann schloß das Telefonbuch und schüttelte den Kopf. Der Fernsehton hinten ging aus. Sie hörte den Sessel quietschen. Mr.Kowalski kippte sich aus dem Liegen nach vorne. Stand auf. Der Mann sah nach hinten. Er wandte sich ihr zu. »Amerika ist nicht mehr das, was es einmal war. Amerika war früher nicht so.« Der Mann sprach zu ihnen beiden. Auf deutsch. Mr.Kowalski kam nach vorne. Er ging langsam und schwer. »Wie ich vor 50 Jahren nach Amerika gekommen bin. Da war Amerika ganz anders. Wissen Sie. Ich bin aus München weg. Mein Vater war Polizist gewesen. Da. In München. Die ganze Zeit. Hat getrunken. Ich bin da weg und nach Amerika. Aber Amerika war etwas ganz anderes. Damals.« Mr.Kowalski war nach vorne gekommen. Amerika wäre einmal etwas anderes gewesen, sagte der Mann. Auf englisch. Completely different. Dann ging er. Er zog die Tür hinter sich zu. Die Glocke schlug nur einmal an. Der Mann blieb draußen vor der Tür stehen. Mr.Kowalski drehte sich um. Ging nach hinten zurück. »A nutcase«, murmelte er vor sich hin. Und auf was für Ideen die kämen, einen zu beschwindeln. Was die alles machten, sich Kleidung zu erschwindeln. Gefälschte Abholscheine. Madeline hörte den Bürosessel knarren und quietschen. Mr.Kowalski setzte sich. Kippte nach hinten. Der Fernsehton ging wieder an. Musik und Pferdegetrappel. Madeline starrte vor sich hin. Sie konnte wieder klar sehen. Alles Entfernte wieder deutlich. Deutlicher. Genau sehen. Das brauchte Zeit nach diesen Anfällen. Fast täglich kamen diese Anfälle. Rick hielt es für Angst. Sie habe Angst, sagte er. Panik. Aber warum. Der Mann stand in der Tür. Er hatte eine Mütze aufgesetzt. Eine Kappe aus Tweed. Dunkelbraun mit schmalem Schirm. Der Schwede hatte ihr so eine Kappe mitgebracht. Einmal. Das mußte in den 80ern gewesen sein. In der Zeit, in der Frauen Krawatten getragen hatten. Und Gilets. Mit Blumenmustern. Oder kariert. Sie hatte jeden Tag eine neue Krawatte getragen. Im Büro. In ihrer Werbeagentur. Mit Erich. Das war lustig gewesen. In Sitzungszimmern sitzen und etwas behaupten. Irgend etwas. Halbwegs plausibel war genug gewesen. Erich hatte dabei gesessen und genickt und gesagt, diese Strategie. Die sei die einzige Möglichkeit. Der einzig mögliche Weg zum Erfolg. Und Frau Ascher. Die sei eine Expertin. Die Expertin überhaupt. Und dann hatten sie Prosecco getrunken. Nach den Sitzungen und gelacht. Zweimal hatte sie ja wirklich einen Auftrag bekommen. Und Geld verdient. Bis Erich mit der Lesbe nach Venedig gefahren war. Die Lesbe war danach keine Lesbe mehr gewesen, aber Erich hatte den Präsentationstermin bei Radio Austria versäumt. Und dann hatte die Lesbe Erich überhaupt verboten, mit ihr zusammenzuarbeiten. Madeline nütze ihn aus, hatte sie gemeint. Dabei hatte sie die Ideen gehabt. Erich nur die Kontakte. Die Ideen waren von ihr gewesen. Elsbeth hatte die Lesbe geheißen. Lesbe schon im Namen. Nach Venedig hatte sie sich Lisa nennen lassen. Und für das Lesbensein hatte sie eine Anleitung benutzt. Dafür hatte sie eine Anleitung gebraucht. »Freuden für Mädchen.« Erich hatte das Büchlein in den Unterlagen für die Katzenfutterfirma vergessen. Elsbeth hatte es dann ja nicht mehr gebraucht. Es waren dann ja Freuden für Erich geworden. Der Widmung im Buch nach zu schließen. Wie toll es für sie gewesen, hatte sie in das Buch geschrieben. Wie unvergeßlich. Was für eine Erfüllung, es nackt auf Erichs Badezimmerboden gemacht zu haben. Der Mann war vor der Tür stehengeblieben. Er hatte begonnen, Handschuhe anzuziehen. Sorgfältig zog er jeden einzelnen Finger des Handschuhs über jeden einzelnen seiner Finger. Er schob die Hände mit gespreizten Fingern ineinander. Schob die Handschuhe noch fester über die Finger. Der Mann stand da. Er sah seine Hände an. Die liebe Elsbeth mußte blau gewesen sein. Am ganzen Körper blaufleckig. Auf dem Marmorboden im Badezimmer. In Missionarsstellung. Womöglich. Aber wie sonst sollte eine Lesbe in eine Frau verwandelt werden als in der Missionarsstellung. Auf dem kalten, harten Boden. Und hatte Erich das wirklich alles geglaubt. Das mit der Rettung vor einem Leben ohne Männer. Gewirkt hatte es ja. Erich hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Elsbeth-Lisa-Geschichte verwandt. Die Werbeagentur war bald zahlungsunfähig gewesen. Dann. Da hatte Rick einmal recht gehabt. Eine Beteiligung wäre teuer geworden. Und die Missionarsstellung. Man konnte den Kerl sehen. Dabei. Sie hatten dann »Die Freuden für Mädchen« gemeinsam gelesen. Hatten überlegt, das Buch durchzuarbeiten. Wie ein Schulbuch. Aber Rick hatte so lachen müssen. »Das haben wir schon als Kinder gemacht«, hatte er gesagt. Zu diesen Spielen mit Scheiße. Und das stimmte ja auch. Sie hatten genug im Schlamm gespielt. Am Ufer der Schwechat. Auf dem Holzrechen. Wenn die Schwechat niedrig gewesen. Im Sommer. Gegenüber der Villa war die Schwechat seicht und breit. Sie hatten immer gespielt da. Die Mutter hatte dann gemeint, bei den Bombenangriffen. Da wäre das Schwechatufer sicherer als der Keller. Und sie hatten nicht in die Villa zurücklaufen sollen. Warum sollten die Russen ein Flußufer bombardieren wollen. Aber das hatte sie erst später erzählt. Madeline konnte sich nicht erinnern. Die Fliegerangriffe. Eine Erinnerung von Dunkel und sitzen und alle atmen hören. Die Mutter hatte leise geweint. Die Großmutter war dann aufgestanden und hinausgegangen. Hatten sie dann erzählt. Und die Mutter beim Patiencelegen. Sie hatte dann nur auf die Karten geschaut und »Ich bin halt ein kleiner Feigling« gesagt. Und gelächelt. Aber die Fliegerangriffe. Die waren auch eine von diesen Erinnerungen. Die, die mehr im Gedächtnis waren. Im Kopf. Keine Gefühle. Und nichts im Körper. Wie Fotos war das. Erinnerungen, die außerhalb von einem festgefroren erinnert werden mußten. Die nicht in Erinnerung geblieben. Wie lebten diese Kinder. Heute. Jeder ihrer wichtigen Augenblicke auf Video. Der erste Schritt. Auf ewige Zeiten festgehalten. Das erste Topferl-Sitzen. Der Mann vor der Tür hatte sich umgedreht. Er schaute durch die Tür herein. Sah sie an. Vorwurfsvoll. Aber sie hatte seine Kleider nicht. Sie schüttelte den Kopf. Starrte ihn zurück an. Der Mann wandte sich ab. Er blieb noch einen Augenblick stehen. Dann ging er nach links. Über die Straße. In Richtung Second Chance. Ein Lastwagen fuhr vorbei. Ein langer, himmelblauer Lastwagen. Sie konnte nicht sehen, wohin der Mann weiterging. Mr.Kowalski zappte hinten. Die Sonne hatte die Tür von Second Chance erreicht. Madeline saß da. Nach diesen Schwindelanfällen fühlte sie sich leicht. Leichter. Schwach und wolkig. Als könnte sie sehr weit gehen. Und immer lächeln dabei. Wahrscheinlich hatte Rick recht. Es ging ihr ja besser danach. Vielleicht wurde sie etwas los. Dabei. Erleichterte sich um etwas. Rick hatte solche Anfälle nicht. Rick saß vor seinem Computer und lebte von Pizza und diet coke und sah immer gleich aus. Nicht einmal seine Haare wurden grau. Seine Haare waren dunkel und dicht und eine Locke in die Stirn. Und wenn er das Geld zurückgeholt hatte. Dann. Dann war alles wie früher. Und Wünsche wurden erfüllt. Wieder. Aber Rick hatte auch keine Wut. Er hatte nicht diesen Zorn. Diesen Haß. Diesen unbändigen Haß. Der aufstieg. Von der Mitte her aufstieg und sich ausbreitete. Und dann den ganzen Körper füllte. Ausfüllte. Auffüllte. Der anstieg und ihr den Leib zu zerreißen drohte. Bis der Haß sich selbst erstickte und sie wimmernd zurückblieb. Rick hatte keine Wut. Keinen Haß. Rick lachte über alles. Sie hätte sich schon eine Pistole gewünscht. Falls der Schwede hier hereinkäme. Obwohl. Wahrscheinlich lag ohnehin eine Pistole in der Lade von Mr.Kowalskis Beistelltischchen. Auf dem die Bierdosen aufgereiht standen. Warum sollte die Lade sonst versperrt sein. Madeline stand auf. Sie ging nach hinten. Im Fernsehen lief »Matlock«. Der Rechtsanwalt befragte gerade eine Zeugin vor Gericht. Mr.Kowalski schlief. Madeline fragte laut, ob sie jetzt die Waschwäsche wegbringen sollte. Mr.Kowalski öffnete die Augen. Er sah sie glasig an. Richtete sich auf. Drückte auf den Knopf, der den Sessel nach vorne kippte. »Yes«, sagte er dann. Ja. Ja. Sie solle nur. Seine Frau warte sicher schon. Mr.Kowalski stemmte sich hoch und ging nach vorne. Madeline holte ihre Jacke und das Seidentuch. Sie hatten die Haken für ihre Garderobe neben der Tür. Einen für Mr.Kowalski. Einen für Sheila. Einen für sie. Und es war wichtig, keinen anderen Haken als den eigenen zu benutzen. Das war schon in der Schule wichtig gewesen. Den Mantel nur auf den eigenen Haken hängen. Madeline legte die Plane über den Container. Drückte die Velcrobänder gegeneinander. Schob den viereckigen Plastikwäschesack auf Rädern durch die Hintertür in die schmale Seitengasse. In der Tür fragte sie Mr.Kowalski, ob sie ihm etwas mitbringen sollte. Ob sie Mrs.Kowalski etwas ausrichten sollte. Mr.Kowalski schüttelte den Kopf. Er wollte nichts haben, und er wollte seiner Frau nichts ausrichten lassen. Wie immer. Er stand vorne. Am Ladentisch. Er sah auf die Straße hinaus. Madeline ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie schob den Container schnell aus der Seitengasse auf die Damen Avenue. Die Seitengasse führte nach hinten zu einem Abstellplatz. Auf dem zerrissenen Asphaltboden standen Autos. Nur die Blechgehäuse. Alles andere war ausgeräumt. Türen und Motorhauben weggerissen. Eiskästen standen da. Fernsehapparate. Waschmaschinen. Gasherde. Regale. Alles in die Autos gestapelt oder zwischen den Autos abgestellt. Von allem die Metallhüllen übrig. Rostige Skelette. Hohes Gras schoß in hohen Büscheln auf. Die reifen Rispen fahlgelb in der Sonne. Sie mußte immer an Ratten denken. Madeline lief zur Damen Avenue. Sie blieb links. Im Schatten. Sharon kam zur Tür von Second Chance. Winkte. Sharon wollte ihre Pelzjacke. Sharon wollte ihr diese Pelzjacke unbedingt abkaufen. Für die Auslage. Sharon hatte eine Kleiderpuppe aus den 30ern aufgetrieben. Oder sie war aus den 40ern. Der Polarfuchs der Mutter paßte perfekt dazu. Wie die Krokodillederhandtaschen. Aber die hatte Sharon schon alle. Und dann ja eigentlich ein Glück, wenn gerade die Kiste mit den ältesten Sachen übriggeblieben war. Obwohl der Pelz. Wie sie ihn am ersten kalten Tag angezogen hatte. Mr.Kowalski war sehr viel freundlicher gewesen. Er hatte gleich wieder von ihrer »european dignity« geredet. Dabei zahlte er ihr nicht einmal den Mindestlohn. Ohne social security card war das so. Etwas Neues kaufen kam nicht in Frage. Sie hatte die Pelzjacke anziehen müssen. Und Sharon war über die Straße gelaufen gekommen. Wegen der Jacke. Und daß sie die haben wollte. Madeline winkte Sharon zu. Sie ging weiter. Schob den Container gebückt vor sich her. Die Pelzjacke war nicht warm genug. Was würde sie bei einem der Blizzards hier machen. Alle sprachen davon. Wie das sei. Hüfthoher Schnee und minus 10 Grad Celsius und der Wind Minusgrade Fahrenheit. Das waren mindestens minus 30 Grad Celsius. Eine Jacke war da nicht genug. Aber vielleicht war dann ja schon alles wieder in Ordnung. Sie hatten ihr Geld zurück. Der e-commerce brachte wieder Gewinne. Und sie mußte nicht mehr zum Crystal Cleaner. Rick machte das schon. Rick machte nichts anderes. Rick war Tag und Nacht im Internet und spürte den Schweden auf. Den Schweden und seine Machenschaften. Und der Nasdaq war jeden Tag noch niedriger. Und keine Spur vom Schweden. Oder von seinen Geschäften. Seine Eltern in Pasadena waren zwar schrecklich betreten gewesen. Hatten sich schrecklich geniert. Für ihren Sohn. Madeline war trotzdem 2 Nächte vor dem Haus im Auto geblieben. Ob der Schwede nicht doch nach Hause käme. Zu diesem netten ältlichen Ehepaar. Die dann die Polizei geholt hatten. Wegen Landstreicherei. Madeline hatte »loitering« im Wörterbuch nachgeschlagen. In Amerika konnte man nicht einfach parken. Irgendwo. Und sie hätten sich entschuldigt für ihren Sohn, hatten die alten Leute dann gesagt. Sie hätten sich entschuldigt, und damit müßte die Sache erledigt sein. Aber das hieß ja nichts. Der Schwede hätte die ganze Zeit im Haus sitzen können. Ins Haus hatten sie Rick und sie ja nicht gelassen. Und das Haus. Das war ja vielleicht von ihrem Geld schon gekauft. Es hatte alles sehr neu ausgesehen. In diesem Haus in Pasadena. Madeline mußte an der Kreuzung Damen und Chicago Avenue warten. Lastwagen fuhren die Chicago Avenue hinunter. Eine Blue Line donnerte in dieselbe Richtung. Down town. Es wäre der richtige Tag gewesen, dahin zu fahren. Die Chicago Avenue bis zum See zu gehen. Am American Girl’s Place vorbei. Da, wo den kleinen Mädchen beigebracht wurde, daß alles rosarot sein sollte. Und über Michigan Avenue. Am Water Tower Place vorbei. Und irgendwo sitzen. Der See war immer beruhigend. Für sie der See immer eine Beruhigung. Ohne Gezeiten. Das Wasser konnte vollkommen still daliegen. Nur vom Wind Wellen. Und doch so weit wie ein Meer. Madeline schob den Container über die Kreuzung. Der Container rumpelte auf die Straße und wieder auf den Gehsteig hinauf. Madeline schob den Container den Block entlang. Ein altes Schuhgeschäft. Im Schaufenster die Schuhe in Regalen aufgestellt und eine Holzwand dahinter. Ein neues Schuhgeschäft. Alles offen. Man sah von draußen die Leute Schuhe probieren. Boutiquen. Ein Walgreen’s. Ein Billigsupermarkt. Die Fensterscheiben dunkelblau gestrichen und das Licht von drinnen durch Ritzen in der Farbe zu sehen. Die Tür zum Golden Cleaner stand offen. Mrs.Kowalski tauschte die Container aus. Mrs.Kowalski stand zwischen den Containern und sah zu Madeline auf. Mrs.Kowalski war klein und dünn. Die Haare ein goldener Helm. Oder war das eine Perücke. Mrs.Kowalski sagte, Madeline solle direkt zum Crystal Cleaner fahren. Diesmal. Madeline solle mit der gewaschenen und gebügelten Wäsche direkt zurückfahren. Mrs.Kowalski wollte die Wäsche nicht in Ed’s store herumstehen haben. Es rieche da nicht gut, sagte sie. Es rieche da schlecht. Dazu wasche und bügle sie die Wäsche nicht. Ihre Kunden verlangten wohlriechende Wäsche. Ihre Kunden hätten ein Recht auf wohlriechende Wäsche. Ob Mrs.Kowalski Ed nicht mochte, fragte Madeline. Mrs.Kowalski ging an ihre Bügelmaschine zurück. Madeline solle doch einfach machen, was man ihr sage. Das reiche. Das sei hier eben so. In diesem Land sei das ganz einfach so. Mrs.Kowalski drückte auf einen Knopf, und das Herrenhemd vor ihr blähte sich auf. Es zischte, und Mrs.Kowalski bügelte mit einem roten Bügeleisen über Brust und Kragen und Manschetten des aufgeblähten Hemds. Dann schob sie einen Drahtbügel in den Kragen und hob das in sich zusammenfallende Hemd hoch. Hängte es auf einen Kleiderständer. Holte das nächste Hemd aus einem Container. Mrs.Kowalski drehte sich mit jeder Bewegung von Madeline weg. Wandte ihr den Rücken zu, obwohl das Bügelgerät gegenüber vom Eingang gleich hinter dem Ladentisch stand. Madeline ging. Was war da wieder los. Glaubte Mrs.Kowalski, sie und Mr.Kowalski. Das konnte nicht wahr sein. Was dachte diese alte Frau. Mit diesen grauenhaft gefärbten Haaren. Mit diesen winzigen, stechenden Augen. Daß sie das nötig hätte. So etwas hatte sie nie gebraucht. Das hätte sie nie nötig gehabt. Sie hatte sich ihre Männer immer ausgesucht. Sie war nie gezwungen gewesen. Sie hatte sich nie zu etwas zwingen lassen. Zu nichts war sie zu zwingen gewesen. Und das würde auch hier so sein. So bleiben. Sie sollte dieser Mrs.Kowalski einmal erzählen, mit wem sie alles. Wer alles mit ihr. Dicke, fette, unappetitliche, nach Bier riechende Putzereibesitzer waren da nicht darunter gewesen. Männer, die den ganzen Tag Bier tranken. 5 Biere. Präzise 5 Bierdosen standen am Abend ausgetrunken auf dem Beistelltischchen mit der verschlossenen Lade. Genau aufgereiht. Männer, die den ganzen Tag im Fernsehsessel lagen und kaum herauskonnten, um aufs Klo zu gehen. Männer, die manchmal verschwanden und dann heulen mußten und einem 10 Dollar zusteckten. Zu mehr reichte es ja ohnehin nicht mehr. Mr.Kowalski war höchstens noch für eine Peep-Show gut. Wenn überhaupt. Sie sollte dieser Mrs.Kowalski. Sie sollte dieser grauen Maus mit ihren absurd blonden Haaren. Mit diesem weißen Arbeitskittel, aus dem die mageren Arme und Beine herausstachen. Sie sollte diese Frau einmal fragen, wer denn ihren Mann noch wollen sollte. Dieses Fettmonster. Er roch doch. Er stank. Säuerlich. Ihr Mann ruinierte doch den Geruch der Wäsche. Madeline schob den Container auf die Straße hinaus. Das war es wahrscheinlich. Wahrscheinlich war das der Grund für diese Mitteilung. Mr.Kowalski war gar nicht allergisch. Mr.Kowalski war geil. War geil gewesen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Sheila im Keller arbeiten mußte. Damit er nicht dauernd mit ihr zusammen war. Sie ansehen konnte. Sheila. Oder eine andere. Nur. Das bißchen Festhalten am Arm. Das konnte er haben. Madelines Kehle brannte. Die Augen. Madeline atmete tief, um nicht zu weinen zu beginnen. Vor Wut darüber, weinen zu müssen, begann sie zu weinen. Madelines Augen schwammen, und sie schaute zu Boden. Sie versuchte die Tränen wegzublinken. Sie hätte dieser Frau alles hinschmeißen sollen. Sie hätte dieser Frau sagen sollen, sie sollte sich ihren fettsüchtigen Clown behalten. Sie hätte sie anlächeln sollten. Dabei. Freundlich und offen. Freundschaftlich und überlegen. Lächeln und wegdrehen. Gehen und an der Tür zurückwinken und noch einmal lächeln. Sehr herzlich lächeln. Sehr überlegen lächeln. Das wäre die richtige Reaktion gewesen. Madelines Gesicht war heiß. Im Genick und in den Schultern eine Müdigkeit. Eine Lähmung. Madeline war froh, an der Kreuzung warten zu müssen. Sie stand da. Gerade. Lehnte sich zurück. Dehnte die Schultern nach hinten. Zwei junge Frauen warteten neben ihr. Sie standen stumm da. Vorgebeugt. Sie gingen noch, bevor die Fußgängerampel grün zeigte. Liefen los. Sie trugen Sportschuhe und kurze Röcke und wattierte Jacken. Die Jacken so lang wie die Röcke. Die Beine in undurchsichtigen fleischfarbenen Strümpfen. Die Beine zu dick. Von beiden die Beine zu dick. Die Strumpffarbe ließ die Beine noch dicker aussehen. Die Beine waren dick und fett. Die Oberschenkel dicke, gerade Säulen. Ein Mann kam entgegen. Er ging entschlossen auf die Kreuzung zu. Die Fußgängerampel hatte schon zu blinken begonnen. Der Mann lief noch schnell über die Straße. Im Vorbeilaufen musterte er die Beine der jungen Frauen. Er sah den Frauen nicht ins Gesicht. Dafür hätte er sich umdrehen müssen. Er hastete an den jungen Frauen vorbei. Ließ seinen Blick über ihre Beine streifen. Nahm nur die Beine wahr. Bei Madeline hielt sich sein Blick nicht auf. Madeline schob den Container auf den Gehsteig und bog in Damen Avenue ein. Sie hatte Beine, denen man nachsah. Sie hatte wirklich schöne Beine. Lange, elegante Beine. Sie zeigte ihre Beine nicht her. Sie mußte das nicht. Und die Kleider dafür waren im Motel in Los Angeles geblieben. Jeans. Und Jeans brachten Mr.Kowalski auf keine Ideen. Nicht mit Ricks langem Pullover darüber. Ein Lastwagen fuhr vorbei. Langsam. Der Fahrer schaltete. Der Lastwagen blieb fast stehen und fuhr dann wieder an. Eine dunkle Wolke öliger Abgase quoll aus dem Auspuff. Madeline blieb stehen. Wartete, bis die Luft unter der Brücke wieder heller wurde. Der Lastwagen fuhr laut röhrend davon. Eine Blue Line fuhr über ihr in die Station ein. Der Lastwagen knatterte. Der Motor heulte auf. Der Zug dröhnte. Die Abgase wirbelten vor den Schatten unter der Brücke. Die Sonne schien. Die Türen des Zugs gingen zischend auf. Auf Chicago Avenue fuhren die Autos und Lastwagen in Kolonnen. Menschen eilten über die Kreuzung. Damen Avenue war leer. Dann kamen Menschen aus der Station. Kamen ihr entgegen. Gingen auf sie zu. Madeline schob den Container zwischen den Menschen durch. Sie schob den Container gebückt. Stieß ihn vor sich her. Sie lehnte sich gegen die Tür von Eds Geschäft. Schob die Tür auf. Die Glocke schlug an. Klingelte. Eds Glocke klingelte, solange die Tür offenstand. Sie zog den Container in das Geschäft. Schob den Container zwischen den Stapel mit den Drahtkörben und die 2 Kisten mit Äpfeln. Grüne und rote Äpfel. Und jeder Apfel trug ein kleines Schildchen mit seinem Namen. »Granny« und »Idaho«. Madeline stieß die Tür zu. Das Klingeln brach ab. Die Musik zu hören. Klavier. Einzelne Töne. Ein Baß baute Arabesken um diese Töne. Das Klavier ließ sich auf keine Melodie ein. Das Klavier spielte die einzelnen Töne vor sich hin. Die Töne silbrig. Der Baß samten. Und Eds Kanarienvogel im Käfig über der Kassa zwitscherte. Madeline sah Ed im Überwachungsspiegel über den Milchprodukten. Ed stand beim Kaffee hinten. Er lehnte sich an das hohe Tischchen. Sah sie im Spiegel an. Ed hob die Hand. Er grüßte. Lächelte. Im gewölbten Spiegel waren fast nur seine weißen Zähne zu sehen. Weiß leuchtend. Vor dem braunen Softdrinkautomaten war sein dunkles Gesicht kaum zu erkennen. Madeline ging nach hinten. Sie ging im Rhythmus der Musik den schmalen Gang nach hinten. Die Regale fast leer. Nur noch Cornflakes und Raviolidosen. Brötchen für Hamburger. Luftdicht verpackt. Die Brötchen konnten trotzdem verschimmeln. Madeline hatte für Rick kochen wollen. Die Brötchen waren an der Unterseite staubig grün gewesen. Staubig grün mit schwarzen Tupfen. Im Tiefkühlschrank lagen Pizzas gestapelt. Im untersten Fach 3 ganze Hühner. Seit 3 Monaten ging Madeline jeden Tag zu Ed Kaffee trinken. Seit sie bei Mr.Kowalski zu arbeiten begonnen hatte. Die Hühner hatten schon immer da gelegen. Madeline hatte sie Tick, Trick und Track getauft. Ed nannte sie Daley’s Ass One, Daley’s Ass Two und Daley’s Ass Three. Nach dem Bürgermeister von Chicago. Ed meinte, Mayor Daley sei so korrupt und fett, daß es für 3 Ärsche reichte. Die Hühner hatten schrundige braune Flecken. Das mache die Ähnlichkeit mit dem korrupten, räudigen Arsch Daleys aus, hatte Ed gesagt. Ed schenkte Kaffee ein. Er stand an den Tisch gelehnt. Schob Madeline den braunglänzenden Plastikbecher über das Tischchen zu. Madeline nickte. Sie nahm den heißen Becher vorsichtig am Rand oben und nippte. Der Kaffee schmeckte dünn. Bitter. Ranzig. »That’s what I needed«, sagten sie. Beide. Im Chor. Sie lachten. Ed stützte sich mit einem Arm auf. Er stand gegen den Tisch gelehnt. Trank seinen Kaffee. Er sah über den Becherrand auf sie herunter. Lächelte. Grinste. Madeline seufzte. Mrs.Kowalski würde überprüfen, ob sie zu Ed gegangen war. Sie würde ihr eine der Koreanerinnen nachschicken. Nachgeschickt haben. Oder sie war selbst bis an die Straßenkreuzung vorgegangen. Und vielleicht würde sie sogar auftauchen. Hier. Und sie anschreien. Vor Ed. Vor Ed mit besonderem Vergnügen. Was konnte eine Mrs.Kowalski sich Schöneres vorstellen, als sie vor einem Schwarzen fertigzumachen. Und dann den Schwarzen auch. Das mit dem Geruch bei Ed. Damit war der Nigger gemeint gewesen. So wie Mrs.Kowalski das gesagt hatte. Das war nicht mißzuverstehen gewesen. Wahrscheinlich wußte Mrs.Kowalski selber nicht, was sie mehr haßte. Madeline und ihre »european dignity«. Oder Ed. Madeline nippte am Kaffee. Sie lächelte zu Ed hinauf. Ed wäre ihr einziger Trost, sagte sie. Consolation. Und ein Hafen. »Then. Let’s start consoling«, sagte Ed und stellte den Kaffeebecher ab. Madeline nippte weiter. Sie nagte an dem dünnen Plastikwulst des Becherrands. Sah in den Kaffee. Ed trat zurück. Trat einen Schritt nach hinten. Er lehnte sich gegen den Softdrinkautomaten. Schob die Hüften nach vorne. Drückte den Unterleib heraus. Ihr entgegen. Er grinste sie an und schaute über Madeline in den Spiegel. Beobachtete den Eingang. Madeline sah wieder in ihren Kaffee. Sie hatte Eds Geschmack im Mund. Ed schmeckte spitz und säuerlich. Madeline wollte nicht. Nicht gleich. Sie wollte ihren Kaffee austrinken. Sie wollte reden. Ed glaubte wohl, das ging immer so. Sie käme ins Geschäft, und es ginge gleich los damit. Oder meinte er, sie mußte es tun. Meinte er, er hätte ein Recht erworben, weil sie es einmal gemacht hatte. Madeline lächelte Ed zu. Sie wollte ihn gerade fragen, ob sie ihren Kaffee austrinken dürfe. Wenigstens. Aber Ed sah sie nicht mehr an. Ed sah in den Spiegel. Er stand angespannt. Nach vorne gebeugt. Madeline drehte sich zum Spiegel um. Sie konnte nur die Kassa und den Vogelkäfig über der Kassa sehen. Jemand schaute durch das Fenster in das Geschäft. Die Glocke schlug an. Klingelte. Übertönte die Musik. Der Vogel tschilpte laut. Ed wandte sich dem Eingang zu. Er ging nach vorne. Lief in 3 langen Schritten zwischen dem Kaffee und den Frühstücksflocken nach vorne. Die Glocke klingelte weiter. Madeline stellte den Kaffee auf den Tisch und ging nach vorne. Sie nahm eine Packung butterfinger aus dem Regal mit den Süßigkeiten und Kaugummis vor der Kassa. Ed stand an der Kasse. Er scannte die butterfinger ein und tippte den Preis für einen Kaffee. Er deutete auf das Display. 3 Dollar 70. Die Glocke klingelte weiter. Der Vogel hüpfte schreiend in seinem Käfig. Ein Mann stand in der Tür. Er war sehr dunkel. Groß. Schwarz gekleidet. Ein schwarzer Hut. Der Mann stand gegen die Tür gelehnt und sah Ed zu. Madeline suchte nach Geld in ihrer Jackentasche. Gab Ed 4 Dollar. Er gab ihr das Wechselgeld. »Thank you, Madam«, sagte er. Beugte sich über die Kassa. Drückte ihr die 30 Cent in die Hand. Madeline mußte den Wäschecontainer hinter der Tür hervorholen. Sie bat den Mann in der Tür, sie vorbeizulassen. Sie hinter die Tür zu lassen. Der Mann verstand sie nicht. Er sah sie böse an. Madeline schob ihn zur Seite. »Excuse me, please«, sagte sie. Sie zog das »please« in die Länge und angelte nach dem Wäschecontainer hinter der Tür. Sie müsse den Container da herausholen, sagte sie. Der Mann trat zur Seite. In das Geschäft. Die Tür fiel zu. Das Klingeln vorbei. Das Klavier war wieder zu hören. »Yesterday«. Der Kanarienvogel trillerte. Der Mann stand Ed gegenüber. Die Männer sahen einander an. Madeline mußte mit dem Container um den Mann herumfahren. Schob den Container zwischen den 2 Männern durch. Madeline öffnete die Tür. Im Klingeln der Glocke zog sie den Container auf die Straße. In den Straßenlärm hinaus. Warum hatte sie jetzt zahlen müssen. Ed stand immer noch an der Kassa. Den anderen Mann konnte sie durch das Fenster nicht sehen. Was war das jetzt gewesen. Ed winkte sonst noch durch das Fenster. Brauchte Ed Hilfe. Aber Ed hatte diesen Mann gekannt. Und konnte sie weiter zu Ed gehen. Sie hatte noch nie bezahlen müssen. Ed hatte immer gegrinst und gesagt, er lade sie auf einen Ladendiebstahl ein. Madeline ging weiter. Sie schob und zog den Container unter der Brücke der Blue Line durch. Schnell. Sie mochte keinen Zug über sich fahren haben. In der Nacht war zu sehen, wie die Funken die Schienen entlangsprühten. Blau. Und in langen Blitzen. Vom Fenster ihres Zimmers konnte man den Funken nachsehen. Unter den Gleisen. Richtung down town. Unter der Brücke. Die fliegenden Funken. Die Vorstellung von brennenden Haaren trieb sie an. Es fuhr ein Zug ein. Aus Richtung down town. Madeline lief. Sie zerrte den Container über die Risse im Asphalt des Gehsteigs. Schlitterte über die ockerfarbenen Ziegel vor dem Ausgang der Station. Über die Pflastersteine bis zur Seitengasse beim Crystal Cleaner. Hinter ihr kamen Menschen aus der Station. Klapperten und trappelten in Richtung Chicago Avenue. Autos. Der Zug donnerte davon. Richtung O’Hare. In der Seitengasse war dann kaum noch etwas vom Zug zu hören. Als führe er viel weiter entfernt. Der Abstellplatz lag in der Sonne. Das hohe Gras still. Unbewegt. Alles unbewegt und starr. Die Metallteile ragten zwischen dem Gras in die Höhe. Kein Laut. Keine Bewegung. Ein Friedhof, dachte sie. Und die Leichen schon Skelette. Metall und Gras übriggeblieben. Alles Fleisch abgefault. Abgetrocknet. Und dann ja auch keine Ratten mehr. Vielleicht. Madeline stieß die Tür zum Crystal Cleaner auf. Zog den Container hinein. Frauenstimmen aus dem Fernsehapparat. Die Frauen sprachen über Männer. Die Luft im Crystal Cleaner schwer. Der beißende Geruch der Chemikalien nach der kühlen, frischen Herbstluft draußen. Legte sich gegen die Kehle innen. Madeline blieb beim Eingang stehen. Sie atmete vorsichtig über die Stelle hinten an der Kehle hinweg. Da, wo der Geruch den Hals so trocken machte. Mr.Kowalski roch auch stärker. Madeline konnte Mr.Kowalski ganz deutlich riechen. Mr.Kowalski roch nach Bier und Ungewaschensein. Aber trocken. Ohne Schweiß. Und nicht stark. Als würde immer nur ein kleiner Rest von diesem Geruch beim Waschen vergessen werden. Madeline schob den Container um die Ecke. Nach vorne. Mr.Kowalski lag im Bürosessel. Er schlief. Die Frauen im Fernsehapparat lachten. Madeline rammte den Container gegen ihren Hocker. Mr.Kowalski drückte sofort auf die Fernbedienung. Auf dem nächsten Sender sprach ein Mann über Badezimmer. Rauschende Musik untermalte seine Vision vom perfekten Badezimmer. Das Badezimmer müsse eine Oase der Ruhe und Entspannung sein, sagte der Mann. Madeline ging zu Mr.Kowalski. Sie nähme jetzt ihre Mittagspause, sagte sie schnell. Jetzt. Zwischen 12 und 1. Da wäre ja auch weniger los als später. Vollkommene Privatheit hätten wir uns alle verdient, sagte der Mann im Fernsehen. Aber die Leute aus den Büros, sagte Mr.Kowalski. Vorwurfsvoll. Madeline zuckte mit den Achseln. Wie er wünsche. Wenn das Badezimmer nicht stimme, sagte der Mann im Fernsehen, dann stimme gar nichts im Leben eines Menschen. Ob das Publikum das nicht auch so sähe. Mr.Kowalski winkte Madeline wegzugehen. Deutete ihr nur mit dem Zeigefinger. Sah schon wieder zum Fernsehapparat hinauf. Madeline solle aber pünktlich zurückkommen. Ja! Madeline ging zur Tür hinten. Ob Madeline so nett sein könne und pünktlich sein, rief ihr Mr.Kowalski nach. Madeline rief »Sure« über ihre Schulter. Sie ging durch die hintere Tür. Wollte die Glocke nicht hören. Sie ging rasch am Haus entlang. Zur Damen Avenue nach vorne. Die Seitengasse lag im Schatten. Damen Avenue in der Sonne. Madeline ging über die Straße. Vor dem Bikercafé saßen Leute in Mänteln in der Sonne und aßen. Sie ging vorbei. Ging in Richtung Wicker Park. Die Sonne von rechts. Wärmte ein wenig. Sie hätte Äpfel mitnehmen sollen. Von Ed. Aber wahrscheinlich waren diese Äpfel gar nicht gesund. Wahrscheinlich waren diese Äpfel ausgelaugt. Wie alles hier. Süß und salzig. Zur gleichen Zeit. Kinderessen. Verboten und ohne Nährwert und eine Sucht danach. Alle Lebensmittel bunt. Farbenfroh außen. Innen holzig schmierig. Sogar der Salat. Und dieses große Land. Alle ernährten sich von diesem verbotenen, süchtigmachenden Essen. Sie ja auch. Madeline bog hinter Wicker Park nach links ab. Rick hatte es genau ausgerechnet. Ins Haus gelieferte Pizzas waren das Billigste. Sie hatten ja kein Auto mehr. Das hatten sie in Kalifornien zurücklassen müssen. Und sie hatten noch weniger Geld als da. Sie bestellten eine Pizza am Tag. Madeline aß ja höchstens ein Stück davon. Und meistens löste sie den Belag ab und gab ihn Rick. Rick aß auch dieses Plastik. Madeline ging langsam. Leere Parkplätze. Links, am Anfang von Wicker Park. Unkraut zwischen den Rissen in den Betonplatten. Ölflecken. Rostige Ketten waren quergespannt. Die Trasse der Blue Line hoch darüber. Auf schwarzgrauen Metallpfeilern. Beigegrauer Lack löste sich in Fetzen vom Metall. Rechts der Park. Büsche. Die Wiese. Bäume. Ein Kleinkinderspielplatz abgetrennt. Am Abend standen Huren hier. Sie standen. Sie liefen nicht auf und ab. Hier. Wie in Paris. Wackelten nicht mit den Hintern. Wie in Italien. Oder hoben die Brüste den Freiern entgegen. Streichelten sich die Hüften. Hier standen die Huren und rauchten und kauten Kaugummi. Die Pailletten eines Minirocks oder das schwarze Latex einer Hose glänzte nur selten in Bewegung. Die Frauen sprachen auch nicht miteinander. Die Huren waren sehr jung. Sie kauten Kaugummi und rauchten und stiegen in Autos ein und stiegen aus und standen wieder da. Im Sommer war das so gewesen. Bis jetzt. Vom Fenster in Ricks Zimmer konnte man auf den Park sehen. Nach vorne. Von ihrem Fenster. Die Schienen der Blue Line liefen quer vor ihrem Fenster. In der Straße unter den Schienen parkten Autos. Von oben. Von ihrem Fenster. Wenn sie hinunterschaute. Die Männer blieben sitzen. Manche ließen die Hände am Lenkrad. Manche rauchten schon währenddessen. Oder es ging alles noch schneller, als sie annahm. Die Amerikaner, die sie getroffen hatte. Die amerikanischen Männer. Die hatten alle Probleme gehabt. »Sorry«, und es war schon wieder vorbei. Aber sie hatte ja nicht alle Amerikaner getroffen. Und mit Ed. Mit Ed hatte sie es ja auch nur so. Und ein blow job. Das war mehr so eine Nettigkeit. Das machte man, um ihn zu beruhigen. Damit er nichts anderes wollte. Oder keine andere. Oder weil man ihm zeigen wollte, daß auch er zu haben war. Daß er auch nur so ein Bündel von Abhängigkeiten war. Und zumindest abhängig von seinem Schwanz. Und von einem. Das vor allem. Und die meisten konnten dabei weiter glauben, man wäre ihnen zu Diensten. Aber hier. Hier schien es das einzige zu sein. Die stummen jungen Frauen am Straßenrand. Mußten die deshalb Kaugummi kauen. Und rauchen. Es kostete hoffentlich extra, wenn man es schlucken sollte. Es war ja alles o.k. Nur dieses Anfüllen. Diese Selbstverständlichkeit, sich in einen zu entleeren. Sie hatte das nie. Madeline ging die Häuser entlang. Schmale Holzhäuser. Lang nach hinten gezogen. Büsche zwischen den Häusern. Feuertreppen an den Seiten. Bei ihrem Haus war die Feuertreppe hinten. Vor ihrem Fenster. Sie hätte durch das Fenster flüchten müssen. Aber der Metallrahmen im verwitterten Holz des Fensterstocks verzogen. Das Fenster immer offenstand. Einen Spalt. Das Fenster war nicht weiter zu öffnen oder zu schließen. Es gab immer einen Luftzug. Im August hatte Madeline gedacht, das Haus ginge in der trockenen Hitze in Flammen auf. Nur von der Hitze. Madeline hatte die Nächte in dem Geruch von heißem Holz und Lack liegen müssen. Im Winter würde sie frieren. Und immer Lärm. Die Züge bis nach Mitternacht. Und die Autos in der Straße unten. Die Motoren liefen immer. Im Sommer die Klimaanlagen. Jetzt in der Nacht Heizung notwendig. Madeline ging. Das Sehen war wieder schwierig geworden. Verschwommen. Das Gehen ein Waten durch eine Müdigkeit bis zu den Knien hinauf. Madeline zog das Seidentuch vom Hals weg. Atmete tief. Zog das Seidentuch herunter. Knüllte das Tuch in den Händen. Nur noch 3 Häuser. Bis zu ihrer Wohnung. Das Tuch. Blumen und Goldgirlanden auf schwarzem Grund. Das Tuch war aus Paris. Das Tuch war ein Geschenk vom Schweden. Eric hatte ihr das Tuch von einer seiner geheimnisvollen Reisen mitgebracht. Er hatte das Diadem verkauft. Da war sie sicher. Es war um diese Zeit verlorengegangen. Das letzte Erbstück. Und dann hatte sie dieses Tuch selbst bezahlt. Das Tuch von ihrem Geld erworben. Und der Schwede. Madeline bekam einen Augenblick keine Luft. Sie mußte stehenbleiben. Der Haß. Wenn sie daran denken mußte. Erinnert wurde. Sie konnte nichts sehen. Konnte die Beine nicht heben. Ihre Haut brannte. Als begänne ein schuppiger Hautausschlag sich auszubreiten. Sie stand vor ihrem Haus. Niemand auf der Straße. Oder im Park. Der Straßenlärm weit entfernt hier. Kein Auto fuhr. Vögel. Madeline machte einen Knoten in das Tuch. Dann noch einen. Und noch einen. Immer schneller. Bis das große Seidentuch ein dünner Zopf von Knoten war. Dieser Mann hatte sie um alles gebracht. Madeline ging weiter. Sie sagte sich vor, 1, 2, 3, einatmen. 1, 2, 3, ausatmen. Sie sperrte die Haustür auf. Stieg die Stufen zur Wohnung hinauf. Das Stiegengeländer graublau lackiertes Holz. Rotbraune Farbe unter dem Grau. Die Stufen ausgetreten. Schwarz von den Schuhen. Die Stiege hinauf. Ein langer Riß in der Mitte der Wand. Brombeerfarbenes Dämmaterial quoll durch den Riß zwischen den Holzbrettern hervor. Madeline sperrte die signalrote Wohnungstür auf. Eine britische Fahne war auf die Tür gemalt. Die ganze Tür eine britische Flagge. Unten war ein Paddingtonbär auf die Tür geklebt. Als öffnete der Paddingtonbär einem die Tür. Hinter der Tür gleich die Küche. Madeline stand da. Das Tuch war das einzige, was vom Schweden geblieben war. Madeline wünschte ihm alles Unglück der Welt. Verbrennen. Sie dachte, das Tuch zu verbrennen. Über der Gasflamme. Aber Verbrennen. Das ging zu schnell. Das war dann vorbei. Zu Ende. Ein langes, kaltes Elend wünschte sie ihm. Ein langes, kaltes Elend und Atemnot. Das war viel richtiger. Madeline ging zum Eiskasten und legte das zusammengeknüpfte Tuch in das leere Tiefkühlfach. Sie stand vor dem Eiskasten. Stellte sich den Schweden vor. In einen Eisblock eingefroren und blaurot vor Kälte und immerwährend erstickend. Madeline holte das Tuch aus dem Tiefkühlfach und hielt es unter die Wasserleitung. Sie ließ das Wasser tropfenweise in den Stoff einsickern. Bis die ersten Tropfen unten aus dem Stoff in das Abwaschbecken fielen. Madeline holte eine ziplogbag aus der Lade. Es lag eine ganze Packung ziplogbags in der Lade. Von den Vormietern. Die Vormieter hatten die Küche nicht ausgeräumt. Sie hatten Cornflakes, Matzoballs und Thunfisch in Dosen zurückgelassen. Alle Laden waren vollgestopft mit alten Korken. Flaschenöffnern. Dosenöffnern. Draht. Gummiringen. Rollen von Backpapier. Säckchen mit Rosendünger. Backpulver. Vanilleessenz in Röhrchen. Rezeptkarten. Plastiksäcke in allen Größen und Farben. Aluminiumfolie. Ungebrauchte verstaubte Gummihandschuhe. Grillspieße. Fonduegabeln. Plastikhüllen mit Blumenmustern. Alles war fleckig und verklebt. Als wäre Sirup über alles geschüttet worden. Madeline fischte eine ziplogbag aus der Packung. Sie legte das tropfnasse Seidentuch in das Plastiksäckchen. Verschloß es. Sorgfältig. No freezer burn for Eric. Dann legte sie die ziplogbag in das Tiefkühlfach. Sie machte das Tiefkühlfach zu. Schloß den Eiskasten. Madeline verschloß die Türen aufmerksam. Hörte dem Einrasten der Plastikklappe des Tiefkühlfachs zu. Dem satten Ton des Schließgeräuschs der Eiskastentür. Das war befriedigend. Das war sehr befriedigend. Madeline fühlte sich fröhlich. Sie lief ins Zimmer zu Rick. Madeline riß die Tür auf und stürzte zu ihm. Rick saß am Computer. Er schaute auf den Bild schirm und nickte im Takt der Musik aus seinem Walkman. Madeline umarmte ihn von hinten. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und legte ihren Kopf gegen seinen. Rick solle raten, was sie gerade gemacht hätte, rief sie. Rick drehte sich zu ihr. Er hustete und legte eine Ecke Pizza in die Schachtel neben dem Bildschirm zurück. Rick hustete. »Kannst du nicht.« Rick hustete wieder. Er spuckte ein Stück Pizza in seine Hand. Madeline schlug ihm auf den Rücken. »Ich habe den Schweden tiefgekühlt«, rief sie und schlug Rick zwischen die Schulterblätter. »Ob das hilft«, keuchte Rick. Sein blasses Gesicht plötzlich rosig. »Rache«, sagte Madeline. Sie sang »Rache«. Als Opernarie. Sie lachte. Rick grinste. »Rache. Das wäre schon gut«, flüsterte er und lachte mit ihr. Rick saß vorgebeugt. Er zog die Kopfhörer aus den Ohren. Ließ sie zu Boden fallen und stand auf. Er hustete. »Rache«, keuchte er. Er lachte. Zog Luft ein. Er versuchte, Luft einzuziehen. Er mußte wieder husten. Er stand vorgebeugt. Schaute auf den Bildschirm. Hielt sich am Tischrand fest. »Scheiße«, flüsterte er. Madeline fragte »Roderick.« Rick machte eine Armbewegung. Wegwerfend. Er wollte diesen Namen nicht hören. Er wollte nicht so genannt werden. Rick stieß einen Laut aus. Sein Mund stand weit offen. Er stieß einen Tierlaut aus. Ein knacksendes Ü. Ein Gicksen. Die Halsmuskel waren angespannt. Die Haut zwischen Hals und Schlüsselbein schlug. Pulsierte. Madeline stand neben ihm. Sie wollte ihn halten. Ihn umarmen. Rick schob sie weg. Er stand da. Der Laut. Wieder der Laut. Immer wieder dieser Laut. Madeline wollte ihm in den Mund sehen. In den Mund greifen. Das Stück Pizza herausholen. Rick stieß sie weg. Ob sie ihm Wasser holen sollte. Rick schob sie weg. Er stand über den Tisch gebeugt. Krümmte sich. Und immer wieder der Ton. Sein Mund stand offen. Speichel. Schleim tropfte auf den Tisch. Madeline schlug auf seinen Rücken ein. »Roderick.« Sie schrie. Lief in die Küche. Drehte das Wasser auf. Fand kein Glas. Sie lief zurück. Sein Gesicht. Der Kopf rot. Der Hals dunkelrot und die Haut steif über die Sehnen gespannt. Madeline schlug ihm auf den Rücken. Mit aller Kraft. Sein Körper spannte sich noch mehr. Das Gesicht blaurot. Einen Augenblick sah er sie an. Madeline stand neben dem Tisch. Sie konnte nichts sagen. Der Schweißfilm auf seinem Gesicht. Tropfte. Begann zu rinnen. Auf der rotblauen Haut. Madeline riß an seinem Arm. Er solle sich hinlegen. Sie lief zum Telefon in die Küche. Sie wählte 911