Gegen die tägliche Beleidigung. - Marlene Streeruwitz - E-Book

Gegen die tägliche Beleidigung. E-Book

Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

Bei den Demonstrationen im Jahr 2000 gegen die Rechtsregierung in Wien ging immer ein junges Paar. Sie trugen ein Plakat mit sich: »Gegen die tägliche Beleidigung« stand auf den Deckel einer Obstkiste geschrieben. Sie trugen das Plakat gemeinsam, eng aneinadergelehnt. Gegen die Verächtlichkeit von Macht ging es da. Gegen die sichtbare Beleidigung aller außerhalb der Gemeinschaft der Mächtigen. Aber wie kommt es zu Macht? In welchen Verhüllungen und Verkleidungen tritt sie auf? Marlene Streeruwitz übersetzt in einem Streifzug durch Texte der Hochkultur und des Trivialen diese Texte ins Wörtliche und kommt so der Architektur der Macht auf die Spur. Das ist eine leidenschaftliche Reise mit Hilfe von Verlangsamung und Untertönung, die Frage entlang, wie die Erzählung von der Macht weitergegeben wird. Das Ergebnis ist eine vorsichtige Eroberung ertragbarer Unsicherheiten und die Erkenntnisse daraus. Der Band versammelt Vorlesungen und Vorträge aus den Jahren 2000 bis 2004.

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Seitenzahl: 234

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Marlene Streeruwitz

Gegen die tägliche Beleidigung.

Vorlesungen.

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Inhalt

Vom Leben der Hamster in Schuhschachteln.Schuhschachtel 1.Schuhschachtel 2.Schuhschachtel 3.Schuhschachtel 4.Politik.Berufung. Erleuchtung. Bekehrung. Heiligung. Ordo salutis.Wo vom Krieg gesprochen wird, da ist Krieg. I.Wo vom Krieg gesprochen wird, da ist Krieg. II.Aus dem Zauberland des Patriarchats.Haben. Sein. Und werden. Eine Predigt.Kanonisches.Totenkultmythen.Männer. Träume. Schäume.Doderer lesen.Texte.Verstehen. Nicht Verstehen.Unzustellbare Briefe. Unzugestellte Briefe.Nachweise

Vom Leben der Hamster in Schuhschachteln.

Schuhschachtel 1.

Mir waren sie immer fremd. Wenn sie so auf der Hand lagen. Diese zuckenden Körperchen. Die Knochen durch das weiche Fell zu spüren. Angespannt zitternd suchten sie Fluchtwege. Irgendwohin. Und dann krochen sie unter den Ärmel der Strickweste und liefen den Arm hinauf. »Goldig« war damals der Ausruf des Entzückens. Die kleinen Hamster waren »goldig«. Sie waren ja auch Goldhamster. Und zum Krabbeln unter der Strickweste hatte man zu lächeln und in diesem herablassend mitleidigen Ton der Tierliebe »Ja. Ist der goldig.« auszurufen. Hamster waren immer männlich, auch wenn die Weiblichkeit durch meist Erstaunen auslösenden Hamsternachwuchs nachgewiesen war. Es gab keine Bezeichnung für die Hamsterin, und deshalb gab es nie den Ausruf »Jö. Ist die goldig.«.

Was lernten wir von den Goldhamstern, die in Schuhschachteln nach Hause getragen wurden. Wir sollten ja etwas lernen. Auch wenn die Hamster schon am ersten Abend tot in der Schuhschachtel lagen. Nun. Der Zeit entsprechend lernten wir eine Menge rhetorischer Figuren. Wir lernten Kolonialisierung zu sentimentalisieren. Wir lernten Inbesitznahme der Tiere als Tierliebe zu bezeichnen. Wir lernten verständnisloses und unwissendes Ansehen des Objekts als Zuwendung zu bezeichnen. Wir lernten den Aneignungssatz »Jö. Ist der goldig.« als die richtigere und daher objektivere Weltbeschreibung zu sehen. Und wir lernten den Tod als unabwendbare Notwendigkeit akzeptieren. Das hieß dann Verantwortungsbewusstsein. Mit gesenktem Kopf dastehen und zur Kenntnis nehmen, dass nun auch dieser Hamster nicht mehr lebte. Wir lernten daran die Ersetzbarkeit von Liebe. Wenn der »Goldi« tot war, wurde der »Hansi« gekauft. In aller »Menschlichkeit« hatten unsere weichen Kinderherzen eine Lektion in Krieg erhalten. Ganz nebenbei waren wir in der Konstruktion eines fremden Anderen unterwiesen worden. In aller Trautheit hatten wir gelernt, mit dieser Konstruktion eine reale Inbesitznahme zu inszenieren. Und in der notwendigen Akzeptanz des Todes des kleinen Goldhamsters, der an dieser Inbesitznahme zugrunde gehen musste. In dieser Akzeptanz lernten wir töten. Ein bisschen nur. Aber doch genug, die Tötungsvokabeln weiterzugeben. Ohne die Worte ginge die Tat ja vielleicht nicht, und deshalb müssen die sprachlichen Ressourcen der Gewalt jeweils bekannt gehalten werden. Im Aufrechterhalten des Satzes, dass gestorben werden muss, wird der Vorgang des Sterben-Müssens erhalten. Und dabei wird heute auch im Reden von »Endsiegen« und von »totalem Erledigen des Feindes« – we’ll smoke them out and hunt them down – weiter verschwiegen, was uns Kindern schon nicht erklärt worden war: Die Hamster wurden ja gezüchtet, um, von uns falsch gehalten, rasch zu versterben und zu einem möglichst raschen Neukauf eines weiteren Tieres zu führen. Die Hamster wurden also fürs Sterben gezüchtet. Nicht fürs Leben. Und wie ich der Kleintierforschung entnehme, ändert auch der artgerechte Käfig nichts daran. Der Stress der Tiere, der sich im Zittern ausdrückt und zum baldigen Herzversagen führt. Also genau jenes Zittern, das uns als Freude des Tieres über uns und unsere Zuwendung verkauft wurde: »Jö schön. Wie der sich freut. Schau, der zittert ja vor Freude. Goldig. Gell?« hieß das. Dieser Stress bleibt ziemlich gleich. Trotzdem werden Hamster verkauft. Weiterhin. Weiterhin müssen Kinder Verantwortung durch Kleintierhaltung lernen. Wie gesagt. Ein bisschen artgerechter ist das geworden. Da lässt sich auch mehr verdienen daran. Am artgerechten Käfig im Vergleich zur Schuhschachtel. Aber. Die Änderung bleibt oberflächlich. Das Prinzip der sentimentalen Kolonialisierung aufrecht. Ja, in der technischen Verfeinerung wird dieses Prinzip noch getreulicher befolgt. Das ist so wie der »genaue« Krieg mit »chirurgisch exakten« Aktionen. Denn. Aus dem Falschen der Hamsterhaltung gibt es keinen anderen Ausweg, als keine Hamster mehr zu halten. Und Krieg kann nur durch Nicht-Krieg-Führen vergehen.

Es müsste in beiden Fällen eine dieser Trennungen von Vorstellungen oder Möglichkeiten vollzogen werden, die nicht gelingen, weil sie am Unbewussten scheitern. An unbewussten Verlustängsten, die sich aus den sentimentalen Inhalten herleiten, die in die abzutrennenden Sinneinheiten eingelassen sind. Unterhaltung und Reaktionäres haben solche Selbst-Rekonstruktionsmechanismen eingebaut. Als sentimentale Inhalte. Das haben sie von der Religion gelernt, in der die Abhängigkeit vom Glauben sich je selbst erneuert.

In einer säkularisierten Welt hätte man und frau sich von vielen Glaubensbegriffen trennen müssen. Und damit von den Glaubensinhalten dieser Begriffe. Wenn ich aber nun zum Beispiel sage, der Begriff »Heimat« ist ein Glaubensbegriff, der zu einer besonders scharf konturierten Konstruktion von Nähe und Fremde führt. Heimat ist ein Begriff, der emotional aufgeladen ist. In dem sich Völkisches verbirgt. Und weil es ja auch den Ausdruck »irgendwo zu Hause sein« gibt, entschlage ich mich des Begriffs Heimat als hierarchischen Ausdruck von Zugehörigkeiten. Ich habe dann keine Heimat mehr. Ich bin dann in Wien zu Hause. Manchmal. Dann gilt dieser Schritt schon als zersetzend. Wenn aber nun andere Personen sich schon durch meinen Schritt beraubt fühlen können, wie ich das bei Diskussionen feststellen muss, wie groß muss die Angst sein, einen solchen Begriff für sich selbst aufzugeben. Wie stark die Bedrohung. Solche durch die ausgelöste Emotionalität geschlossenen Systeme haben die Säkularisierung ja schon bisher erfolgreich verhindert.

Und die Lust, nun endgültig in den Krieg ziehen zu dürfen. Die leitet sich aus der nichterzählten Geschichte der Macht her. Die Staaten kaufen Söldner und Freiwillige. Und der artgerechte Käfig wird mitgeliefert. Und der erwartete Tod der Soldaten führt zurück auf Punkt 1. An den Toten wird die Notwendigkeit des Kriegs erst richtig beweisbar. Es braucht ein paar Tote, diesen Nachweis führen zu können. Politiker werden darin zu Metaphysikern. Die Hamsterlügen werden auf die Gegebenheiten umgeschrieben. Durchaus postmodern so. Der Subtext wird dadurch nur verstärkt.

So sagt der Klubobmann der Freiheitlichen Partei im österreichischen Parlament, das Veto gegen das Atomkraftwerk Temelín. Dieses Veto, das sei die »gezückte Waffe gegen die Tschechen«. Nun. Wenn die Waffen heraußen sind. Das weiß man aus »Prinz Eisenherz« und aus jeder Rede von Präsident Bush. Wenn die Schwerter einmal blitzen, dann sind die »surgical strikes« und »precision raids« nicht mehr weit. Die Sprache bildet hier die Hohlräume von Realität, die aus der Logik der verwendeten Begriffe heraus mit Realität gefüllt werden. Gefüllt werden müssen.

Aus diesem metaphysischen Sprachgebrauch, der seine Leere in die Realität zwingt, leitet sich die Formel her, dass da, wo von Gewalt gesprochen wird, Gewalt herrscht. Wo vom Krieg geredet wird, Krieg ist. Die Hamsterlüge ist Inhalt. Die grammatikalische Subjekt-Prädikat-Objekt-Konstruktion die Form. Gleichzeitig wird aber mit dieser Formel der Wirklichkeit Wirkung entzogen. Weil wir in der Hamsterlüge nicht nur die Konstruktion eines fremden Anderen, das uns vollkommen ausgeliefert ist, gelernt haben. Und nicht nur Ermächtigung durch sentimentale Projektion geübt haben. Sondern weil wir den Tod des Hamsters akzeptieren lernen mussten. Und weil uns bedeutet wurde, dass bei besserer Haltung des Tieres. Bei verantwortungsvollerem Verhalten. Bei den richtigen Maßnahmen. Dass dann der Goldi oder der Hansi schon noch am Leben sein könnten. Vielleicht. Deshalb haben wir ein kleines vorauseilendes Schuldwissen angesammelt, in dem wir sehr schnell bereit waren, den Tod des Hamsters als Ablauf hinzunehmen. Damit keine Untersuchung der genaueren Umstände stattfände, die uns doch noch Schuld zuwiese. »Das gehört zum Leben«, wurde in dieser Einweisungsverbrüderung Erwachsener mit den Kindern gesagt. Das gehöre ins Leben hinein, wurde geseufzt. Das sei das Leben. Und. Weil es weitergehen muss. Das mit dem Leben. Deswegen wird vergessen. Der tote Goldi. Der verstorbene Hansi. Deswegen verschwindet das unbeweglich steife Fellbündelchen hinter Milchglasscheiben. Ist nicht mehr klar zu sehen. Versinkt in den opaken verborgenen Raum, in dem dann später tägliche Massaker wahrgenommen werden. In dem die Toten versinken. Direkt im Leben ist dieser Raum eingelassen. Zum raschen Verschwinden gleich da, wo es passiert. Denn würde Vergessen nicht so gut gelernt und so einfach sein, es könnte einer oder eine die Ereignisse auf sich beziehen. Und dann nicht mehr funktionieren können.

Aber. Die in die Subjekt-Prädikat-Objekt-Grammatik gefasste Hamsterlüge hat eine umfassende allgemeine Wirkung. Sie hebt auf eine Ebene, auf der eine oder einer vermeinen können, Allgemeines zu verstehen. Und in diesem Verstehen dazuzugehören. Verstanden werden dann diese trunken machenden Sätze von gezückten Waffen und Beistandspakten. Der Hamsterlügen-ganze-Satz stellt für den Augenblick des Sprechens einen allgemeinen Raum her. Vom Nationalismus stehen solche Räume noch da. Halbherzig verwendet. Lange Zeit nur heimlich oder nachlässig instand gehalten. Aber der Hamsterlügen-ganze-Satz ging seiner Bedeutung nie ganz verlustig. Im Gegenteil. Die, die sich progressiv vorkommen, die können ihn mit noch mehr Überzeugung aussprechen. Ihnen steht noch einmal eine ganz besonders satte Sorte sentimentaler Selbstgläubigkeit zu Verfügung. Sie dachten ja einmal das Richtige. Das ist dann auch nichts anderes als das Glaubensbekenntnis bei der Taufe. Formeln, die Formeln bleiben müssen. Ein Entwurf solcher Formeln in eine besondere Realität, also in die Wirklichkeit einer Person. Das sie aussprechende System würde an dieser Wirklichkeit zerschellen. Die Geschichte der katholischen Kirche illustriert das immer wieder.

Aber. Wir sind ja ohnehin alle zu Schläfern des Patriarchats erzogen worden. Es müssen nur die trigger points gedrückt werden. Jeder Schläfertyp generiert dann die entsprechende Hamsterlügenmutation. Aber was immer sie sagen, es wird Krieg geführt.

Schuhschachtel 2.

Es muss nun 2 Jahre her sein. Ungefähr. Es war hier. In Berlin. Ich saß in einem Hotelzimmer. Allein. Ich musste mir einen Abend vertreiben. Ich hatte nicht ins Theater mitgehen wollen.

Ich las. Ich sah fern.

Üblicherweise ist in Hotels der erste Sender im Fernsehprogramm der Haussender. Üblicherweise wird man oder frau im Hotel begrüßt. Danach beginnt das Sendeprogramm. In einem Intercontinental wird im ersten Kanal über die Hotelkette informiert. Intercontinentals in aller Welt sind zu sehen. Es wird gezeigt, wie ähnlich sich die Zimmer dieser Hotels in aller Welt sind. Wie man oder frau in den exotischsten Umgebungen darauf vertrauen kann, dass das Hotelzimmer immer einem hohen westlichen Standard entsprechen wird. Es wird gezeigt, wie die swimming pools jeweils aussehen. Die ganze Welt wird Hintergrund für die westlich amerikanische Vorstellung vom Schlafzimmer. King size. Queen size. Twin beds. Und das große Badezimmer.

An diesem Abend war in der Schaltung der Fernsehkanäle ein Fehler. Üblicherweise sind die Kanäle des pay tv am Ende der Zapp-Kette. Bildschirmgroße Inserts weisen einen an, auf den Knopf für pay tv zu drücken. Und wenn das nicht geschehe und die nur am Rand hinter dem Insert wahrnehmbaren Aktivitäten auf dem Bildschirm weiter angesehen würden, dann komme das auf die Hotelrechnung. Rasches Überzappen der 3 Pornokanäle ist da geboten.

An diesem Abend. Wie gesagt. An diesem Abend war in der Schaltung der Fernsehkanäle ein Fehler. Statt des Haussenders lief ein Porno auf dem ersten Kanal. Wenn ich den Fernsehapparat aufdrehte, sah ich zuallererst einen Pornovideo. Auf dem nächsten Sender war dann eine Aufzeichnung eines Theaterabends zu sehen. »Anatol« von Arthur Schnitzler. Aus dem Akademietheater in Wien. Wahrscheinlich. Die Aufzeichnung musste aus den 60er Jahren stammen. Und ich glaubte, der Anatol wurde von Robert Lindner gegeben. 3 Sender weiter lief der erste »Sissi«-Film mit Romy Schneider.

Ich saß also in diesem luxuriösen, international anonymen Hotelzimmer und zappte vom Porno zum »Anatol«, 3 Kanäle weiter zum »Sissi«-Film, zum Porno, zum »Anatol«, 3 Kanäle weiter zum »Sissi«-Film.

Ich muss dazu gestehen, dass meine Fähigkeit, eine unbekannte Fernbedienung zu handhaben, nicht über ein lineares Durchlaufen der Kanäle hinausgeht. Ich war bisher in Wien mit den beiden österreichischen Sendern zufrieden. Erst die gerade erfolgte Übernahme des ORF und besonders der Nachrichtenredaktionen des österreichischen Fernsehens durch Gefolgsleute der Freiheitlichen Partei zwingt mich, diese Beschränkung nun endgültig aufzugeben. Aber selbst bei ausgeklügeltster Beherrschung der Kanalauswahl. Es war schon richtig. Der Porno, dann zum »Anatol« und 3 Kanäle weiter zum »Sissi«-Film.

Die pornografischen Episoden waren in eine Rahmenpräsentation eingebaut. Eine Männerstimme beschrieb die Umgebung, die gleichzeitig zu sehen war. Suburbia. Vom Auto aus aufgenommen. Die subjektive Kamera wackelte. Nahm unscharf auf. Dann stieg der Sprecher aus dem Auto und machte sich mit der Kamera auf die Suche nach der Lust hinter den Gartenzäunen und Hecken. Der Sprecher hatte eine tiefe Männerstimme. Er beschrieb durchaus ironisch diese »Peeping-Tom«- Situation. Er stellte immer wieder die Frage, ob der Zuschauer das nicht eigentlich auch selber machen wolle. So. Mit der Videokamera herumgehen und Leute beim Sex aufspüren. Der Sprecher fungierte als Vermittler der Pornoepisoden. Er war Entdecker, Erzähler und Kameramann. Er war nie zu sehen. Manchmal gerieten Schuhe beim Gehen in das Bild. Die kommentierte Beobachtung wurde nie aufgegeben. Die subjektive Kamera wurde durchgehend behauptet. Im ständig laufenden Kommentar wies der Beobachter immer wieder auf sich selbst als Kameramann hin. Selbst wenn die Kamera in den Poolhäusern eines amerikanischen Suburbia bei den Aufnahmen ganz offenkundig sehr nah an die kopulierenden Paare herankam. Der Sprecher führte seine Unsichtbarkeit auf die Auf-sich-selbst-Bezogenheit der jeweiligen Paare zurück. Er fragte den Zuseher dann auch gleich, ob er, der Zuseher, ihn, den Sprecher, denn wahrnehmen würde. Währenddessen.

Dem Zuseher wurde so vorgeschlagen, das eben Gesehene in seine Aktivitäten einzubauen. Der Zuseher konnte so zum Koautor aufsteigen, indem er die Episode und die Rahmenhandlung daraufhin betrachtete, wie er diese beiden Elemente in seine Realtiät einbauen solle. Es stand ihm offen, diesen Einbau als Beobachter oder als Beobachteter zu tun. Im Text dieses Pornovideos war es dem Zuseher möglich, als Beobachter sich selbst als Beobachteter zu fantasieren. Für die fantasierte Realität im eigenen Leben stand dann die Vorstellung zu Verfügung, beobachtet zu sein. Oder selbst die Beobachtung aufzunehmen. Eine solche Umsetzung in die Realität wurde vom Sprecher immer wieder vorgeschlagen. Die Inszenierung wurde für diese Übernahme in das Leben ständig angeboten. Dem Zuseher wurde in den verschiedenen Episoden ein Erzählmuster vermittelt, das er dann in seinem Leben anwenden konnte. In aller Praxis. Der Zuseher konnte sich mit diesen Mustererzählungen, zumindest in der Fantasie, die Geschichte vom eigenen Sex entwerfen. Mit diesem Entwurf nimmt der Zuseher teil an der Mustererzählung. Diese sich selbst in die Erzählung projizierende Teilnahme des Zusehers als fantasierte Möglichkeit für das eigene Leben ist die Voraussetzung für die vollkommene Entschlüsselung des Texts. In diesem Fall soll dieser Vorgang die größtmögliche Erregung des Zusehers herstellen. Das wurde durch den Beobachter gewährleistet, der durch seinen Kommentar ständig Leseanleitungen für den Text vorlegte. Leseanleitungen, die die Übertragung des gesehenen Texts in das Leben des Zusehers suggerierten.

Dieser Transfer von Erzählstruktur wird wohl erst in die Quasi-Realität des Tagtraums erfolgen. Die Erzählung wird an diese Quasi-Realität adaptiert werden. Eine einfache Übertragung wird meist nicht möglich sein. Der Transfer der Erzählung muss mehrere Instanzen passieren. Über-Ich und Unbewusstes werden Adaptionen vornehmen. Kulturelle Einflüsse. Lebenssituation. Alter. All diese Faktoren werden die Lesemöglichkeiten beeinflussen. Sie werden die Perzeption der Szenen beeinflussen und darin eine Autorschaft des Zusehers herstellen. Der Zuseher wird Autor in der jeweils persönlichen Lesart der Szene. Wird Autor darin, wie es ihm möglich ist, die Szene zu lesen. Diese Autorschaft einer fantasierten Parallelstruktur wird in die Koautorschaft in Bezug auf den Text Pornovideofilm eingebracht. Die Handlungsstruktur wird in die Parallelstruktur übernommen. Es wird die dramatische Grundstruktur des Musters »auf Sex wartende Frau wird von sexbereitem Mann gefunden« die Grundstruktur der Fantasien werden. Diese Konstellation wurde ja auch in jeder Episode vorgeführt.

Der Zuseher wird so beim Sehen Koautor auf der Ebene der dramatischen Grundstruktur, in der die Konstellation der auftretenden Personen festgelegt wird. Auf allen anderen Ebenen sollte der Zuseher zum gesehenen Text parallel verlaufende Entwürfe eines Selbstbezugs entwickeln und in dieser Parallelautorschaft das Genre erfüllen. Im Fall des Pornos ist das Ziel ziemlich klar. Selbstentzündung am Text. In diesem Fall, würde ich meinen, sollte diese Selbstentzündung zu einem gepflegten Herrenvergnügen führen. Dieser Pornovideo war ja schon eine Auswahl aus dem hauseigenen Pornosortiment. Da gibt es dann die härteren Möglichkeiten. Dieser sehr literarische Softporno schien mir so etwas wie eine ausgeklügelte Vorspeise zu sein. Das Gepflegte an diesem Vergnügen beruhte auf der Möglichkeit des Zusehers, die Koautorschaft unter der Wirkungsweise des Genres zu subsumieren. Die Wirkung der Erzählstrukturen auf den Zuseher kann an der Schnittstelle von Koautorschaft und fantasierender Parallelautorschaft in die im Text enthaltene Autorposition verschoben werden. Der Zuseher kann sich selbst das Wissen über seinen eigenen Anteil an der Konstituierung am gelesenen Text verbergen. Es ist dann nicht der Zuseher, der den Text liest. Die genrebezogenen Lesegewohnheiten schieben sich vor das Lesen. Die vom Genre ausgelösten Reaktionen. Die Koautorschaft muss nur ausreichend geleugnet und abgewehrt werden, dann kann der Textgenuss einsetzen. Der Zuseher muss nicht mehr die Verantwortung übernehmen, den Pornovideo mit zu entwerfen. Der Zuseher muss mit dem Beobachter den Mann in seinen eigenen Projektionen der Pornoszene mitdenken. Handlungseinheit für Handlungseinheit. Wie bei jeder Erzählung. Der Genuss am Textlesen entsteht hier durch die stete Erfüllung der Entwürfe. In dieser Erfüllung beschreibt sich dann das Genre wieder.

Der Zuseher wird durch die Erfüllung seiner Erwartung an das Genre angeleitet, seine Koautorschaft an die Autorinstanz im Text abzugeben. Weil der Text des Genres Pornovideo dadurch funktionieren kann, ist es nicht der Zuseher, der einen Pornovideo sieht und liest. Der Pornovideo zeigt sich ihm. Der Zuseher zeigt sich in unterdrückter Mitautorschaft das, was er sich zeigen soll. Und der in diesem Text als Autorinstanz auftretende Beobachter macht dem Zuseher diese Selbstaufgabe an den Text leicht.

Die Erzählung dieses Pornovideos richtete sich ausschließlich an den Zuseher. Die Episoden handelten von einsamen jungen Frauen am swimming pool oder im Liegestuhl. Statisch waren sie an den jeweiligen Ort gebannt. Poolarbeiter. Lieferanten. Polizisten. Besucher. Die Männer bewegten sich auf die Frauen zu. Umkreisten die Frauen. Die Episoden führten die zügige Annäherung der Männer vor. Die Frauen waren selbstverständlich rasch zu überzeugen. Es gab nur heterosexuelle Paarungen. Die Frauen waren der Fiktion von Suburbia entsprechend immer weiß. Und meistens blond. Ein Poolarbeiter war schwarz. Die Körper der Schauspieler waren gearbeitet. Bodysculpturing aus Training und Chirurgie. Die Frauen hatten mehrere Orgasmen zu maunzen, dann verließ der Beobachter die Episode. Wohl um in die Kategorie Softporno gezählt zu werden und auf den ersten Pornokanälen aller Intercontinentals der Welt vorgeführt werden zu können. Da, wo die elaborate Erzählweise des Pornos dieses gepflegte Vergnügen möglich macht, indem der Zuseher den Text mitkonstituierend und in der Verdrängung ebendieser Autorschaft passiver Tagträumer werden kann.

Diese ausdrückliche Hinwendung an den Mann könnte einem hier selbstverständlich vorkommen. Aufgrund des Genres. Es handelt sich bei diesem Video schließlich um die Mitteilung von Mann zu Mann, wie das ist. Mit dem Sex. Für den Mann. Diese Mitteilung erfolgt außerspachlich. Durch vorgeführte Handlung. Wobei in diesem Fall auch noch eine Autorfigur auftritt, die sprachlich bestätigt, dass es sich um Sex handelt. Erzählt wird dieser Sex nicht. Was geschieht, muss beim Zusehen vom Zuseher entschieden werden. Wie das ist. Das alles. Das wird nicht benannt. Das wird nicht beschrieben. Das wird nicht erzählt. Das wird nur vorgeführt. Das verlässt sich auf das Wissen aller Männer voneinander, wie das ist. Männlicher Sex. Frauen kommen da nicht ins Spiel. Frauen können ja nicht wissen, wie das ist. Es fehlen ihnen ja die dazu notwendigen Mittel. Das Organ. Und. Es gibt auch keine Sprache dafür. Es ist ausschließlich die größere Sichtbarkeit des Organs, die die Erzählung liefert. Und es gibt kaum eine Bemühung, diese Mitteilung in Sprache zu fassen. Das hat auch praktische Gründe. Man muss sich nur an Männer wenden. Bei der Erzählung. Das liegt an den Machtstrukturen. Und man konnte sich deswegen dann auch lange Zeit nur an Männer wenden. Mit der Erzählung. Weil die Machtstrukturen gar nichts anderes möglich gemacht hatten. Die Verschweigung dieser Erzählung hat aber auch System. Wir. Die Frauen. Wir sollen es auch nicht wissen. Wir sollten es schon immer gewusst haben. Und weil das nicht möglich ist, kann uns dieses Nichtwissen vorgeworfen werden.

Also. Der Zuseher wirft sich in den Text. Wird zum Mitautor. Wie bei jedem Textlesen muss sich der Zuseher dem Text leihen. Er muss auf allen Ebenen des Textes den Sinneinheiten und ihren Verknüpfungen seine Wahrnehmung zu Verfügung stellen. Die Möglichkeiten des Lesens sind in den eigenen Möglichkeiten des Lesers beschlossen. Die Möglichkeiten des Textes liegen nun darin, wie viel der Text von den Wahrnehmungsfähigkeiten des Lesers mobilisieren kann. Und. Wie weit der Text dann die Person im Lesen – mit Hilfe der Wahrnehmungsmöglichkeiten des Lesers – von sich selbst entfernen kann. Oder. Wie stark eine Bestätigung dieser Möglichkeiten stattfindet.

Je weniger diese Bestätigung nun auf eine vorhandene Realität zurückgeführt wird und vorgeprägte Erwartungsstrukturen des Lesers erfüllt werden, desto mehr ist der Text der Unterhaltung zuzurechnen. Der Pornovideo ist hierin idealtypisch. Dieser Video bedient auch ganz offen die Metaebene von Lesen. Also die Beschreibung der Geschlechterdifferenz als ewiger Sieg des Männlichen. Ein Sieg, der nicht einmal besprochen werden muss. Den Lesern ist er ja im Lesen klar. Ist im Lesen selbstverständlich. Und. In dieser universalen Gültigkeit müssen auch Frauen den Text so lesen. Denn. So werden Texte gelesen. Von Anfang an. Und wenn frau kein Lesemann werden kann. Oder will. Oder soll. Dann kann sie am Lesen nicht teilnehmen. Wenn sie nicht lernt, ihre Koautorschaft als Lesemann zu entwickeln und dann an eine männliche Autorinstanz in den Erzählstrukturen wieder abzugeben, dann kann sie Texte nicht verstehen. Wenn frau nicht lernt, als Mann die Geschichten entlangzugehen, dann kann sie gar nicht an der Gesellschaft teilnehmen. Natürlich wird sich dieser angelernte Lesemann in einer Frau nie so ganz in dieser Selbstaufgabe ihrer Koautorschaft erfrischen können. Ihrem Lesemann steht ja keine reale Erfüllung der gelesenen Geschichten zur Verfügung. Sie kann sich immer nur ihren Lesemann bestätigen lassen. Ihre Person muss aufgrund ihres Geschlechts von ihren Leseerfahrungen abgetrennt bleiben. Obwohl sie den Texten alle ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten leihen muss, um den Texten zu Wirkung zu verhelfen. Die basale Mitteilung. Die wird sie nur als Leerstelle erfahren können.

Für den Pornovideo hätte das bedeutet, dass ich eine mir selbst erfundene Geschlechtlichkeit den männlichen Protagonisten leihen muss, um so die Episode mit entwerfen zu können. Ich muss verstehen, warum sich dieser Poolarbeiter von dieser Frau angezogen fühlt. »Magnetismus« wurde erwähnt. Aber statt dass mir erklärt und genau begründet wird, warum diese Kopulation nun unabwendbar notwendig für ihn ist, wird mir dieses Verständnis abgezwungen. Und weil dieses Verständnis von Frauen für das Lesen des Männertextes erlernt werden muss. Und weil wir ja über die nie besprochene männliche Sexualität aus eigener Erfahrung nichts wissen können. Weil dieses Verständnis von Anfang an das Frau-Sein mitkonstituiert, hätte ich es ja auch gleich zur Hand. Als Lesemann zu einer Quasi-Teilnahme am Text trainiert, könnte frau sich sogar schon nur durch dieses Verständnis-Haben belohnt fühlen. Schließlich läuft über dieses Verständnis unsere Teilnahme am allgemeinen männlichen Text. Die Freude, diese Teilnahme erlernt zu haben, kann durchaus zu gleich noch größerem Verständnis führen. Frau kann nur so Macht erringen. Zumindest über andere Frauen. Ja. Es könnte als Schritt in bewusstes Lesen betrachtet werden, wenn die lesende Frau es schaffte, sich neben der notwendigen Textentschlüsselung als Lesemann auch noch als Frau einzubringen. Sich als Frau im Text zu entwerfen. Immer im Rahmen des internalisierten Verständnisses der Leerstelle »männliche Geschlechtlichkeit«. Im vorliegenden Fall also, die Textsorte Pornovideo durch Begehren zu aktualisieren. Schwerarbeit ist das. Und während der Mann für seine Abgabe der Mitautorschaft am Text sich wenigstens seiner Männlichkeit neu versichern kann, bleibt der Frau eine neuverstärkte Männlichkeit als Lesemann, der die innere Geschlechterdifferenz neu dynamisiert. Kolonialisiert werden alle Geschlechter beim Lesen des gesellschaftlichen Texts. Belohnung für die Akzeptanz davon gibt es aber nur für den männlichen Anteil dieser Affirmation.

Wenn Sie sich an die Diskussion von Alice Schwarzer mit Verona Feldbusch erinnern, dann beruhte das Überlegenheitsverhalten von Frau Feldbusch auf der Vorstellung, dass sie die Männer eben besser verstehen könne. Und das wird auf einer unbewussten Reaktionsebene ja dann auch sogar der Fall sein. Die Angst vor Feminismus geht ja vom Verlust dieses Verständnisses aus. Und damit vom Verlust von Teilnahme. Und vor allem vom Verlust der Belohnung. Das ist auch richtig so. Aber über Verlustängste und wie Frauen zu Kastrationsängsten kommen können später.

Lassen Sie mich hier gleich noch einen Exkurs einfügen. Bevor wir uns dem »Anatol« zuwenden. An dieser Stelle möchte ich Sie an die Kritik an meinen Vorlesungen in Tübingen und Frankfurt erinnern. Reinhard Baumgart veröffentlichte über diese Text in der »Zeit«, dass das, was ich da so schreibe, Gulasch sei. Und Thomas Steinfeld beschrieb mich in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als jemand, der auf die Literatur wie eine beleidigte Prinzessin reagiere. Diese Kritiker verwenden zu meiner Beschreibung Archetypen des Weiblichen. Die Köchin. Die Prinzessin.

Bei Grimm bestätigt sich das Prinzessin-Sein der Prinzessin auf der Erbse durch ihre Überempfindlichkeit. Ich kann dieser Definition viel abgewinnen. Kritik ist eine Methode, sich der Wirkung des Kritisierten zu entziehen. Und die erwähnten Kritiker entziehen sich durch ihre Kritik an meinen Texten meiner Kritik am Gesamttext. Und. Was ich in meinen Texten mache, ist die Fortsetzung eines langen Prozesses der Niederringung meines Lesemanns, ohne das Lesen verlernen zu müssen. Über diesen immer wieder notwendigen inneren Mord und die Verluste davon. Und die neuen Möglichkeiten. Davon auch später. Aber. Die sich immer weiter ausbreitende Lesefrau in mir kann nur beleidigt sein. Sich in keinem Text des Kanons unverletzt entwerfen können. Auch in Texten von Frauen nicht, weil auch die – wie meine eigenen – nur Konstrukte auf der Basis der vorhandenen Möglichkeiten der Autorinstanz sein können. Da weinen die Prinzessinnen und wollen den heranreitenden Prinzen, und seien das noch so prominente Literaturkritiker, keine Hand reichen. Und nachfolgen schon gar nicht.

Die Prinzessin kocht aber auch. Gulasch kommt heraus, wenn sie schreibt. Das hieße, dass ich koche, wenn ich schreibe. Dabei lässt mir der Kritiker meine Literatur. Schreiben könne ich schon. Mit dem Denken. Da haut es nicht so hin, wie er sich das vorstellt. Beim Denken kommt hervorragend geschriebenes Gulasch heraus. So freundliche paternalistische Einschränkung hätte mich bei meiner Matura vielleicht noch gefreut. Da hätte das mein Durchkommen bei dieser Prüfung befördert. Und damals hielt ich kanonische Kreativität noch für die überlegene Darstellungsform. Das war aber im Rahmen einer kurzen Hinwendung zu Hippie-Ideologien. Also im Rahmen jenes laisser-faire, in dem sich die Söhne 1968 die Welt neu aufteilten und diese Machtergreifung nur verschleierter benannten. Da blieb es dann ja doch bei den alten Inkongruenzen, und es ließ sich mir nicht vermeiden, die Widersprüche der Entwürfe auch da zu entdecken. Im Übrigen. Ich koche gern. Wenn mein Schreiben kochen ist, dann habe ich keine Sorge. Ich koche ganz gut. Die gekochten Texte sollten dann ja meinem Gulasch nicht nachstehen. Aber natürlich mache ich eines nicht. Ich habe keinen einzigen meiner Texte in die abstrakte Autorinstanz des kanonischen Texts überantwortet. Und. Ich bin auch immer die erste Leserin meiner Texte. Und ich fordere von der Leserin und dem Leser Mitautorschaft. Das ergibt dann auf der weiblichen Seite jene Leerstellen, die frau aus dem männlichen Text kennt und die sie mit Hilfe des Lesemanns erkennen und mit Hilfe des weiblichen Verständnisses überbrücken gelernt hat. Natürlich regt Reich-Ranicki sich über die Schilderung der Menstruation in »Verführungen.« auf. Er hat keine Lesefrau als Leseinstrument für einen weiblichen Text entwickelt. Und er hat kein Verständnis für diese Weiblichkeit gelernt. Musste das nicht. Und im Rahmen der strukturellen Macht hätte ihm das ja auch geschadet. Die Menstruation. Eine Angelegenheit, die weibliches Leben konstituiert, kann so von einem arrivierten Kritiker beiseite geschoben werden. Muss das. Denn der Großkritiker als Erlöserprinz kann nur in den hegemonialen Text retten. Dieser Text ist männlich-hegemonial und damit allgemein. Und der Kritiker steht so auf der Seite der Macht.

Also. Alle diese Kritiker müssen notwendigerweise Fehlstellen in meinen Texten auffinden und sich über die theoretische Beschreibung von etwas wundern, das sie nicht sehen können. Die Menstruation als Erzählung von Weiblichkeit existiert für sie ja nicht als kanonisiertes Phänomen. Goethe schrieb nicht darüber. Jedenfalls nicht aus eigener Erfahrung. Aber. Der Mangel liegt hier bei den Lesern. Nicht bei Goethe. Und seinen Kollegen. Die hatten nur den Raum zu nutzen, der ihnen in ihrer Zeit offen stand. Für ihre Erzählung. Wie das so ist. Für den Mann. Aber die Belastung durch das Faustische am »Faust«. Die entstand durch den Gebrauch am Text.