Yseut. - Marlene Streeruwitz - E-Book

Yseut. E-Book

Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

Anstelle einer Autobiographie erzählt Marlene Streeruwitz in ›Yseut.‹ von der Reise ihrer Heldin nach Italien, die auch eine Reise in die Vergangenheit wird. Yseut.ist auf der Suche nach Antworten. Sie will entscheiden, ob sie nach all den schwierigen Erfahrungen und Versuchen mit der Liebe allein weiterleben will oder ob sie es noch einmal wagen soll. In Italien ist aber nichts mehr so, wie sie es vom Sehnsuchtsland der frühen Reisen in Erinnerung hat. Yseut.gerät mitten in den mörderischen Kampf um Macht und Ordnung in einer kleinen Region. Eine alte Aristokratin entpuppt sich als Widerstandskämpferin, ein ehemaliger CIA-Agent bringt Yseut.in Gefahr, der Polizeipräsident hält sie für eine Anarchistin, und ein charmanter Mafioso will sie verführen. Als Yseut.von dem Schlägertrupp einer militanten Separatistenbewegung bedroht wird, greift sie zur Pistole in ihrer Handtasche. Yseut.weiß nicht, was hier gespielt wird, aber sie gibt nicht auf und kämpft mutig. Mitten in den Abenteuern erinnert sich Yseut.an ihr vergangenes Leben, das sie hierher geführt hat. Auch diese Reise wird gut ausgehen. Aber wie schon bisher in Yseut. Leben, wird dieser Sieg ganz anders aussehen als erwartet.

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Seitenzahl: 497

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Marlene Streeruwitz

Yseut.

FISCHER E-Books

Abenteuerroman in 37 Folgen.

Inhalt

1. Folge.2. Folge.3. Folge.4. Folge.5. Folge.6. Folge.7. Folge.8. Folge.9. Folge.10. Folge.11. Folge.12. Folge.13. Folge.14. Folge.15. Folge.16. Folge.17. Folge.18. Folge.19. Folge.20. Folge.21. Folge.22. Folge.23. Folge.24. Folge.25. Folge.26. Folge.27. Folge.28. Folge.29. Folge.30. Folge.31. Folge.32. Folge.33. Folge.34. Folge.35. Folge.36. Folge.37. Folge.

1. Folge.

Lughetto. Lugo. Lova. Conche. Valli. Chioggia. Die Straße von Valli nach Chioggia führte mitten über das Meer. Yseut fuhr mit offenen Fenstern. Das Meer. Das Meer auch so etwas Verheißungsvolles. Immer eine Verheißung und nie ein Wunder. Aber sie freute sich. Das Meer. Der Geruch. Das Licht. Sie setzte sich gerader auf. Schaltete das Radio ein. Werbung. Sie hörte der italienischen Stimme zu. Eine Männerstimme. Tief. Voll. Melodiöser Verkündigungston. Sie war da. Sie war in Italien. Sie fuhr über eine kühlblaue Lagune. Fischerboote. An Stangen festgemacht. Mitten im Wasser. Schaukelten im Wind. Die Sonne stand schon tief. Immer wieder von Wolken verdeckt. Das Wasser spiegelte dann den Wolkenhimmel, bis die Sonne wieder hervorkam und die Wellen zum Glitzern brachte. Sie musste seufzen. Wie wunderbar, hier zu sein. Wie wunderbar, allein zu sein. Wie schön, hier entlangzuflitzen. Im Radio wurde das nächste Waschmittel angepriesen. Sie schaltete ab. Nur schauen. Sie wollte nur schauen. Sie fuhr die vorgeschriebenen 80 Stundenkilometer. Ließ sich in der rechten Spur dahingleiten. Schaute auf das Wasser hinaus. Rollte dahin. Lagune. Das war doch noch Meer. Sie wurde angehupt. Ein Lastwagen hinter ihr. Yseut schaute in den Rückspiegel. Der Fahrer hatte sich vorgebeugt und gestikulierte ihr. Fuhr auf. Der Lastwagen schob sie fast. Scherte dann aus. Fuhr neben ihr. Knapp. Yseut ließ sich zurückfallen. Der Fahrer schwenkte nach rechts. Vor sie hin. Dann bremste er. Er bremste scharf ab. Yseut musste hart auf die Bremse steigen. Sie musste so scharf bremsen, dass sich die Alarmblinkanlage einschaltete. Der Fahrer des Lastwagens hatte sie zu einer Notbremsung gezwungen. Yseut stieg aufs Gas. Sie schaltete den Turbo zu. Zog mit noch blinkenden Lichtern am Lastwagen vorbei. Zog davon. Sie blieb auf der linken Spur. Schaltete die Alarmlichter aus. Fuhr schnell. Sehr schnell. Von glitzerndem Wasser umgeben, segelte sie davon. Links Schiffe. Eine Werft. Ein Schiff nur der Metallkörper. Rau und dunkel. Daneben ein weißlackiertes Passagierschiff. So eines, das von Chioggia aus nach Venedig übersetzte. Venedig. Dahin würde sie nun nicht kommen. Diesmal. Wollte sie denn. Wollte sie überhaupt noch einmal nach Venedig. Sie war so oft da gewesen. Mit so vielen anderen. Mit einem Enkelkind vielleicht. Da konnte sie sich das vorstellen. Noch einmal nach Venedig. Aber Enkelkinder. In Mexiko. Diana wollte warten. Es müsse doch ein Impfstoff gefunden werden, hatte sie im Sommer gesagt. Beim Schnitzelessen beim Ubl. Yseut hatte genickt. Was sollte sie dazu sagen. Dass sie auf Enkelkinder wartete. Das stimmte gar nicht. Sie wartete nicht. Sie hätte sich gefreut. Aber wenn Diana vor diesem Virus Angst hatte. Sie verstand das. Sie musste das verstehen. Sie konnte sich an das Warten auf den Impfstoff gegen Aids erinnern. Goggo schien das alles recht zu sein. Sie könnten ihre Wohnung in Wien haben und da leben, hatte sie Diana und Goggo vorgeschlagen. Da waren sie schon bei den Palatschinken gewesen. Goggo hatte nur gelacht. In diesem Land, hatte er gefragt. In diesem spießigen Land. Sie hielte es ja auch aus, hatte sie gesagt. Immerhin gäbe es den Zika-Virus da nicht. Da hatten Diana und er gelacht und »Noch nicht.« gerufen. »Not yet.« Hätte sie ein Kind bekommen. Unter diesen Umständen. Yseut überlegte. Sie hatte Epidemien erlebt. Kinderlähmung. Contergan. Aids. Sie wusste, dass das Schicksale waren, aber dann auch Leben. Sie seufzte. Es würde sich wohl nicht ausgehen, Venedig noch einmal. Und mit dem Alfred. Nein. Der war sicher auch mit allen Frauen da gewesen. Von Wien aus. Alle Liebespaare waren immer von Wien nach Venedig gefahren. Mit dem Nachtzug. Den ersten Cappuccino im Bahnhofsbuffet und um 7 Uhr am Morgen dann nach Venedig hinein. Nein. Das nicht. Nicht noch einmal. Sie wollte Neues. Ganz Neues. Deshalb war sie ja hier. Sie schaltete wieder das Radio ein. Geigenmusik und dann wieder Werbung. Für Möbel. Sie dachte schon wieder an das Ende. Sie dachte schon wieder darüber nach, was sich noch ausging. Yseut lehnte sich zurück. Sie fuhr auf die rechte Spur. Fuhr wieder langsamer. Fuhr dahin. Der Alfred. Sie sollte jetzt nicht über den Alfred nachdenken. Und die Gedanken, die das nach sich zog. Die machten nur noch ein größeres Durcheinander. Diese Gedanken erinnerten auch wieder nur an die Zeit und wie wenig davon übriggeblieben war. Yseut seufzte. Sie konnte in den nächsten Tagen darüber nachdenken. Über alles. In aller Ruhe. Immerhin. Nach Alfreds Antrag. Es war alles, wie es immer gewesen war. Sehnsucht. Sie musste lachen. Begehren. Yseut wünschte sich oft, der Vater hätte sich durchgesetzt und sie wäre nicht so katholisch erzogen worden. Chioggia. Die Abfahrten trugen Straßennamen. Rechts und links der Straße Lagerhallen. Hafenbuchten. Schiffe. Häuser. Gewerbegelände. Fabriken. Die Straße führte in einem weiten Bogen der Sonne zu. Yseut holte die Sonnenbrille aus dem Fach über dem Rückspiegel. Es war alles in Frage gestellt. Alfreds Antrag. Nein. Ihre Reaktion hatte in diese Verwirrung geführt. Ihre Reaktion. Ihre Sehnsucht. Ihr Begehren. Sie hatte nicht gewusst gehabt, dass sie das konnte. Noch konnte. Sehnen. Begehren. Sie hatte sich weitab von solchen Zuständen gedacht. Sie hatte sich überschaubar gedacht. Aber seine Frage. Sie war sich selbst wieder unbekannt geworden. Liebe. Verlieben. Sie wollte das. Sie konnte sich das vorstellen. Aber es wäre schöner gewesen, Alfred hätte es nicht so indirekt gesagt. Eine Umarmung vor dem Haustor. Die Gleitcreme in die Jackentasche stecken. »Das ist es, was ich möchte.« murmeln. Er meinte das wahrscheinlich als Deklaration. Dass ihn nichts an ihr stören würde. Pragmatisch war das. Praktisch. Romantisch nicht. Oder besonders romantisch. Für sie vorausgedacht. Ihr den Weg ebnend. Alfred kannte ja ihre Geschichte. Yseut lachte. Es war so schwierig geblieben, wie es immer gewesen war. Sie hatte erwartet, irgendwann könne geredet werden. Irgendwann hätten alle so viele Erfahrungen, um begreifen zu können, dass alles ausgesprochen werden konnte. Aber das war nicht so. Und wahrscheinlich war das Alfreds Code. Yseut überlegte. Wie sprach sich dieser Code weiter. Was musste sie ihm in die Jackentasche stecken, um ihre Wünsche auszudrücken. Und hatte sie Wünsche. Oder hatte sie nur Reaktionen. Und war das nicht der Unterschied zwischen Lieben und Verlieben. »Ver«. Das Präfix. Das konnte alles herstellen. Das konnte alles aus einem Verb machen. Mit »ver-«. Das war Zustandsveränderung. Bewirken. Verhalten. Beurteilen. Verben des Tötens und des Verderbens wurden mit »ver-« gebildet. Das hatte sie doch vorgehabt. Sie hatte alle Bändigung durch die Bergpredigt aufsagen wollen und zum Alten Testament übergehen. Sie hatte sich das Mittel dazu verschafft. Sie hatte sich ausgerüstet. Sich bewaffnet. Sie hatte eine Möglichkeit haben wollen und jetzt. Dagegen. Reichte die Vorstellung dagegen, sich jemandem in die Arme werfen. Wieder in jemandes Arme fallen lassen. Sollte das reichen. Änderte das alles. Manchmal schien es so. Yseut musste lachen. Der drängelnde Lastwagenfahrer fiel ihr ein. Sie schlug mit der Hand auf das Lenkrad. Dieser Kerl. Der hatte nicht mehr Recht auf die Straße als sie. Sie hatte sich diese Straße schließlich auch kaufen müssen. Gebühren. Überall Grenzen und Gebühren. Freizügigkeit nicht. Längst nicht. Freiheit, das war nur noch die Entscheidung, wie man bezahlen wollte. Die Zahlungsart. Das Ende der Schnellstraße wurde angekündigt. Yseut bremste. Ordnete sich ein. War das jetzt die Romea. Die Straße, die über Ravenna in den Süden führte. Sie musste immer noch lernen, was es bedeutete, eine Person sein zu wollen. Eine ganze Person. Für sich einstehen. Für sich einstehen und die Würde verlangen. Das hatte sie alles nicht gelernt. Das hatte sie alles nicht gelernt gehabt. Sie musste das nachlernen. Immer noch. Immer wieder. Sie musste immer noch und immer wieder nachlernen, und das würde so bleiben. Yseut lächelte. Wie schön das gewesen war. 1967. Kalifornien. Dafür musste sie Ed dankbar sein. Die Frauen dort. Damals. Wie abenteuerlich das gewesen war. Wie brutal. Wie absolut perfekt. Wie entsetzlich das gewesen war. Das Leben ernst nehmen und nicht wie die Insassen einer Strafkolonie vom Leben nichts wissen dürfen. Sie hatte das nicht gekannt gehabt. Das Leben ernst nehmen. Das Lernen. Die Erkenntnisse. Erlernt. Das waren Schläge gewesen. Schläge aus ihr selbst gegen sie selbst. Zertrümmerungen waren das. Innen. Atemberaubend. Aber auch einfach. Sie hatte es schon gewusst gehabt. Sie hatte es immer schon gewusst gehabt und nur nicht wissen dürfen. Es hatte aus sich selbst ausgegraben werden müssen. Wie bei jeder Person. Wahrscheinlich wusste jede Person alles über dieses Lebensrecht. So wie jede Person sprechen lernte. Es gab dieses Lebensrecht. Ihres war von Anfang an eingemauert gewesen. Eingemauert worden. Österreich halt. Der Himmel wurde lichter blau. Die Sonne lag jetzt rechts von ihr. Rundum war alles flach. Die Sonnstrahlen fielen in Bündeln vom Himmel zu Boden. Und kurz. Wieder das Gefühl seiner Arme um sie und sein Atem an ihrem Ohr. »Das ist es, was ich mir wünsche.« Yseut fuhr durch die flache Landschaft. Waldstücke. Dann wieder weite Flächen. Wiesen und Felder. Ein Polizeiwagen. Blaulicht. Ein Carabiniere winkte, langsam zu fahren. Eine Straßensperre. Stau. Alarmblinkanlage. Bremslichter. Stehen. Anfahren. Stoppen. Stehen. Anfahren. Eine Autolänge weiterrollen. Lauritz. Sie war so sicher gewesen. Sie hatte Lauritz gebannt gehabt. Den Bann ausgesprochen. Es wurde gehupt. Hinter ihr. Die Autos waren wieder eine Autolänge weitergefahren. Sie war stehen geblieben. Sie schloss auf. Schaltete die Warnanlage aus. Ohne das Ticken war es still im Wagen. Rechts riesige Erdhaufen. Hochaufgeschüttete Erdberge. Manche dichtbewachsen. Andere frisch aufgehäuft. Reifenspuren führten auf die Straße zurück. Sie standen. Sollte man den Motor abstellen. Vor ihr eine Frau in einem weißen SUV. Hinter ihr. Spiegelnde Glasscheiben. Alle ruhig. Niemand stieg aus. Alle hinter den Lenkrädern. Still. Sie seufzte. Dann wieder anfahren. Sie konnte den ersten Polizisten sehen. Der Mann stand am Straßenrand. Das Sturmgewehr im Arm. Die Hand am Abzug. Yseut beugte sich vor und schaute ihn an. Er trug den graublauen Kampfanzug der GIS. Gruppo Intervento Speciale. Die hatten die Führung der Streitkräfte in Italien übernommen. Der hier trug ein rotes Barett. Die österreichische Bundespolizei und die GIS hatten sich verbündet. Zunächst hatte man eine Einkaufsgemeinschaft gegründet und kaufte die gleichen Waffen. Synergie. Alle verwendeten Steyr Sturmgewehre. Dieser hatte sogar sein Nachtsichtgerät montiert. Alle wurden in die Fahrbahnmitte umgeleitet. Ein Bus stand am Fahrbahnrand. Die Passagiere saßen und lehnten in einer langen Reihe an der Leitplanke. Yseut musste sehr langsam fahren. Es waren Reiter aufgestellt. Die Autos mussten sich in einem Slalom durchschlängeln. Carabinieri mit den automatischen Waffen im Anschlag standen rechts. Auf der Gegenfahrbahn war normaler Verkehr. Die Autos flitzten vorbei. Kein Blickkontakt, sagte sie sich. Kein Blickkontakt. Aber dann schaute sie doch. Sie sah, wie sie angesehen wurde. Der prüfende Blick dieser Männer. Kurz. Sie spürte, wie sie in Daten zerlegt wurde. Mittelklassewagen. Wiener Kennzeichen. Einzelfahrer. Unauffällig. Weiblich. Nicht jung. Ungefährlich. Dann ging der Blick zum Auto hinter ihr weiter. Diese Männer zeigten keine Regung. Keine Regungen. Stumm die Waffe im Arm. Sie war an den Carabinieri vorbei. Sie war unbeachtet geblieben. Sie durfte weiterfahren. Am Straßenrand die Ausgesonderten. Sie musste noch ein Stück weiter in der Mitte fahren. Dann war die Straße wieder frei. Yseut war wütend. Der überprüfende Blick. Die wartenden Buspassagiere. Die Autos, die warten mussten. Sie hasste das. Sie hasste sich. Sie blieb ja auch brav sitzen. Das war vernünftig. Aber sie fühlte sich als Sache. Behandelt. Eingeschätzt. Beurteilt. Yseut stieg aufs Gas. Fuhr davon. Die Straße leer. Sie fuhr viel zu schnell. Sie hatte rasch zum fließenden Verkehr wieder aufgeschlossen. Musste in der Kolonne dahinbummeln. Abendverkehr. Immer wieder führte die Straße steil über kleine Brücken. Über kleine Flussläufe. Über Kanäle. Die Straße breit, aber nur eine Fahrspur in jede Richtung. Es wurde riskant überholt. Die durchlaufende Sperrlinie in der Mitte ohne Wirkung. Yseut fuhr am Rand. Ockerbraune Häuschen. Die Häuser tiefer gelegen. Tiefer als die Straße. Die Straße ein Damm in der Landschaft. Die Zäune der kleinen Gärten aus Gussbeton. Der Gussbeton ahmte andere Zäune nach. Es gab Zäune wie geflochtene Äste aus Gussbeton. Holzlatten in Gussbeton nachgemacht. Dickgusseiserne Girlanden in Gussbeton. In den Gärten blühten Herbstanemonen. Phlox. Astern. Dann wieder Lagerhallen. Staubige Parkplätze davor. Keine Autos. Shopping malls. Geschlossen. Die Auslagen mit Zeitungen verklebt. Links von der Straße lag ein Ozeandampfer im Feld. Ein riesengroßes Schiff ragte aus der Wiese und den Wäldchen davor. Es war nur der Körper des Schiffs vorhanden. Rostig rot. Das Schiff war so groß wie die Fähren, die von Triest nach Athen fuhren. Yseut schaute noch einmal genauer. Dieses Schiff schien sogar noch größer zu sein. Es dauerte, bis sie an dem Schiff vorbeigefahren war. Der Bug hatte nach Norden gezeigt. Es hatte ausgesehen, als steuere dieses Schiff durch die Wiese. Dann links eine Weltkugel. Ein hausgroßer Globus. Der Globus war ein Restaurant gewesen. Geschlossen. Dann rechts eine rosarote Halle mit gelben Punkten auf der Fassade. Hier waren Kleider verkauft worden. Geschlossen. Die Türen mit Ketten versperrt. Die Straße schien immer höher über den Feldern und Wiesen zu liegen. Die Gebäude waren nur über Brücken zu erreichen. Die Straße mit doppelten Leitschienen gegen die Böschung gesichert. Rechts. Die abgeernteten Felder. Dunkelbraun. Möwenschwärme stiegen von der Erde auf. Flogen in großen Kreisen zum nächsten Feld. Links. Die Wäldchen schattig und grün. Hier hatte die Jahrhunderthitze des Sommers nichts angerichtet. Am Himmel die Wolken rosig. Die Sonnenstrahlen streiften nur noch die Wipfel der Bäume. Yseut suchte nach dem Handy. Schaltete das GPS wieder ein. Sie hatte es fast geschafft. Sie war im Po-Delta angekommen. Sie musste bald da sein. Die GPS-Stimme befahl ihr, rechts abzufahren. »Jetzt rechts abfahren.« Sie fuhr gerade auf einer langen Brücke. Hohe Gitter versperrten die Aussicht. In Italien standen doch die Flussnamen angeschrieben. Blaue Tafeln am Anfang der Brücke waren das. Sie hatte wohl nicht achtgegeben. War das jetzt der Po. War sie nun über den Po gefahren oder nicht. Die Brücken führten ja auch über sumpfige Landschaften oder Überschwemmungsgebiete. Sie folgte den Anweisungen des GPS. Sie fuhr ab. Die Abfahrt führte an einer Shopping mall für Brautkleider vorbei. Dann eine Siedlung. Häuser in kleinen Gärten. Hier war dichter Verkehr. »Viale John Fitzgerald Kennedy« stand auf dem Display. Dann führte das GPS sie in eine Folge von Einbahnen. Bei der dritten Runde durch die Viale Alessandro Manzoni musste sie sicher sein, im Kreis geführt zu werden. Sobald sie konnte, fuhr sie in die Gegenrichtung. Sie kam an einen Friedhof. Ein Begräbnis schien beendet. Eine Gruppe dunkelgekleideter Personen stand um einen katholischen Priester geschart. Alle schauten ihr beim Umdrehen zu. In der Dämmerung die Gesichter nur helle Flächen. Die Neugierde war aber zu erkennen. Yseut fuhr die ganze Strecke zur Romea zurück. Vor der Shopping mall für die Brautkleider suchte sie einen Weg nach Süden. Sie kam durch eine Siedlung. Nur Rohbauten. Bei manchen waren die Fenster mit Brettern vernagelt. Andere standen ohne Dach da. Zäune. Kein Baugerät zeigte an, dass hier weitergebaut werden würde. Die Tore zu den Zufahrten verschlossen. Eine Siedlung von Bauruinen. Plötzlich wusste das GPS, wo sie sich befand. Eine Straße Nummer 46. Es wurde dunkel. »Bitte. Rechts abbiegen.« Yseut zögerte. Sie sah eine schmale Sandstraße. Eigentlich einen Feldweg. Hinter ihr eine Kolonne von Autos. Sie musste weiterfahren. »Wenn möglich, bitte wenden.« Es gab aber keine Möglichkeit zu wenden. Von der Fahrbahn weg fiel die Böschung steil nach links und rechts in die Felder hinunter. Die Autos von vorne kamen sehr schnell. Nach langem. Yseut kam zu einer Abfahrt nach links. Sie musste warten, bis sie nach links einbiegen konnte. Sie hielt den Verkehr auf. Weit hinter ihr wurde gehupt. Dann musste sie wieder lange warten, bis sie wenden konnte. Sie fuhr in Richtung Taglio di Po zurück. Diesmal befolgte sie die Anweisung des GPS. Sie wollte nach links abbiegen. Wieder das lange Warten auf eine Lücke in der Kolonne des Gegenverkehrs. Wieder wurde gehupt. Sie fuhr auf die Sandstraße hinunter. Auch diese schmale Straße höher gelegen als die Felder. Sie fuhr langsam. Schaute sich um. Dieser Blick. Dieses Pflügen durch die Landschaft. Das war ein Grund geblieben, mit dem Auto zu reisen. Sich beim Fahren in die Landschaft werfen können. Jederzeit stehenbleiben zu können und zu Fuß weiter. Zu Fuß und sich verlieren. Sie konnte sich selbst sehen, wie sie das Auto abstellte. Wie sie zu Fuß einen dieser Wege zwischen die Felder hinein davonging. Wie sie sich selbst aus den Augen verlor. Aus den Augen verlieren hatte können. So weit hatte sie es mit sich selbst schon gebracht gehabt. Das hatte sie nun wieder verloren. Die Leichtigkeit des Abschieds von sich selbst. Das war in dem Augenblick verlorengegangen. Sie trauerte darum. Aber sie wollte sich nicht mehr in diese Leichtigkeit aufgeben. Das Leben war zurückgekehrt. Das Leben hatte sich eingestellt. Oder was immer. Ungenau und schwierig. Unsicher und schmerzhaft. Aber alles zurück. Alles und vor allem das Begehren. Das heftigste sirrende Begehren. Wie ja immer jedes Begehren das heftigste und sirrendste gewesen war. Aber jetzt. Sie hatte andere Pläne gehabt. Sie hatte andere Pläne. Aber nur der Gedanke an sein Flüstern an ihrem Ohr und das Verlangen war da. Yseut sah ein verfallenes Bauernhaus weit in den Feldern nach rechts. Es war fast dunkel. Im Rückspiegel konnte sie gerade noch erkennen, dass sie eine Wolke von Staub aufwirbelte. Eine schwarze Wolke. Die Lichter auf der Straße weit hinten gerade noch auszunehmen. Eine Brücke über einen tiefen Graben. Dämme rechts und links von der Brücke weg. Sie fuhr geradeaus. Dann endlich Lichter. Sie atmete auf. Das musste die Villa sein. Eine Mauer. Die Einfahrt. Hohe Bäume. Die Straße führte in einer scharfen Kurve nach links. Hinter einer großen Wiese lag die Villa. Breit hingezogen. Die Fenster erleuchtet. Man musste hinter der Villa parken. Das war auf der Homepage angegeben gewesen. Sie fuhr vorsichtig. Auch hier schien die Straße ein Damm zu sein und Gräben rechts und links. Sie fuhr um das Gebäude. Eine kleine Terrasse gleich hinter der Brüstung zur großen Terrasse vor der Villa. Eine junge Frau in der Uniform eines Kammermädchens aus einer Komödie im 19. Jahrhundert kam gelaufen. Sie solle gleich da parken, rief die junge Frau. Yseut parkte. Sie stieg aus. Holte ihren Koffer aus dem Kofferraum. Die junge Frau nahm in ihr ab. Ob mehr zu tragen sei, fragte sie. Yseut verneinte. Sie holte ihre Handtasche aus dem Auto. Folgte der jungen Frau zum Haus. Die junge Frau drehte sich um. »Benvenuto.«, sagte sie. Yseuts Handy läutete. Es war Madeline. Ob alles in Ordnung sei, fragte sie.

2. Folge.

Wie es kam, dass Yseut nach Kalifornien ging und Feministin wurde.

Ihren ersten Mann hatte Yseut beim Kroiss im Neuen Institutsgebäude kennengelernt. Yseut war in der Ecke beim Fenster gesessen. Sie hatte eine Melange vor sich und hörte den Professoren in ihrem kleinen Abteil hinter der weißgestrichenen Holzwand zu. Das Neue Institutsgebäude der Universität war gerade neu gebaut worden. Beim Kroiss schaute es aber aus, als wäre das noch die Kantine des Wehrkreiskommandos XVII, das an der Stelle ausgebombt worden war.

Die Professoren hatten sehr laut gelacht. Der Rauch ihrer Zigaretten und Zigarren stieg hinter dem Holzparavent auf und breitete sich im ganzen Raum aus. Aus der Küche war das Zischen der Eier in der Pfanne für die Spiegeleier zu hören. Yseut war müde gewesen. Sie war verwirrt, und das machte sie müde. Sie hatte es nicht geschafft. Yseut fand sich nicht zurecht. Sie hatte den Sprung vom Gymnasium zur Unversität nicht geschafft. Ihr Problem war, dass sie die Sprache der Sprachwissenschaftler nicht verstand. Wenn es um die Geschichte ging oder die Entwicklung, dann konnte sie alles verstehen. In der Theorie begriff sie nicht, was da gesprochen wurde. In der Mittelschule hatte niemand so geredet. Es schien aber, als ob alle, die da in diesen Einführungsvorlesungen neben ihr saßen, ganz genau wussten, worum es ging oder was gemeint war. Yseut war in die Universitätsbibliothek gegangen und hatte den Texten hinterhergegrübelt. Sie hatte sich in die Nationalbibliothek gesetzt und war den Texten Wort für Wort nachgegangen. Es blieb beim Nicht-Verstehen. Yseut hatte das Gefühl, nicht eingeladen worden zu sein. Ja. Sie musste zugeben, sie hatte gar nicht gewusst, dass es solche Einladungen überhaupt gäbe.

Yseut war traurig und beschämt. Sie wusste nicht, wie sie das ihren Eltern sagen sollte. Wie sollte sie dem Vater in die glänzenden Trinkeraugen schauen und sagen, dass sie ein Versager war und dass sich nur der zweijährige Kurs für Bürokaufmann bei der Kammer der Gewerblichen Wirtschaft ausgehen würde. Wie sollte sie mit der Mutter am Samstag auf den Naschmarkt gehen und das Gemüse für die nächste Woche kaufen und ihr beim Aussuchen vom Salat erklären, dass sie zu dumm für ein Studium war. Der Mutter war das so wichtig gewesen, dass Yseut auf die Universität gehen sollte. Die Mutter würde einen schmalen Mund machen und nichts sagen. Das Studium wurde von ihrem Gehalt bezahlt. Der Vater würde von der Jause am Sonntagnachmittag aufstehen und sagen, dass er noch etwas besorgen müsse. Die Oma Köbrunner würde auch aufstehen und gehen wollen. Und später am Abend mussten die Mutter und sie den Vater dann in die Wohnung zerren. Yseuts Vater fand immer nach Hause zurück, aber oft konnte er das Wohnungsschloss nicht mehr aufsperren. Das Schloss vom Haustor gelang ihm noch. Die Mutter und Yseut rollten den Vater dann auf den Teppich ins Vorzimmer herein. Auch gemeinsam waren sie nicht stark genug, ihn im Schlafzimmer auf das Bett zu hieven. Er war ihnen zu schwer, und sie deckten ihn im Vorzimmer zu. »Seid meine Einzigen.«, murmelte der Vater dann und lächelte. In der Früh war er immer schon aufgestanden und aus dem Haus gewesen.

Beim Kroiss. Die Professoren hatten gerade besonders laut gelacht. Sie waren bei den Schnapserln angekommen, und der junge Kroiss trug runde Tabletts mit kleinen Gläschen und klarer Flüssigkeit hinter den weißen Paravent. Einer der Professoren saß so, dass er Yseut sehen konnte. Er schaute zu ihr hin und sagte etwas zu den anderen Männern, die hinter dem Holzparavent versteckt saßen. Es wurde wieder laut gelacht. Der Professor, der sie sehen konnte, hob sein Stamperl und prostete ihr zu. Die anderen Professoren standen auf und schauten oben über den Paravent zu ihr herüber und prosteten von da. Yseut wurde rot und nippte an ihrer Melange.

Da kam dieser junge Mann herein und schaute sich nach einem Platz um. Die Professoren verschwanden schnell. Yseut saß mit rotem Kopf da. Sie drehte sich verzweifelt nach dem jungen Kroiss um und wollte zahlen. Der junge Mann kam an ihren Tisch und fragte, ob er sich setzen dürfe. Yseut konnte nichts sagen. Sie hätte zu weinen beginnen müssen. Sie konnte nur mit den Achseln zucken. Alle machten sich lustig über sie und hatten auch noch recht damit. Sie war lachhaft, und sie würde eine Sekretärin werden müssen wie ihre Mutter. Aber ihre Mutter hatte es zur Chefsekretärin gebracht, und Yseut war sich sicher, dass sie es nicht so weit bringen würde. Vielleicht sollte sie überhaupt nur Kinder bekommen. Das wenigstens sollte sie fertigbringen. Aber dann war das auch wieder eine so ungeheure Sache, von der sie schon gar nichts wusste und vor der sie sich fürchtete. Es war alles schrecklich.

Der junge Mann zog den Sessel unter dem Tisch heraus und deutete auf den Paravent. Ob man sie belästige. Ob man sie belästigt habe. Er heiße übrigens Eduard Meinrich. Yseut konnte nur mit den Achseln zucken. Sie war jetzt wieder schwach vor Dankbarkeit, dass dieser Mann ihre Situation ernst nahm. Die hätten nur einen Spaß gemacht, murmelte sie dann. »Bitte?«, fragte Eduard Meinrich und rief nach dem jungen Kroiss. Er bestellte auch eine Melange und zahlte gleich. Sie tranken ihren Kaffee, und dann nahm er Yseut am Ellbogen und führte sie aus der Kantine hinaus. Sie gingen zur Votivkirche hinüber und setzten sich auf eine der Steinbänke an der Fassade. »Was ist es denn.«, fragte er, und sie erzählte es ihm.

Die Hochzeit musste dann sehr schnell geplant werden. Eduard hatte eine Einladung an das Institute of Chemical Engineering an der Universität Berkeley. Er sollte da in der Forschung mitarbeiten, aber auch unterrichten. Yseut hatte ihm zugeredet gehabt. Eduard war nicht sicher gewesen, ob er ins Ausland gehen sollte. Er hatte gefürchtet, seine Stelle an der Universität Wien würde nicht verlängert werden und er könne nicht mehr zurück. Sein Professor redete ihm aber auch zu, internationale Erfahrung zu sammeln. Es wurde eine Karenzierung ausgehandelt, und Yseut und Eduard gingen zusammen in einen Englischkurs am British Council.

Yseut war glücklich. Sie ging vollkommen in den Plänen für ihre Zukunft mit Eduard auf. Im Sprachkurs stellte sich heraus, dass Yseut viel schneller lernte als Eduard. Sie lachten darüber, und Yseut schrieb Eduards Hausaufgaben. Yseut bereute, nicht mit dem Dolmetschstudium angefangen zu haben, wie der Vater das immer vorgeschlagen hatte.

Yseuts Mutter plante die Hochzeit. Der Vater blieb an den Sonntagen zu Hause. Eduard und seine Mutter waren an den Sonntagnachmittagen zu Gast in der Gumpendorferstraße. Eduards Vater war in den letzten Tagen im Krieg als vermisst gemeldet worden, und Eduards Mutter studierte immer noch die Listen vom Roten Kreuz und vom Schwarzen Kreuz nach ihm. Eduards Vater war bis zum Kriegsende nicht eingezogen worden, weil er zu alt gewesen war und an einer kriegswichtigen Stelle im Innenministerium gearbeitet hatte. Aber in den letzten Wochen war er an den Ostwall abkommandiert worden.

Eduards Mutter wünschte sich eine kirchliche Trauung für ihren Sohn. Yseuts Eltern fanden, das Standesamt müsste reichen. Wenn darüber angefangen wurde, dann standen Yseut und Eduard auf und gingen davon. Sie sagten, sie gingen spazieren. Sie fuhren dann mit dem Ringwagen zur Börse. Sie gingen in die Wohnung von Eduard und seiner Mutter am Schlickplatz und machten es. Sie redeten aber nie darüber, und Yseut quälte die Angst, noch vor der Hochzeit schwanger werden zu können. Sie hatte Angst, dass Eduard sie dann nicht nach Amerika mitnehmen würde. Trotzdem sehnte sie die Sonntagnachmittage herbei. Sie sehnte sich mit aller Macht danach, von ihm in die Arme genommen zu werden und sanft aufs Bett gezwungen, in seiner Umarmung alles und sich selbst zu vergessen. Eduard sagte dann nachher oft, sie solle wieder zu ihm zurückkommen, wenn es vorbei war. Yseut machte es sich selbst nicht mehr und wartete auf die Sonntage. Sie erlaubte Eduard sogar, während ihrer Periode mit ihr zu schlafen, obwohl sie gehört hatte, dass man davon krank werden konnte. Yseut fühlte sich heilig und rein, wenn sie ihn liebte. Sie fühlte sich auserwählt und schwebend.

Yseut ging mit ihrer Mutter eine Aussteuer kaufen. Sie brauchte ja nichts für den Haushalt. Das musste sie alles in Kalifornien besorgen. Aber sie bekam neue Kleider und neue Unterwäsche. Sie bekam einen Mantel für den Winter und einen Mantel für den Sommer und passende Hüte und Handschuhe dazu. Yseut wollte Pyjamas, aber die Mutter kaufte Nachthemden. Die Mutter lächelte und sagte, dass sie das dann als verheiratete Frau schon verstehen werde. Dann schaute die Mutter sie einen Augenblick erschrocken an, aber sie sagten beide nichts und sie redeten miteinander nie darüber.

Yseuts Mutter traf Eduards Mutter oft nach dem Büro beim Heiner auf der Tuchlauben. Die beiden aßen Mayonnaiseeier oder Schinkenrollen, und Yseuts Mutter kochte kein Abendessen. Yseut ging dann mit dem Vater ins Café Sperl, und sie aßen Frankfurter Würstel mit Senf und Kren. Einmal saßen zwei Mönche in der Nische daneben. Sie saßen im Habit da und tranken Kaffee. Yseut konnte ihren Vater nur mit Mühe davon abhalten, diese Männer hinauswerfen zu lassen. Was diese Pfaffen da machten, zischte ihr Vater immer wieder und wollte den Kellner rufen. Dann bestellte er aber einen weißen G’spritzten, und das war wieder der Anfang. Nach dem vierten weißen G’spritzten stand der Vater auf und stellte sich an den Tisch der Mönche. Die schauten freundlich auf. Der Vater sagte lange nichts und schaute nur stumm auf die beiden Männer hinunter. Dann wurde er aufgeregt. Er fuchtelte mit den Armen, aber er konnte nichts herausbringen. Yseut zerrte an seinem Ärmel und wollte ihn von da wegbringen. Sie machte entschuldigende Gesten und zog ihn weg. Sie hörte es dann gar nicht richtig. Der Vater hatte sich von ihr losgerissen und zu den Mönchen hinuntergebeugt. »Ihr dreckigen Kinderverzahrer.« Er hatte das ganz leise gesagt. Er hatte das in einem Ton gesagt, den Yseut noch nie von ihm gehört hatte. Yseut hatte einen solchen Ton überhaupt noch nie gehört gehabt. Es war ein widerlicher und schmutziger Ton gewesen, aber leise und kaum zu hören.

Yseut konnte den Vater aus dem Café hinausbugsieren. Er hatte zu schluchzen begonnen, und sie hatte ihn aus dem Café hinausgedrängt. Draußen ging ihr der Vater gleich davon, und sie musste der Mutter beichten, dass es nun wieder passiert war. Die Mutter und sie hatten gehofft, dass der Vater sich bis zur Hochzeit benehmen würde.

Bei der Hochzeit hatten ihre Eltern sich nicht durchgesetzt. Yseut wurde nach der standesamtlichen Heirat in der Kapelle der Schottenkirche noch einmal getraut. Es waren nur Yseuts Eltern da, Eduards Mutter, die Oma Münster und Madeline und Helene. Von Eduard war noch ein Schulkamerad gekommen, der auch Eduards Trauzeuge war. Sie hatte Madeline gefragt. »Sonst sind alle tot.«, hatte Yseuts Mutter gesagt, als sie darüber redeten, wer zur Hochzeit eingeladen werden sollte. Die Verwandten und Freunde, die die Eltern einladen hätten wollen, die waren alle im Krieg geblieben.

Yseut und Eduard fuhren nicht auf Hochzeitsreise. Sie mussten ja ohnehin vier Wochen später in die USA aufbrechen. Eduard hatte eigentlich alle Papiere für Yseut besorgen wollen. Yseut hieß jetzt Yseut Ysabelle Meinrich und nicht mehr Köbrunner. Eduard war jetzt ihr Familienvorstand, und er hatte nach dem Recht die Schlüsselgewalt über sie. Sie lachten beide darüber, aber Yseut fühlte sich sicher. Eduard hatte zweimal »Ja.« gesagt, und er war ihr Familienvorstand. Yseut dachte, dass das eine unzerbrechliche Verbindung begründete. Eduard musste alle Dokumente für sie unterschreiben, deshalb ging sich der neue Pass für Yseut nicht mehr aus, und Yseut reiste unter ihrem Mädchennamen Yseut Ysabelle Köbrunner in die USA.

Bis zur Abreise wohnten sie in der großen Wohnung am Schlickplatz. Neben Eduards Mutter konnte Yseut nicht mit Eduard schlafen, und schon in der Hochzeitsnacht hatte sie nein sagen müssen. Eduard lachte über sie.

In Kalifornien waren sie in Academic housing untergebracht. Sie hatten eine winzige Wohnung mit 2 Zimmern in einem Wohnblock nicht weit von Eduards Institut. Die Eltern hatten versprochen, bald zu Besuch zu kommen. Yseut wusste aber, dass der Vater nicht in ein Schiff einsteigen konnte. Für sie selbst war die Überfahrt in der Schiffskabine schwierig gewesen. Eduard hatte auch Platzangst gehabt, und aus Verzweiflung hatten sie fast ununterbrochen miteinander geschlafen. Sie kamen sehr erschöpft in New York an. Yseut machte sich aber keine Sorgen. Sie sollten zwei Jahre in Berkeley bleiben, und das schienen ihr lange Sommerferien zu werden.

Weil Berkeley eine billige Universität war, schrieb Eduard sie als Hörerin ein. Am Anfang war es schwierig, das englische Englisch vom British Council auf das kalifornische Englisch umzudenken, und Yseut musste lernen nachzufragen. In Wien hatte sie immer so getan, als könne sie alles verstehen. In Wien war nicht nachgefragt worden. In Wien taten alle so, als hätten sie schon immer alles verstanden, noch bevor etwas zu Ende gesagt worden war. In Wien musste einer alles bekannt sein. Es war ja schon über jemanden gelacht worden, wenn einer nicht gewusst hatte, dass der Krawattenknoten gerade sehr klein sein musste und der doppelte Windsorknoten nicht mehr getragen werden durfte. Eduard hatte solche Dinge immer gewusst. Eduard hatte in Wien auch immer sofort einen Tisch in jedem Lokal bekommen. In Eduards Familie hatten alle Männer Jus studiert und waren Richter oder hohe Beamte geworden. Eduard war der Erste, der einen naturwissenschaftlichen Studienzweig gewählt hatte.

In Kalifornien ging Eduard am frühen Morgen in sein Institut und kam um zehn Uhr am Abend wieder zurück. Am Anfang war er noch manchmal zum Mittagessen nach Hause gekommen. Yseut hatte eine richtige Ehe führen wollen und für ihren Mann kochen. Sie hatte das besser machen wollen als ihre Mutter, die immer erst am Abend ein Essen gemacht hatte. Yseut begann aber dann, ins Department of Linguistics zu gehen, und fing mit dem Einführungskurs an. Das war sehr schwierig. Yseut konnte noch nicht genug Englisch dafür, aber sie lernte Leute kennen. Es war nicht so wie in Wien, wo alle immer nur mit den Personen sprachen, die sie ohnehin schon gekannt hatten. In Kalifornien war es leicht, andere Personen kennenzulernen, weil alle mit allen sprachen. Yseut hatte bald neue Freundinnen und lernte, wie sie sich als Studentin anziehen sollte. Sie kaufte ihre ersten Blue Jeans. Ihre weiß und blau gestreiften Blusen aus Wien passten gut dazu. Eduard blieb bei Krawatte und Anzug, und sie musste die Hemden bügeln. Wenn sie mit Eduard ausging, dann trug sie die Kleider aus Wien. Aber sie hatte die Röcke um mehr als zwei Handbreit gekürzt. Eduard fiel das nicht auf.

Eduard schlief nicht mehr mit ihr. Zuerst dachte Yseut, das würde sich wieder ändern und er bräuchte nur einfach Zeit. Eduard hatte große Schwierigkeiten mit der Sprache beim Unterrichten. Er musste jede Vorlesung Satz für Satz vorbereiten, und Yseut konnte ihm nicht helfen. Sie verstand ja nichts von dem, was er unterrichtete.

Yseut sagte sich vor, sie müsse Geduld haben. Sie war jetzt eine Ehefrau, und sie sagte sich alle diese Sätze vor, die sie vor der Hochzeit gesagt bekommen hatte. Ihre Aufgabe war es, das Heim und die Ehe darin zu gestalten. Sie beschäftigte sich, damit sie ihrem Ehemann nicht auf die Nerven ging, weil sie keine Eigeninteressen hätte und nichts erzählen könne. Sie machte sich hübsch. Sie versuchte, ein kulturelles Leben mit ihm zu führen, und suchte nach Theateraufführungen und Konzerten klassischer Musik. Es gab aber nicht viele Gelegenheiten, und Eduard wollte nicht nach San Francisco fahren dafür. In Berkeley gab es nur Pop und Folk und viele Lokale mit Live music. Eduard wäre aber nie in ein Popkonzert gegangen. Eduard hörte Bach und Yseut die Doors oder Roxy Music. Eduard war eben 10 Jahre älter als sie.

Auf dem Campus saßen und lagen an allen Ecken Musiker mit Gitarren und sangen ihre Lieder. Als Studentin setzte Yseut sich dazu und summte mit. Als Ehefrau stöckelte sie vorbei. Sie ging mit Eduard zu allen Einladungen an seinem Institut, und da waren alle sehr nett. Eduard wollte aber nicht, dass sie die Einladungen der anderen Faculty wives annähme. Sie könnten keine Gegeneinladungen machen, mit ihrer hässlichen kleinen Wohnung.

Yseut hatte dann aufgehört zu kochen. Eduard kam ohnehin nicht nach Hause. Sie sparte Geld. Sie machte einen Fahrkurs und begann richtig zu studieren. Eduard war so wenig zu Hause, dass er gar nichts wusste davon.

Nach dem ersten Jahr lebte Yseut am Tag das Leben einer Studentin, und am Abend verwandelte sie sich in eine Wiener Ehefrau. Sie dachte, sie verstünde jetzt, was ihre Mutter mit den Nachthemden gemeint hatte. Es war schwierig, Eduard für Sex zu interessieren, und sie hatte wieder begonnen, es selbst zu machen. Eines Abends im Frühling war sie so wütend über alles gewesen, und sie hatte wieder damit begonnen. Sie hatte sich sogar gewünscht, Eduard käme nach Hause und fände sie dabei. Er war dann aber erst zwei Stunden später nach Hause gekommen, und da war sie auch mit ihrem Weinkrampf schon fertig gewesen. Von da an nannte sie Eduard dann aber Ed. Sie las von Betty Friedan »The Feminine Mystique«. Wie sie so einen Schund lesen könne, fragte Ed, und sie fragte zurück, ob er mittlerweile genug Englisch könne, überhaupt ein Buch zu lesen.

3. Folge.

Die weiße Masche der Dienstmädchenschürze der jungen Frau schimmerte grau in der Dunkelheit. Die junge Frau trug Yseuts Koffer. Sie gingen auf eine hellerleuchtete Glastür zu. Der Kies knirschte beim Gehen. Yseut hörte hastige Schritte. Hinter sich. Bevor sie sich umdrehen konnte. Sie wurde angerempelt. Ein Mann eilte an ihr vorbei. Er hielt ein Gerät in die Höhe. Das Gerät piepste. Ein schnarrendes Piepsen. Der Mann stürzte vor ihnen durch die Tür. Ins Haus. Die junge Frau drehte sich zu Yseut um. Sagte etwas. Yseut verstand nichts. Die junge Frau war zu weit weg. Sie stand schon in der offenen Tür. Hielt die Tür wieder zu. Yseut hörte etwas von Moskitos. Im Haus. Sie gingen einen Gang nach rechts. Sie könne Yseut gleich zeigen, wo das Frühstück serviert werden würde. Die junge Frau wies auf den Raum hinter dem Büro. Es gab kein Licht. Yseut sah nur einen hohen dunklen Raum. In der Mitte ein großer Tisch. Yseut ging in das Büro zurück. Sie setzte sich. Die junge Frau suchte in den Schreibtischladen. Reichte ihr ein Formular und einen Kugelschreiber. Die junge Frau war hübsch. Eine perfekte Zerlina. Sie lächelte Yseut strahlend an. »Welcome.«, sagte sie und Yseut solle bitte dieses Formular ausfüllen. Und ja. Den Pass. Das müsse sein, sagte sie. Lächelte entschuldigend. Der Carabiniere käme jeden Abend hier vorbei und kontrolliere. Sie lachte und blinzelte Yseut zu. Yseut nickte. »Ah.«, sagte sie. Sie hätte gerne etwas hinzugefügt wie »Das wird wohl eine sehr persönliche Kontrolle sein.« oder »Das klingt ganz nach Commedia dell’Arte«. Aber sie fand ihr Italienisch nicht. Sie konnte nur sagen, »Then we do not want to be found out«. Das wiederum verstand die junge Frau nicht. Aber sie lächelten einander zu. Yseut suchte währenddessen in ihrer Tasche nach dem Pass. Sie wühlte und hob die Dinge in die Höhe. Der Pass war dann ins Seitenfach weggezippt. Die junge Frau legte den Pass in ein Fach auf dem Schreibtisch oben. Sie nahm den Koffer wieder auf. Yseut wollte ihr zeigen, wie dieser Koffer gerollt werden konnte. Die junge Frau schüttelte den Kopf und trug den Koffer am Griff. Sie führte Yseut zur Tür zurück. Von da ging es eine steinerne Stiege hinauf. Im ersten Stock dann eine Holztreppe. Fünf Stufen. Ihr Zimmer. Ihr Schlüssel. Die junge Frau reichte ihr einen altmodischen Zimmerschlüssel. Sie sperrte auf und ging voran. Im Zimmer. Ein kurzer Gang erst. Das Badezimmer nach rechts. Dann noch eine Tür. Das Zimmer quadratisch. Groß. Terrazzoboden. Alle Lichter brannten. Ein Kristalllüster. Kristallene Wandleuchten an den Wänden. Nachttischlampen. Zwei hohe Fenster nach vorne hinaus. Himmelblau brokatene Vorhänge. Die Wände blau. Ein großer Spiegel zwischen den Fenstern. Kommoden an den Wänden. Regale in Wandnischen. Bücher. Die Möbel weiß und gold. Weiß und goldene Sessel. Weißgolden die beiden Betten. Eine breite Doppeltür links vorne. Die Kommoden und Tischchen vollgestellt. Fotografien in samtenen Rahmen. Döschen. Kerzenständer. Schächtelchen. Bücher. Zeitschriften. Als wäre sie zu Besuch bei einer alten Verwandten, die ihre Erinnerungen ausgebreitet hielt. Die junge Frau stellte den Koffer vor einer Tür in der Wand ab. Die Fensterläden müsse Yseut so lassen, sagte sie und ging an das linke Fenster. Die Moskitogitter wären sehr gut verhakt. Sie rüttelte an dem Gitter unten. Dann machte sie ein Geräusch, »Wusch.«, und spielte Yseut vor, dass ihr die Hand abgerissen werden könnte. Sie lächelte Yseut strahlend an. Sie wünschte »Buona serata.« und ging. An der Zimmertür drehte sie sich noch einmal um. »Molto pericoloso.«, sagte sie. Dann war sie weg. Yseut schaute sich um. Sie ging an das Fenster. Schaute sich das Fliegengitter genau an. Ein stählernes Netz. Der Rahmen in Schienen geführt. Unten eingehakt. Ein schmaler Streifen offen. Zwischen der rosafarbenen Mauer und dem Metallrahmen unten. Im Zimmer. Eine private Atmosphäre war versprochen gewesen. Auf den Fotos hatte diese Ansammlung von Dingen malerisch ausgesehen. Eine vornehme Umgebung. Leben wie im 18. Jahrhundert. Ein aristokratisches Ambiente. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu. Das Moskitogitter erlaubte kein Hinausbeugen. Sie konnte nur am Fenster stehen. Unten fiel Licht auf eine weitere Terrasse. Klinkerboden. Am Rand zur Wiese. Rosensträucher. Die rosa Blüten spiegelten das Licht gerade noch. Dahinter dunkle Flächen und noch dunkler die Bäume. Weit hinten rechts Licht aus einem Haus. Erleuchtete Fenster. Sonst Nacht. Yseut seufzte. Es war nicht viel nach sieben Uhr am Abend und schon dunkel. September. Sie begann sich einzurichten. Sie räumte allen Nippes vom großen Tisch auf die Bücherregale an der rechten Wand. Sie stellt ihre Tasche auf den Tisch. Sie legte ihre Unterwäsche und Pullover in die Laden der großen Kommode. Auch über der Kommode ein großer Spiegel. Auch schräg gehängt. Sie konnte zu sich hinaufschauen. Sie hängte ihre Kleider und Hosen in den Wandschrank. Schob den Koffer unten hinein. Ihre Kleider zerdrückt. Ob die junge Frau das bügeln konnte. Im Badezimmer ein runder Spiegel über dem Waschbecken. Eine Spiegelwand hinter dem Bidet. Das Licht schwach. Yseut musste sich eine Grimasse schneiden. Das Licht war so, dass sie aussah wie ein Vampir. Hohle Augen. Grimmiger Mund. Sie stand dann lange vor dem Bett. Auf welcher Seite sollte sie schlafen. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht überlegen, wie das sein könnte, wenn Alfred hierher mitgekommen wäre. Sie legte ihren Pyjama aber auf die linke Seite. Sie hatte immer auf der linken Seite gelegen. Wenn sie nicht alleine geschlafen hatte. Sie dachte nach. Hatte sie öfter alleine geschlafen oder öfter nicht. Wenn sie ab ihrer ersten Heirat rechnete. Sie war dann doch länger alleine gewesen als zu zweit. Die letzten Jahre ja ohnehin. Sie setzte sich auf das Bett. Wenn die Betten immer so groß gewesen wären wie dieses hier. Hier war jedes Bett für sich schon Queen size. War es vielleicht auch nur eine Platzfrage. In diesen Betten jedenfalls. Hier rollte niemand zufällig gegen die andere Person. In diesen Betten war es eine Expedition, zum anderen aufzubrechen. Yseut sprang auf. Das konnte natürlich sehr charmant sein. Aber sie brauchte jetzt ein Abendessen. Ein schönes italienisches Essen mit einem schönen italienischen Wein. Sie versperrte die Tür. Duschte. Sie zog ein Kleid an. Tuschte die Wimpern. Lippenstift. Rouge. Sie suchte nach der Brille. Sah sich im Spiegel mit der Brille an. Der Lippenstift nicht genau gewesen. Sie besserte den Lippenstift aus. Steckte das Kosmetiktäschchen in die Tasche. Vergrub die Pistole tief in der Tasche. Dieses Kammermädchen hatte ihr beim Suchen nach dem Pass zugesehen. Beim Kramen war ihr das Etui mit der Pistole in die Hand gekommen. Sie hatte die Pistole sofort tief in der Tasche vergraben. Aber hatte die junge Frau das wirklich nicht bemerkt. So etwas sollte nicht passieren. Sie gab der jungen Frau etwas, womit die sich bei ihrem Carabiniere wichtigmachen konnte. Das war dumm. Sie würde Ärger bekommen, und die Reise war gleich wieder zu Ende. Oder besser. Madeline und sie würden Ärger bekommen. Es war ja Madelines Pistole in ihrer Handtasche. Yseut setzte sich auf einen der Fauteuils. Schaute sich um. Draußen Zikaden. Schritte im Zimmer über ihr. Der Kristalllüster klingelte. Jemand stieg die Holzstiege in den zweiten Stock hinauf. Schwere schleifende Schritte. Stimmen hinter der großen Doppeltür. Frauenstimmen. Alles weit entfernt. Gedämpft. Sie saß im hellen Licht des Kristalllüsters. So hell war es damals wohl nicht gewesen. Aber die Geräusche. Das konnte so gewesen sein. Sie war müde. Nein. Sie war nicht müde. Sie hatte keine Kraft. Das war neu. Es fehlte ihr manchmal für die kürzeste Zeit die Kraft aufzustehen. Sich in Bewegung zu setzen. Sich zu bewegen. Eine Müdigkeit. Die konnte mit Argumenten eingesprochen werden. »Reiß dich zusammen.« Das Lächeln des Vaters. »Seid meine Einzigen.«, und sie waren doch aufgestanden und hatten ihm doch wieder geholfen. Yseut schüttelte den Kopf. Invasionen. Diese Invasionen zerrten sie so aus sich heraus und ließen sie doch zurück. Wahrscheinlich hatte sie nicht genug Wasser getrunken. Auf der Fahrt. Und jetzt war sie erschöpft. Sie schaute vor sich hin. Ja. Das war Erschöpfung. Diese Kraftlosigkeit. Die hieß Erschöpfung. Und was für ein schönes Wort war das. Was für eine schöne Form. Präfigierte Verben mit »er-«. Die gehörten zur Inhaltsgruppe der Präfixe, die »bis zum Ende« bedeuteten. Oder »Zustandsänderung«. Ausgeschöpft. Zu Ende geschöpft. Sie konnte sich sehen. Ausgeschöpft. Hohl geschöpft. Leer. Innen. Und nur die Knochen sie aufrecht. Aber es war auch schön. Nur die dünnsten Gedanken waren noch möglich. Weitab von sich dachte sich das. Hoch oben unter der Stirn. In der Wölbung zum Schädeldach. Die Leere dann bis in den Hinterkopf nach hinten. Nur der Körper. Und der. Stumm vor sich hin und nur da. Die Leere eine andere Substanz und sie ausfüllend. Alles gleich und mäßig. Gleichgültig. Alles gleich gültig und lachhaft. Aber nicht lächerlich. Sie saß da. Atmete. Tief. Atmete. Dann war wieder alles weg. Sie dehnte sich. Streckte sich. Als hätte sie geschlafen. Wenn sterben so war. So glasig und glatt und rutschend. Das konnte sie akzeptieren. Sie stand auf. Aber so war es nicht. Die Tode, die sie miterlebt hatte. Die waren gewalttätig gewesen. Überwältigungen. Vergewaltigungen. Die waren nicht so flutend und gleitend vor sich gegangen. Nur der Vater. Der hatte das so. Sie ging ins Badezimmer. Putzte sich die Zähne. Ein Geschmack. Sie frisierte sich vor dem Spiegel über der Kommode und trug den Lippenstift neu auf. Wahrscheinlich konnte man sich vom linken Bett aus in diesem Spiegel sehen, und vom rechten Bett hatte man den Spiegel zwischen den Fenstern. Sie musste lachen. Das interessierte sie jetzt einmal überhaupt nicht. Jetzt wollte sie etwas zu essen haben. Sie suchte den Autoschlüssel und ging. Sie musste von der Tür wieder zurück. Das Licht am Bett und über der Kommode ließ sich nicht von der Tür aus abschalten. Sie knipste die Lampen aus. Ein Geräusch. Ein Surren. Immer wieder. Wie ein sehr kleiner Motor klang das. Sie ging dem Geräusch nach. Über dem Kopfende des Betts war himmelblauer Brokat drapiert. Eine Andeutung von Himmelbett. Das Geräusch kam aus den Falten des Brokats gleich über der Nachttischlampe. Sie beugte sich vor. Erst Stille. Dann wieder das Surren. Sie schob die Stofffalten auseinander. Das Tier war groß. Mantelknopfgroß. Giftgrün. Laut. Hässlich. Was tun. Wieder das Surren. Das Insekt geriet in zitternde Bewegung und surrte. Dann wieder Stille. Erschlagen. Zerquetschen. Wenn ihr das Tier auskam. Herumflog. Sie würde die ganze Nacht nicht schlafen können. Die Vorstellung, dieses giftgrüne Riesending könnte im Zimmer kreisen. Auf ihrem Gesicht landen. Das war unerträglich. Und wenn es gelang. Die zerquetschte Masse. Auf dem Stoff. Auf dem Boden. Solche Tiere rochen. Die konnten stinken. Sie wollte den Geruch nicht einmal denken. Das Ding in einem Glas einfangen und zum Fenster hinaus. Aber diese Fenster waren verrammelt. Sie musste das aber gleich erledigen. Das Tier durfte nicht entkommen. Yseut legte die Stoffbahnen wieder in die Drapierung zurück. Sie lief ins Badezimmer. Nahm die Handtasche mit. Sie hatte Angst, diese Wanze könnte in die Tasche fliegen. Sie käme dann beim Kramen in der Tasche an dieses Tier. Im Badezimmer fand sie ein Leinenhandtuch. Sie legte das Tuch zu einem Quadrat zusammen. Lief in das Zimmer zurück. Sie schlich sich an die Stelle im Vorhang an. Sie stand still vor dem Brokat und wartete auf das Surren. Dann griff sie hinter den Stoff und stülpte mit der rechten Hand das Leinentuch über das surrende Tier. Sie klemmte das Tier zwischen Brokat und Leinentuch ein. Hielt das Tier zwischen den Stoffen mit gewölbten Händen umfangen und stand von Ekel geschüttelt da. Sie wimmerte. Ein kleiner Laut der Verzweiflung entkam ihr. Dann schob sie das Handtuch über dem Brokat zusammen. Sie konnte das Tier die ganze Zeit spüren. Kantig. Krabbelnd. Surrend. Vibrierend. Sie pflückte das surrend krabbelnde Tier in das Leinentuch und drehte den Stoff zu einem Beutelchen rund um das Tier zusammen. Sie ging. Sie hielt den Handtuchbeutel weit von sich weg. Sie beeilte sich. Sie lief die Stiegen hinunter und wollte hinaus. Dann war sie aber in die falsche Richtung gelaufen. Sie stand plötzlich in einem roten Salon. Rotvergilbte Seidentapete. Rote Samtbezüge auf den Sofas. Rote Vorhänge. Eine weißhaarige Frau saß auf einem der Fauteuils. Sie schaute von einem Buch auf. Der Mann. Es war der Mann, der hinter ihr vorbei ins Haus gelaufen war. Er sah sie amüsiert an. Yseut stand da und hielt den Handtuchbeutel mit ausgestrecktem Arm von sich weg. Sie entschuldigte sich. Auf Italienisch. Die Frau sprach sie auf Englisch an. Ob man ihr helfen könne, fragte sie. Yseut nickte. Sie brauche eine Empfehlung für ein Restaurant. Die Frau stand auf. Da wüsste sie das Richtige. Der Mann klopfte mit einem Stab auf den Tisch. »O yes.«, rief die Frau. Wie unerzogen von ihr. Dürfe sie den Major vorstellen. Major Alfando. Der Mann stand auf und verbeugte sich. Und sie sei. Die Frau zögerte. »I am Yseut Lucas.« »Well yes.« Die Frau schlug die Hände zusammen. »Yseut. We all wondered. But what a smashing name. Delighted. Yseut travelled from Vienna just to follow Byron’s path.« Die Frau musterte sie und sagte wieder zu dem Mann gewandt. »With this name. She could be irish.« Der Major, sagte sie dann. Der Major sei ein lieber Freund und käme jedes Jahr. Der Mann stand noch immer. Er verbeugte sich wieder. Die Frau ging hinaus. Yseut lächelte den Mann an. Er nahm den Stab und hielt ihn an seinen Hals. »Welcome.«, schnarrte er. Yseut begriff. Das war eine Elektrolarynx. Eine Stimmprothese. Der Mann hatte also keinen Kehlkopf mehr. Sie nickte ihm zu. Dann riss sie sich aus der Verstörung über diese Überlegung und sagte »Thank you.«. Die weißhaarige Frau kam zurück. Sie war wohl die Besitzerin der Villa und kam aus der britisch-irischen Familie, die die Villa irgendwann im 19. Jahrhundert gekauft hatte. Oder geerbt. Sie hatte diese Geschichte auf der Homepage überlesen. Sie war ja wirklich wegen Byron hier. Also, sagte die Frau. Dieses Restaurant könne sie empfehlen. Das wäre das beste in der Umgebung. Ob sie einen Tisch reservieren lassen solle. Sie schaute fragend zum Major. Yseut drehte das Tuch fester. Das Tier hatte zu surren begonnen. Sie hielt den Beutel so weit weg von sich wie nur möglich. Die weißhaarige Frau bemühte sich, diesen Beutel zu übersehen. Der Major schaute interessiert zu. Seine Augen glitzerten. Yseut fühlte sich, als stünde sie zur Beichte vor ihren Eltern. Das ärgerte sie. Die Frau rief nach Rosina und ging wieder hinaus. Yseut hörte die Frauen sprechen. Sie stand mit der Wanze im Beutel in diesem roten Salon. Major Alfando hatte sich wieder gesetzt. Er grinste sie aus einem rotplüschigen Fauteuil an. »Are you american.«, schnarrte er. Sie verstand ihn nicht gleich und beugte sich vor. Der Mann hielt wieder sein Gerät an den Hals. »Your english sounds american.«, schnarrte er. Sie nickte. Ja. Sie habe in Kalifornien gelebt. Der Mann klatschte in die Hände. Sie lächelten einander an. Yseut wollte gerade erklären, warum sie dieses Bündel in der Hand hielt. Die weißhaarige Frau kam zurück. Der Tisch sei bestellt, sagte sie. Ob Yseut darauf bestehe, allein zu essen. Sie habe sich nämlich die Freiheit genommen, den Tisch für zwei Personen zu reservieren. Der Major habe noch kein Abendessen gehabt, und Yseut sei ja ohnehin ohne Begleitung. Es sei doch so viel netter, in Gesellschaft zu essen. Der Major sei in dem Restaurant gut bekannt. Sie würde mit ihm bevorzugt behandelt werden. Yseut konnte nur zustimmend nicken. Die Frau hatte ihr keine andere Möglichkeit gelassen. Yseut war verärgert. Der Mann verstand ihr Zögern sofort. Er legte den Kopf zur Seite und schaute zu ihr hinauf. Yseut musste lachen. Es würde ihr ein Vergnügen sein, ihn zur Begleitung zu haben, sagte sie. Der Mann stand sofort auf und schnarrte der weißhaarigen Frau eine Verabschiedung zu. Er hielt sein Gerät in die Luft und schnarrte zweimal kurz. »Bye. Bye.« Er ging hinaus. Yseut folgte ihm.

4. Folge.

Wie es kam, dass Yseut ihren Namen bekam und schon früh von Byron wusste.

Schon Yseuts Vater hatte sich erinnern können, wo das rote Buch im Bücherkasten seines Vaters gestanden hatte. Yseuts Vater hatte von seinem Vater die übereinandergestapelten Büchervitrinen und die Bücher darin geerbt gehabt. Yseuts Großvater hatte Reiseberichte aus dem 18. Jahrhundert gesammelt, und eine Vitrine war voll von Büchern wie das »Taschenbuch der Reisen oder unterhaltende Darstellung der Entdeckungen des 18. Jahrhunderts in Rücksicht der Länder, Menschen und Productenkunde. Für jede Klasse von Lesern von E.A.W. von Zimmermann. 1809. Leipzig bei Gerhard Fleischer d. Jüng«.

Yseut durfte diese Bücher nur mit dem Vater zusammen anschauen. Er blätterte vorsichtig um und erklärte ihr, dass man darauf achten musste, den Buchrücken nicht zu brechen.

Das rotgoldene Buch stand in der obersten Vitrine. Yseuts Vater war sehr stolz auf diese Bücherkästen. Er nannte sie »Die Amerikaner« oder »Die Amerikanischen«. Man könne mit diesem Baukastensystem ohne Mühe übersiedeln, hatte der Vater jedem Besuch vorgeschwärmt. Man müsse nur jede Vitrine einzeln herunterheben, dann könne man sie an der Holzleiste, die oben die Halterung für die wiederum nächste Vitrine abgab, bequem davontragen. Der Vater spielte diesen Vorgang dann vor und sagte, dass er ja immer nach Amerika auswandern hätte wollen.

Yseut hatte schon als sehr kleines Kind gelernt gehabt, mit dem Vater, die unsichtbaren Büchervitrinen schleppend, um den Tisch zu stapfen und nach Amerika zu übersiedeln. Auf die Frage, wo man diese praktischen und vor allem staubsicheren Bücherkästen herbekommen könne, hatte der Vater geantwortet, das könne er nicht sagen. Er wisse nicht einmal, woher diese Bücherkästen in die Familie gekommen seien. Aber er nähme an, der Vater seines Vaters habe diese »Amerikaner« schon gehabt. Wäre das nicht logisch. Diese Bücherkästen gäbe es erst seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, und manche Leute nannten sie »Bostoner Bücherkästen«. Irgendwann am Anfang des 20. Jahrhunderts müssten sie also erworben worden sein. Und ja. Da habe es das Geschäft in der Rotenturmstraße noch gegeben. Das sei dann nicht mehr gegangen und habe in den 30er Jahren geschlossen werden müssen.

Wenn der Vater da angekommen war und sagte, dass das Geschäft nicht mehr gegangen sei, dann hatte Yseut schon begonnen, als Geschäft rund um den Esstisch zu humpeln. Sie humpelte als das Geschäft, das nicht mehr gehen konnte, und der Vater lachte und nahm sie in die Arme. »Yseut.«, rief er. »Yseut. Mein kleiner Clown.«

Der Vater war der Einzige gewesen, der Yseuts Namen richtig ausgesprochen hatte. Er sagte »Üsutt.«. Die Mutter rief sie »Isi« oder »Isilein«, und alle anderen sagten »Üseutt« oder auch einfach nur »Isi«.

Die Großmutter Münster nannte Yseut Isabella. Für die Großmutter Münster war Isolde ein heidnischer Name, der in ihrem Heiligenkalender nicht vorkam. Die Großmutter Münster war Mitglied bei der Legio Mariä und ging deshalb in die Pfarre Reinlgasse in die Kirche. Sie beklagte jedesmal, wenn Yseut bei ihr am Samstag zu Besuch war, wie ihre Tochter es zulassen habe können, ihrem Enkelkind einen so hochfahrenen Namen zu geben, und dass man ein Kind doch nicht so belasten dürfe. In ihrer Pfarre hätte es eine Taufe mit so einem Namen nicht gegeben.

Yseut konnte aber deshalb zweimal Namenstag feiern. Im Heiligenkalender der Pfarre Gumpendorf war ihr Namenstag als Isolde am 24. August eingetragen. Am 31. August feierte Yseut bei der Oma Münster den Namenstag der Heiligen Isabella. Die Großmutter las ihr die Heiligengeschichten dieser Namenspatronin vor, und Yseut fragte den Kaplan im Religionsunterricht nach der Heiligen Isolde. Yseut war aber enttäuscht. Keine der beiden heiligen Frauen war eine Märtyrerin gewesen und hatte deshalb fürchterliche Qualen und Drangsalierungen erlitten. Beide Heiligen waren für ihr tugendhaftes Leben und die geduldig ertragenen langen Krankheiten heiliggesprochen worden.

Da waren die mittelalterlichen Sagengeschichten zu ihrem Namen viel interessanter. Der Vater hatte ihr die Sagen alle erzählt. Die Mutter hatte dazu den Kopf geschüttelt und gesagt, sie hätte das Kind Eleonore nennen wollen. Der Vater nahm Yseut dann auf den Schoß und hielt sie fest. »Das ist eine Isolde.«, hatte er gesagt. »Aber keine Wagnerianische. Oder eine von denen. Eine echte.« Yseuts Vater hatte alle keltischen und frühmittelalterlichen Epen gesammelt, und gleich neben dem rotgoldenen Buch stand das kleine graue Buch »Ossian’s Gedichte. Aus dem Gälischen von Christian Wilhelm Ahlwardt« von 1846.

Wenn Yseut eine Belohnung verdient hatte, weil sie die Teller ordentlich abgetrocknet hatte oder die Eltern in der Küche etwas zu bereden hatten, dann bekam Yseut das rotgoldene Buch zum Anschauen. Das Buch wurde auf den Tisch gelegt, und Yseut musste sich die Hände waschen, bevor sie es anschauen durfte. Das Buch war auf Englisch geschrieben. Die Einleitung trug das Datum »October 1857«. Auf dem Buchdeckel vorne stand in goldgeprägten Lettern das Wort »Byron«. Yseut wusste immer schon, dass das ein Name war und dass man das »Beiron« aussprechen musste. Die ersten fünf Seiten des Buchs waren leer. Nach zwei Blättern gelben Seidenpapiers kam ein dickes Blatt mit einer Zeichnung. Die Zeichnungen in dem Buch waren alle auf so einem dicken Papier aufgedruckt. Yseut stellte das Buch aufrecht vor sich hin, dann konnte sie diese dicken Blätter gleich sehen und das Buch dort aufschlagen. Die lateinische Druckschrift hätte sie lesen können. Viele Bücher vom Vater hatte sie erst nicht lesen können, weil sie die Fraktur-Schrift nicht entziffern hatte können. Sie solle sich bemühen, hatte die Mutter gesagt, man müsse sich auf diese Schrift nur einstellen. Man müsse sie nicht extra lernen. Die Mutter hatte keine eigenen Bücher, aber die Mutter hörte immer Radio, und später schaute sie fern.

Auf dem Bild auf der vierten Seite im goldroten Buch saß ein schwarzgekleideter Krieger. Er saß in der Mitte und hatte den rechten Arm über eine Lehne gelegt. Es war nicht zu sehen, worauf dieser Ritter saß. Stoffüberwürfe fielen bis auf den Boden, und Schwert und Schild des Ritters lagen achtlos zu Füßen dieses Manns in die Falten dieser Überwürfe gelehnt. Es hätte aber auch der Mantel des Ritters sein können, der so hingeworfen, kunstvoll drapiert dalag. Der Mann saß dräuend brütend zusammengesunken da. Sein Ritterhelm war von einem hohen Federbusch gekrönt, um den ein Turban gewunden war. Der Mann ließ den Kopf hängen und starrte hoffnungslos vor sich hin. Hinter ihm stand eine liebliche junge Frau. Alle Frauen auf diesen Bildern waren jung und lieblich. Sie hatten dunkle Haare, die in langen Locken ihre Gesichter umschmeichelten und über ihre Schultern auf den Rücken fielen. Die junge Frau auf der fünften Seite war weiß gekleidet. Sie schaute auf den Ritter vor sich hinunter und wies mit der Hand auf den Vollmond, der zwischen kannelierten Säulen am Himmel zu sehen war. Ein leichter Wind blähte den Schleier der jungen Frau zu einem Heiligenschein um ihren Kopf. Der Federbusch auf dem Helm des Turbanritters wurde von diesem Wind nicht erreicht. Die Federn hingen so schlaff hinunter, wie der Mann zusammengesunken dasaß. Der kleine Wind wehte nur für die schöne Frau da.

Unter dem Bild stand:

Dark will thy doom be, darker still

Thine immortality of ill.

Siege of Corinth p. 264

Yseut las die Worte in deutscher Aussprache. Sie las sich die Zeilen laut vor und konnte sich das alles vorstellen.

Yseut konnte die Bilder im rotgoldenen Buch stundenlang anschauen. Die Helden standen in mittelalterlicher Kleidung in der Mitte. Sie waren umrankt von Personen, die sie retten wollten oder die die Helden um Rettung anflehten. Da waren Zuleika oder die Gläubigen aus »Childe Harold« oder der Jäger aus »Manfred«. Das erste Bild, das auf der fünften Seite, das Bild von Lanciotto vor den Säulen Korinths mit dem wolkenverhangenen Vollmond am Himmel, blieb Yseuts Lieblingsbild. Sie hätte Lanciotto beschworen, die Liebe zu retten und zu fliehen. Yseut war überzeugt, an ihrer Seite hätte Lanciotto alle Ungemach und Schmach des Verrats vergessen. Er hätte ihre Hand nehmen und mit ihr in ihre gemeinsame Liebe fliehen können. Yseut war überzeugt, die Liebe war ein Land, in das man fliehen musste. Dort aber war dann alles Glück und die Liebenden sicher. Wenn Yseut dieses Bild betrachtete und während sie die Worte langsam vor sich hin murmelte, wusste sie alles über die Welt. Sie war derart sicher in diesem Wissen, dass sie lächeln musste, so überlegen fühlte sie sich. »Dark will tü doom be, darker still thine immortality of ill.« Das war Yseuts Zauberspruch, und sie verstand, wie das zwischen Männern und Frauen war. Yseut hatte großes Mitleid mit dem schwarzen Turbanritter. Yseut hatte Mitleid mit