Gedankenspiele über die Toleranz - Marlene Streeruwitz - E-Book

Gedankenspiele über die Toleranz E-Book

Marlene Streeruwitz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Während eines Flugs nach New York denkt Marlene Streeruwitz über Toleranz nach. Sie reist mit 360 weiteren Passagieren, die großteils nichts voneinander wissen und die lediglich verbindet, einen Vertrag mit einer Fluggesellschaft abgeschlossen zu haben. Wo liegt beim Zusammentreffen so vieler Menschen der Unterschied zwischen »dulden« und »tolerant sein«? Existieren Vorurteile aufgrund des Äußeren? Was braucht es, um eine lange Tradition der Intoleranz und Unfreiheit hinter sich zu lassen, die die Menschheitsgeschichte durchzieht? Existieren noch immer Reste des römisch-katholisch-absolutistischen Weltbildes in unserer Zeit? Wie sieht das für andere Kulturen aus? Was ist der kulturelle Kontext von Toleranz und was heißt das für die weltweite Einführung von Toleranz? Marlene Streeruwitz gibt persönliche Erfahrungen preis, betrachtet den Alltag und blickt auf den Weltlauf. Ein Plädoyer für Toleranz als Weg zur Durchsetzung der Grundrechte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 30

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marlene Streeruwitz

 

 

 

Gedankenspiele über die

Toleranz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literaturverlag Droschl

20. März 2023. Flug OS089. Wien–New York.

Ich beginne diesen Text auf dem Flug von Wien nach New York. Ich sitze mit 360 anderen Personen in diesem Flugzeug. Wir wissen nichts voneinander. Es verbindet uns allein die Tatsache, dass wir einen Vertrag mit der Fluggesellschaft abgeschlossen haben, uns nach New York zu transportieren. Sonst. Wir wissen nur, was wir sehen. Und. In diesem einen Augenblick. Wenn das Flugzeug abhebt. Ich denke dann immer ans Abstürzen. Und. Dass das nun die Personen rund um mich sind, mit denen ich dieses Schicksal teilen werde. Für die achteinhalb Stunden des Flugs nach New York sind wir eine Schicksalsgemeinschaft.

 

Zu Beginn. Vor dem Abflug. Ich sehe viele sehr verschiedene Personen, ihre Handkoffer in die overhead bins stemmen. Orthodox jüdische Männer mit Kippa und im Tallit. Die Frauen mit Perücken oder Kopftüchern. Serbisch sprechende Familien in Sportkleidung. Albanisch sprechende Familien. Die Männer in dunklen Anzügen und Sportschuhen. Die sehr alten Frauen tragen lange Schürzenkleider und Kopftücher. Black and brown people. Und all die anderen Personen, die mir nicht auffallen, weil sie mir gewohnt scheinen. Weil wir einander ähnlich sind.

Nun. Wir haben alle ein Ticket gekauft. Aber nicht einmal dieser Vorgang verbindet uns. Jede Person hier an Bord hat andere Gründe, diese Reise zu unternehmen. Nur. Während dieses Transports sind wir für achteinhalb Stunden auf ein grundlegend zivilisiertes Verhalten angewiesen. Wir befolgen eine Hausordnung der Fluggesellschaft. Es geht um unsere Sicherheit. Wir wollen alle heil ans Ziel kommen. Wir dulden einander. Vorbehalte und Vorurteile. Sie ruhen für die Zeit der Reise.

So. Wir sitzen starr in unseren Sitzen und starren nach vorne. Die Bildschirme sind in diesen starren Blick gestellt. Wir müssen ja ruhig gestellt diese achteinhalb Stunden durchwarten. Wir maskieren mit diesem starren Blick alles uns als Person Betreffende. Alle Beschreibung von dem, was privat genannt wird, muss vermieden werden. Wir wollen alle nicht reagieren. Reagieren müssen.

Also. Ich beuge mich über meinen Schreibblock, wenn vorne bei den Toiletten der Premium-Economy die Männer in den Tallits zusammenstehen und beten. Ich beuge mich über meinen Schreibblock, wenn die Frau drei Reihen vor mir auf dem so viel größeren Bildschirm der Premium-Economy sich mittelalterliche Schlachtszenen vorführen lässt. Säße ich aufrecht in meinem Sitz in der zweiten Reihe der Economy-Class. Ich müsste mitansehen, wie am Ende des Turniers der siegreiche Ritter dem Verlierer sein Schwert in den Hals bohrt und eine Fontäne Bluts hochspritzt. Sähe ich richtig zu, ich müsste mir die entsprechenden Geräusche vorstellen. So. Es bleibt bei Ahnungen. Ganz kann ich diesen Bildschirm ja nicht aus meinem Blickfeld bekommen. Ich beuge mich über mein Buch, wenn mein Sitznachbar sich die Folterung einer black person auf seinem Bildschirm vorspielen lässt. Diese Bilder laufen im rechten Augenwinkel weit außen weiter ab. Ich dulde. Die anderen dulden mich. Es sind nur wenige da, die Bücher lesen. Und beim Umblättern der Zeitung störe ich den Nachbarn, der sich die Folterung anschaut. Es dulden alle. Es geht schließlich nur darum, nach New York zu kommen. Alle anderen Überlegungen sind beiseitegeschoben. Alle anderen Überlegungen können beiseitegeschoben werden. Wir werden sofort nach der Ankunft in alle Richtungen auseinanderstreben. Wir sind Passagiere. In gewisser Weise ruhen unsere Leben insgesamt. Wir sind keine Personen. Wir verbergen uns und einander hinter der Bezeichnung Passagier. Als Passagiere. Die Duldung ist miteingeschlossen.